Odyssee der Arschlöcher

Buch und Idee:
Marc Urwer
Dank an:
Ben Maier und Martin Modes
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Kapitel 1
Der Nebel streift die Häuserwände der kleinen Ortschaft,
deren durchschnittliche
Einwohnerzahl seit Jahren rapide
absinkt. Die Straßen sind an diesem Dienstagmorgen wie
leergefegt und das Licht der Straßenlaternen dringt nur
schwach durch den besagten Nebel.
Die alten aber gepflegten Häuser stehen dicht an der
Hauptverkehrsstraße,
die
kaum
Platz
für
zwei
entgegenkommende Autos bietet. Zum Glück fährt dort jetzt nur
eines, um genau zu sein, ein Chevrolet Chevelle SS von 1972,
der seine besten Tage schon weit hinter sich gelassen hat. Der
Motor des Fahrzeugs heult auf, als jenes die wenige hundert
Seelengemeinde hinter sich lässt und Richtung Autobahn
brettert.
Publius Taub, der in seinem größten Stolz sitzt, fährt, so wie
jeden Tag, zum Vergnügungspark einige Kilometer entfernt, um
seine Arbeit antreten zu können. Im Inneren der Fahrerkabine
hört man nur das Brüllen des Motors, wie sich dieser literweise
Benzin einverleibt, denn das Radio hat schon vor sechs Jahren
den
Geist
aufgegeben.
Mit
einem
müden
Blick,
herunterhängenden Mundwinkeln und einem verkrampften Griff
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um das Lenkrad, fährt Publius mit knapp unter 180 km/h über
die noch fast leere Autobahn, während er innerlich über die
erneut gestiegenen Benzinpreise schimpft. Durch seinen
gelassenen Fahrstil, sind seine Spritkosten mittlerweile über
seine Mietkosten gestiegen. Publius ist Anfang dreißig, sieht mit
seiner Halbglatze aber deutlich älter aus, was durch die tief
hängenden
Augenringe
und
den
leicht
hervorstehenden
Wangenknochen noch weiter verstärkt wird.
Der Nebel verzieht sich langsam und die aufgetauchte
Sonne sticht Publius in die Augen, nur damit er grimmig die
Sonnenblende herunterklappen muss. Das gelbe Muscle Car
fährt nun langsamer, da sich zu ihm weitere Fahrzeuge auf die
Autobahn gesellen. Der Blick von Publius ist weiterhin
angespannt geradeaus gerichtet.
Dann jedoch schiebt sich, ohne zu blinken, ein Porsche aus der
Autokaravane vor den Chevrolet. Hätte man bei diesem
Manöver genau hingesehen, wäre einem das kurze Zucken in
Herrn Taubs Augenlied aufgefallen. Seine Miene verfinstert sich
noch mehr, obwohl man das vorher nicht für möglich gehalten
hätte. Der 6,5 Liter Motorklotz empfängt die Befehle des
Gaspedals euphorisch und setzt den Wagen dicht hinter den
Porsche. Da natürlich hinter dem Steuer des 911er ein
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arroganter Schnösel aus gutem Hause, mit einem Doktortitel in
Geomantie, sitzt, tritt dieser ebenfalls auf das Gaspedal.
Eine
Hasenfamilie,
die
sich
bei
ihrer
alltäglichen
Wanderung verlaufen hatte und so in die Nähe der Autobahn
gelangt war, schreckt wegen des Getöses auf, hoppelt davon
und verirrt sich noch mehr.
Publius Hände verkrampfen sich weiter und seine Haltung
ist nun äußerst ungesund für den Rücken, als er dem
schwarzen Porsche nachjagt. Die Autobahn lädt in diesem
Stück auch wirklich zum Beschleunigen ein, sodass schnell
beide Fahrzeuge den 200 km/h näher kommen. Doch der
Porsche ist viel leichter, was Publius auch aufgeht, als er immer
mehr an Vorsprung einbüßen muss. Verärgert über seine
bevorstehende Niederlage blinkt er nach rechts und nimmt die
nächste Ausfahrt. Zwar ist er drei Ausfahrten zu früh
abgefahren, doch das weiß der Porschefahrer ja nicht. Publius
Taub grinst.
Die Dörfer, durch die der 8-Zylinder fahren muss, sehen so
aus wie der Wohnort des Fahrers.
Alles
Orte
die
man
als
Außenstehender
nicht
einmal
ansatzweise auseinander halten konnte. Publius Gesichtszüge
entspannen sich etwas und mit seinen dicken Augenbrauen
sieht er aus wie die Karikatur von Iggy Pop aus den 70ern. Eine
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Karikatur, die um 7 Uhr morgens durch eine Ortschaft fährt, die
grob geschätzt 14 Seelen beheimatet. Endlich kommt die
nächstgelegene Stadt in Sichtweite, zu der täglich tausende
Arbeiter pendeln, um ihr schickes Häuschen mit dem kleinen
Garten davor zu finanzieren, in den dann der Hund des
Nachbars scheißt.
Publius Gesichtszüge spannen sich wieder an und ihm
dreht sich der Magen um, als er die emporragende Achterbahn
erblickt, die das Wahrzeichen des Vergnügungsparks darstellt
und auf der sich letzte Woche 3 Rentner übergaben. Nicht dass
er eine Fahrt auf dem Ungetüm scheuen würde, ganz im
Gegenteil, aber die Achterbahn stand symbolisch dafür, dass
dies wieder ein beschissener Arbeitstag werden würde, so wie
jeder Tag.
Die Tür schlägt laut zu, als Publius sein Gefährt verlässt
und langsam an das Hauptportal des Vergnügungsparks
schlendert.
„Morgen Publius“
dringt eine brummige Walrossstimme zu ihm, die dem
wohlbeleibten Wächter mit seinem Schnauzer gehört. Publius
Taub erhebt seine fülligen Augenbrauen und antwortet knapp:
„Tagchen.“
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Die Tür sieht man von Außen kaum, da sie in einem Baum aus
Plastik integriert wurde, der als Zierde am Rand des, noch
leeren, Weges steht. Hinter der Tür verbergen sich die
Umkleidekabinen des Personals, die durch eine weitere Tür
gesichert werden, für die man eine Zugangskarte benötigt.
Publius ergreift in einem Automatismus seine Karte und
entriegelt die graue Stahltür.
Die Umkleideräume sind um diese Uhrzeit noch recht leer und
wir sehen nur zwei hübsche Frauen Anfang dreißig, die in ihren
schicken schwarz-weißen Anzügen gerade aus der Umkleide
kommen,
um
den
Rest
des
noch
jungen
Tages
am
Merchandising-Verkaufsstand zu verplempern. Publius wird
nicht gegrüßt, das wird er selten, stattdessen schaut er aber
den beiden Damen auf den Hintern, als diese den Raum durch
die stählerne Türe verlassen. Publius, dessen Gesichtsmimik
sich seit heute Morgen nur unmerklich verändert hat, erreicht
einen großen Schrank, den er mit einem tiefen Seufzen öffnet.
Groß und gelb hängt darin seine Arbeitskleidung.
Nach der doch eher kalten Nacht hofft Herr Taub auf einen
milden Tag, auch wenn die Wetterprognose das Gegenteil
vorhersagte; über dreißig Grad und Sonne bis zum Abwinken.
Die Kleidungsstücke brauchen lange, bis sie sich passend an
den Körper gelegt haben.
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Publius grimmig dreinsehendes Gesicht sieht man nun nicht
mehr. Die Kleidung bedeckt den kompletten Körper und den
Kopf. Schweren Schrittes geht er zu einem Ankleidespiegel, der
einige Meter entfernt steht und betrachtet sich, wie jeden Tag,
in seinem Kostüm. Was er im Spiegel sieht, ist eine knapp 1,90
Meter hohe Ente mit Hosenträgern und Gummistiefeln.
Die Kaffeemaschine tröpfelt leise aber störend vor sich hin.
Publius sitzt auf einer Sitzbank alleine in einem kleinen
Aufenthaltsraum, in dem sich, bis auf eine winzige Pantry, nur
zwei
Bänke
und
ein
dazu
passender
Tisch
befinden.
Lethargisch schaut die Ente auf die Kaffeemaschine und seufzt
erneut. Dadurch dass die Hände unter den Flügeln in gelben
Handschuhen stecken, kann Publius Taub zumindest seinen
Kaffee trinken, ohne irgendwelche Verrenkungen ausüben zu
müssen. Der Entenkopf ist bei der Aktion zurückgeklappt.
Schon seit einiger Zeit fragt sich Herr Taub, warum er eigentlich
eine ganze Stunde vor Dienstantritt in voller Montur in dem
Aufenthaltsraum sitzt und einen Kaffee nach dem anderen
trinkt. Sind es die fieberhaften Albträume, die Publius Nacht für
Nacht heimsuchen und er daher nur wenige Stunden Schlaf
bekommt, ist es die leere Autobahn am Morgen, wo er seine
Wut am Gaspedal auslassen kann, oder ist er dieser Wille,
diesem verdammten Vergnügungspark durch den hohen
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Kaffeekonsum
größtmöglichen
Schaden
zuzufügen?
Wahrscheinlich eine gesunde Portion von Allem. Die äußerst
hässliche schwarz-weiß gestreifte Wanduhr im unsinnigen
Retro-Look gibt sich viel Mühe, die Zeit langsamer vorbeiziehen
zu lassen. Trotz des übermäßigen Kaffeekonsums wirkt der
hagere Mann außerordentlich müde, als er weiter auf die Uhr
schielt und erneut seufzt.
Die billig wirkende Tür, die mit einer Holzimitation aus
Plastik beschichtet ist, fliegt plötzlich und lautstark auf, als sich
Erwin mit seiner debilen Freude dagegen wirft. Erwin, so etwas
wie ein Freund von Publius, ist der genügsamste Mensch, den
man sich vorstellen kann. Würde Erwin in einem Rollstuhl
gefesselt auf einem Berg Leichen sitzen und zusehen wie ein
Meteoritenschauer die Erde vernichtet, hätte er sich an der
großartigen Aussicht erfreut. So verwundert es nicht, dass
Erwin in seinem Job als tanzender Kaktus voll aufblüht, er liebt
seine Arbeit. Freudestrahlend betritt der kleingewachsene Mann
mit seiner zu großen Hornbrille den Raum und verfällt dabei in
eine Gangart die folgendem Satz am nächsten kommt: „Ich bin
der Geilste“.
„Publius, altes Haus, alles klar?“
fragt die untersetzte Gestalt mit dem naiven Blick. Publius rollt
mit den Augen, seufzt lautlos und antwortet:
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„Ja.“
Dieser Dialog findet meistens zwischen den Zweien statt und da
keiner der beiden etwas Wichtiges zu erzählen hat, werden
danach Nichtigkeiten ausgetauscht, so wie jetzt.
„Ich habe gestern etwas erlebt, das hältst du nicht für
möglich.“
Spricht Erwin überschwänglich, worauf sich Publius zum ersten
Mal in diesem Buch interessiert zeigt und sich erkundigt:
„Was denn?“
„Ich war, wie üblich, gestern noch hier in der Stadt, da bin
ich an einem Comicladen vorbei gekommen, wo sich eine
riesige Menschenmenge angesammelt hat.“
Freudig fährt Erwin fort und versucht dabei mit wilder
Gestikulation sein aufregendes Erlebnis bildhaft darzustellen:
„Jedenfalls war unter den Menschen auch mein Kumpel
Rasmuss,
der
ist
bei
den
letzten
Yu-Gi-Oh-
Landesmeisterschaften Dritter geworden. Den habe ich dann
gefragt, was los wäre und der meinte doch glatt, dass Alex
Nolan eine Autogrammstunde gibt.“
Erwins Gesicht scheint einem Krampf unterlegen zu sein, da
sein Grinsen den Eindruck erweckt in das Gesicht eingemeißelt
worden zu sein. Publius, der absolut ahnungslos dem Gerede
zuhört, fragt verunsichert:
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„Wer zur Hölle ist Alex Nolan?“
Der Krampf scheint sehr schmerzhaft zu sein, denn der
pummelige Mann verzieht schlagartig das Grinsen zu einer
verzehrten Fratze und äußerst sich fassungslos:
„Was?“
Erwin ist erbost und sieht sich gezwungen, seinem Freund mit
den nötigen Informationen auszuhelfen:
„Alex Nolan zeichnet die Comicserie ‚Samurai Princess
Warrior Showdown‘“
Davon überzeugt, dass diese Information ausreicht, grinst sich
Erwin wieder einen. Allerdings wird Publius das ganze zu viel,
da er nicht viel für Comics übrig hat, würde er gerne auf eine
Fortsetzung des Gespräches verzichten. Erwin wartet gespannt
auf irgendeine Reaktion des Herrn Taub, der langsam in
seinem Kostüm zu schwitzen beginnt. Da sich Publius nicht aus
dem Gespräch winden kann, beißt er in den sauren Apfel und
fragt lustlos:
„Was soll das sein?“
Zwischen unendlicher Euphorie und blankem Entsetzen ist es
bei Erwin nur ein Wimpernschlag und er wendet sich völlig
fassungslos an Publius:
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„Du kennst ‘Samurai Princess Warrior Showdown’ nicht?“
Weiterhin wild gestikulierend erzählt Erwin in knappen Sätzen
die Geschichte dieser merkwürdigen Comic-Reihe.
„Es geht um eine Samurai Prinzessin, die aber von ihrem
Vater dazu genötigt wird einen Adligen zu heiraten. Dieser ist
jedoch Mitglied in einer Diebesbande, welche sich auf
Kunstraub
spezialisiert
hat.
Zumindest
will
besagte
Diebesbande an die Kunstgegenstände des Vaters und
entdecken
dabei
einen
uralten
Spiegel,
der
sich
als
Zauberspiegel entpuppt und die ganzen Diebe sowie die
Prinzessin
in
den
Wilden
Westen
teleportiert,
wo
sie
gemeinsam einen mexikanischen Farmer jagen, da dieser im
Besitz eines Azteken-Artefaktes ist, welcher die Prinzessin und
ihren Liebhaber wieder in ihre Zeit zurück befördern soll.“ Erwin
schnauft einmal kräftig durch und Publius scheint den Krampf
übernommen zu haben, der vollkommene Unverständnis zum
Ausdruck bringt, aber trotzdem sagt:
„Das klingt wirklich interessant.“
Wobei er gleichzeitig denkt: „Was für eine elendige Scheiße.“
Herr Taub schaut erwartungsvoll auf die Uhr und seufzt erneut,
sagt dann aber flüsternd:
„Du Erwin, entschuldige, aber ich hab total die Zeit aus den
Augen verloren und bin spät dran, wir sehen uns.“
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Noch beim Reden stellt sich der Mann im Entenkostüm auf,
schreitet zur Tür und verlässt eilig den Raum. Der Samurai
Princess Warrior Showdown Fan unterdessen schaut ebenfalls
auf die Uhr und stellt überrascht fest, dass erst in zwanzig
Minuten Arbeitsbeginn ist. Er zuckt mit den Schultern, setzt sich
auf die Bank und trinkt den Kaffeebecher leer, den Publius
zurückgelassen hatte.
Die Sonne hat schon genug Kraft, um den kalten Boden
aufzuwärmen. Publius tritt unscheinbar aus dem Plastikbaum
hervor und blinzelt der Sonne entgegen.
Auf den kunstvoll angelegten Straßen dieser gefälschten
Ortschaft ist nun weitaus mehr Betrieb. Überall werden die
letzten Vorbereitungen getroffen, um dem bevorstehenden
Besucheransturm Herr zu werden. Ein langer Fußmarsch steht
Publius bevor, denn er muss durch das Dorf, über die
Parkanlagen, an den Würstchen- und Getränkebuden vorbei,
unter einer Achterbahn hindurch, um sich dann schlussendlich
im Kinderparadies wieder zu finden. Publius hasst Kinder fast
so sehr, wie diese neumodische Musik, die ständig im Radio, im
Fernsehen und nicht zuletzt im Internet läuft. Wo diese
ausdruckslosen Pappfiguren in ihren knappen Outfits ihr
fehlendes Gesangstalent kaschieren und mit einem ständig
wiederholenden Rhythmus die Ohren zuheulen… Jedenfalls
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mag Publius keine Kinder, da bin ich mir sicher. Das gelbe
Plastikfell leuchtet im Sonnenlicht wie ein Feuerball, welchen
die umherstehenden Personalkräfte aber gekonnt übersehen,
als sich dieser vor das Kugelbad setzt.
Das Kugelbad ist ein riesiges Becken, gefüllt mit einer
endlosen
Anzahl
bunter
weicher
Plastikbällchen
und
ausgestattet mit Rutschen und Schaukeln. All das ist von einem
blauen Netz umgeben, wovor sich die Ente gesetzt hat, um auf
die Kinderscharen zu warten, denn das Kugelbad ist ein
übermächtiger Kindermagnet. Publius Aufgabe besteht darin,
den Kindern die Warterei zu versüßen. Mit geschlossenen
Augen und einer flachen Atmung wartet Publius Taub in einer
Art Trance auf seine Peiniger. Bevor man sie sieht, hört man
ihre Schreie. Wie das Geheul der Sirenen der Meere dringen
die Rufe zu Publius Ohren. Dann tauchen sie auf, zu hunderten,
wie eine flinke Horde kleiner Zombies, läuft die Masse genau
auf
Publius
und
das
Kugelbad
zu.
Süßwarenstände,
Autoskooter und Tretautos werden einfach verschlungen. Der
hagere Mann in seinem gelben Kostüm stellt sich hin, lockert
seine Gelenke und schreitet dann auf die Kinderschar zu. Er
breitet seine Flügel aus, läuft immer schneller und dann, als er
bereits mitten unter ihnen weilt, fängt er lauthals an zu quaken.
Ein kleiner Teil der Kindermenge lässt sich von dem Quaken
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ablenken und steuert in vollem Tempo auf die Ente zu, die
zwischen den wogenden Kindern aufragt. Wie ein großes
gelbes Schiff wankt Publius durch die Wellen der Kinderleiber
und versucht sich irgendwie gegen den Strom zu kämpfen.
Vergeblich. Die Flut reißt ihn einige Meter mit, bis sie abrupt ins
Stocken gerät. Die Eingangstüren des Kugelbades sind von den
Kindern verstopft. Eine Traube aus protestierenden Kindern
sammelt sich eng um den hilflosen Mann, dessen Herz nun
schneller schlägt, und verlangt nach Einlass. Er weiß genau,
dass er dieser Masse an zukünftigen Sozialhilfeempfängern
keinen Einhalt gebieten kann, wenn sie sich, nach dem Wunsch
um Einlass in das Kugelbad, gegen ihn wendet. Er sieht sich
um und erblickt einige Kinder, die versuchen über das blaue
Absicherungsnetz zu klettern. Dann geht aber ein Ruck durch
die Menge und die Eingangstür rückt in Publius Blickfeld, an der
sich 3 Mitarbeiter befinden, die sich mit Besen bewaffnet haben,
um die Verstopfung zu lösen. Die aufgetürmten Kinder fallen in
den Raum und rennen sofort auf eine der vielen Attraktionen
zu. Die Fließgeschwindigkeit der wogenden Kindermassen
nimmt
wieder
zu
und
die
Ente
hakt
verkrampft
ihre
Gummistiefel in das Erdreich, um nicht wieder von der Schar
mitgerissen zu werden.
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Das Kugelbad wird zum Kinderbad und frisst weiter unerbittlich
die Schlange vor seinem Eingang auf. Einige Nachzügler
versuchen sich noch nach vorne durchzudrängen, doch zu spät.
Mit fünf weiteren Mitarbeitern stemmt sich der Leiter gegen das
Eingangstor, drängt damit die abgeflachte Kinderflut zurück und
kann die Türen dann ganz schließen. Abrupt kommt die Sintflut
zum Erliegen und die ersten Kinder fangen an zu heulen. Das
ist das Stichwort für Publius seine ausufernden Bewegungen
auszuüben, die er in einem zweistündigen Kurs beigebracht
bekam. Eigentlich besteht sein jetziges Tun lediglich aus
Geschrei und Gehüpfe, was jedoch dem Großteil der um ihn
versammelten Kinder ausgesprochen gut gefällt. Mit offenen
Mündern und beeindruckten Mienen staunen etwa zwanzig
Rotzplagen über die Darbietungen der großen Ente.
Nach wenigen Minuten kristallisiert sich ein äußerst fetter Junge
heraus, der gelangweilt zu Publius sieht und dann den
Ententanz folgendermaßen kommentiert:
„Enten sind doof.“
Publius schwitzt enorm in seinem Kostüm und überhört die
Worte des garstigen Jungen, bis dieser, um Aufmerksamkeit
bettelnd, sein Anliegen wiederholt:
„Enten sind doof!“
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Diesmal lauter und mit einem Ausrufezeichen. Das fettige Haar
des Jungen klebt an seiner schwitzenden Stirn wie Klebeband.
Die Sorgen von Publius gelten unterdessen mehr um den
Verlust seiner Körperflüssigkeiten, als um das Geplärre eines
Fettwanztes. Daher ignoriert er den korpulenten Jungen ein
weiteres Mal und setzt seinen eigenwilligen Tanzstil fort. Dem
rundlichen Gesicht des Jungen sieht man den Zorn ins Gesicht
geschrieben. Das war jetzt doppelt gemoppelt. Ist ja auch ein
ganz schönes Moppelchen. Verärgert über das Desinteresse
der Ente ihm gegenüber, platzt dem Kind der Kragen und tritt
Publius mit seinem grünen Turnschuh mit voller Kraft gegen
das Schienbein, während er brüllt:
„Enten sind voll doof!“
Mit einem schmerzerfüllten Gesicht reibt sich der Enterich die
pochende Stelle und gibt eine knappe Antwort von sich:
„Das ist mir scheißegal, du Rotzlöffel.“
Stinksauer erhebt nun der Rotzlöffel das Wort und kontert
vehement:
„Außerdem können Enten gar nicht sprechen.“
Herr Taub beschließt das Balg einfach zu ignorieren und
weiterzumachen, als er erneut einen Tritt einstecken muss.
Jetzt ist es Publius, dem der Kragen platzt. Vor den Blicken
sämtlicher Kinder in der Nähe platziert er seinen rechten
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Entenfuß in das schwammige Gewebe aus Fett, welches das
uncharmante Kind seinen Magen nennt. Dieses spielt zunächst
sämtliche Facetten des Schmerzes im aufgequollenen Gesicht
durch, ehe sich die Massenträgheit endlich erbarmt und seinen
massigen Körper in einer erbärmlich flachen Parabel gen
Boden schickt. Einige der Kinder schreien entsetzt auf, doch
Publius kann sich vor lauter Lachen kaum halten und torkelt
einige Schritte zurück.
Ein roter Plastikball, der von einem arroganten Mädchen
namens Henrietta aus dem Becken über den Zaun geworfen
wurde, kullert langsam aber beständig über den Kiesboden,
überlebt die Füße der Kinder, die weiterhin vor dem Kugelbad
ausharren und bleibt dann einige Meter hinter einer lachenden
Ente zum Stehen. Publius, mit vor Lachen schmerzendem
Magen, tritt mit dem linken Fuß genau auf besagten Ball und
stolpert äußerst unglücklich nach hinten. Er stößt sich an dem
harten Boden und bricht sich das Genick. Publius Taub stirbt.
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Kapitel 2
Die halbautomatische Pistole im Anschlag haltend, betritt der
bullig
wirkende
Glatzkopf,
mit
den
südamerikanischen
Gesichtszügen, die verlassene Lagerhalle. Dabei muss er das
eiserne Rolltor aufschieben, welches ein lautes Quietschen von
sich gibt. Sein knapp zwei Meter hoher Partner erschaudert und
sagt mahnend:
„Kannst du nicht leiser sein? Du weckst noch das ganze
Lagerhaus auf, wenn hier wirklich jemand drin sein sollte.“
Der kompakte Glatzkopf mit seinem Drei-Tage-Bart rollt,
unsichtbar für seinen Kollegen, mit den Augen und antwortet
gelassen:
„Keine Angst Simon, dabei wird es sich wieder um
irgendeinen Penner handeln, der hier Lärm macht.“
Simon streift sich seinen weißen Anzug glatt, der ihn wie einen
Zuhälter aussehen lässt, und nickt desinteressiert. Die beiden
Gestalten wirken bei dem schwachen Mondlicht wie Schatten,
als sie vorsichtig durch die Halle gehen, welche mit einigen
dutzend Kisten gefüllt ist. Das verlassene Gebäude außerhalb
der Stadt, hat über die Jahre einen rostroten Anstrich
bekommen
und
die
Fenster
wurden
von
betrunkenen
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Jugendlichen, oder noch betrunkeneren Vögeln völlig zerstört.
Der kalte Nachtwind zieht durch die Fensterrahmen.
Ein
Knacken
nimmt
ihre
Aufmerksamkeit
und
beide
verschanzen sich hinter einer der leeren Kisten. Simon dreht
sein schmales Gesicht umher und flüstert dann zu seinem
Begleiter:
„Enrique, irgendwie ist mir das nicht geheuer.“
Enrique atmet flach und nickt zustimmend. Enrique, eigentlich
Enrique Carlos Almeida da Silva, kurz auch Carlos, oder Carl,
wobei seine Vermieterin meist „da“ sagt, da sie den Rest des
Namens nicht aussprechen kann, ist Dämonenjäger. Zumindest
behauptet er das. Jedoch kein sonderlich erfolgreicher, denn
bisher ist er keinem Dämon begegnet, geschweige denn
anderen Viechern in der Preisklasse, wie Trolle, Gnome, Orks,
oder schwulen Vampiren.
Aber
da
sich
die
Menschheit
schon
immer
vor
dem
Übernatürlichen fürchtet und die Polizei keine Lust hat, auf dem
Dachboden nach einem Werwolf zu suchen, haben Enrique und
Simon eine eigene Ghostbuster-Firma auf die Beine gestellt.
Simon Plympton hat Enrique vor zwei Jahren als Anhalter
mitgenommen und da er ohnehin dabei war sein Leben
umzukrempeln ist er direkt auf die leicht debilen Vorstellungen
seines neuen Freundes eingegangen.
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Die beiden leben zusammen in einer äußerst winzigen
Wohnung, die sich in einem hässlichen Plattenbau befindet.
Warum die zwei auf Gespensterjagd gehen, wissen sie selbst
nicht
einmal
wirklich.
Der
Reiz
einem
phantastischen
Hirngespinst nachzujagen, lässt die beiden wieder in ihre
Kindheitstage zurückkehren. Außerdem lässt sich nebenher
doch noch etwas Geld verdienen, denn die Aufträge werden
immer im Voraus bezahlt und so werden wenigstens die Kosten
gedeckt um Enriques Garnelen regelmäßig füttern zu können.
Etwas Schweres knallt auf den Boden und beide erschrecken
sich bis ins Mark. Simon sieht seinen Kumpanen in die braunen
Augen und weiß sofort was zu tun ist. Wie jedes Mal wird er als
Vorhut losgeschickt, was Simon zwar nicht passt, aber für eine
aufkommende Diskussion fehlen ihm schlichtweg die Nerven.
Enrique hält die Stellung hinter der Holzkiste, während Simon
nach vorne marschiert und sich bei jeder Bewegung umsieht.
Fast ist es still, nur das Rauschen der im Wind schwankenden
Baumkronen dringt von draußen herein. Dem großen Mann, mit
den langen fast schwarzen Haaren, ist äußerst unwohl bei
seinem Vorhaben.
Er beschließt die Gedanken an den gestrigen Horrorfilm
einzudämmen und den noch nicht untersuchten Bereich des
Lagers schnellstmöglich zu erkunden. Simon biegt um eine
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weitere Holzkiste, als es erneut einen Knall gibt. Eine Stimme
schreit:
„Verschwindet!“
Die Stimme klingt wie das Krätzchen eines Raben, nach
Einnahme von massenhaft Steroiden.
Der hoch gewachsene Mann ist fest am Boden angewurzelt und
nimmt die Welt um sich herum erst wieder wahr, als ihm
Enrique kräftig auf die Schulter schlägt und flüstert:
„Was zur Hölle war denn das?“
Beide bemerken, dass sie sich durch die Angst äußerst nahe
gekommen sind und weichen voneinander ab, als Simon
antwortet:
„Vielleicht hattest du Recht und hier wohnt tatsächlich ein
Obdachloser.“
Bei Enrique melden sich die Alarmglocken. Was, wenn das
wirklich ein Obdachloser war? Womöglich wurde er von uns
geweckt und ist erbost, weil wir ihn um seinen verdienten Schlaf
gebracht haben. Eventuell hat er sogar einen Knüppel dabei
und weiß damit auch noch umzugehen. Der gebürtige Peruaner
erschaudert bei seinen Gedanken und macht mit einer Geste
deutlich, dass sein Kollege gefälligst nachsehen soll, während
er sich in einen Sicherheitsabstand zurückzieht und schützend
seine Pistole vor sich hält.
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Simon Plympton zittert am ganzen Leib und weigert sich
innerlich auch nur einen Schritt in die Richtung zu gehen, aus
der die Stimme kam.
Da die Firma unter äußert knappen Liquiditäten leidet, reichte
es für nur eine Handfeuerwaffe und so kratzt er seinen
restlichen Mut zusammen und schleicht zögernd vorwärts. Dem
schlanken Mann schmerzen die Augen, da er es nicht wagt zu
blinzeln, um ja nichts Wichtiges zu übersehen. Das Licht des
Mondes leuchtet schwach auf eine offen stehende Tür, die zu
einem Nebenraum führt. Im Nebenraum befindet sich ein alter
Schreibtisch, der Simon direkt ins Auge fällt, als er, mit
gesenktem Kopf, den Raum betritt.
Doch da war noch etwas anderes. Simons Kehle schnürt
sich plötzlich zu, auf dem Schreibtisch erblickt er eine Gestalt.
Ein froschähnliches Wesen mit je zwei menschlichen Armen
und Beinen, sitzt auf dem Schreibtisch sieht starr nach vorne
und brüllt:
„Verschwinde!“
Der Dämonenjäger, der sicher fünfmal so groß wie die
Absurdität ist, findet wieder zu Atmen und nutzt diesen für einen
panischen Schrei, der eine tagaktive Eule in der Nähe aus dem
Schlaf reißt. Schnell dreht er sich um, packt seine Lungen voller
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Sauerstoff und sprintet wie ein Wahnsinniger durch die
Lagerhalle.
Erst einige Meter vor dem Zaun, der dieses Gebäude umgibt,
bleiben seine Beine stehen und er begreift, dass er immer noch
schreit. Simon atmet schwer die kalte Nachtluft ein und stützt
sich gegen einen abgestorbenen Baum. Nach einer halben
Minute hört er eine näher kommende Person, die aufgebracht
zu ihm redet.
„Simon, verdammt noch mal, was ist passiert?“
Carlos rennt auf seinen Lakaien zu und schaut ihn fragend an.
Das zitternde Häufchen Elend, welches sich immer noch
am Baum anlehnt, versucht zu erklären, was er eben erblicken
musste:
„Da war ein Tier, ein Frosch. Nein, es war kein Frosch, es
sah nur wie einer aus, aber es hatte Arme und Beine,
außerdem einen Vollbart und Hörner und…“
Zu einer detaillierten Erörterung kommt er nicht, denn Almeida
haut ihm einmal quer über das Gesicht und brüllt in die finstere
Nacht hinein:
„Komm zu dir, Mann. Das war sicher bloß ein Trugbild
deiner Angst.“
Da Silvas Worte prallen an Simon wirkungslos ab. Er weiß ganz
genau, was er gesehen hat. Nein, eigentlich hat er absolut
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keine Ahnung, was er da sah. Aber es war wirklich dort
gewesen und es war hässlich. Enrique schaut seinen Freund an
und stellt dabei fest, dass er ihn noch nie so voller Angst erlebt
hat. Doch es hilft nichts, er beschließt selbst nachzusehen und
wendet sich an den Mann im weißen Anzug, dessen Nerven
gerade blank liegen.
„Bleib du nur hier, du Feigling, ich werde mir das mal aus
der Nähe ansehen. Wahrscheinlich sitzt dort nur eine
verdammte Puppe, oder ein fetter Kater hat sich dort
eingenistet.“
Kopfschüttelnd und mit stolz ausgestreckter Brust marschiert
der Glatzkopf wieder auf die Halle zu, wobei er sich dabei
immer wieder zu Simon umschaut. Erneut passiert der kräftige
Südamerikaner das Eingangstor und geht äußerst vorsichtig zu
dem unscheinbaren Zimmer, auf der anderen Seite der
Lagerhalle. Er schluckt, als seine Hand sich an der Türzarge
festhält, um den restlichen Körper nachzuziehen. Die Gestalt
schaut ihn emotionslos an. Im Gegensatz zu Enrique, dessen
Stimmung sich in pures Entsetzen gewandelt hat.
Seine Augen weiten sich und ein immer lauter werdender
Schrei klettert seine Kehle empor. Voller Panik dreht er seinen
Kopf wieder zu der offen stehenden Bürotür und sieht Simon,
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der im Rahmen der Tür steht, das Wesen entgeistert ansieht
und ebenfalls schreit.
Dann sehen sich beide an, schreien sich die Luft aus den
Lungen, werfen die Arme gen Himmel und rennen in dieser
Haltung schnellstmöglich nach Draußen. Das Geschrei der
beiden Tunichtgute wird leiser, bis es in dem verwahrlosten
Büro nicht mehr zu hören ist. Die Frosch-Mensch-Kreatur mit
dem Vollbart und den Hörnern sitzt weiterhin auf ihrem Platz,
seufzt lautstark und spricht zu sich selbst:
„Oh Mann, das wird eine lange Nacht.“
„Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt
noch mal. Was um Gottes Willen war denn das?“
schreit der kräftig gebaute Enrique seinen Mitstreiter an und
zeigt dabei zur Lagerhalle. Beide haben sich wieder an dem
verfaulten Baum versammelt, der schon auf sie gewartet hat.
Simon schaut ebenfalls zurück, dann zu Enrique, wieder zu der
Lagerhalle und schüttelt anschließend den Kopf. Das Zischen
der
sauerstoffarmen
Luft,
die
von
beiden
angestrengt
ausgestoßen wird, umarmt die sonstige Ruhe. Als beide wieder
etwas Luft geschnappt haben, versucht Enrique ihre Lage
sachlich zu beschreiben:
„Da haben wir ihn also, unseren ersten Dämonen.“
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„Du meinst, vollbärtigen kleinwüchsigen Menschenfrosch“
korrigiert Simon, der sich sofort fragt, warum er das eigentlich
gesagt hat.
„Wie auch immer. Fakt ist, wir müssen das Ding vernichten,
das sind wir unserem Auftraggeber schuldig. Ist nur die Frage
wie wir das anstellen.“
Sagt Enrique kühler als die Nacht und tippt sich dabei moderat
auf die Nase.
„Du hast doch eine Pistole“
wirft sein Mitbewohner ein und fährt dann fort
„damit ballerst du das Viech einfach über den Haufen“.
„Aber ich habe keine Silberkugeln geladen“
gibt Enrique zu Protokoll, während er sich ununterbrochen auf
die Nase tippt. Die Antwort von Simon kommt direkt:
„Das ist ja auch kein verkackter Werwolf“.
Stille folgt nach diesem kurzen Dialog. Nur einige Eulenrufe
hallen aus der Ferne, die in unsere Sprache übersetzt kurz
bedeuten: „Gebt verkackt noch mal endlich Ruhe. Ich muss
morgen früh raus und ihr Penner haltet mich von meinem Schlaf
ab.“ Enrique nickt zustimmend und sagt dann selbstsicher:
„Versuchen wir es. Du lenkst die Missgeburt ab und ich
schieße ihr ins Gesicht.“
27
Plympton ahnte schon vorher, dass er wieder derjenige war, der
für eine Ablenkung sorgen musste und gibt sich daher schnell
mit dem Vorschlag zufrieden. Dann fragt er:
„Wie soll ich ihn denn ablenken?“
„Du brauchst eine Verkleidung, auf die das Vieh nicht
vorbereitet ist. In der Sekunde, wo sich das Monster zu
orientieren versucht, ballere ich drauf los.“
Simpler Plan, doch wo auf die Schnelle eine Verkleidung
hernehmen? Vereinzelte Wolken ziehen am Mond vorbei und
unterbrechen dadurch immer wieder die Ausleuchtung der
kargen Landschaft, die außer Sand und Steine nichts zu bieten
hat. Nach einigen Minuten intensiven Denkens gibt der
sportliche Peruaner auf und spricht:
„Hier gibt es absolut gar nichts, aus was man sich ein
Kostüm basteln könnte.“
Simon nickt geistesabwesend und lehnt sich dabei wieder an
den Baum. Dann rattert es in Enriques Gehirn wie verrückt und
der Mittzwanziger schiebt gedanklich die Bilder des faulen
Holzstammes und seines Partners zusammen. Er brüllt, lauter
als er wollte:
„Ich hab’s.“
Simon erschrickt und richtet seinen Blick auf seinen Mitstreiter.
„Deine Verkleidung steht neben dir“
28
verkündet dieser triumphierend.
Der Baumstamm ist an jeder Stelle äußerst brüchig, was
zwar das Anziehen vereinfacht, da man Arme einfach durch das
morsche Holz bohren kann, jedoch ist es somit auch sehr
schwer sich damit fortzubewegen, ohne das Kostüm zu
zerstören.
Simons Anzug ist von dem Dreck vollkommen ruiniert.
Allerdings hat er sich auch strikt geweigert ihn auszuziehen, da
seine Unterwäsche mit pinken Blüten verziert ist.
Der große und schlanke Mann sieht in seiner Verkleidung wie
ein Kind aus, welches für die Halloween- Maskerade nur sehr
wenig Süßigkeiten bekommen würde. Enrique grinst breit, als
sich der Baum mit kurzen vorsichtigen Schritten der Höhle des
Frosches
nähert,
um
seine
Aufgabe
zu
erfüllen.
Augenscheinlich hat sich die Lagerhalle nicht verändert und
auch die weiterhin offen stehende Tür zu dem ehemaligen
Büroraum, vor der die beiden Knallköpfe sich nun eingefunden
haben, sieht aus wie zuvor. Die zwei Geisterjäger sehen sich
kurz an und der Peruaner nickt energisch und gibt damit Simon
zu verstehen, dass dieser nun verrücken soll. Der Waliser
schnauft und sein schmales Gesicht spannt sich.
Dann hechtet er blitzartig nach vorne, übertritt die
Türschwelle und schreit plötzlich auf, da sein Kostüm höher ist
29
als die Türöffnung und somit den armen Mann nach hinten wirft,
der sich dann auf dem Boden wieder findet. Der Baum hat
einen Teil seiner oberen Hälfte verloren und nimmt jetzt die
volle Aufmerksamkeit des Geschöpfes auf, welches sich immer
noch auf dem Tisch befindet und aufschreit:
„Was zur Hölle.“
Kaum hat die Kreatur diesen kurzen Satz ausgesprochen,
hechtet der Bewaffnete schutzsuchend hinter den Baum und
schießt einige Male auf das kuriose Wesen. Dieses schreit auf,
Enrique schreit auf und der Baum schreit auf. Nachdem die
Schüsse abgegeben wurden, stellt der Schütze verwundert fest,
dass er sein Ziel komplett verfehlt hat, welches ihn mit großen
roten Augen irritiert ansieht. Der Menschenfrosch blinzelt,
springt in die Luft, vollführt einen perfekten Rückwärtssalto und
landet sicher hinter dem Schreibtisch.
„Verfickte Scheiße“
entfährt es Enrique, der mit der Wendung der Dinge nicht
gerechnet hat. Nun hat er kein Ziel mehr vor Augen und so
richtet er die Pistole auf den Schreibtisch. Kurz danach kommt
ein Gegenstand aus der Richtung geflogen. Carlos duckt sich
zwar, doch Simon schreit auf, der eine Buddhastatue gegen
den Kopf bekommen hat. Reflexartig verschießt Enrique den
Rest seines Magazins. Die meisten Kugeln daraus landen in
30
der Wand, oder in der Decke, doch eine trifft auf eine an der
Wand hängende Zinnscheibe. Ein lautes „Pling“ ertönt und der
Querschläger durchbohrt den Kopf der Bestie, die daraufhin
qualvoll an einem Herzinfarkt stirbt.
Die Eule ist nach den Schüssen geflohen und sucht sich
genervt einen neuen Schlafplatz. Sind Eulen nicht nachtaktiv?
Die beiden Dämonenjäger sind wie versteinert und geben
keinen Laut von sich. Selbst die Stille wartet gespannt in der
Ecke. Nach fast einer Minute kompletter Lethargie, lässt der
Peruaner endlich die Waffe sinken und schreit dann euphorisch
auf:
„Ich hab das Scheißvieh erwischt. Ich bin halt der Geilste.“
Simon schaut seinen Partner nüchtern vom Boden aus an,
während sich dieser hinstellt und nach seinem Opfer Ausschau
hält.
Er beugt sich über den Toten und untersucht ihn laienhaft,
indem er ihm den Finger wiederholt in den Leib drückt. Simon
hat sich derweil aufgerappelt und von seinem recycelbarem
Kostüm getrennt, um sich ebenfalls der Leiche zu nähern.
Im Gegensatz zu seinem Partner, untersucht der gebürtige
Waliser den Toten genauer und entdeckt dann eine graue
Substanz, die auf dem Tisch liegt, aber schon anfängt daran
herunter zu tropfen. Er riecht daran und flüstert zu sich selbst:
31
„Muskat“.
Sein Blick wandert weiter und bleibt an der rechten Hand des
Wesens haften, die verkrampft eine Zeitschrift festhält. Darauf
steht „Samurai Princess Warrior Showdown“.
Er schluckt, wendet sich an den Revolverhelden und fragt:
„Was denkst du hat er hier gemacht?“
Enrique blickt auf, zuckt mit den Schultern und antwortet:
„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
„Ich aber“
verkündet Simon stolz, dessen Anzug nun voller Baumrinde ist,
dann erörtert er:
„Schau dir diese komische graue Masse auf dem
Schreibtisch an und dann seine anspruchslose Lektüre.“
Plympton zeigt auf das Comicheft
„außerdem war er äußerst angespannt und feindlich, wenn
wir in seine Nähe kamen, dennoch hat er sich nicht einen
Zentimeter bewegt“.
„Und was sagt uns das Sherlock?“
fragt Enrique interessiert.
„Das lässt nur einen Schluss zu, wir haben ihn beim
Scheißen gestört.“
32
Da
Silva
schaut
zu
dem
toten
Froschmann,
der
mit
heraushängender Zunge weiterhin auf dem Boden liegt, schaut
seinen Partner an und sagt dann schockiert:
„Oh mein Gott. Das habe ich nicht gewollt.“
33
Kapitel 3
In Herrn Taubs Gehirn klingelt etwas. Es ist ein Telefon, an
der Haustür. Er marschiert auf seine Haustür zu und öffnet sie.
Doch statt seines bescheidenen ungemähten Gartens findet er
sich in einem riesigen Kinosaal wieder. Auch wenn er sich nicht
an das Zurücklegen des Weges erinnert, sitzt er doch nun
alleine auf einem roten Kinosessel und erblickt die vor ihm
prangende
riesige
Leinwand,
welches
sogleich
ein
verschwommenes Bild zeigt. Dann jedoch klart das Bild auf und
Publius sieht sich selbst in seinem Entenkostüm.
„Das war’s“
prophezeit seine eigene Stimme emotionslos in den Kinosaal
hinein und starrt unfokosiert nach vorne. „Was ist geschehen?“
fragt sich der kleine Herr Taub in seinem Kinositz selbst, doch
sein Ebenbild geht darauf nicht ein, sondern sagt weiter:
„Das war’s und du hast nichts erreicht. Eigentlich müsste
jetzt dein Leben hier ablaufen. Doch da ist nichts. Du hast
einfach nichts erreicht, was man hier zeigen könnte. Du hast
noch nicht einmal etwas, wofür du kämpfen könntest. Genauso
gut hätte ich die Sendezeit mit Werbung füllen können.“
34
Die Figur in dem Entenkostüm räuspert sich, während der
echte Herr Taub fassungslos weiter auf die Leinwand starrt.
Von diesen skurrilen Ereignissen erschöpft, versucht Publius
etwas zu verschnaufen und seinen Gedanken Herr zu werden,
doch sein Ebenbild lässt ihn nicht, denn dieses redet einfach
weiter:
„Jetzt bekommst du aber dennoch einen Überblick über
dein, zugegebenermaßen, sehr verkorkstes Leben. Viel Spaß“
So
schnell
sein
Ebenbild
gekommen
war,
so
schnell
verschwindet es auch und stattdessen sieht er Szenen aus
seinem Leben. Sein ehemaliger Klassenkamerad Ulli ist zu
sehen, wie er mit Publius Zombie Kettensägenmassaker 4
anschaut. Erwin ist zusehen, wie er laut lachend neben Publius
steht, weil sich dessen Kostüm in Flammen hüllt. Er sieht sich
selbst
beim
Kauf
seines
Chevelle.
Eine
Brünette
mit
vollgekotztem Ausschnitt ist zu sehen, die Publius wütend eine
runterhaut. Das war’s. Die Leinwand wird schwarz wie mein
Tee, und der Verstorbene sieht sich verwirrt in dem Kinosaal
um. Plötzlich erfasst ihn etwas und er wird ruckartig nach hinten
geschleudert, wobei er sich fliegend immer weiter von dem
Kinosaal entfernt, welcher dann nur noch als ein Punkt in einem
schwarzen Nichts erscheint.
35
Publius zwinkert einige Male, doch die Finsternis bleibt
bestehen und zum ersten Mal nach seinem Sturz fängt er an
nachzudenken. „Was ist geschehen?“ fragt ihn sein Gehirn. Er
kann sich an den garstigen Jungen erinnern und an seinen
Sturz. Aber wann war das gewesen? Ihm geht auf, dass er
nichts spürt. Weder dass er auf einem Boden steht, noch dass
er Gliedmaße hatte. Er versucht sich an die eigene Nase zu
fassen, doch er spürt weder seine Hand noch seine Nase.
Unheimlich. Bin ich gelähmt? Bin ich blind? Ihm schauderte es,
als er sich regungslos in einem Bett vorstellte über und über mit
Schläuchen und Apparaturen versehen und neben ihn ein
pummeliger Kerl in seinem Kaktus-Kostüm. Und Taub musste
er auch sein. Den konnte ich mir nicht verkneifen. Die Furcht
nimmt langsam sein klares Denken ein. Was, wenn er die
Ewigkeit in dieser Dunkelheit verbringen muss? Ihm läuft kalt
der Schweiß über den Rücken, zumindest vermutet er das, da
erkennt er ein winziges Licht. Seine niederschmetternden
Gedanken verfliegen und er rudert dem Lichtschein entgegen.
Obwohl er absolut keine Empfindungen hat, sieht er, wie das
Licht stetig näher kommt, oder umgekehrt.
Die Lichtquelle ist nun so nahe, dass er sie bestaunen
kann. In einer vollkommen schwarz angestrichenen Wand
steckt eine Glühbirne, welche nicht größer ist,
36
als eine Fingerkuppe. Unter ihr befindet sich ein kleines Schild
mit der Aufschrift „Sorry, Sparmaßnahmen.“
Publius, der mit dieser Aufschrift absolut nichts anfangen kann,
sieht sich weiter um und nimmt eine Tür wahr, die von dem
schwachen Schein angeleuchtet wird. Ein Ausgang. Auch wenn
er seine Glieder weiterhin nicht spürt befiehlt sein Gehirn dem
rechten Arm die Türklinke nach unten zu drücken. Es
funktioniert und Tür schwingt lautlos nach Außen auf, um ein
grelles Licht herein zu lassen. Herr Taub blinzelt und seine
Augen benötigen einige Zeit sich an das Hell zu gewöhnen.
Nach einigen Sekunden jedoch packt ihn das Interesse und er
verlässt seine Dunkelkammer durch die offen stehende Tür. Der
dürre Mann findet sich auf einem kleinen Podest wieder,
welches mitten in einer Art Himmel steht. Die Wolken ziehen
gemächlich vorbei und Publius schaut sich um, damit er weitere
Plattformen auf schlanken langen Säulen findet, die sich überall
verstreut haben und monoton in diesem friedlichen Himmel
stehen. Auf den Podesten ringsumher stehen kleine graue
Hütten, was Publius dazu veranlasst sich umzudrehen und
dann seine ganz eigene graue Hütte zu betrachten. Die Hütte
hat die gleiche Form wie ein normales Familienhaus, nur fehlen
ihm die Fenster um hinein zu schauen, einzig und alleine ist
dafür die Tür zuständig, die immer noch offen steht. Auch wenn
37
Publius Taub diese ganzen Bilder nicht verarbeiten kann, geht
er recht locker mit diesen Eindrücken um und wagt einen Blick
nach unten. Sofort wirft er sich keuchend nach hinten und krallt
sich an dem Podest fest auf dem er steht, da die Tiefe eine
unglaubliche Länge besitzt.
Auf allen Vieren und mit geschlossenen Augen verweilt er
einige
Augenblicke
auf
dem
eisernen
Podest,
welches
seelenruhig weiter auf seiner Säule steht und die tolle Aussicht
genießt. Dann richtet Publius seinen Kopf langsam nach oben
und öffnet behutsam seine Augen. Zum ersten Mal nach dem
folgeschweren Sturz betrachtet er Teile seines Körpers, nämlich
die Hände und stellt voller Entsetzen fest, dass diese aussehen,
als würde es sich um eine Tuschezeichnung handeln. Noch nie
in seinem Leben hat sich Publius so erschrocken, nicht mal als
er in einer bizarren Welt auf einer Plattform stand und von dort
aus runter sah. Bei dem Anblick seiner beiden Arme, hat er
vollkommen vergessen, wo er sich eigentlich befindet. Er dreht
seine Arme langsam und ballt die Hände zu zwei Fäusten.
Unglaublich. Wie eine detailarme Skizze von ihm selbst. Vor
lauter Faszination, aber auch Ehrfurcht, steht er auf dreht sich
und
wedelt
wild
mit
seinen
Armen,
welche
die
Bewegungsbefehle konsequent mitmachen. Abrupt hört er mit
seinen Spielereien auf und schaut neugierig an sich herunter.
38
Dabei fällt ihm direkt auf, dass er gar keine Kleidung trägt, diese
Tatsache lässt ihn wieder in Panik ausbrechen, die sich dann
aber nicht fortsetzt, da er feststellt dass seine Genitalien vom
Zeichner vergessen wurden und sein Schritt so aussieht, wie
der von Ken. Die Panik meldet sich in Publius Gehirn zurück,
wächst dabei rapide an und zwingt ihn auf die Knie zu fallen
und die nächsten Minuten damit zu verbringen tief Luft zu
holen. Anschließend fragt er laut in den menschenleeren
Himmel:
„Was um alles in der Welt passiert mit mir, wo bin ich?“
Er wartet einige Minuten, doch niemand antwortet ihm, bis er
ein entferntes Geräusch wahrnimmt und aufblickt.
Mit angespannter Augenmuskulatur beobachtet er den nächst
gelegenem Turm, der direkt vor ihm liegt.
Auf dessen Podest, vor dem kleinen Haus, ist ein kleiner Mann
mit Glatze zu erkennen. Erst denkt Publius es wäre die
Verbildlichung von Erwin, der in seinem bizarren Traum
erscheint, doch die Person scheint älter zu sein, viel älter. Bei
genauerer Betrachtung kann Herr Taub asiatische Züge in dem
skizzierten Gesicht erkennen. Der alte Asiat scheint, im
Gegensatz zu unserer Hauptfigur, jedoch gar nicht verwundert
über seine derzeitige Situation zu sein und klettert die Leiter an
der Säule herunter, als wäre dies alltäglich. Moment Mal,
39
Leiter? Die Leiter hatte Publius in seiner Verwirrung gar nicht
bemerkt. Weiterhin auf allen Vieren kriechend, tastet er sich
langsam an den Rand der Plattform und schielt ängstlich nach
unten. Tatsächlich, sein Turm hat ebenfalls eine Leiter, die an
der Säule hinab durch eine Wolkendecke führt.
Er spürt plötzlich Wind an seiner Haut, zumindest sieht die
Schattierung auf seinem Arm wie Haut aus. Die Leiter führt vom
Podest des Turms zu seiner Säule. Publius schaut noch einmal
zu dem Mann auf, der abwärts durch die Wolkendecke klettert.
Zitternd ergreift er das aus Eisen geschmiedete rote Geländer
und dreht sich um 180 Grad, damit er die Leiter hinabsteigen
kann. Mit mechanischen Bewegungen klettert Herr Taub diesen
ungewöhnlichen Weg weiter herunter, bis er nach einigen
Minuten auf die an ihm vorbeiziehenden Wolken über sich lässt.
Erfreut über seinen eigenen Mut und den bisher schon
zurückgelegten Weg, schaut er kurz runter und erblasst
augenblicklich, was bei einer Schwarz-Weiß-Zeichnung schon
äußerst ungewöhnlich ist. Der Höhenunterschied den er bisher
zurückgelegt hatte, beträgt etwa einhundert Meter, was aber im
Vergleich zu dem Bevorstehenden ein Scherz gleich kommt.
Tausende, wenn nicht zehntausende Säulen gleicher Bauart
verbreiteten sich über eine gewaltige Fläche, welche noch
etliche Kilometer von dem kleinen panischen Mann auf seiner
40
Leiter entfernt ist.
Die Masse an Säulen sind aus dem
schwarzen Boden gewachsen und brechen weiterhin durch die
Wolken, die Publius eben noch passiert hat. Sein Gehirn
schüttet ihn mit Szenarien zu, die meistens aus einem blutigen
Matsch bestehen, dessen Name vorher Publius Taub gewesen
war.
Mit aller Kraft hält er sich an der roten Leiter fest und
schließt seine gezeichneten Lider. Währenddessen findet sein
Gehirn weiterhin gefallen an Bilder für sein kommendes
Ableben, bis ein markerschütternder Schrei aus Publius Tiefen
die Gedanken beiseite schlägt. Dann geht ihm die Luft aus und
er öffnet keuchend die Augen, um dann erneut nach unten zu
blicken. An seiner Situation hat sich erwartungsvoll nichts
geändert und auch die vielen Säulen, die überall emporragen
und damit einem Wald ähneln, scheinen den Schrei nicht zur
Kenntnis genommen zu haben. Der schlanke Mann, der wie ein
verängstigter Affe auf seiner schmalen Leiter hockt, schaut sich
noch mal verunsichert um, nur damit er begreift, dass ihn
niemand aus seiner Lage befreien kann, außer er selbst. Mit
einem Amboss aus Blei in seinem Brustkorb, welcher
sinnbildlich für seine Angst steht, wagt er sich weiter hinab
schaut dabei nicht nach unten sondern verkrampft geradeaus,
gegen die fast fünf Meter dicke Säule. An seine skizzierten
41
Arme scheint er sich langsam zu gewöhnen, als er ruckartig die
Leiter weiter herab steigt und dabei laut flucht:
„Warum muss so eine Scheiße eigentlich ausgerechnet mir
passieren?
In
welchem
verdammten
Albtraum
bin
ich
hineingeraten?“
Die nachfolgenden Flüche richten sich dann mehr auf die
primären Geschlechtsteile skurriler Geschöpfe und was selbige
mit den Exkrementen noch bizarrer Wesen anstellen sollen.
Nach etwa einer halben Stunde wildem Gefluche, in das sich
Herr Taub mehr und mehr hineinsteigerte, nimmt er seine
rechte Hand von dem Geländer, ballt diese, bis auf den
Mittelfinger, zur Faust und schreit:
„Ihr scheiß Wichser!“
Dann bemerkt er, dass er keine fünfzig Meter mehr von dem
Erdboden entfernt ist und einige, ebenfalls gezeichnete
Geschöpfe interessiert nach oben blicken. Ein monotones „Oh“
kommt über seine Lippen, als er sich seiner Situation bewusst
ist. Die letzten Meter hält er dann angespannt die Klappe.
Die Oberfläche des Bodens ist eine sandige Wüste, wobei
der Sand rabenschwarz ist. Die Temperatur ist gemäßigt und es
weht nur sehr selten eine Brise. Eine Art Trampelpfad hat sich
auf der schwarzen Sandschicht gebildet, auf dem sich Herr
Taub befindet. Er blickt sich um, doch außer einigen genauso
42
schlecht gezeichneten Personen, wie er selbst, die alle in eine
Richtung gehen, sieht er nichts. Ohne zu wissen warum alle in
die gleiche Richtung marschieren schließt er sich ihnen an.
Umso länger er geht, umso mehr Personen schließen sich der
unendlichen Gruppe an, wobei darunter auch einige sehr
hübsche weibliche Zeichnungen sind und er dann froh darüber
ist, dass seine Zeichnung Mängel aufweist.
Allerdings sieht ihn ohnehin niemand an, was Publius zwar
gewohnt ist, doch dass niemand auf seine albernen Grimassen
reagiert und alle wie Zombies nach vorne marschieren, lässt ihn
innerlich erschaudern. Ein riesiges Gebäude sieht man schon
von weitem, da die Landschaft komplett ohne Hügel auskommt.
Auch
die
Menschenmassen,
die
von
allen
möglichen
Trampelpfaden zu dem Gebäude laufen, sieht Publius schon.
Die Trampelpfade sind vor dem Gebäude bis zum Erbrechen
verstopft und es geht die letzten einhundert Meter nur
langsamen Schrittes voran.
Die Menschenmassen bewegen sich auf ein riesiges
weißes Gebäude zu, welches an eine Burg erinnert, dessen
Burgherr ein Fetisch für Türme hat. Die geschätzten dreißig
Türme sind ungleichmäßig über das Gebäude gebaut. Publius
geht durch einen gewaltigen Torbogen und betritt einen Raum,
der so groß ist, dass er die Wand zu seiner Linken nicht sieht.
43
Alles in dem Raum ist weiß gehalten. Überall stehen Statuen
von Tieren und Pflanzen.
Beeindruckt sieht Publius von dem weißen Marmorboden
auf und erblickt einen roten Kasten der farblich damit absolut
unpassend wirkt. „Nummer ziehen. Weiter gehen.“ Steht
unfreundlich darauf. Der Tote blickt sich um und bemerkt, dass
die Skizzen in den anderen Reihen ebenfalls an einem solchen
Kasten vorbei kommen und bedenkenlos eine Nummer ziehen,
so tut er es ihnen gleich. Seine Karte enthält die Nummer 3.
Hilfe suchend sieht er sich um und bemerkt eine Lichttafel mit
der Aufschrift „Nächste Nummer: 2“ Publius Taub atmet
erleichtert auf und blickt euphorisch auf seine Karte. Dann
schaltet die Anzeige weiter und verkündet nonverbal: „Nächste
Nummer: 2 0 0 1“.
„Verdammter Dreck“
entfährt es ihn und er beißt sich ungeduldig auf die Unterlippe.
Dreißig Meter vor ihm steht Pauli, ein kahler buckeliger
Greis, der sich ständig fragt, warum hier so viele für die Toilette
anstehen. Was er bisher nicht weiß, ist die Tatsache, dass er
vor gut acht Stunden aus seinem Bett aufgestanden war, um
sich, wie jeden Mittag, einen Toast mit Leberwurst und Käse
einzuverleiben. Eine Klavierspeditionsfirma, die zur gleichen
Zeit ein Klavier in den dritten Stock zu Frau Rot brachte,
44
hatte dann keinen Einfluss darauf, dass Pauli an seinem
Frühstück erstickt und erst nach drei Wochen gefunden wird,
als Frau Rot einen abartigen Geruch aus der Wohnung über ihr
bemerkt, nachdem sie feststellen wird, dass sie Klavierspielen
hasst.
Die Warterei setzt Publius außerordentlich zu und von den
gezeichneten Menschen jeder Altersgruppe um ihn herum hat
er dann auch schon bald genug gesehen und die monströse
Innenarchitektur
hält
schon
lange
nicht
mehr
seine
Aufmerksamkeit. Nach hunderten kurzen Schritten erspäht er
die Ziele der etlichen Warteschlangen. Es war eine etwas
verwirrte alte Frau mit großer Brille, welche an jedem der
geschätzten zweihundertdreiundsiebzig Schalter saßen. Schien
eine größere Verwandtschaft zu haben, die gute Frau.
Endlich kommt Publius an die Reihe.
Bei den vielen Frauen handelt es sich scheinbar um Klone,
sonderlich hässlichen Klonen. Die betagte Frau, deren weißes
Haar zu einem Turm aufgesteckt wurde, mustert Herrn Taub
kritisch.
„Name“
45
unfreundlich fällt das Wort aus dem Mund der alten Dame und
hinterlässt dabei ein Geräusch, wie Fingernägel auf einer Tafel.
Publius erschaudert innerlich und antwortet verzögert:
„Taub. Publius Taub“.
Die Frau schielt über ihre schmalen goldenen Brillenbügel und
zeigt dabei die Gleiche Regung wie ein Berg bei Unwetter. Ein
Schnaufen nimmt Publius wahr und wird dann von einem
ganzen Satz gefolgt:
„Einen Augenblick“.
Sie schaut auf ihren äußerst aufgeräumten kleinen Schreibtisch
und öffnet eine kleine Schublade, in die nicht mal eine
Schachtel Streichhölzer reinpassen würden. Dennoch holt sie
daraus ohne Probleme einen Stapel zusammengehefteter
Papiere und knallt sie auf die Theke.
„Damit
erklären
Sie
sich
einverstanden,
dass
Ihre
unsterbliche Seele recycelt wird und ihre Erinnerungen komplett
gelöscht werden.“
„Bitte was?“
Publius verschluckt sich vor lauter Verwirrung an seiner
eigenen Zunge und hustet der unfreundlichen Frau auf den
Tresen. Nachdem er sich etwas gefangen hat, schaut ihn die
Empfangsdame missbilligend an und wiederholt kurz: „Seele
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recyceln, Erinnerungen löschen“. Panik macht sich in ihm breit
und lauter als er eigentlich will, fährt er die Frau an:
„Sie
können
doch
nicht
einfach
meine
Seele
wiederverwerten und meine ganzen Erinnerungen, mein ganzes
Leben löschen. Dieses Recht steht Ihnen doch gar nicht zu.“
Er atmet ein.
Die Sekretärin richtet sich schnaubend auf und brüllt:
„Bei jedem Zweiten dieselbe Scheiße. Ich halte mich hier
nur an meine Vorschriften. Alle paar Minuten muss ich mir den
gleichen Dreck von euch anhören. Ich habe noch über vier
Stunden Schicht und zuhause warten zwei Rotzplagen und ein
Mann mit einem gebrochenen Nasenbein, der mir jeden
verdammten Abend die Ohren zuheult. Ich habe es langsam
satt hier immer die gleiche Arbeit zu machen.“
Sie atmet ein. Publius zittert, schwitzt und schluckt, als er
kleinlaut fragt:
„Wo soll ich unterschreiben?“
Seine Unterschrift ist schnörkellos und dennoch nicht zu
entziffern. Die doppelte Mutter gibt sich dennoch damit
zufrieden und setzt sich wieder auf ihren Allerwertesten. Etwas
besser gelaunt verkündet sie dann in einem geschwätzigen
Tonfall:
47
„Gut, dann gehen Sie bitte weiter und nehmen Tür Nummer
84“.
Obwohl sich Publius absolut sicher ist, dass bis eben die
turmhohe Wand hinter der Dame noch vollkommen kahl war,
reiht sich jetzt eine Tür neben die andere. Zögerlich nähert er
sich den dunkelbraunen Holztüren, welche ihre Nummer mit
weißer Farbe in der Mitte tragen.
Wiederholt ruft er sich seine Türnummer im Kopf auf, bis er vor
einer der Türen steht. Ungläubig starrt er auf die Zahl die von
dem dunklen Holz aufleuchtet und erkennt, dass es sich um
Nummer 84 handelt, um seine Nummer. Sein Herz schlägt
schneller, da er sich abrupt die Frage stellt, was hinter der Tür
eigentlich auf ihn lauert. Laut atmet er wiederholt ein und aus,
bis er dann die Türklinke hinunterdrückt, in die Pforte tritt und
die Tür hinter sich schließt. Die Kamera fährt von der Tür
zurück und zeigt die anderen Türen, die alle ebenfalls Nummer
84 tragen und dann so schnell verschwinden, wie sie
aufgetaucht waren.
Eine Treppe führt nach unten, sehr weit nach unten. Herr Taub
geht die nur karg von, an der Wand befindlichen, Kerzen
beleuchteten Treppenstufen hinunter und muss sich dabei an
seine Leitereskapade erinnern.
48
Die Zeit verfliegt bei diesem Lauf so schnell, das Publius
von dem monotonen Hinabsteigen vollkommen den Bezug zu
sich selbst vergisst. Nachdem er die fast endlose Treppe
bezwungen hat, knallt er in seinen stumpfen Gedankengängen
gegen eine Ziegelwand, die ein Sadist dort aufgestellt hat.
Langsam kommt er wieder zu sich und nach einigen Sekunden
der Verwirrung schreit er vor Schmerzen auf und hält sich dann
den eigenen Kopf. Genauso schwach beleuchtet, wie die
Treppe, ist auch diese kleine ebene Fläche. Er tastet suchend
über die Wände, um etwas Brauchbares zu erfühlen, bis er über
Etwas im Boden stolpert und auf der Nase landet. Auf dem
Boden liegend kriecht er weiter, bis er die Stelle findet, an der
er gestolpert war. Eine Luke ertastet er und der Griff fungiert
auch als Stolperfalle. Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund
schwindet die Angst aus seinem Körper, die dem Tatendrang
platz macht.
Mit einer geschickten Bewegung schließt er den Deckel auf
und wird sofort von grellem Licht geblendet. Das runde Loch im
Boden
ist
gerade
groß
genug,
dass
sich
Publius
hindurchzwängen kann. Jedoch muss er seinen Bauch
einziehen, da sich das Loch dann doch als einige wenige
Zentimeter zu eng erweist. Kaum hat er sein Vorhaben
vollbracht, als er einige Meter tief fällt und auf einem
49
Teppichboden landet. Er findet sich in einer Art Wartezimmer
wieder und wird von bizarr aussehenden Wesen gemustert, die
am Rand sitzen. Die Türe öffnet sich, noch bevor Publius einen
Ton zu seiner Lage herausbringt, und zum Vorschein kommt
ein magerer älterer Mann. Der etwa Mittfünfziger hat eine große
Hakennase, einen Ziegenkopf als Kopfbedeckung und ist mit
einer schwarzen Robe bekleidet. Er sieht Publius uninteressiert
an, wendet sich dann an die Übrigen und sagt emotionslos:
„Der Nächste bitte“.
50
Kapitel 4
„Räum endlich dein Zimmer auf und deinen Freund kannst
du dann auch direkt nach Hause schicken“ donnert es aus dem
Hals einer Dreiundvierzigjährigen, welche dann eine weiß
lackierte Tür zuknallt. Der stämmige, etwas kurz geratene
Enrique und sein schlanker, etwas lang geratener Kumpel
Simon sitzen in ihrer Geisterzentrale. Diese wird zurzeit von der
Mutter des Peruaners heimgesucht, welche in ihrem debilen
Putzwahn vergaß, dass die Wohnung auch Simon gehört. Seit
einigen Minuten sitzen beide zusammen und versuchen ihr
gestriges nächtliches Treiben in Worte zu fassen, nebenbei
hören sie sich spanische Flüche aus der Küche an.
„Ich bekomme dieses merkwürdige Wesen nicht mehr aus
dem Kopf“
beginnt Simon leise, nachdem in der Küche Stille einkehrte.
„Ich
tippe
auf
einen
Außerirdischen,
der
die
Welt
unterjochen wollte. Vielleicht auch nur ein Vorbote einer ganzen
Invasion dieser Geschöpfe“
sagt Enrique, welcher sich dafür einen skeptischen Blick von
seinem besten Freund einfängt. Plympton, der schon immer der
rational Denkende der beiden ist und mit den Fantastereien
51
seines Gegenübers noch nie viel anfangen konnte, hat auch
diesmal ein passendes Gegenargument bereit:
„Wir sind nicht in einem deiner c-klassigen Science-FictionFilmen, daher muss es dafür eine vernünftige Erklärung geben.“
Kaum hat er die Worte ausgesprochen, als da Silva an die
Wand schielt und seine absurde Theorie weiter ausschmückt:
„Tiere, die mit außerirdischer DNA infiziert wurden und
dadurch
mutierten.
Ganz
geheime
Forschungen
der
Amerikaner.“
Der Gesichtsausdruck von Simon ähnelt stark dem einer
Person, die seit vierzehn Jahren versucht einer Hecke das
Fahrradfahren beizubringen, enttäuscht, am Boden zerstört und
trotzdem mit einen gequälten Hauch Motivation.
Gekonnt wird nun Simons Gesichtsausdruck ignoriert und mit
einer Erweiterung der Theorie fortgefahren:
„Eventuell war es ja auch ein Cyborg, aus einem Genlabor
eines Außerirdischen.“
Enrique läuft das Wasser im Mund zusammen, als er sich auf
dem Titelblatt einer bekannten Zeitung sieht, welche folgende
Überschrift trägt „Held und Handlanger entdecken das GenLabor eines Außerirdischen“ und in einem kleinen Kasten weiter
unten „Früchtekorb zu gewinnen“. Starr blickt Enrique weiter vor
sich hin, in seiner Traumwelt gefangen. Simon, der bis dahin
52
seine Gedanken mit Überlegungen beschäftigt, sagt dann, mehr
zu sich selbst:
„Von wegen Außerirdische, dafür muss es doch eine
plausible Erklärung geben. Es gibt doch mit Sicherheit
Menschen, die sich mit solchem Zeug auskennen.“
Dann kramt er ein Telefonbuch hervor, was in dem kleinen
Wohnzimmer als Ablage der Fernbedienung dient. Er blättert
flüchtig in dem großen Buch herum ohne dass er etwas
Bestimmtes sucht.
Doch dann fällt sein Blick auf eine kleine Anzeige, die er
dann laut vorliest: „UFO“. Enrique wird sofort hellhörig und
schielt interessiert in das Buch, als sein Freund das
Kleingedruckte der Anzeige vorliest:
„Uniformierte, Frigide Omis. Die alten Schabracken von
Nebenan.“
Beide fangen laut an zu lachen.
Das kantige Gesicht von Enriques Mutter taucht aus der
Küchentür auf, schaut grimmig drein und bringt damit die
beiden
Geisterjäger
zum
Schweigen.
Die
Tür
wird
zugeschlagen und Simon schaut sich nochmals in dem Wälzer
um, diesmal aber mir höherer Sorgfalt. Zeile für Zeile, Anzeige
für Anzeige durchlesen seine Augen das Telefonbuch, bis sein
53
Blick verharrt und mit einem Röcheln die Aufmerksamkeit von
seinem Kumpel einfordert:
„Sieh dir das an“.
Noch bevor der Südamerikaner seinen Kopf zur Seite neigt, um
Einsicht zu erhalten, fährt Simon unbeirrt fort:
„Okkulte Rituale, Mythologien aller Art und Wahrsagung“.
Der lange Mann hält inne und kaut gedankenverloren an seiner
Unterlippe. Fragend sieht Enrique seinen Freund an und
überlegt, ob er dazu etwas sagen soll, doch noch bevor er sich
entscheiden kann setzt Simon wieder an:
„Das wäre doch das Richtige“
„Meinst du, das ist eine seriöse Anzeige? Ich habe den
Verdacht, das ist einer von diesen Schwindlern“ wirft Almeida
ein, worauf Herr Plympton auch sofort eingeht:
„Allerdings haben wir bei solchen Anzeigen immer dieses
Problem. Ich schlage vor, wir fahren einfach mal hin und
entscheiden vor Ort, ob es seriös ist, oder eben nicht.“
Nach einigen Sekunden Denkzeit, in der sich Enrique ausgiebig
an der Schläfe kratzt, fragt er:
„Wo ist der Mensch denn zuhause?“
Simon sieht sich noch einmal die Anzeige an und stöhnt dann
auf:
„Drei Ortschaften weiter, also etwa achtzig Kilometer.“
54
„Na großartig“
entfährt es Enrique Carlos, dessen Mimik sich nach der
Erkenntnis deutlich missmutiger gestaltet, als er sagt:
„und wie sollen wir dahin kommen? Du weißt dich, dass wir
kein Geistermobil haben und unser Geisterjägerfahrrad ist in
der Werkstatt, da sich die Glühbirnen nicht mehr bewegen,
wenn man in die Hände klatscht. Oder sollen wir mit dem Bus
fahren?“
Darauf weiß Simon jedoch keine Antwort und zuckt daraufhin
nur entmutigt mit den Nasenlöchern.
Wie auch immer sie es angestellt haben, aber nun stehen
sie mit erhobenem Daumen am Straßenrand. Die Autos fahren
desinteressiert an ihnen vorbei, dann fängt es leicht an zu
regnen,
als
Enriques
Antwort
über
den
Verkehrslärm
hinwegtönt:
„Großartige Idee, du Spinner. Hätten wir den Bus
genommen, wären wir schon längst angekommen.“
Woraufhin seine Begleitung kontert:
„Von welchem Geld denn, du Genie? Du hast doch unsere
Gemeinschaftskasse geplündert.“
„Ich brauchte das Fußbad und zwar sehr dringend, denn
meine Füße schmerzen wie die Hölle“.
55
Wie auf Stichwort, hält ein alter Land Rover vor ihren Füßen,
als das letzte Wort des Satzes ausgesprochen wurde. Stockend
wird die Fensterscheibe hinunter gekurbelt und ein freundliches
rundliches Gesicht eines Halbglatzkopfes erscheint, der sie
dann auch direkt freundlich fragt:
„Wo müsst ihr denn hin?“
„Pinneberg“
antwort Simon sogleich
„Da habt ihr Glück, ich fahre durch Pinneberg. Steigt ein“.
Die
beiden
Anhalter
steigen
in
den
dunkelgrünen
Geländewagen ein, wobei der Chef des Geisterjägerteams es
sich vorne bequem macht. Bevor der Unbekannte losfährt,
grinst er sie freudestrahlend an und stellt sich vor:
„Ich heiße übrigens Fung Sheng“.
Er streckt seine Hand aus und die beiden Geisterjäger werden
von den weißen Zähnen angestrahlt, die sich von der
schwarzen Haut des Mannes absetzen.
„Das ist Simon Plympton und ich bin Enrique Carlos
Almeida da Silva.“
„Sehr angenehm“
sagt der Mittvierzieger, legt den ersten Gang ein, fährt los und
setzt dann sein Gespräch fort:
56
„Früher bin auch sehr oft getrampt. Aber die Menschen sind
in der Beziehung äußerst zurückhaltend und fahren dann lieber
an dem bösen schwarzen Mann vorbei.“
Er lacht kurz kopfschüttelnd, bevor er weitererzählt:
„Einmal hat mich sogar ein paranoider Kettensägenmörder
mitgenommen, wobei er da meinte, dass ihm die Medien für
seinen Job sehr gut bezahlen.“
Dann steht das
Gespräch und aus
dem
anfänglichen
Nieselregen wird ein starker Wolkenbruch, in dem sich die
Scheibenwischer Mühe geben, dem Fahrer einen freien Blick
auf die Straße zu gewähren.
Die Landstraße ist fast leer gefegt und die Insassen sehen
nur die verschwommene Aussicht auf weit gestreckte Felder.
Die Wolkenberge verdunkeln den Himmel und es kommt einem
vor, als wäre schon der Abend hereingebrochen, da die
Scheinwerfer die Straße erhellen müssen.
Sheng, dessen Autoradio gerade mit House of the Rising
Sun fertig wird, unterbricht die dichte Atmosphäre mit einer
Frage:
„Was wollt ihr eigentlich in Pinneberg?“
Da Silva schaut in den Rückspiegel, der für diesen Zweck dort
hingehängt wurde, zu seinem desorientierten Freund, welcher
57
abweisend die rechte Braue hebt, wobei es die Linke ist,
verdammter Spiegel. Da, Silva antwortet:
„Wir wollen zu einem Okkultisten“.
Der farbige Fahrer dreht den Kopf so ruckartig in Enriques
Richtung, dass dieser erschrickt.
„Ihr wisst es auch, oder?“
Die zwei Geisterjäger werfen sich gegenseitig Blicke zu. Ohne
eine Antwort abzuwarten, fährt Fung fort:
„Sie kommen uns holen. Dämonen und böse Geister. Ich
weiß es ganz genau. Es gibt da einen Jungen, der schaut mich
immer sehr böse an, wenn ich dienstags mit dem Fahrrad von
meinem
Schwager
zum
Bäcker
um
die
Ecke
fahre.
Wahrscheinlich ein Besessener, oder ein Leibeigener eines
Dämons. Die Erde wollen sie erobern. Satan, Luzifer,
Beelzebub, die ganz Sippschaft.“
Die Handgelenke des Fahrers verkrampfen sich um das
Lenkrad, dann nimmt er tief Luft und erweitert seine
Prophezeiung:
„Dazu habe ich mir letztens ein Fachmagazin gekauft, worin
es heißt, dass die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr lange
bestehen bleibt. Denn bald werden finstere Mächte über uns
hereinbrechen, die ersten Anzeichen sind schon da. Der Junge
58
zum Beispiel, oder diese seltsamen Lichter, die ich ständig bei
Nachtfahrten sehe.“
Simons und Enriques Herzen schlagen nun wie das
flehendliche Gezirpe einer Grille in der gottverlassenen
Mongolei.
„So da wären wir“
schrillt die etwas zu euphorische Stimme des Fahrers und hält
dabei am Straßenrand. Irritiert und verängstigt steigen die zwei
Gestalten aus dem Geländevehikel. Der Wagen braust so
schnell davon, wie er gekommen war. Im Inneren sagt ein afroindischer Mitbürger:
„Diese Vollidioten“
lacht dabei schallend und ward im Regen alsbald nicht mehr
gesehen.
Wie ein Häufchen Elend stehen die beiden Superhelden auf
dem Bürgersteig und starren konfus ins Leere, während ihre
Klamotten erneut nass werden. Plympton, der sich dann wieder
besinnt, fängt dann auch das nächste Gespräch an:
„Meinst du das Wesen, was wir gesehen haben, war ein
Vorbote all dieser schaurigen Vorhersagen?“
„Ich hoffe nicht“
seufzt der Peruaner
59
„sonst
haben
wir
hier
bald
einen
prall
gefüllten
Terminkalender und am Wochenende nicht frei.“
Simon erschaudert bei der Vorstellung und drängt dann zum
weitergehen:
„Lass uns diesen Okkultisten ausfindig machen, vielleicht
hat er Antworten“.
Eine dunkle Gestalt betritt einen karg eingerichteten Raum.
Nur eine Glühbirne, die von der Decke baumelt, erhellt den
Raum sporadisch, der stark an ein Kellergewölbe erinnert. Der
dürre Mann schreitet zu einem Schreibtisch, welcher sich an
der gegenüberliegenden Wand zur Tür befindet und setzt sich
auf einen alten Stuhl. Zitternd vor Aufregung durchsieht er die
zahlreichen Papiere und Notizblätter, die sich auf dem
Schreibtisch
zu
einer
augenscheinlichen
Unordnung
angesammelt haben. Das Gesicht des Mannes ist von einem
diabolischen Grinsen gezeichnet, während er zu sich selbst
spricht:
„Es ist vollbracht. Endlich konnte ich die bösesten und
schrecklichsten Tiere der Welt zusammentragen und zu einem
ultimativ bösartigen Tier formen, welche alle Alpträume
sprengen wird.“
60
Er lacht schallend mit erhobenem Kinn und ausgebreiteten
Armen. Dann steht er äußerst elegant auf und bewegt sich zu
einem Eisengebilde, welches bis an die Decke reicht und einem
riesigen Ofen ähnlich sieht. Weiter spricht er monoton mit sich
selbst:
„Egal welche bizarre Gestalt ich erschaffen habe, ich werde
es einem dieser terroristischen Staaten verkaufen.“ Seine Hand
will nach einem Griff greifen, wird aber kurz vorher zurück
beordert und greift stattdessen einen Schürhaken.
„Nur zur Sicherheit“
murmelt der Mann besessen und drückt dann mit der anderen
Hand die Klinke herunter.
Schwärze befindet sich hinter der Tür. Eine Gestalt erscheint
aus der Dunkelheit und der Mann erhebt seinen Schürhaken
drohend. Ein nackter Mann steht dann in der Tür und sagt
verwirrt:
„Hallo, ich bin Anton, wo bin ich?“
Mehr zu sich selbst spricht darauf der dürre Mann im dunklen
Gewand:
„Das Böseste der Tierwelt zusammengenommen ergibt den
Menschen, und er heißt Anton.“
Ein schrilles Klingeln ertönt über den beiden und der Mann in
Schwarz tönt euphorisch:
61
„Hui, Besuch“.
Er will sich gerade in Bewegung setzen, als er bemerkt, dass
Anton weiterhin teilnahmslos und splitterfasernackt in der
monströsen Apparatur steht. Der wahnsinnige Mann blickt seine
Schöpfung kurz an und sagt ihm dann:
„Dort drüben ist eine Kaffeemaschine, bedien dich.“
Nachdem Anton seinen Kaffee austrinken wird, eröffnet er
in
einer
kleinen
Ortschaft
am
Starnberger
See
ein
Kerzengeschäft.
„Klingel noch mal, der schläft mit Sicherheit“
fordert Simon seinen Kumpel Enrique auf, der genervt nun
schon zum fünften Mal den Totenkopf drückt, welcher an der
Wand als Klingel fungiert. Von den unzähligen Reihenhäusern,
die die Straße säumen, sieht ihr Zielhaus am schäbigsten aus.
Das lag vor allem am Garten, der vor dem Haus zur Straße hin
gelegen ist. Dieser sieht aus, als hätte sich dort eine
Planierraupe einen Kampf mit einem Rudel Bären geliefert.
Lautes Getrampel dringt aus dem Haus und die Tür wird
ruckartig
aufgerissen,
bevor
eine
laute
Stimme
daraus
hervordringt:
„Warum klingelt ihr mir die Ohren kaputt, ihr Armleuchter?“
Vollkommen verunsichert bekommt keiner der zwei Helden eine
62
Antwort heraus. Obwohl es immer noch regnet, kann man durch
die Helligkeit das Gesicht des Mannes ausmachen, welches
dem irren Arzt in der Praxis sehr ähnlich sieht, in die sich
Publius verlaufen hatte. Sein Blick richtet sich erst zu Enrique
und dann zu dem ihn überragenden Simon, der ein falsches
Grinsen aufsetzt, um die Konfrontation zu entschärfen.
„Was wollt ihr?“
fragt der Hexenmeister mürrisch, während er immer noch in der
Tür steht und blaue Pantoffeln trägt. Da Silva, der weiterhin mit
offenem Mund den Zauberer anstarrt, bekommt von seinem
Kollegen einen freundlichen Schlag mit dem Ellenbogen in die
Seite, worauf er zu sich kommt und sich an ihr Vorhaben
erinnert:
„Wir müssen Ihre Fähigkeiten in Anspruch nehmen. Wir
haben etwas Unvorstellbares gesehen.“
Nachdem sich alle Beteiligten an einen runden Fliesentisch
im Wohnzimmer positioniert haben, beginnen der Waliser und
der Peruaner mit ihrer Geschichte, die aber die Tatsache außer
Acht lässt, dass sie kurz davor waren sich einzunässen.
Interessiert und mit nickenden Kopfbewegungen hört sich der
Mann mit dem Ziegenschädel auf dem Kopf die, aus
Erinnerungen zusammen gestrickte, Geschichte an. Zeit um
sich vorzustellen hatte er keine bekommen, da die beiden
63
Gespensterjäger sofort mit der Geschichte begannen. Etwas
aus der Puste beendet Enrique dann die Erzählung:
„Was war das für ein Scheißvieh?“.
Die Miene des Mannes verfinstert sich daraufhin langsam, bis
er wortlos aufsteht, den Raum verlässt und dabei undeutlich
murmelt:
„Folgt mir“.
Der angrenzende Raum führte eine zweistufige Treppe
hinunter, die Simon fast übersieht, als er sich das Zimmer voller
Bücher ansieht. Der Raum ist riesig und beherbergt ein
Dutzend meterlange Schränke, die voll gestopft mit Büchern,
Antiquitäten und Tränken ist. Aus der Erfahrung heraus, wo sich
die Bücher befinden, begibt sich der alte knochige Mann zu
einem der Regale und verschwindet dahinter.
Langsam folgen ihm die beiden Besucher, die versuchen
einen
Überblick
über
die
angesammelten
Raritäten
zu
bekommen. Ein Schrei erfüllt plötzlich den Raum. Schnell
stellen die zwei fest, dass er vom undurchsichtigen Hexer
gekommen war und gehen schnellen Schrittes in die Richtung,
aus der der Schrei gekommen zu sein scheint. Eine Eule fliegt
ihnen entgegen, flattert über ihre Köpfe und ist nach kurzer Zeit
nicht mehr zu sehen. Wutentbrannt stürmt der Zauberer aus
64
einer Nische hervor, bewaffnet mit einem Gehstock und brüllt
der längst verschwundenen Eule hinterher:
„Verdammtes Federvieh. Lass dich hier noch einmal blicken
und ich haue dir die Stirn so blau, dass sie dir abfällt“.
Er beruhigt sich und sagt dann zu den zwei Gästen:
„Verdammte Eulen, die gehen immer auf wilde Parties und
schlafen hier rotze voll ein, bis ich sie rausschmeißen muss“.
Der Waliser und Enrique sehen sich irritiert an, fragen aber
nicht weiter nach. Ohne sich weiter mit der Eule zu befassen,
dreht sich der Mann zu einem Regal um, durchsucht es hastig
und redet dabei weiter mit sich selbst:
„Es muss doch hier irgendwo sein. Ich habe es doch erst
neulich gesehen, verdammt. Ist es das hier? Nein, doch, nein.
Aha, hier, nein auch nicht“.
Währenddessen wirft er einige der Bücher auf den Boden,
um sich mehr Platz im Regal zu verschaffen. Endlich scheint er
das Gesuchte gefunden zu haben, zumindest erstarrt er in der
Bewegung und auf seinem Gesicht bildet sich ein wissendes
Grinsen, welches man allerdings auch als einen gestörten Tick
hätte abtun können.
„Na endlich, da ist ja das Scheißding.“
Der Bibliothekar schreitet triumphierend auf einen kleinen
Abstelltisch zu, der aus schwarzem Holz besteht und dutzende
65
Bücher beherbergt. Nur ein, genauso schwarzer, Holzstuhl
steht in der Nähe des Tisches, auf den sich der rüstige Mann
setzt und die beiden Besucher komplett ignoriert, während er in
dem Buch blättert, welches er eben aus dem Regal gezogen
hat, worauf ein dicklicher Pinguin mit einem roten Schal zu
erkennen ist. Erschrocken fährt Da Silva und Plympton
zusammen, als der Namenlose aufschreit.
„Hier, das ist mit Sicherheit das Vieh, was ihr sucht.“
Die beiden selbsternannten Geisterjäger bekommen langsam
wieder Farbe nach dem Schrecken und schauen auf ein Bild im
Buch, welches eine detailgetreue Skizze ihrer Beobachtung
enthält. Leicht irritiert fragt Simon daraufhin:
„Was zur Hölle ist das?“
Während sich der Alte seinen, teilweise grauen, Ziegenbart
streichelt, sagt er ungewollt geheimnisvoll:
„Eine Elfe“
„Eine Elfe?“
fragen daraufhin zwei Personen, die sich offenbar im falschen
Film vermuten, fast gleichzeitig, wobei Simon dann noch
abfällig ergänzt:
„Das Ding sieht eher aus, wie eine Kreuzung zwischen
einem Affen und einem Schwein, dessen Verdauung äußerst
labil ist.“
66
Der Mann in Schwarz, der wohl mit einer solchen Bemerkung
gerechnet hat, grinst nur bestimmt.
„Filme, Bücher und andere Medien sind vollgestopft mit der
Vorstellung, wie ein Elf auszusehen hat. Aber in den ganzen
Fantasyromanen
werden
meist
diese
Spock-ähnlichen
Schwuchteln erwähnt, weil sie einfach schöner anzusehen sind,
als diese Ausgeburten eines schlechten Romanautors. So
etwas würde kein pubertierendes Mädchen toll finden“
sagt der Bärtige, der währenddessen mit seinen knochigen
Fingern unrhythmisch auf das Buch tippt. Dann fährt er nach
einer kurzen Denkpause fort:
„Übrigens wurden Elfen früher rapide gejagt, wegen ihrer
Beine“
Diese Aussage läuft an den zwei Geisterjägern vorbei und geht
die Tür hinaus, da sich diese viel lieber mit dem Geschriebenen
unter dem Bild beschäftigen. Der alte Zaus zwirbelt sich wieder
an seinem Ziegenbärtchen und überschaut die Aktivitäten der
Ankömmlinge mit nervösem Blick und zugekniffenen Augen.
„Woher kommen diese Wesen?“
fragt Simon, der zu dem Mann aufschaut.
Doch der Alte reagiert in keiner Weise, worauf Simon Plympton
aufgebracht seine Stimme hebt:
„Hallo“.
67
Ein spitzer Schrei, der aus dem Mund des Greises dringt, lässt
die Wände erzittern. Der Magier, der darüber nachdachte
Sexheftchen in die Bibliothek mit aufzunehmen, fragt unsicher:
„Wie bitte, was? Wo die Viecher herkommen? Ach ja,
genau.“
Etwas aus dem Konzept gerissen fängt er im offen liegenden
Buch zu blättern an und hat dann auch sogleich die Antwort
parat:
„Aus dem Jenseits“.
Mit gruselig aussehenden Armbewegungen untermalt er die
Aussage. Den beiden Nebencharakteren läuft es kalt den
Rücken herunter. Als der Bibliothekar merkt, dass seine
Gesprächspartner mit seinem Satz und vor allem mit seiner
überschwänglichen Geste nichts anzufangen wissen, seufzt er
lange und greift zu dem ominösen Buch auf dem Tisch.
Er durchblättert erneut einige Seiten dieses enorm dicken
Buches, dessen Cover weiterhin den Pinguin zeigt, der dieses
Mal aber etwas skeptischer schaut.
„Das Jenseits bildet eine Welt, die sich von unserer nur
minimal unterscheidet. Als vor Anbruch der Zeit sich die Götter
der fünf Himmelsrichtungen stritten, wer denn nun auf den
Kompass darf, richteten sie ein Spiel aus, welches Tischtennis
68
nicht unähnlich ist. Eine Entscheidung über die absolute Macht
sollte
dadurch
festgelegt
überraschenderweise
werden,
niemand.
Die
doch
es
verfeindeten
gewann
Götter
bekriegten sich über Jahrmillionen, bis sie sich irgendwann so
weit gebracht hatten, dass sie die Lust verloren. Nur der fünfte
und letzte Gott ist ein unsympathischer Sack und kapselte
einen Teil der Welt von dieser ab und erschuf sich damit sein
eigenes Reich. Dieser Gott versäumte es jedoch irgendetwas
aus unserer Welt mitzunehmen. Nach einiger Zeit fehlte im
somit das Personal, um sein Reich in Schuss zu halten. Auch
eine Anfrage an seine ehemaligen Partner stieß auf taube
Zehen.
Durch einen Schlupfwinkel gelang es
ihm
jedoch, ein
Schlupfloch zu finden. Wer hat das eigentlich aufgeschrieben?
Die Phase, wo sich die Seelen der Menschen von ihrem Körper
trennen, bei ihrem Tod, oder bei einem Drone Doom Konzert.
Durch diesen Umstand müssen alle Seelen zuerst das Jenseits
passieren, bevor sie kategorisiert und wiederhergestellt werden.
Einige
wenige
widersetzen
sich
jedoch
diesem
Wiederherstellungsprozess und blieben einfach im Jenseits, um
dort ein Leben zwischen den Welten zu führen. Natürlich wäre
die Geschichte nur halb so interessant, wenn man jetzt nicht
erwähnen würde, dass dem Jenseits gewisse Eigenschaften
69
anhaften. Die Widersetzer können sich so eine kuriose und
eigene Welt erschaffen.“
Der Bibliothekar saugt die Luft ein, um seine Lungen mit
Sauerstoff zu befüllen.
„Und wie kommt ein solches Wesen auf unsere Welt?“
fragt Enrique.
„Überall auf der Welt gibt es spezielle religiöse Orte, die als
quasi Tore zum Jenseits dienen. Das haben schon unsere
Vorfahren erfahren. Diese Orte sind zum Beispiel Stonehenge,
die Pyramiden von Gizhe oder der Kölner Hauptbahnhof.“
Mann sieht den beiden Halbstarken sofort an, dass sie diese
Geschichte genauso dämlich finden, wie der Leser. Ohne sich
davon abbringen zu lassen, fragt der Hexer direkt:
„Soll ich euch dorthin bringen?“
Simon, der sich gedankenverloren mit der Zunge einen Rest
Brokkoli aus den Zähnen zieht, verschluckt sich und starrt den
finster grinsenden Mann erschrocken an.
„Wie meinen Sie das?“
fragt Enrique, der sich erwartungsgemäß besser auf absurde
Situationen einzustellen weiß, als sein Partner. Der Bart des
Ziegenpeters besteht mittlerweile nur noch aus einer einzigen
gezwirbelten Locke, was seinen Träger aber nicht davon abhält,
daran weiterzudrehen.
70
„Unter dieser Bibliothek laufen die Elementarlinien der Erde
zusammen.
Durch
okkulte
Rituale
kann
ich
euch
ein
Dimensionstor beschwören.“
Das Grinsen des Mannes erinnert Enrique und Simon an
das eines Vertreters, der ganz genau weiß, dass die beworbene
Fußdusche nach zwei Monaten anfängt ein Eigenleben zu
führen und sich dann von Zehen und Pampelmusen ernährt.
Aus diesem Grund hegen die beiden berechtigte Zweifel an
diesem Angebot.
„Ich denke wir wissen genug darüber.“
Versucht Simon der Frage auszuweichen
„Vielen Dank für die Hilfe…wo ist der Ausgang?“
„Was, so plötzlich? Jetzt sagt aber nicht, dass ihr Angst
bekommen habt.“
Simon jedoch wehrt diese Anschuldigung vehement ab:
„Natürlich nicht, aber die Antworten genügen uns wirklich
und mit diesen werden wir jetzt guten Gewissens nach Hause
gehen, wo wir uns dann weiter damit befassen. Also tschüss“
Sichtlich enttäuscht führt der Ziegentotenkopfträger die zwei
aus der Bibliothek, hin zur Eingangstür.
„Also, auf wieder sehen“
71
lügt der Südamerikaner, als sie das Haus verlassen und lassen
einen kopfschüttelnden Mann zurück. Kaum auf der Straße
angekommen, sagt Enrique triumphierend:
„Zum Glück sind wir hier raus gekommen, bevor der
irgendeine bescheuerte Show mit uns abzieht. So ein Spinner.“
Simon nickt beipflichtend, zeigt dann aber plötzlich auf ein
Plakat und sagt:
„Oh, schau mal, in der Stadt ist Kirmes“.
Wieder an der frischen Luft, hellen sich die beiden Gesichter
auf und Enrique stellt sogleich zutreffend fest:
„Geil, Kirmes“.
Der Regen hat nachgelassen und nur ein leichter
Nieselregen bedeckt den Ort wie ein Nebel. Nachdem die
beiden bei einem Imbiss, einige Hundert Meter entfernt, eine
grimmige Nonne beim Verzehr einer Currywurst nach dem Weg
fragten, gingen sie weiter gen Stadtmitte, wobei sich ihre Haare
mit Wasser voll saugen. Bei Enrique lediglich die Brauen.
Die verwaschene Jeans und das dreckige, löchrige, schwarze
T-Shirt von dem Peruaner stehen dabei im krassen Gegensatz
zu dem weißen Zuhälteranzug seines walisischen Freundes,
was sie wie ein bizarres Schwulenpärchen aussehen lässt.
Während sie über die, noch immer pitschnassen, Bürgersteige
72
gehen, bekommen sie aufmüpfige Blicke von allein erziehenden
Müttern vorgeworfen, die zwar selbst das Klischee einer
Sozialhilfeempfängerfamilie vollkommen ausfüllt, aber selbst
alle Personengruppen in eine Schublade steckt, ohne sie
kennen lernen zu wollen.
Aus
der
Ferne
durchbricht
die
Nieselregenfont
ein
Lichterhorizont, was den zwei Durchnässten einen Schub gibt
ihre Schritte zu beschleunigen, da sie der Gedanke begeistert,
auf dem Festgelände sich mit ungesunden Fetten die Zugänge
zum Herzen zu verstopfen. Trotz des kalten und ungemütlichen
Wetters hat es einige hundert Personen an diese Oase des
Lichts verschlagen. Das Treiben auf dem Parkplatz, welcher als
Festgelände umfunktioniert wurde, wird es zunehmend heiterer,
da allmählich die Abendstunden hereinbrechen und sich die
Nüchternen entfernen, inklusive einer Rockerbande, die am
nächsten Tag früh raus muss, da sie einer älteren Frau
versprochen hatten ihren Garten auf Vordermann zu bringen.
Die zwei Geisterjäger setzen sich in Bewegung und
erkunden was der Jahrmarkt alles zu bieten hat.
Sie kommen an Wahrsagern, an Schießbuden und an
Zuckerwatteständen vorbei, doch das interessiert sie alles nicht
so recht. Die Temperatur fällt noch um einige Grad, als sie an
einem großen eckigen Bau vorbeikommen, dessen Wände
73
voller Horrorfratzen in absurden Formen und Farben sind. Über
dem Eingang prangt eine Leuchtschrift „Horrorkabinett des Dr.
Monster“.
Sofort ist Enrique von diesem dunklen und mysteriösen
Gebäude fasziniert und zieht wie ein Kind, am nassen Anzug
von seinem Partner.
„Eine Geisterbahn, super, das ist genau das, was ich nach
all den Gruselgeschichten brauche“
sagt Simon, doch sein Freund ist schon auf dem Weg zu der
Attraktion.
Ein als Teufel verkleideter Kartenverkäufer begrüßt die
Ankömmlinge überschwänglich und beginnt sofort von seiner
Geisterbahn zu schwärmen:
„Hexen,
Teufel,
Zombies,
Gespenster,
Wahnsinnige,
Metzger, wahnsinnige Metzger und viel mehr erwartet euch im
Horrorkabinett“.
Grinsend öffnet da Silva seinen Geldbeutel und fragt aufgeregt:
„Wie viel bekommen Sie, guter Mann?“
„Für euch ist die Fahrt kostenlos“.
Vollkommen begeistert schnappt sich Almeida die zwei Tickets,
die ihm entgegengehalten wurden, und hüpft freudig auf einen
der leer stehenden Wagen zu. Der Wagen hat die Form eines
Totenschädels, wobei die Schädeldecke entfernt wurde, um
74
zwei Sitzen und einem Sicherungsbügel platz zu gewähren.
Während der Fahrt erblicken sie schaurige Puppenspiele von
Hexenverbrennung und Folter. Dann dreht sich ihr Wagen um
neunzig Grad nach links und sie blicken in einen Spiegel, der
jedoch statt Simon einen Zombie zeigt. Enrique schreit auf und
sagt nach einigen Sekunden des Verschnaufens:
„Leck mich am Arsch, war das gruselig“.
Der Totenkopf kommt dann plötzlich zum Stehen und neigt sich
langsam nach vorne. Simon und Enrique blicken in ein, aus
Leichenteilen bestehendes, Loch, dass sich langsam zu drehen
beginnt. Dann lässt der Bügel nach und beide fallen schreiend
in besagtes Loch. Der Totenkopf richtet sich wieder auf die
Schiene und fährt den restlichen Weg zurück, als wäre nichts
gewesen. Hinter dem Horrorkabinett taucht der okkulte
Bibliothekar auf und isst an einer Portion Zuckerwatte.
Ob er etwas mit dem Unfall zu tun hat, werden wir wohl
niemals erfahren. Okay, er hat etwas damit zu tun.
75
Kapitel 5
Mehr Sorgen, als über die gruseligen Gestalten im
Vorraum, macht sich Publius Taub über den Geruch, der ihn an
einen Krankenhausflur erinnert. Der riesige Vierbeiner mit dem
Schnurrbart und dem Zylinder hatte zum Glück den Warteraum
schon verlassen. So sitzt der Hauptcharakter nun zwischen
einen aufrecht sitzenden Haifisch, einer viereckigen Kreuzung
von einem Nilpferd und einer Melone, sowie einem lebenden
Bett, welches permanent und penetrant die Titelmusik von
Beverly Hills Cop summt. Da Publius nicht den Mut hat, einfach
nachzufragen, was das denn hier alles zu bedeuten hat, bleibt
er wie angewurzelt auf seinem äußerst gemütlichen Stuhl sitzen
und ist die meiste Zeit damit beschäftigt möglichst unbeteiligt zu
wirken. Die Tür schwingt mit einer solch enormen Wucht auf,
dass Publius den Windzug deutlich im Gesicht spürt.
„Der Nächste bitte, Publius Taub“
sagt der wahnwitzige Hexer grinsend, worauf sich der
Angesprochene vorsichtig erhebt. Kaum dass er sich hingestellt
hat, legt der Hai Widerspruch ein:
„Sekunde mal, ich sitze hier schon seit fast einer Stunde
und der ist erst vor zwei Minuten hier erschienen.“
76
Die Nilpferd-Melonen-Mixtur schüttelt energisch den Kopf, hört
dann aber sogleich erschöpft auf. Der Magier baut sich vor dem
Hai auf und antwortet:
„Ich mache hier nicht die Regeln. Außerdem stehen Sie gar
nicht auf meiner Liste. Das versuche ich Ihnen schon seit fast
einer Stunde verständlich zu machen.“
Kopfschüttelnd marschiert der Okkultist aus dem Wartezimmer,
direkt gefolgt von einer eingeschüchterten Skizze eines
Mannes.
Größer als erwartet tauchen hinter der Tür Flure und
Abzweigungen auf. Die Wände sind kunstvoll, aber unpassend
verziert. Die knallbunten Linien auf der einen Seite konkurrieren
mit den schwarzen Kreisen auf der anderen. So dass es
aussieht, als wollen sich beide bekämpfen. Unterdessen schaut
der Hai auf seine mit Kohle auf die Flosse gemalte Uhr und
fragt sich, wann er denn endlich dran kommt.
Publius kann mit den schnellen Schritten des Hexers kaum
mithalten. Dieser führt ihn in einen Gang nach dem nächsten.
Sie kommen dabei an offen stehenden Türen vorbei, wohinter
sich seltsame Geschöpfe befinden.
Selbige sitzen aber immer hinter einem Schreibtisch, was ein
äußerst irritierendes Bild für Publius darstellt.
77
Nach einer langen Weile bleiben sie vor einer Tür stehen, die
genauso aussieht wie alle anderen. Schwungvoll und mit einer
eleganten Drehung tritt der Magier die Tür aus den Angeln. Drei
Gestalten schrecken auf, die, mit dem Rücken zur Tür, an
einem
Schreibtisch
saßen
und
jetzt
stehen.
Die
aufgeschreckten Wesen spotten jeder Beschreibung. Ein
Rüssel, Stoßzähne, die von unten nach oben ragen und eine
Kopfform von einem Schwein sollen die wichtigsten Details
bleiben, bevor sich der Leser in den Apfelsaft zu seiner Linken
erbricht.
Unterscheiden kann man die drei nur durch den Umfang
ihres Bauches. Dann versucht der mit der dicksten Plauze zu
reden, was sich aber mehr wie ein Quieken anhört:
„Hallöchen“.
Die Stimme erinnert zudem an das Geröchel eines erschöpften
Tieres. Das Aufspringen hat wohl doch mehr Kraft gekostet, als
angenommen.
„Verdammte Scheiße, Sie sollen doch die Tür nur anklopfen
und sie nicht jedes Mal eintreten“
bellt der Dickbauch, dessen Gehirn wohl erst jetzt die auf dem
Boden liegende Tür bemerkt hat. Dann grinst er Publius
sogleich wieder an, wobei man es nicht als Grinsen bezeichnen
kann, eher wie die Gesichtzüge kurz nach einem Herzinfarkt.
78
Ein riesiger Eisblock spaziert pfeifend Herr Taubs Rücken
hinunter und er erschaudert.
Überschwänglich redet die Sau dann weiter auf Publius ein:
„Sie sind der Auserwählte, herzlichen Glückwunsch.“
Der Auserwählte findet in dem jetzigen Geschehen keinen
Zusammenhang, was er sich aber nicht anmerken lässt und
gebannt auf den Sabberfaden seines Gesprächpartners starrt.
„Aber Sie müssen uns natürlich erst beweisen, dass sie
derjenige sind, den wir auch suchen. Daher haben meine
Mitarbeiter und ich“
er zeigt auf seine Klone, die ihn flankieren und genauso
unwissend dreinschauen
„eine aufschlussreiche Testreihe alleine für Sie konzipiert,
Herr Laub.“
Der Hexenmeister, der bis zu diesem Zeitpunkt lediglich
unbeteiligt daneben stand, räuspert sich lautstark. Das
Rüsselwarzenschwein reagiert gekonnt auf den Hinweis und
verbessert sich sogleich
„Raub“.
Zufrieden lächelt er und Publius Eisblock wandert wieder den
Weg nach oben.
„Was denn für eine Testreihe?“
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stammelt der Auserwählte und erschrickt vor seiner eigenen
Courage. Hinzu kommt noch, dass er sich die letzten Seiten
lediglich gedanklich mit sich selbst unterhalten hat und er seit
längerer Zeit wieder seine eigene Stimme hört.
Die drei bizarren Gestalten werfen einen tadelnden Blick auf
den Magier, der weiterhin unbeteiligt daneben steht und
dümmlich grinst. Plötzlich meldet sich das Warzenschwein zu
Wort, welches den geringsten Bauchumfang zu haben scheint:
„Eine Testreihe mit theoretischen Fragen und praktischen
Aufgaben. Wir haben uns die größte Mühe gegeben, ein
Auswahlverfahren zu generieren, um auch die richtige Person
mit dem Selbstmordauftrag zu betrauen.“
Die Stimme ist piepsiger, als die des ersten Sprechers und
bekommt für den letzten Teil der Aussage sofort einen kräftigen
Tritt von der Seite. Doch das bekommt Publius Taub nicht mit,
denn seine Gedanken kreisen über die Testreihe mit ihren
perversen Experimenten.
Dem Eisblock schmerzen tierisch die Füße, als er schon
wieder
Publius
Rücken
hinunterklettern
muss.
Publius
Gedanken werden jäh unterbrochen, als die piepsige Stimme
lauthals spricht:
„Hören Sie mir überhaupt zu, Herr Staub? Sie sollen uns
doch folgen.“
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Ein stummes Nicken reicht den Schweinemenschen als Antwort
und sie marschieren ungelenk aus der Tür hinaus. Nein, das
stimmt so nicht. Sie marschieren aus der Öffnung heraus,
nehmen aber an, die Tür befinde sich noch am selben Ort wie
vor einigen Minuten.
Ihre Beine sind unglaublich kurz, so dass sie nur sehr langsam
vorankommen. Der Hexer, der Mühe hat, so langsam zu gehen,
schlägt die Arme vor sein Gesicht und stöhnt. Nachdem sie
eine halbe Stunde gegangen sind und damit zumindest den
nächsten Flur erreicht haben, fängt der Magier an, die Gangart
der Rüsseltiere nachzuäffen, worüber sich Herr Taub und er
königlich amüsieren. Wie Ninjas drehen sich die drei um,
worauf der Schweinemensch, der bisher ohne Sprechrolle
auskam, schreit:
„Hört sofort auf damit. Ihr wisst gar nicht wie hinderlich
solch kurzen Beine sind. Beim Fußball werden wir immer als
Letzte gewählt, sogar noch nach den Schwalben, und die
kommen nie ohne Fouls aus. In der Balettauswahl wurde ich
auch nur höhnisch ausgelacht.“
Eine Träne rinnt über das graubraune Gesicht
„wir sind da.“
Die Tür, vor der die komische Fünfergruppe nun steht, sieht
genauso aus, wie alle anderen Türen.
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Denen fällt auch nichts Neues ein. Aber halt, sie bildet doch
eine Ausnahme, denn auf ihr steht, in winzig kleiner Schrift,
eine 8 und eine 4. Ohne jegliches Zögern betritt Publius den
Raum und hofft darauf in ihm endlich mal eine Erklärung für den
ganzen Blödsinn zu finden. Aber Pustekuchen. Unsinnigerweise
gehe die drei Kurzbeinschweine gleichzeitig durch die Tür, was
zu einer sofortigen Verstopfung des Eingangs führt. Gefluche
und Getrete übertönt den Lärm, den die Tür durch den Druck
ätzt. Trotz immenser Anstrengungen, schaffen sie es nicht
gleichzeitig durch die Türe, sondern müssen es einzeln
versuchen, was bei den kurzen Beinen einem Entenmarsch
gleichkommt.
Größer, als von außen einsichtig, ist das Zimmer ähnlich
einem Klassenraum, jedoch mit nur einem Schreibtisch,
inklusive Stuhl. Nicht einmal Einrichtungsgegenstände haben
im Raum einen Platz gefunden, wobei doch so ein Kaktus dem
Raum so viel Leben geschenkt hätte.
Die kalten Wände rücken Publius immer näher. Auf dem
Schreibtisch erkennt Publius Taub einen Stapel Papiere, die
fein
säuberlich
geschlossener
sortiert
Abteilung
dort
tippeln
positioniert
die
drei
wurden.
In
unheimlichen
Gestalten auf den Tisch zu, der genauso weiß ist, wie die
Wände, und formieren sich um seligen. Das Rüsseltier mit der
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hellsten Stimme, das nun die Verantwortung übernommen hat,
tippt mit seinen knochigen Klauen ungeduldig auf den
Papierstapel.
„Wir erwarten volle Konzentration, wenn Sie diesen Test
schreiben. Es gibt ein Zeitlimit von siebenundfünfzig Minuten
sowie zweiunddreißig Sekunden. Außerdem bitten wir Sie um
absolute Ruhe, da nebenan ein Zombiefilm gedreht wird.“
Krächzt die Sau barsch. Ohne irgendeine Reaktion abzuwarten,
wackeln die vier Witzfiguren aus dem Raum und verschließen
die Tür hörbar, indem sie diese zunageln.
Jetzt kommt es auf dich an, Publius Taub. Also rede
deinem Gehirn gut zu, immerhin hast du es die letzten Jahre
faul herumliegen lassen. Elegant wie ein Klostein wackeln die
Kurzbeinschweine in den Nebenraum, der eine Treppe
beherbergt, die über den Testraum führt. Die Decke des
Raumes, worin sich Publius eben über seine Aufgaben gebeugt
hat, ist von oben her durchsichtig, was die Warzenschweine
ausnutzen,
um
ihre
Versuchsperson
zu
beobachten.
Ungemütlich sitzen die drei Ferkel dabei auf Steinquadern.
Versuchsobjekt Nummer vierundachtzig greift zu seinem
Füllfederhalter und beginnt seine erste Lösung aufzuschreiben.
Währenddessen hat es sich der Hexenmeister in einer Nische
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etwas gemütlicher gemacht und kramt einen Wild-WestGroschenroman aus der Robe. Ein lang anhaltendes Pfeifen
entfährt aus dem Nasenloch des Zauberers, als er ausatmet. Er
schaut beschämt auf, doch seine Vorgesetzten starren wie
gebannt auf den durchschaubaren Boden.
Publius braucht einige Zeit, um sich in dem Papierstapel zu
Recht
zu
finden.
Die
Testfragen
umfassen
alle
Themenbereiche, die sich Publius vorstellen kann und einige,
die nicht. Über die Anzahl der Beine eines Esels, bis zu der
Anzahl der Beine eines Tisches kreuzt er alle Antworten in
kürzester Zeit an. Gerade wundert er sich, wie einfach der Test
doch ist, als er auf eine kontroverse Aufgabe stößt. Diese
besteht darin, mit dem Füllfederhalter vier Kreise zu malen und
alle vier Gliedmaße jeweils daran zu legen. Nachdem Herr
Taub, selbst zu einem Zeichner aufgestiegen, die Kreise an die
Tapetenwand gekritzelt hat, läuft sein Gehirn auf Hochtouren.
Aber anscheinend hört er nicht darauf, denn, mit einem Sprung
aus dem Stand, platziert er seine Hände und Füße in den
Kreisen. Der Schwerkraft, die wohl auch im Jenseits tadellos
funktioniert, meldet sich zu Wort und lässt Publius schmerzhaft
auf den Rücken fallen.
Obwohl er, augenscheinlich, nur gezeichnet ist, scheint sein
Schmerzempfinden prächtig zu funktionieren und er schreit auf.
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Es würde sich noch zeigen, ob der Zeichner blaue Flecken
anbringen wird, zumindest wären diese in diesem Fall und bei
diesem Fall angebracht oder aufgemalt. Publius Taub liegt
einige Minuten, mit schmerzverzehrtem Gesicht, auf dem
Boden und verflucht seine Idiotie. Mit ungelenken Bewegungen
rappelt er seinen muskellosen Körper wieder auf die Beine und
streckt sich einige Male ausgiebig, um auch den letzten
Schmerz aus den Gliedern zu bekommen.
Von dem geistigen Totalausfall scheint er sich aber erholt
zu haben, da er jetzt schon wieder über seinen Aufgaben sitzt
und
einen
Lösungsweg
sucht.
Schneller, als
man als
Beobachter vermutet hätte, beginnt Herr Taub die vier Kreise
auf den Boden zu malen. Dann setzt er ein arrogantes Lächeln
auf
und
klopft
sich
geistig
auf
die
eigene
Schulter.
Währenddessen geht ein Stockwerk weiter oben ein, von
Erstaunen hervorgerufenes, Raunen herum.
„Seid doch mal still. Pedro und Pancho liefern sich ein
Pferdekutschenrennen mit einer Meute besoffener Indianer“
sagt der, in das Heft Vertiefte, woraufhin er sich feindselige
Blicke von den Beobachtern einfängt.
Die Schweinedame lenkt das Thema jedoch um und meint
anerkennend:
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„So schnell hat die Aufgabe noch niemand gelöst. Nicht mal
dieser Ritter ohne Hose.“
Zustimmend nicken die zwei weiteren anwesenden Schweine
und klatschen, äußerst gekonnt, in ihre Pranken.
Wieder auf der Höhe des Testlabors, fragt sich Publius
gerade, ob er an einem generellen geistigen Abfall leidet, oder
ob ihm gerade wirklich die Decke applaudiert hat. Wieder über
die Blätter gebeugt, verengt Publius seine Augen zu Schlitzen,
was eine hohe Konzentration signalisiert. Obwohl ihm noch
weiter der Rücken schmerzt, schiebt er die Gedanken daran zur
Seite und schenkt den Aufgaben seine volle Aufmerksamkeit.
Geschickt kreuzt er die Antworten an und strengt sich dabei
nicht einmal sonderlich an. Vielleicht auch deshalb, da vor allem
nach Handlungssträngen von billigen Horrorfilmen aus den
70ern und 80ern gefragt wird. Budget von Alien – Die Saat des
Grauens, Hauptdarsteller von Der Planet Saturn lässt schön
grüßen oder eine Inhaltsangabe von Nächte des Grauens. Das
sind wirklich wichtige Fakten.
Wie drei Schutzengel, wenn auch äußerst hässliche,
wachen die drei grotesken Schweine mit den Rüsseln über ihr
Versuchskaninchen und registrieren jedes Kreuz und jeden
Buchstaben, den jenes mit dem Füllfederhalter auf die Papiere
malt. Publius konzentrierter Blick, und das rhythmische
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Aufschlagen der Nüstern, zeigt mit welcher Hingabe er an
seiner Aufgabe arbeitet.
Die rechte Pranke der Schweinedame hält eine silberne
Taschenuhr, deren Zeiger jedoch keinem bekannten Gesetz
gehorchen und stattdessen zu einem wilden Tango tanzen, was
die Trägerin aber nicht im Geringsten zu beunruhigen scheint.
Was für eine gruselige Welt. Besagte Schweinedame nickt
ihren Gefährten zu, die etwas überrascht aus dem Halbschlaf
erwachen und eilig so schauen, als wüssten sie, worum es
ginge. Mit den Knopfaugen beobachten die drei die Testperson
argwöhnisch und machen sich über jede Aktion Notizen. Die
Zeit für die Fertigstellung entrinnt aus dem Raum. Akribisch
arbeitet Publius an den Aufgaben weiter und steigert sich dabei
so hinein, dass seine Hand mit der Gedankenflut überfordert ist.
So bilden sich zum Teil Sätze, deren Anfang und Ende
inhaltlich nichts miteinander gemeinsam haben.
Der
Füllfederhalter
wird
weiter
an
seine
Belastbarkeitsgrenze gebracht und sehnt den Abschluss der
Testreihe genauso entgegen, wie alle anderen Beteiligten,
ausgenommen dem Hexer, der in seine Wild-West Geschichte
vertieft
ist.
Gerade
will
Herr
Taub
die
letzten
Sätze
niederschreiben, da ertönt eine markerschütternde Sirene, die
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Wände und Hände erzittern lässt. Kurz darauf folgt eine
Durchsage von einer borstigen tonlosen Stimme:
„Ende Gelände“.
Publius rappelt sich vom Boden auf, da er diesen, erneut,
besuchte, da ihn die Sirene so erschreckte.
Wie von einer gewaltigen Macht wird die Tür aus den Angeln
gerissen
und
Beifall
applaudierend
stürmen
die
fetten
Rüsseltiere in den Raum. Die Zettel sind in alle Richtungen
verteilt und eine kleine Tintenlache hat sich auf dem Boden
gebildet, direkt vor Herrn Taub, der vollkommen außer sich
mitten im Raum steht und seinen Herzschlag im Kopf pulsieren
hört. Nachdem ihm mehrfach die Hand geschüttelt wurde und
er sogar einen Schmatzer von der heißen Lady bekam, wird er
aus dem Raum geleitet und über die Flure wieder zurück
getrieben. Nach Luft und einem klaren Gedanken ringend, kann
er den kurzen Beinen seiner Begleiter kaum folgen, die sich in
einem enormen Tempo bewegen. Dann entdeckt er den
Zauberer neben sich, der ohne Anstrengung schritt hält und
nebenher seine Westerngeschichte liest. Auch wenn Publius
ungläubig den Kopf schüttelt, ist er doch sehr dankbar über die
Anwesenheit des Magiers, der in dieser chaotischen Welt einen
relativ normalen Punkt bildet, an dem sich Herr Taub klammern
kann. Gedankenverloren lässt Publius den Ziegenbart des
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Hexers los und schenkt ihm ein verliebtes Lächeln, was der
Okkultist allerdings nicht wahrnimmt. Räume und Türen fliegen
an
der
Gruppe
vorbei,
radikale
Richtungsänderungen
eingeschlagen und Publius hat den kompletten Überblick
verloren. Die Türen an den Wänden bekommen größere
Abstände zueinander und verschwinden dann ganz aus der
Bilderflut. Die Gruppe kommt nach wenigen weiteren Minuten
abrupt zu einem Stillstand und steht vor einem riesigen Holztor
mit gusseisernen Beschlägen. Publius war gar nicht aufgefallen,
dass die Decke plötzlich so hoch über ihren Köpfen liegt.
Von den mächtigen Steinwänden getragen, erinnert das Tor
an den Eingang zu einer Burg. Doch von einer Burg war nichts
zu sehen, nur die Decke, die sich in Finsternis hüllt und daher
nur schemenhaft auszumachen ist. Gerade fragt sich das
Versuchskaninchen, ob wohl felsenhohe Trolle dieses Tor
schon passiert hatten, da wird er von einem stumpfen Schlag
aus der Vorstellung gerissen. Der Schlag wurde ausgelöst von
einem riesigen eisernen Türklopfer. Bei jedem weiteren Schlag
erzittert das massive Gebälk und feiner Staub rieselt aus den
Ritzen des uralten Holzes. Mit einem ohrenbetäubenden
Quietschen, welches einem die Zehennägel einrollen lässt,
öffnet sich die rechte Hälfte des Tores in einer unglaublich
langsamen Geschwindigkeit, nach innen auf. Dahinter verbirgt
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sich eine riesige Kathedrale. Bis auf die fehlenden Fenster
gleicht das Innere einem gigantischen Kirchenschiff, wobei alles
in einem äußerst schlechten Zustand ist. Der Putz bröckelt von
den Wänden und die meisten Bodenfliesen haben Risse. Die
kleine bizarre Gruppe geht schweigend weiter und kommt in
einen anliegenden Raum, der von kalter Ausstrahlung auch ein
Verlies hätte sein können. In ihm befindet sich ein grotesk
langer Tisch aus schwarzem Holz. Der Tisch ist von einer
Vielzahl von Tellern, Bestecken und Kelchen bewohnt, die zwar
alle ordnungsgemäß platziert sind, dies aber augenscheinlich
schon so lange, wie die Zeit alt ist. Erst jetzt bemerkt Publius
einen Mann, der auf einem Thron an einem der Enden des
Tisches sitzt. Der Mann sieht aus, als würde er bereits seit
Jahrhunderten dort sitzen und sich ausschließlich vom Staub
aus der Luft ernähren. Erinnert etwas an Dornrösschen, bis auf
den weißen Rauschebart der ihm ungepflegt im Schoß liegt. Die
Augen starr nach vorne gerichtet und die dürren Hände
verkrampfen sich um die Lehne, zeigt er keine Regung und
scheint wie tot. Die drei versauten Gestalten nähern sich
vorsichtig dem Thron. Obwohl sich die Eindringlinge schon seit
etlichen Minuten in dem Kirchenkomplex befinden, zeigt der
Greis nicht den Hauch einer Regung. Die Augen, blass wie der
Mond, weiterhin nach vorne gerichtet, reagiert er auch nicht auf
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die Frau der Gruppe, die mit ihren kurzen Beinen im
Schneckentempo zu dem steinernen Sitz tippelt. Sie nähert sich
mit ihren Stoßzähnen der Ohrmuschel des alten Mannes und
flüstert unverständliche Worte. Nichts. Ungläubig schaut sie
zurück zu ihren Begleitern, die aber lediglich die Klauen heben
und den Kopf schütteln. Wo Publius eben noch voller Nervosität
war, ist er jetzt etwas gelassener, mit der Hoffnung dass es den
Alten einfach dahingerafft hätte. Er schaut sich um und
betrachtet einen der Kelche, indem er ihn in die Hand nimmt.
Augenblicklich springt der alte Bärtige von seinem Steinthron
auf und brüllt aus voller Lunge:
„Lass das stehen, du Wicht.“
Vor lauter Überraschung hat der Magier seinen Groschenroman
entzweigerissen und hält die beiden Hälften verkrampft in
jeweils einer Hand. Den Mund weit geöffnet, starrt er geradeaus
und vergisst fast zu atmen. Den drei Begleitern ergeht es kaum
anders. So hat sich der Fetteste mit einem Hechtsprung auf den
Tisch, vor einer Skulptur reich mit Perlen verziert, geworfen.
Wobei das ja eigentlich verkehrt ist. Auch, und vor allem, an
Publius ist diese blitzartige Reaktion des Greises nicht spurlos
vorbeigegangen. So ist er nicht nur einem Herzinfarkt knapp
entronnen,
sondern
hat
auch
den,
eigentlich
stabil
aussehenden, Kelch mit der Hand eingedrückt. Wie das Geheul
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eines Wolfes beklagt der Pensionär diesen Umstand und hält
sich dabei die rechte Hand an die Stirn.
„Was habt ihr mir denn hier für einen Armleuchter
mitgebracht?“
fragt er vorwurfsvoll seine Diener, die weiterhin starr vor
Schreck in der Bewegung festgefroren sind. Das weiblichste der
Schweinewesen kommt daraufhin als erstes zur Besinnung und
kramt einige Unterlagen aus einem Ordner in ihrem gelben
Turnbeutel hervor. Im Flüsterton spricht sie dem alten Mann
wieder in die Gehörgänge:
„Sehen Sie sich die Testergebnisse an, Sir.“ Unbeeindruckt
durchsieht der tattere Greis die Blätter, wobei sich seine Augen
immer weiter öffnen. Dann murmelt er vor sich hin:
„Unglaublich, phänomenal“ und „großartig“.
Publius stellt derweil den Kelch vorsichtig an seinen alten Platz
zurück, wofür sich aber niemand interessiert. Ungläubig schaut
der weißbärtige Mann zu Publius und fragt in einem äußerst
verächtlichen Tonfall:
„Und das hat wirklich dieser Tor geschrieben?“
Die Schweinedame nickt. Publius hält dem Blick stand. Der
Hexer liest an den letzten Seiten des Heftes.
Dem Hai sind die Flossen eingeschlafen.
„Also schön“
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verkündet der Alte und fährt sogleich fort
„dann ist es beschlossen, du bist der Auserwählte.“
Eigentlich hatte Herr Taub damit gerechnet, endlich aus diesem
Alptraum entkommen zu können, doch anscheinend muss er
hier noch etwas länger verweilen. Publius seufzt. Verhalten
klatschen die Kurzbeinigen in ihre Pranken, bis sie der Opa mit
einer Handbewegung verstummen lässt.
„Wir haben da nämlich ein Problemchen. Der fünfte Gott
der Himmelsrichtungen hat eine Kreatur aus den Tiefen der
Finsternis gerufen, um diese, seine eigene, Welt zu vernichten.
Ihm ist die Kontrolle nämlich über die letzten Jahrzehnte zu
stark entglitten, da die Seelen der Verstorbenen als eine Art
Hausbesetzer diese Welt übernommen haben. Daher werden
wir
es
wie
in
diesen
vorhersehbaren
kitschigen
Fantasyromanen machen und einfach jemanden losschicken,
der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat. Herzlichen
Glückwunsch.“
Publius seufzt.
„Aber keine Angst. Wir schicken dich nicht alleine los. Dir
wird ein mächtiges Wesen an die Seite gestellt, welches die
Macht besitzt die Kreatur zu vernichten.“
Die Gesichtszüge des jungen und hageren Mannes erhellen
sich leicht bei der Vorstellung im Leben endlich etwas
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Aufregendes machen zu können, noch dazu mit einem
machvollen Begleiter. Mit ungewöhnlich flinken Schritten
verlässt der zerzauste Mann den Tisch und schreitet auf einen
blassblauen Vorhang zu, den bisher noch niemand bemerkt zu
haben scheint. Was die Frage aufwirft, ob der Vorhang vorher
überhaupt da war. Jedenfalls betätigt der Greis einen
unverzierten Hebel im Mauerwerk und brüllt ein schallendes:
„Tätäretä“,
als sich der Vorhang schwungvoll zur Seite bewegt. Auf der
Fläche dahinter steht ein Kamel. Ein sehr kleines Kamel, von
etwa fünfzig Zentimetern Höhe. Drollig schaut es mit großen
Kulleraugen zu Publius und entblößt dabei eine Zahnlücke
zwischen den Schneidezähnen. Nicht ohne Stolz verlautbart der
Bärtige:
„Darf ich vorstellen? Das ist Kofunga.“
Betretenes
Schweigen.
Mit
weiterhin
weit
geöffneten
Kulleraugen geht das winzige Kamel einige Schritte auf Publius
zu und sagt:
„Tagchen“
Nachdem der Reiseproviant gepackt und die Ausrüstung
zusammengetragen ist, verabschiedet sich Publius und das
Kamel mit einem lässigen Handschlag bei dem Weißbart.
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Eine
weitere
Schweinegestalt
stürzt
mit
wedelnden
Schweinsfüßen in den Raum und legt die Schweinsfüße
beiseite. Augenscheinlich jünger, als die bereits bekannten
Schweine.
„Chef, Chef“
ruft das Wesen aufgeregt
„uns sind die kleinen Kamele ausgegangen“.
Der Alte schlägt die Arme vor dem Gesicht zusammen und
reagiert:
„So ein Dreck. Was haben wir denn für Alternativen?“
„Flamingos mit Rheuma“
„Ausgezeichnet. Bringt den nächsten Auserwählten.“
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Publius, Enrique und Simon werden 2013 ihr Abenteuer
komplett erleben, obwohl sie da nur sehr wenig Lust drauf
haben
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