Buch und Idee: Marc Urwer Dank an: Ben Maier und Martin Modes 2 Kapitel 1 Der Nebel streift die Häuserwände der kleinen Ortschaft, deren durchschnittliche Einwohnerzahl seit Jahren rapide absinkt. Die Straßen sind an diesem Dienstagmorgen wie leergefegt und das Licht der Straßenlaternen dringt nur schwach durch den besagten Nebel. Die alten aber gepflegten Häuser stehen dicht an der Hauptverkehrsstraße, die kaum Platz für zwei entgegenkommende Autos bietet. Zum Glück fährt dort jetzt nur eines, um genau zu sein, ein Chevrolet Chevelle SS von 1972, der seine besten Tage schon weit hinter sich gelassen hat. Der Motor des Fahrzeugs heult auf, als jenes die wenige hundert Seelengemeinde hinter sich lässt und Richtung Autobahn brettert. Publius Taub, der in seinem größten Stolz sitzt, fährt, so wie jeden Tag, zum Vergnügungspark einige Kilometer entfernt, um seine Arbeit antreten zu können. Im Inneren der Fahrerkabine hört man nur das Brüllen des Motors, wie sich dieser literweise Benzin einverleibt, denn das Radio hat schon vor sechs Jahren den Geist aufgegeben. Mit einem müden Blick, herunterhängenden Mundwinkeln und einem verkrampften Griff 3 um das Lenkrad, fährt Publius mit knapp unter 180 km/h über die noch fast leere Autobahn, während er innerlich über die erneut gestiegenen Benzinpreise schimpft. Durch seinen gelassenen Fahrstil, sind seine Spritkosten mittlerweile über seine Mietkosten gestiegen. Publius ist Anfang dreißig, sieht mit seiner Halbglatze aber deutlich älter aus, was durch die tief hängenden Augenringe und den leicht hervorstehenden Wangenknochen noch weiter verstärkt wird. Der Nebel verzieht sich langsam und die aufgetauchte Sonne sticht Publius in die Augen, nur damit er grimmig die Sonnenblende herunterklappen muss. Das gelbe Muscle Car fährt nun langsamer, da sich zu ihm weitere Fahrzeuge auf die Autobahn gesellen. Der Blick von Publius ist weiterhin angespannt geradeaus gerichtet. Dann jedoch schiebt sich, ohne zu blinken, ein Porsche aus der Autokaravane vor den Chevrolet. Hätte man bei diesem Manöver genau hingesehen, wäre einem das kurze Zucken in Herrn Taubs Augenlied aufgefallen. Seine Miene verfinstert sich noch mehr, obwohl man das vorher nicht für möglich gehalten hätte. Der 6,5 Liter Motorklotz empfängt die Befehle des Gaspedals euphorisch und setzt den Wagen dicht hinter den Porsche. Da natürlich hinter dem Steuer des 911er ein 4 arroganter Schnösel aus gutem Hause, mit einem Doktortitel in Geomantie, sitzt, tritt dieser ebenfalls auf das Gaspedal. Eine Hasenfamilie, die sich bei ihrer alltäglichen Wanderung verlaufen hatte und so in die Nähe der Autobahn gelangt war, schreckt wegen des Getöses auf, hoppelt davon und verirrt sich noch mehr. Publius Hände verkrampfen sich weiter und seine Haltung ist nun äußerst ungesund für den Rücken, als er dem schwarzen Porsche nachjagt. Die Autobahn lädt in diesem Stück auch wirklich zum Beschleunigen ein, sodass schnell beide Fahrzeuge den 200 km/h näher kommen. Doch der Porsche ist viel leichter, was Publius auch aufgeht, als er immer mehr an Vorsprung einbüßen muss. Verärgert über seine bevorstehende Niederlage blinkt er nach rechts und nimmt die nächste Ausfahrt. Zwar ist er drei Ausfahrten zu früh abgefahren, doch das weiß der Porschefahrer ja nicht. Publius Taub grinst. Die Dörfer, durch die der 8-Zylinder fahren muss, sehen so aus wie der Wohnort des Fahrers. Alles Orte die man als Außenstehender nicht einmal ansatzweise auseinander halten konnte. Publius Gesichtszüge entspannen sich etwas und mit seinen dicken Augenbrauen sieht er aus wie die Karikatur von Iggy Pop aus den 70ern. Eine 5 Karikatur, die um 7 Uhr morgens durch eine Ortschaft fährt, die grob geschätzt 14 Seelen beheimatet. Endlich kommt die nächstgelegene Stadt in Sichtweite, zu der täglich tausende Arbeiter pendeln, um ihr schickes Häuschen mit dem kleinen Garten davor zu finanzieren, in den dann der Hund des Nachbars scheißt. Publius Gesichtszüge spannen sich wieder an und ihm dreht sich der Magen um, als er die emporragende Achterbahn erblickt, die das Wahrzeichen des Vergnügungsparks darstellt und auf der sich letzte Woche 3 Rentner übergaben. Nicht dass er eine Fahrt auf dem Ungetüm scheuen würde, ganz im Gegenteil, aber die Achterbahn stand symbolisch dafür, dass dies wieder ein beschissener Arbeitstag werden würde, so wie jeder Tag. Die Tür schlägt laut zu, als Publius sein Gefährt verlässt und langsam an das Hauptportal des Vergnügungsparks schlendert. „Morgen Publius“ dringt eine brummige Walrossstimme zu ihm, die dem wohlbeleibten Wächter mit seinem Schnauzer gehört. Publius Taub erhebt seine fülligen Augenbrauen und antwortet knapp: „Tagchen.“ 6 Die Tür sieht man von Außen kaum, da sie in einem Baum aus Plastik integriert wurde, der als Zierde am Rand des, noch leeren, Weges steht. Hinter der Tür verbergen sich die Umkleidekabinen des Personals, die durch eine weitere Tür gesichert werden, für die man eine Zugangskarte benötigt. Publius ergreift in einem Automatismus seine Karte und entriegelt die graue Stahltür. Die Umkleideräume sind um diese Uhrzeit noch recht leer und wir sehen nur zwei hübsche Frauen Anfang dreißig, die in ihren schicken schwarz-weißen Anzügen gerade aus der Umkleide kommen, um den Rest des noch jungen Tages am Merchandising-Verkaufsstand zu verplempern. Publius wird nicht gegrüßt, das wird er selten, stattdessen schaut er aber den beiden Damen auf den Hintern, als diese den Raum durch die stählerne Türe verlassen. Publius, dessen Gesichtsmimik sich seit heute Morgen nur unmerklich verändert hat, erreicht einen großen Schrank, den er mit einem tiefen Seufzen öffnet. Groß und gelb hängt darin seine Arbeitskleidung. Nach der doch eher kalten Nacht hofft Herr Taub auf einen milden Tag, auch wenn die Wetterprognose das Gegenteil vorhersagte; über dreißig Grad und Sonne bis zum Abwinken. Die Kleidungsstücke brauchen lange, bis sie sich passend an den Körper gelegt haben. 7 Publius grimmig dreinsehendes Gesicht sieht man nun nicht mehr. Die Kleidung bedeckt den kompletten Körper und den Kopf. Schweren Schrittes geht er zu einem Ankleidespiegel, der einige Meter entfernt steht und betrachtet sich, wie jeden Tag, in seinem Kostüm. Was er im Spiegel sieht, ist eine knapp 1,90 Meter hohe Ente mit Hosenträgern und Gummistiefeln. Die Kaffeemaschine tröpfelt leise aber störend vor sich hin. Publius sitzt auf einer Sitzbank alleine in einem kleinen Aufenthaltsraum, in dem sich, bis auf eine winzige Pantry, nur zwei Bänke und ein dazu passender Tisch befinden. Lethargisch schaut die Ente auf die Kaffeemaschine und seufzt erneut. Dadurch dass die Hände unter den Flügeln in gelben Handschuhen stecken, kann Publius Taub zumindest seinen Kaffee trinken, ohne irgendwelche Verrenkungen ausüben zu müssen. Der Entenkopf ist bei der Aktion zurückgeklappt. Schon seit einiger Zeit fragt sich Herr Taub, warum er eigentlich eine ganze Stunde vor Dienstantritt in voller Montur in dem Aufenthaltsraum sitzt und einen Kaffee nach dem anderen trinkt. Sind es die fieberhaften Albträume, die Publius Nacht für Nacht heimsuchen und er daher nur wenige Stunden Schlaf bekommt, ist es die leere Autobahn am Morgen, wo er seine Wut am Gaspedal auslassen kann, oder ist er dieser Wille, diesem verdammten Vergnügungspark durch den hohen 8 Kaffeekonsum größtmöglichen Schaden zuzufügen? Wahrscheinlich eine gesunde Portion von Allem. Die äußerst hässliche schwarz-weiß gestreifte Wanduhr im unsinnigen Retro-Look gibt sich viel Mühe, die Zeit langsamer vorbeiziehen zu lassen. Trotz des übermäßigen Kaffeekonsums wirkt der hagere Mann außerordentlich müde, als er weiter auf die Uhr schielt und erneut seufzt. Die billig wirkende Tür, die mit einer Holzimitation aus Plastik beschichtet ist, fliegt plötzlich und lautstark auf, als sich Erwin mit seiner debilen Freude dagegen wirft. Erwin, so etwas wie ein Freund von Publius, ist der genügsamste Mensch, den man sich vorstellen kann. Würde Erwin in einem Rollstuhl gefesselt auf einem Berg Leichen sitzen und zusehen wie ein Meteoritenschauer die Erde vernichtet, hätte er sich an der großartigen Aussicht erfreut. So verwundert es nicht, dass Erwin in seinem Job als tanzender Kaktus voll aufblüht, er liebt seine Arbeit. Freudestrahlend betritt der kleingewachsene Mann mit seiner zu großen Hornbrille den Raum und verfällt dabei in eine Gangart die folgendem Satz am nächsten kommt: „Ich bin der Geilste“. „Publius, altes Haus, alles klar?“ fragt die untersetzte Gestalt mit dem naiven Blick. Publius rollt mit den Augen, seufzt lautlos und antwortet: 9 „Ja.“ Dieser Dialog findet meistens zwischen den Zweien statt und da keiner der beiden etwas Wichtiges zu erzählen hat, werden danach Nichtigkeiten ausgetauscht, so wie jetzt. „Ich habe gestern etwas erlebt, das hältst du nicht für möglich.“ Spricht Erwin überschwänglich, worauf sich Publius zum ersten Mal in diesem Buch interessiert zeigt und sich erkundigt: „Was denn?“ „Ich war, wie üblich, gestern noch hier in der Stadt, da bin ich an einem Comicladen vorbei gekommen, wo sich eine riesige Menschenmenge angesammelt hat.“ Freudig fährt Erwin fort und versucht dabei mit wilder Gestikulation sein aufregendes Erlebnis bildhaft darzustellen: „Jedenfalls war unter den Menschen auch mein Kumpel Rasmuss, der ist bei den letzten Yu-Gi-Oh- Landesmeisterschaften Dritter geworden. Den habe ich dann gefragt, was los wäre und der meinte doch glatt, dass Alex Nolan eine Autogrammstunde gibt.“ Erwins Gesicht scheint einem Krampf unterlegen zu sein, da sein Grinsen den Eindruck erweckt in das Gesicht eingemeißelt worden zu sein. Publius, der absolut ahnungslos dem Gerede zuhört, fragt verunsichert: 10 „Wer zur Hölle ist Alex Nolan?“ Der Krampf scheint sehr schmerzhaft zu sein, denn der pummelige Mann verzieht schlagartig das Grinsen zu einer verzehrten Fratze und äußerst sich fassungslos: „Was?“ Erwin ist erbost und sieht sich gezwungen, seinem Freund mit den nötigen Informationen auszuhelfen: „Alex Nolan zeichnet die Comicserie ‚Samurai Princess Warrior Showdown‘“ Davon überzeugt, dass diese Information ausreicht, grinst sich Erwin wieder einen. Allerdings wird Publius das ganze zu viel, da er nicht viel für Comics übrig hat, würde er gerne auf eine Fortsetzung des Gespräches verzichten. Erwin wartet gespannt auf irgendeine Reaktion des Herrn Taub, der langsam in seinem Kostüm zu schwitzen beginnt. Da sich Publius nicht aus dem Gespräch winden kann, beißt er in den sauren Apfel und fragt lustlos: „Was soll das sein?“ Zwischen unendlicher Euphorie und blankem Entsetzen ist es bei Erwin nur ein Wimpernschlag und er wendet sich völlig fassungslos an Publius: 11 „Du kennst ‘Samurai Princess Warrior Showdown’ nicht?“ Weiterhin wild gestikulierend erzählt Erwin in knappen Sätzen die Geschichte dieser merkwürdigen Comic-Reihe. „Es geht um eine Samurai Prinzessin, die aber von ihrem Vater dazu genötigt wird einen Adligen zu heiraten. Dieser ist jedoch Mitglied in einer Diebesbande, welche sich auf Kunstraub spezialisiert hat. Zumindest will besagte Diebesbande an die Kunstgegenstände des Vaters und entdecken dabei einen uralten Spiegel, der sich als Zauberspiegel entpuppt und die ganzen Diebe sowie die Prinzessin in den Wilden Westen teleportiert, wo sie gemeinsam einen mexikanischen Farmer jagen, da dieser im Besitz eines Azteken-Artefaktes ist, welcher die Prinzessin und ihren Liebhaber wieder in ihre Zeit zurück befördern soll.“ Erwin schnauft einmal kräftig durch und Publius scheint den Krampf übernommen zu haben, der vollkommene Unverständnis zum Ausdruck bringt, aber trotzdem sagt: „Das klingt wirklich interessant.“ Wobei er gleichzeitig denkt: „Was für eine elendige Scheiße.“ Herr Taub schaut erwartungsvoll auf die Uhr und seufzt erneut, sagt dann aber flüsternd: „Du Erwin, entschuldige, aber ich hab total die Zeit aus den Augen verloren und bin spät dran, wir sehen uns.“ 12 Noch beim Reden stellt sich der Mann im Entenkostüm auf, schreitet zur Tür und verlässt eilig den Raum. Der Samurai Princess Warrior Showdown Fan unterdessen schaut ebenfalls auf die Uhr und stellt überrascht fest, dass erst in zwanzig Minuten Arbeitsbeginn ist. Er zuckt mit den Schultern, setzt sich auf die Bank und trinkt den Kaffeebecher leer, den Publius zurückgelassen hatte. Die Sonne hat schon genug Kraft, um den kalten Boden aufzuwärmen. Publius tritt unscheinbar aus dem Plastikbaum hervor und blinzelt der Sonne entgegen. Auf den kunstvoll angelegten Straßen dieser gefälschten Ortschaft ist nun weitaus mehr Betrieb. Überall werden die letzten Vorbereitungen getroffen, um dem bevorstehenden Besucheransturm Herr zu werden. Ein langer Fußmarsch steht Publius bevor, denn er muss durch das Dorf, über die Parkanlagen, an den Würstchen- und Getränkebuden vorbei, unter einer Achterbahn hindurch, um sich dann schlussendlich im Kinderparadies wieder zu finden. Publius hasst Kinder fast so sehr, wie diese neumodische Musik, die ständig im Radio, im Fernsehen und nicht zuletzt im Internet läuft. Wo diese ausdruckslosen Pappfiguren in ihren knappen Outfits ihr fehlendes Gesangstalent kaschieren und mit einem ständig wiederholenden Rhythmus die Ohren zuheulen… Jedenfalls 13 mag Publius keine Kinder, da bin ich mir sicher. Das gelbe Plastikfell leuchtet im Sonnenlicht wie ein Feuerball, welchen die umherstehenden Personalkräfte aber gekonnt übersehen, als sich dieser vor das Kugelbad setzt. Das Kugelbad ist ein riesiges Becken, gefüllt mit einer endlosen Anzahl bunter weicher Plastikbällchen und ausgestattet mit Rutschen und Schaukeln. All das ist von einem blauen Netz umgeben, wovor sich die Ente gesetzt hat, um auf die Kinderscharen zu warten, denn das Kugelbad ist ein übermächtiger Kindermagnet. Publius Aufgabe besteht darin, den Kindern die Warterei zu versüßen. Mit geschlossenen Augen und einer flachen Atmung wartet Publius Taub in einer Art Trance auf seine Peiniger. Bevor man sie sieht, hört man ihre Schreie. Wie das Geheul der Sirenen der Meere dringen die Rufe zu Publius Ohren. Dann tauchen sie auf, zu hunderten, wie eine flinke Horde kleiner Zombies, läuft die Masse genau auf Publius und das Kugelbad zu. Süßwarenstände, Autoskooter und Tretautos werden einfach verschlungen. Der hagere Mann in seinem gelben Kostüm stellt sich hin, lockert seine Gelenke und schreitet dann auf die Kinderschar zu. Er breitet seine Flügel aus, läuft immer schneller und dann, als er bereits mitten unter ihnen weilt, fängt er lauthals an zu quaken. Ein kleiner Teil der Kindermenge lässt sich von dem Quaken 14 ablenken und steuert in vollem Tempo auf die Ente zu, die zwischen den wogenden Kindern aufragt. Wie ein großes gelbes Schiff wankt Publius durch die Wellen der Kinderleiber und versucht sich irgendwie gegen den Strom zu kämpfen. Vergeblich. Die Flut reißt ihn einige Meter mit, bis sie abrupt ins Stocken gerät. Die Eingangstüren des Kugelbades sind von den Kindern verstopft. Eine Traube aus protestierenden Kindern sammelt sich eng um den hilflosen Mann, dessen Herz nun schneller schlägt, und verlangt nach Einlass. Er weiß genau, dass er dieser Masse an zukünftigen Sozialhilfeempfängern keinen Einhalt gebieten kann, wenn sie sich, nach dem Wunsch um Einlass in das Kugelbad, gegen ihn wendet. Er sieht sich um und erblickt einige Kinder, die versuchen über das blaue Absicherungsnetz zu klettern. Dann geht aber ein Ruck durch die Menge und die Eingangstür rückt in Publius Blickfeld, an der sich 3 Mitarbeiter befinden, die sich mit Besen bewaffnet haben, um die Verstopfung zu lösen. Die aufgetürmten Kinder fallen in den Raum und rennen sofort auf eine der vielen Attraktionen zu. Die Fließgeschwindigkeit der wogenden Kindermassen nimmt wieder zu und die Ente hakt verkrampft ihre Gummistiefel in das Erdreich, um nicht wieder von der Schar mitgerissen zu werden. 15 Das Kugelbad wird zum Kinderbad und frisst weiter unerbittlich die Schlange vor seinem Eingang auf. Einige Nachzügler versuchen sich noch nach vorne durchzudrängen, doch zu spät. Mit fünf weiteren Mitarbeitern stemmt sich der Leiter gegen das Eingangstor, drängt damit die abgeflachte Kinderflut zurück und kann die Türen dann ganz schließen. Abrupt kommt die Sintflut zum Erliegen und die ersten Kinder fangen an zu heulen. Das ist das Stichwort für Publius seine ausufernden Bewegungen auszuüben, die er in einem zweistündigen Kurs beigebracht bekam. Eigentlich besteht sein jetziges Tun lediglich aus Geschrei und Gehüpfe, was jedoch dem Großteil der um ihn versammelten Kinder ausgesprochen gut gefällt. Mit offenen Mündern und beeindruckten Mienen staunen etwa zwanzig Rotzplagen über die Darbietungen der großen Ente. Nach wenigen Minuten kristallisiert sich ein äußerst fetter Junge heraus, der gelangweilt zu Publius sieht und dann den Ententanz folgendermaßen kommentiert: „Enten sind doof.“ Publius schwitzt enorm in seinem Kostüm und überhört die Worte des garstigen Jungen, bis dieser, um Aufmerksamkeit bettelnd, sein Anliegen wiederholt: „Enten sind doof!“ 16 Diesmal lauter und mit einem Ausrufezeichen. Das fettige Haar des Jungen klebt an seiner schwitzenden Stirn wie Klebeband. Die Sorgen von Publius gelten unterdessen mehr um den Verlust seiner Körperflüssigkeiten, als um das Geplärre eines Fettwanztes. Daher ignoriert er den korpulenten Jungen ein weiteres Mal und setzt seinen eigenwilligen Tanzstil fort. Dem rundlichen Gesicht des Jungen sieht man den Zorn ins Gesicht geschrieben. Das war jetzt doppelt gemoppelt. Ist ja auch ein ganz schönes Moppelchen. Verärgert über das Desinteresse der Ente ihm gegenüber, platzt dem Kind der Kragen und tritt Publius mit seinem grünen Turnschuh mit voller Kraft gegen das Schienbein, während er brüllt: „Enten sind voll doof!“ Mit einem schmerzerfüllten Gesicht reibt sich der Enterich die pochende Stelle und gibt eine knappe Antwort von sich: „Das ist mir scheißegal, du Rotzlöffel.“ Stinksauer erhebt nun der Rotzlöffel das Wort und kontert vehement: „Außerdem können Enten gar nicht sprechen.“ Herr Taub beschließt das Balg einfach zu ignorieren und weiterzumachen, als er erneut einen Tritt einstecken muss. Jetzt ist es Publius, dem der Kragen platzt. Vor den Blicken sämtlicher Kinder in der Nähe platziert er seinen rechten 17 Entenfuß in das schwammige Gewebe aus Fett, welches das uncharmante Kind seinen Magen nennt. Dieses spielt zunächst sämtliche Facetten des Schmerzes im aufgequollenen Gesicht durch, ehe sich die Massenträgheit endlich erbarmt und seinen massigen Körper in einer erbärmlich flachen Parabel gen Boden schickt. Einige der Kinder schreien entsetzt auf, doch Publius kann sich vor lauter Lachen kaum halten und torkelt einige Schritte zurück. Ein roter Plastikball, der von einem arroganten Mädchen namens Henrietta aus dem Becken über den Zaun geworfen wurde, kullert langsam aber beständig über den Kiesboden, überlebt die Füße der Kinder, die weiterhin vor dem Kugelbad ausharren und bleibt dann einige Meter hinter einer lachenden Ente zum Stehen. Publius, mit vor Lachen schmerzendem Magen, tritt mit dem linken Fuß genau auf besagten Ball und stolpert äußerst unglücklich nach hinten. Er stößt sich an dem harten Boden und bricht sich das Genick. Publius Taub stirbt. 18 Kapitel 2 Die halbautomatische Pistole im Anschlag haltend, betritt der bullig wirkende Glatzkopf, mit den südamerikanischen Gesichtszügen, die verlassene Lagerhalle. Dabei muss er das eiserne Rolltor aufschieben, welches ein lautes Quietschen von sich gibt. Sein knapp zwei Meter hoher Partner erschaudert und sagt mahnend: „Kannst du nicht leiser sein? Du weckst noch das ganze Lagerhaus auf, wenn hier wirklich jemand drin sein sollte.“ Der kompakte Glatzkopf mit seinem Drei-Tage-Bart rollt, unsichtbar für seinen Kollegen, mit den Augen und antwortet gelassen: „Keine Angst Simon, dabei wird es sich wieder um irgendeinen Penner handeln, der hier Lärm macht.“ Simon streift sich seinen weißen Anzug glatt, der ihn wie einen Zuhälter aussehen lässt, und nickt desinteressiert. Die beiden Gestalten wirken bei dem schwachen Mondlicht wie Schatten, als sie vorsichtig durch die Halle gehen, welche mit einigen dutzend Kisten gefüllt ist. Das verlassene Gebäude außerhalb der Stadt, hat über die Jahre einen rostroten Anstrich bekommen und die Fenster wurden von betrunkenen 19 Jugendlichen, oder noch betrunkeneren Vögeln völlig zerstört. Der kalte Nachtwind zieht durch die Fensterrahmen. Ein Knacken nimmt ihre Aufmerksamkeit und beide verschanzen sich hinter einer der leeren Kisten. Simon dreht sein schmales Gesicht umher und flüstert dann zu seinem Begleiter: „Enrique, irgendwie ist mir das nicht geheuer.“ Enrique atmet flach und nickt zustimmend. Enrique, eigentlich Enrique Carlos Almeida da Silva, kurz auch Carlos, oder Carl, wobei seine Vermieterin meist „da“ sagt, da sie den Rest des Namens nicht aussprechen kann, ist Dämonenjäger. Zumindest behauptet er das. Jedoch kein sonderlich erfolgreicher, denn bisher ist er keinem Dämon begegnet, geschweige denn anderen Viechern in der Preisklasse, wie Trolle, Gnome, Orks, oder schwulen Vampiren. Aber da sich die Menschheit schon immer vor dem Übernatürlichen fürchtet und die Polizei keine Lust hat, auf dem Dachboden nach einem Werwolf zu suchen, haben Enrique und Simon eine eigene Ghostbuster-Firma auf die Beine gestellt. Simon Plympton hat Enrique vor zwei Jahren als Anhalter mitgenommen und da er ohnehin dabei war sein Leben umzukrempeln ist er direkt auf die leicht debilen Vorstellungen seines neuen Freundes eingegangen. 20 Die beiden leben zusammen in einer äußerst winzigen Wohnung, die sich in einem hässlichen Plattenbau befindet. Warum die zwei auf Gespensterjagd gehen, wissen sie selbst nicht einmal wirklich. Der Reiz einem phantastischen Hirngespinst nachzujagen, lässt die beiden wieder in ihre Kindheitstage zurückkehren. Außerdem lässt sich nebenher doch noch etwas Geld verdienen, denn die Aufträge werden immer im Voraus bezahlt und so werden wenigstens die Kosten gedeckt um Enriques Garnelen regelmäßig füttern zu können. Etwas Schweres knallt auf den Boden und beide erschrecken sich bis ins Mark. Simon sieht seinen Kumpanen in die braunen Augen und weiß sofort was zu tun ist. Wie jedes Mal wird er als Vorhut losgeschickt, was Simon zwar nicht passt, aber für eine aufkommende Diskussion fehlen ihm schlichtweg die Nerven. Enrique hält die Stellung hinter der Holzkiste, während Simon nach vorne marschiert und sich bei jeder Bewegung umsieht. Fast ist es still, nur das Rauschen der im Wind schwankenden Baumkronen dringt von draußen herein. Dem großen Mann, mit den langen fast schwarzen Haaren, ist äußerst unwohl bei seinem Vorhaben. Er beschließt die Gedanken an den gestrigen Horrorfilm einzudämmen und den noch nicht untersuchten Bereich des Lagers schnellstmöglich zu erkunden. Simon biegt um eine 21 weitere Holzkiste, als es erneut einen Knall gibt. Eine Stimme schreit: „Verschwindet!“ Die Stimme klingt wie das Krätzchen eines Raben, nach Einnahme von massenhaft Steroiden. Der hoch gewachsene Mann ist fest am Boden angewurzelt und nimmt die Welt um sich herum erst wieder wahr, als ihm Enrique kräftig auf die Schulter schlägt und flüstert: „Was zur Hölle war denn das?“ Beide bemerken, dass sie sich durch die Angst äußerst nahe gekommen sind und weichen voneinander ab, als Simon antwortet: „Vielleicht hattest du Recht und hier wohnt tatsächlich ein Obdachloser.“ Bei Enrique melden sich die Alarmglocken. Was, wenn das wirklich ein Obdachloser war? Womöglich wurde er von uns geweckt und ist erbost, weil wir ihn um seinen verdienten Schlaf gebracht haben. Eventuell hat er sogar einen Knüppel dabei und weiß damit auch noch umzugehen. Der gebürtige Peruaner erschaudert bei seinen Gedanken und macht mit einer Geste deutlich, dass sein Kollege gefälligst nachsehen soll, während er sich in einen Sicherheitsabstand zurückzieht und schützend seine Pistole vor sich hält. 22 Simon Plympton zittert am ganzen Leib und weigert sich innerlich auch nur einen Schritt in die Richtung zu gehen, aus der die Stimme kam. Da die Firma unter äußert knappen Liquiditäten leidet, reichte es für nur eine Handfeuerwaffe und so kratzt er seinen restlichen Mut zusammen und schleicht zögernd vorwärts. Dem schlanken Mann schmerzen die Augen, da er es nicht wagt zu blinzeln, um ja nichts Wichtiges zu übersehen. Das Licht des Mondes leuchtet schwach auf eine offen stehende Tür, die zu einem Nebenraum führt. Im Nebenraum befindet sich ein alter Schreibtisch, der Simon direkt ins Auge fällt, als er, mit gesenktem Kopf, den Raum betritt. Doch da war noch etwas anderes. Simons Kehle schnürt sich plötzlich zu, auf dem Schreibtisch erblickt er eine Gestalt. Ein froschähnliches Wesen mit je zwei menschlichen Armen und Beinen, sitzt auf dem Schreibtisch sieht starr nach vorne und brüllt: „Verschwinde!“ Der Dämonenjäger, der sicher fünfmal so groß wie die Absurdität ist, findet wieder zu Atmen und nutzt diesen für einen panischen Schrei, der eine tagaktive Eule in der Nähe aus dem Schlaf reißt. Schnell dreht er sich um, packt seine Lungen voller 23 Sauerstoff und sprintet wie ein Wahnsinniger durch die Lagerhalle. Erst einige Meter vor dem Zaun, der dieses Gebäude umgibt, bleiben seine Beine stehen und er begreift, dass er immer noch schreit. Simon atmet schwer die kalte Nachtluft ein und stützt sich gegen einen abgestorbenen Baum. Nach einer halben Minute hört er eine näher kommende Person, die aufgebracht zu ihm redet. „Simon, verdammt noch mal, was ist passiert?“ Carlos rennt auf seinen Lakaien zu und schaut ihn fragend an. Das zitternde Häufchen Elend, welches sich immer noch am Baum anlehnt, versucht zu erklären, was er eben erblicken musste: „Da war ein Tier, ein Frosch. Nein, es war kein Frosch, es sah nur wie einer aus, aber es hatte Arme und Beine, außerdem einen Vollbart und Hörner und…“ Zu einer detaillierten Erörterung kommt er nicht, denn Almeida haut ihm einmal quer über das Gesicht und brüllt in die finstere Nacht hinein: „Komm zu dir, Mann. Das war sicher bloß ein Trugbild deiner Angst.“ Da Silvas Worte prallen an Simon wirkungslos ab. Er weiß ganz genau, was er gesehen hat. Nein, eigentlich hat er absolut 24 keine Ahnung, was er da sah. Aber es war wirklich dort gewesen und es war hässlich. Enrique schaut seinen Freund an und stellt dabei fest, dass er ihn noch nie so voller Angst erlebt hat. Doch es hilft nichts, er beschließt selbst nachzusehen und wendet sich an den Mann im weißen Anzug, dessen Nerven gerade blank liegen. „Bleib du nur hier, du Feigling, ich werde mir das mal aus der Nähe ansehen. Wahrscheinlich sitzt dort nur eine verdammte Puppe, oder ein fetter Kater hat sich dort eingenistet.“ Kopfschüttelnd und mit stolz ausgestreckter Brust marschiert der Glatzkopf wieder auf die Halle zu, wobei er sich dabei immer wieder zu Simon umschaut. Erneut passiert der kräftige Südamerikaner das Eingangstor und geht äußerst vorsichtig zu dem unscheinbaren Zimmer, auf der anderen Seite der Lagerhalle. Er schluckt, als seine Hand sich an der Türzarge festhält, um den restlichen Körper nachzuziehen. Die Gestalt schaut ihn emotionslos an. Im Gegensatz zu Enrique, dessen Stimmung sich in pures Entsetzen gewandelt hat. Seine Augen weiten sich und ein immer lauter werdender Schrei klettert seine Kehle empor. Voller Panik dreht er seinen Kopf wieder zu der offen stehenden Bürotür und sieht Simon, 25 der im Rahmen der Tür steht, das Wesen entgeistert ansieht und ebenfalls schreit. Dann sehen sich beide an, schreien sich die Luft aus den Lungen, werfen die Arme gen Himmel und rennen in dieser Haltung schnellstmöglich nach Draußen. Das Geschrei der beiden Tunichtgute wird leiser, bis es in dem verwahrlosten Büro nicht mehr zu hören ist. Die Frosch-Mensch-Kreatur mit dem Vollbart und den Hörnern sitzt weiterhin auf ihrem Platz, seufzt lautstark und spricht zu sich selbst: „Oh Mann, das wird eine lange Nacht.“ „Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt noch mal. Was um Gottes Willen war denn das?“ schreit der kräftig gebaute Enrique seinen Mitstreiter an und zeigt dabei zur Lagerhalle. Beide haben sich wieder an dem verfaulten Baum versammelt, der schon auf sie gewartet hat. Simon schaut ebenfalls zurück, dann zu Enrique, wieder zu der Lagerhalle und schüttelt anschließend den Kopf. Das Zischen der sauerstoffarmen Luft, die von beiden angestrengt ausgestoßen wird, umarmt die sonstige Ruhe. Als beide wieder etwas Luft geschnappt haben, versucht Enrique ihre Lage sachlich zu beschreiben: „Da haben wir ihn also, unseren ersten Dämonen.“ 26 „Du meinst, vollbärtigen kleinwüchsigen Menschenfrosch“ korrigiert Simon, der sich sofort fragt, warum er das eigentlich gesagt hat. „Wie auch immer. Fakt ist, wir müssen das Ding vernichten, das sind wir unserem Auftraggeber schuldig. Ist nur die Frage wie wir das anstellen.“ Sagt Enrique kühler als die Nacht und tippt sich dabei moderat auf die Nase. „Du hast doch eine Pistole“ wirft sein Mitbewohner ein und fährt dann fort „damit ballerst du das Viech einfach über den Haufen“. „Aber ich habe keine Silberkugeln geladen“ gibt Enrique zu Protokoll, während er sich ununterbrochen auf die Nase tippt. Die Antwort von Simon kommt direkt: „Das ist ja auch kein verkackter Werwolf“. Stille folgt nach diesem kurzen Dialog. Nur einige Eulenrufe hallen aus der Ferne, die in unsere Sprache übersetzt kurz bedeuten: „Gebt verkackt noch mal endlich Ruhe. Ich muss morgen früh raus und ihr Penner haltet mich von meinem Schlaf ab.“ Enrique nickt zustimmend und sagt dann selbstsicher: „Versuchen wir es. Du lenkst die Missgeburt ab und ich schieße ihr ins Gesicht.“ 27 Plympton ahnte schon vorher, dass er wieder derjenige war, der für eine Ablenkung sorgen musste und gibt sich daher schnell mit dem Vorschlag zufrieden. Dann fragt er: „Wie soll ich ihn denn ablenken?“ „Du brauchst eine Verkleidung, auf die das Vieh nicht vorbereitet ist. In der Sekunde, wo sich das Monster zu orientieren versucht, ballere ich drauf los.“ Simpler Plan, doch wo auf die Schnelle eine Verkleidung hernehmen? Vereinzelte Wolken ziehen am Mond vorbei und unterbrechen dadurch immer wieder die Ausleuchtung der kargen Landschaft, die außer Sand und Steine nichts zu bieten hat. Nach einigen Minuten intensiven Denkens gibt der sportliche Peruaner auf und spricht: „Hier gibt es absolut gar nichts, aus was man sich ein Kostüm basteln könnte.“ Simon nickt geistesabwesend und lehnt sich dabei wieder an den Baum. Dann rattert es in Enriques Gehirn wie verrückt und der Mittzwanziger schiebt gedanklich die Bilder des faulen Holzstammes und seines Partners zusammen. Er brüllt, lauter als er wollte: „Ich hab’s.“ Simon erschrickt und richtet seinen Blick auf seinen Mitstreiter. „Deine Verkleidung steht neben dir“ 28 verkündet dieser triumphierend. Der Baumstamm ist an jeder Stelle äußerst brüchig, was zwar das Anziehen vereinfacht, da man Arme einfach durch das morsche Holz bohren kann, jedoch ist es somit auch sehr schwer sich damit fortzubewegen, ohne das Kostüm zu zerstören. Simons Anzug ist von dem Dreck vollkommen ruiniert. Allerdings hat er sich auch strikt geweigert ihn auszuziehen, da seine Unterwäsche mit pinken Blüten verziert ist. Der große und schlanke Mann sieht in seiner Verkleidung wie ein Kind aus, welches für die Halloween- Maskerade nur sehr wenig Süßigkeiten bekommen würde. Enrique grinst breit, als sich der Baum mit kurzen vorsichtigen Schritten der Höhle des Frosches nähert, um seine Aufgabe zu erfüllen. Augenscheinlich hat sich die Lagerhalle nicht verändert und auch die weiterhin offen stehende Tür zu dem ehemaligen Büroraum, vor der die beiden Knallköpfe sich nun eingefunden haben, sieht aus wie zuvor. Die zwei Geisterjäger sehen sich kurz an und der Peruaner nickt energisch und gibt damit Simon zu verstehen, dass dieser nun verrücken soll. Der Waliser schnauft und sein schmales Gesicht spannt sich. Dann hechtet er blitzartig nach vorne, übertritt die Türschwelle und schreit plötzlich auf, da sein Kostüm höher ist 29 als die Türöffnung und somit den armen Mann nach hinten wirft, der sich dann auf dem Boden wieder findet. Der Baum hat einen Teil seiner oberen Hälfte verloren und nimmt jetzt die volle Aufmerksamkeit des Geschöpfes auf, welches sich immer noch auf dem Tisch befindet und aufschreit: „Was zur Hölle.“ Kaum hat die Kreatur diesen kurzen Satz ausgesprochen, hechtet der Bewaffnete schutzsuchend hinter den Baum und schießt einige Male auf das kuriose Wesen. Dieses schreit auf, Enrique schreit auf und der Baum schreit auf. Nachdem die Schüsse abgegeben wurden, stellt der Schütze verwundert fest, dass er sein Ziel komplett verfehlt hat, welches ihn mit großen roten Augen irritiert ansieht. Der Menschenfrosch blinzelt, springt in die Luft, vollführt einen perfekten Rückwärtssalto und landet sicher hinter dem Schreibtisch. „Verfickte Scheiße“ entfährt es Enrique, der mit der Wendung der Dinge nicht gerechnet hat. Nun hat er kein Ziel mehr vor Augen und so richtet er die Pistole auf den Schreibtisch. Kurz danach kommt ein Gegenstand aus der Richtung geflogen. Carlos duckt sich zwar, doch Simon schreit auf, der eine Buddhastatue gegen den Kopf bekommen hat. Reflexartig verschießt Enrique den Rest seines Magazins. Die meisten Kugeln daraus landen in 30 der Wand, oder in der Decke, doch eine trifft auf eine an der Wand hängende Zinnscheibe. Ein lautes „Pling“ ertönt und der Querschläger durchbohrt den Kopf der Bestie, die daraufhin qualvoll an einem Herzinfarkt stirbt. Die Eule ist nach den Schüssen geflohen und sucht sich genervt einen neuen Schlafplatz. Sind Eulen nicht nachtaktiv? Die beiden Dämonenjäger sind wie versteinert und geben keinen Laut von sich. Selbst die Stille wartet gespannt in der Ecke. Nach fast einer Minute kompletter Lethargie, lässt der Peruaner endlich die Waffe sinken und schreit dann euphorisch auf: „Ich hab das Scheißvieh erwischt. Ich bin halt der Geilste.“ Simon schaut seinen Partner nüchtern vom Boden aus an, während sich dieser hinstellt und nach seinem Opfer Ausschau hält. Er beugt sich über den Toten und untersucht ihn laienhaft, indem er ihm den Finger wiederholt in den Leib drückt. Simon hat sich derweil aufgerappelt und von seinem recycelbarem Kostüm getrennt, um sich ebenfalls der Leiche zu nähern. Im Gegensatz zu seinem Partner, untersucht der gebürtige Waliser den Toten genauer und entdeckt dann eine graue Substanz, die auf dem Tisch liegt, aber schon anfängt daran herunter zu tropfen. Er riecht daran und flüstert zu sich selbst: 31 „Muskat“. Sein Blick wandert weiter und bleibt an der rechten Hand des Wesens haften, die verkrampft eine Zeitschrift festhält. Darauf steht „Samurai Princess Warrior Showdown“. Er schluckt, wendet sich an den Revolverhelden und fragt: „Was denkst du hat er hier gemacht?“ Enrique blickt auf, zuckt mit den Schultern und antwortet: „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ „Ich aber“ verkündet Simon stolz, dessen Anzug nun voller Baumrinde ist, dann erörtert er: „Schau dir diese komische graue Masse auf dem Schreibtisch an und dann seine anspruchslose Lektüre.“ Plympton zeigt auf das Comicheft „außerdem war er äußerst angespannt und feindlich, wenn wir in seine Nähe kamen, dennoch hat er sich nicht einen Zentimeter bewegt“. „Und was sagt uns das Sherlock?“ fragt Enrique interessiert. „Das lässt nur einen Schluss zu, wir haben ihn beim Scheißen gestört.“ 32 Da Silva schaut zu dem toten Froschmann, der mit heraushängender Zunge weiterhin auf dem Boden liegt, schaut seinen Partner an und sagt dann schockiert: „Oh mein Gott. Das habe ich nicht gewollt.“ 33 Kapitel 3 In Herrn Taubs Gehirn klingelt etwas. Es ist ein Telefon, an der Haustür. Er marschiert auf seine Haustür zu und öffnet sie. Doch statt seines bescheidenen ungemähten Gartens findet er sich in einem riesigen Kinosaal wieder. Auch wenn er sich nicht an das Zurücklegen des Weges erinnert, sitzt er doch nun alleine auf einem roten Kinosessel und erblickt die vor ihm prangende riesige Leinwand, welches sogleich ein verschwommenes Bild zeigt. Dann jedoch klart das Bild auf und Publius sieht sich selbst in seinem Entenkostüm. „Das war’s“ prophezeit seine eigene Stimme emotionslos in den Kinosaal hinein und starrt unfokosiert nach vorne. „Was ist geschehen?“ fragt sich der kleine Herr Taub in seinem Kinositz selbst, doch sein Ebenbild geht darauf nicht ein, sondern sagt weiter: „Das war’s und du hast nichts erreicht. Eigentlich müsste jetzt dein Leben hier ablaufen. Doch da ist nichts. Du hast einfach nichts erreicht, was man hier zeigen könnte. Du hast noch nicht einmal etwas, wofür du kämpfen könntest. Genauso gut hätte ich die Sendezeit mit Werbung füllen können.“ 34 Die Figur in dem Entenkostüm räuspert sich, während der echte Herr Taub fassungslos weiter auf die Leinwand starrt. Von diesen skurrilen Ereignissen erschöpft, versucht Publius etwas zu verschnaufen und seinen Gedanken Herr zu werden, doch sein Ebenbild lässt ihn nicht, denn dieses redet einfach weiter: „Jetzt bekommst du aber dennoch einen Überblick über dein, zugegebenermaßen, sehr verkorkstes Leben. Viel Spaß“ So schnell sein Ebenbild gekommen war, so schnell verschwindet es auch und stattdessen sieht er Szenen aus seinem Leben. Sein ehemaliger Klassenkamerad Ulli ist zu sehen, wie er mit Publius Zombie Kettensägenmassaker 4 anschaut. Erwin ist zusehen, wie er laut lachend neben Publius steht, weil sich dessen Kostüm in Flammen hüllt. Er sieht sich selbst beim Kauf seines Chevelle. Eine Brünette mit vollgekotztem Ausschnitt ist zu sehen, die Publius wütend eine runterhaut. Das war’s. Die Leinwand wird schwarz wie mein Tee, und der Verstorbene sieht sich verwirrt in dem Kinosaal um. Plötzlich erfasst ihn etwas und er wird ruckartig nach hinten geschleudert, wobei er sich fliegend immer weiter von dem Kinosaal entfernt, welcher dann nur noch als ein Punkt in einem schwarzen Nichts erscheint. 35 Publius zwinkert einige Male, doch die Finsternis bleibt bestehen und zum ersten Mal nach seinem Sturz fängt er an nachzudenken. „Was ist geschehen?“ fragt ihn sein Gehirn. Er kann sich an den garstigen Jungen erinnern und an seinen Sturz. Aber wann war das gewesen? Ihm geht auf, dass er nichts spürt. Weder dass er auf einem Boden steht, noch dass er Gliedmaße hatte. Er versucht sich an die eigene Nase zu fassen, doch er spürt weder seine Hand noch seine Nase. Unheimlich. Bin ich gelähmt? Bin ich blind? Ihm schauderte es, als er sich regungslos in einem Bett vorstellte über und über mit Schläuchen und Apparaturen versehen und neben ihn ein pummeliger Kerl in seinem Kaktus-Kostüm. Und Taub musste er auch sein. Den konnte ich mir nicht verkneifen. Die Furcht nimmt langsam sein klares Denken ein. Was, wenn er die Ewigkeit in dieser Dunkelheit verbringen muss? Ihm läuft kalt der Schweiß über den Rücken, zumindest vermutet er das, da erkennt er ein winziges Licht. Seine niederschmetternden Gedanken verfliegen und er rudert dem Lichtschein entgegen. Obwohl er absolut keine Empfindungen hat, sieht er, wie das Licht stetig näher kommt, oder umgekehrt. Die Lichtquelle ist nun so nahe, dass er sie bestaunen kann. In einer vollkommen schwarz angestrichenen Wand steckt eine Glühbirne, welche nicht größer ist, 36 als eine Fingerkuppe. Unter ihr befindet sich ein kleines Schild mit der Aufschrift „Sorry, Sparmaßnahmen.“ Publius, der mit dieser Aufschrift absolut nichts anfangen kann, sieht sich weiter um und nimmt eine Tür wahr, die von dem schwachen Schein angeleuchtet wird. Ein Ausgang. Auch wenn er seine Glieder weiterhin nicht spürt befiehlt sein Gehirn dem rechten Arm die Türklinke nach unten zu drücken. Es funktioniert und Tür schwingt lautlos nach Außen auf, um ein grelles Licht herein zu lassen. Herr Taub blinzelt und seine Augen benötigen einige Zeit sich an das Hell zu gewöhnen. Nach einigen Sekunden jedoch packt ihn das Interesse und er verlässt seine Dunkelkammer durch die offen stehende Tür. Der dürre Mann findet sich auf einem kleinen Podest wieder, welches mitten in einer Art Himmel steht. Die Wolken ziehen gemächlich vorbei und Publius schaut sich um, damit er weitere Plattformen auf schlanken langen Säulen findet, die sich überall verstreut haben und monoton in diesem friedlichen Himmel stehen. Auf den Podesten ringsumher stehen kleine graue Hütten, was Publius dazu veranlasst sich umzudrehen und dann seine ganz eigene graue Hütte zu betrachten. Die Hütte hat die gleiche Form wie ein normales Familienhaus, nur fehlen ihm die Fenster um hinein zu schauen, einzig und alleine ist dafür die Tür zuständig, die immer noch offen steht. Auch wenn 37 Publius Taub diese ganzen Bilder nicht verarbeiten kann, geht er recht locker mit diesen Eindrücken um und wagt einen Blick nach unten. Sofort wirft er sich keuchend nach hinten und krallt sich an dem Podest fest auf dem er steht, da die Tiefe eine unglaubliche Länge besitzt. Auf allen Vieren und mit geschlossenen Augen verweilt er einige Augenblicke auf dem eisernen Podest, welches seelenruhig weiter auf seiner Säule steht und die tolle Aussicht genießt. Dann richtet Publius seinen Kopf langsam nach oben und öffnet behutsam seine Augen. Zum ersten Mal nach dem folgeschweren Sturz betrachtet er Teile seines Körpers, nämlich die Hände und stellt voller Entsetzen fest, dass diese aussehen, als würde es sich um eine Tuschezeichnung handeln. Noch nie in seinem Leben hat sich Publius so erschrocken, nicht mal als er in einer bizarren Welt auf einer Plattform stand und von dort aus runter sah. Bei dem Anblick seiner beiden Arme, hat er vollkommen vergessen, wo er sich eigentlich befindet. Er dreht seine Arme langsam und ballt die Hände zu zwei Fäusten. Unglaublich. Wie eine detailarme Skizze von ihm selbst. Vor lauter Faszination, aber auch Ehrfurcht, steht er auf dreht sich und wedelt wild mit seinen Armen, welche die Bewegungsbefehle konsequent mitmachen. Abrupt hört er mit seinen Spielereien auf und schaut neugierig an sich herunter. 38 Dabei fällt ihm direkt auf, dass er gar keine Kleidung trägt, diese Tatsache lässt ihn wieder in Panik ausbrechen, die sich dann aber nicht fortsetzt, da er feststellt dass seine Genitalien vom Zeichner vergessen wurden und sein Schritt so aussieht, wie der von Ken. Die Panik meldet sich in Publius Gehirn zurück, wächst dabei rapide an und zwingt ihn auf die Knie zu fallen und die nächsten Minuten damit zu verbringen tief Luft zu holen. Anschließend fragt er laut in den menschenleeren Himmel: „Was um alles in der Welt passiert mit mir, wo bin ich?“ Er wartet einige Minuten, doch niemand antwortet ihm, bis er ein entferntes Geräusch wahrnimmt und aufblickt. Mit angespannter Augenmuskulatur beobachtet er den nächst gelegenem Turm, der direkt vor ihm liegt. Auf dessen Podest, vor dem kleinen Haus, ist ein kleiner Mann mit Glatze zu erkennen. Erst denkt Publius es wäre die Verbildlichung von Erwin, der in seinem bizarren Traum erscheint, doch die Person scheint älter zu sein, viel älter. Bei genauerer Betrachtung kann Herr Taub asiatische Züge in dem skizzierten Gesicht erkennen. Der alte Asiat scheint, im Gegensatz zu unserer Hauptfigur, jedoch gar nicht verwundert über seine derzeitige Situation zu sein und klettert die Leiter an der Säule herunter, als wäre dies alltäglich. Moment Mal, 39 Leiter? Die Leiter hatte Publius in seiner Verwirrung gar nicht bemerkt. Weiterhin auf allen Vieren kriechend, tastet er sich langsam an den Rand der Plattform und schielt ängstlich nach unten. Tatsächlich, sein Turm hat ebenfalls eine Leiter, die an der Säule hinab durch eine Wolkendecke führt. Er spürt plötzlich Wind an seiner Haut, zumindest sieht die Schattierung auf seinem Arm wie Haut aus. Die Leiter führt vom Podest des Turms zu seiner Säule. Publius schaut noch einmal zu dem Mann auf, der abwärts durch die Wolkendecke klettert. Zitternd ergreift er das aus Eisen geschmiedete rote Geländer und dreht sich um 180 Grad, damit er die Leiter hinabsteigen kann. Mit mechanischen Bewegungen klettert Herr Taub diesen ungewöhnlichen Weg weiter herunter, bis er nach einigen Minuten auf die an ihm vorbeiziehenden Wolken über sich lässt. Erfreut über seinen eigenen Mut und den bisher schon zurückgelegten Weg, schaut er kurz runter und erblasst augenblicklich, was bei einer Schwarz-Weiß-Zeichnung schon äußerst ungewöhnlich ist. Der Höhenunterschied den er bisher zurückgelegt hatte, beträgt etwa einhundert Meter, was aber im Vergleich zu dem Bevorstehenden ein Scherz gleich kommt. Tausende, wenn nicht zehntausende Säulen gleicher Bauart verbreiteten sich über eine gewaltige Fläche, welche noch etliche Kilometer von dem kleinen panischen Mann auf seiner 40 Leiter entfernt ist. Die Masse an Säulen sind aus dem schwarzen Boden gewachsen und brechen weiterhin durch die Wolken, die Publius eben noch passiert hat. Sein Gehirn schüttet ihn mit Szenarien zu, die meistens aus einem blutigen Matsch bestehen, dessen Name vorher Publius Taub gewesen war. Mit aller Kraft hält er sich an der roten Leiter fest und schließt seine gezeichneten Lider. Währenddessen findet sein Gehirn weiterhin gefallen an Bilder für sein kommendes Ableben, bis ein markerschütternder Schrei aus Publius Tiefen die Gedanken beiseite schlägt. Dann geht ihm die Luft aus und er öffnet keuchend die Augen, um dann erneut nach unten zu blicken. An seiner Situation hat sich erwartungsvoll nichts geändert und auch die vielen Säulen, die überall emporragen und damit einem Wald ähneln, scheinen den Schrei nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Der schlanke Mann, der wie ein verängstigter Affe auf seiner schmalen Leiter hockt, schaut sich noch mal verunsichert um, nur damit er begreift, dass ihn niemand aus seiner Lage befreien kann, außer er selbst. Mit einem Amboss aus Blei in seinem Brustkorb, welcher sinnbildlich für seine Angst steht, wagt er sich weiter hinab schaut dabei nicht nach unten sondern verkrampft geradeaus, gegen die fast fünf Meter dicke Säule. An seine skizzierten 41 Arme scheint er sich langsam zu gewöhnen, als er ruckartig die Leiter weiter herab steigt und dabei laut flucht: „Warum muss so eine Scheiße eigentlich ausgerechnet mir passieren? In welchem verdammten Albtraum bin ich hineingeraten?“ Die nachfolgenden Flüche richten sich dann mehr auf die primären Geschlechtsteile skurriler Geschöpfe und was selbige mit den Exkrementen noch bizarrer Wesen anstellen sollen. Nach etwa einer halben Stunde wildem Gefluche, in das sich Herr Taub mehr und mehr hineinsteigerte, nimmt er seine rechte Hand von dem Geländer, ballt diese, bis auf den Mittelfinger, zur Faust und schreit: „Ihr scheiß Wichser!“ Dann bemerkt er, dass er keine fünfzig Meter mehr von dem Erdboden entfernt ist und einige, ebenfalls gezeichnete Geschöpfe interessiert nach oben blicken. Ein monotones „Oh“ kommt über seine Lippen, als er sich seiner Situation bewusst ist. Die letzten Meter hält er dann angespannt die Klappe. Die Oberfläche des Bodens ist eine sandige Wüste, wobei der Sand rabenschwarz ist. Die Temperatur ist gemäßigt und es weht nur sehr selten eine Brise. Eine Art Trampelpfad hat sich auf der schwarzen Sandschicht gebildet, auf dem sich Herr Taub befindet. Er blickt sich um, doch außer einigen genauso 42 schlecht gezeichneten Personen, wie er selbst, die alle in eine Richtung gehen, sieht er nichts. Ohne zu wissen warum alle in die gleiche Richtung marschieren schließt er sich ihnen an. Umso länger er geht, umso mehr Personen schließen sich der unendlichen Gruppe an, wobei darunter auch einige sehr hübsche weibliche Zeichnungen sind und er dann froh darüber ist, dass seine Zeichnung Mängel aufweist. Allerdings sieht ihn ohnehin niemand an, was Publius zwar gewohnt ist, doch dass niemand auf seine albernen Grimassen reagiert und alle wie Zombies nach vorne marschieren, lässt ihn innerlich erschaudern. Ein riesiges Gebäude sieht man schon von weitem, da die Landschaft komplett ohne Hügel auskommt. Auch die Menschenmassen, die von allen möglichen Trampelpfaden zu dem Gebäude laufen, sieht Publius schon. Die Trampelpfade sind vor dem Gebäude bis zum Erbrechen verstopft und es geht die letzten einhundert Meter nur langsamen Schrittes voran. Die Menschenmassen bewegen sich auf ein riesiges weißes Gebäude zu, welches an eine Burg erinnert, dessen Burgherr ein Fetisch für Türme hat. Die geschätzten dreißig Türme sind ungleichmäßig über das Gebäude gebaut. Publius geht durch einen gewaltigen Torbogen und betritt einen Raum, der so groß ist, dass er die Wand zu seiner Linken nicht sieht. 43 Alles in dem Raum ist weiß gehalten. Überall stehen Statuen von Tieren und Pflanzen. Beeindruckt sieht Publius von dem weißen Marmorboden auf und erblickt einen roten Kasten der farblich damit absolut unpassend wirkt. „Nummer ziehen. Weiter gehen.“ Steht unfreundlich darauf. Der Tote blickt sich um und bemerkt, dass die Skizzen in den anderen Reihen ebenfalls an einem solchen Kasten vorbei kommen und bedenkenlos eine Nummer ziehen, so tut er es ihnen gleich. Seine Karte enthält die Nummer 3. Hilfe suchend sieht er sich um und bemerkt eine Lichttafel mit der Aufschrift „Nächste Nummer: 2“ Publius Taub atmet erleichtert auf und blickt euphorisch auf seine Karte. Dann schaltet die Anzeige weiter und verkündet nonverbal: „Nächste Nummer: 2 0 0 1“. „Verdammter Dreck“ entfährt es ihn und er beißt sich ungeduldig auf die Unterlippe. Dreißig Meter vor ihm steht Pauli, ein kahler buckeliger Greis, der sich ständig fragt, warum hier so viele für die Toilette anstehen. Was er bisher nicht weiß, ist die Tatsache, dass er vor gut acht Stunden aus seinem Bett aufgestanden war, um sich, wie jeden Mittag, einen Toast mit Leberwurst und Käse einzuverleiben. Eine Klavierspeditionsfirma, die zur gleichen Zeit ein Klavier in den dritten Stock zu Frau Rot brachte, 44 hatte dann keinen Einfluss darauf, dass Pauli an seinem Frühstück erstickt und erst nach drei Wochen gefunden wird, als Frau Rot einen abartigen Geruch aus der Wohnung über ihr bemerkt, nachdem sie feststellen wird, dass sie Klavierspielen hasst. Die Warterei setzt Publius außerordentlich zu und von den gezeichneten Menschen jeder Altersgruppe um ihn herum hat er dann auch schon bald genug gesehen und die monströse Innenarchitektur hält schon lange nicht mehr seine Aufmerksamkeit. Nach hunderten kurzen Schritten erspäht er die Ziele der etlichen Warteschlangen. Es war eine etwas verwirrte alte Frau mit großer Brille, welche an jedem der geschätzten zweihundertdreiundsiebzig Schalter saßen. Schien eine größere Verwandtschaft zu haben, die gute Frau. Endlich kommt Publius an die Reihe. Bei den vielen Frauen handelt es sich scheinbar um Klone, sonderlich hässlichen Klonen. Die betagte Frau, deren weißes Haar zu einem Turm aufgesteckt wurde, mustert Herrn Taub kritisch. „Name“ 45 unfreundlich fällt das Wort aus dem Mund der alten Dame und hinterlässt dabei ein Geräusch, wie Fingernägel auf einer Tafel. Publius erschaudert innerlich und antwortet verzögert: „Taub. Publius Taub“. Die Frau schielt über ihre schmalen goldenen Brillenbügel und zeigt dabei die Gleiche Regung wie ein Berg bei Unwetter. Ein Schnaufen nimmt Publius wahr und wird dann von einem ganzen Satz gefolgt: „Einen Augenblick“. Sie schaut auf ihren äußerst aufgeräumten kleinen Schreibtisch und öffnet eine kleine Schublade, in die nicht mal eine Schachtel Streichhölzer reinpassen würden. Dennoch holt sie daraus ohne Probleme einen Stapel zusammengehefteter Papiere und knallt sie auf die Theke. „Damit erklären Sie sich einverstanden, dass Ihre unsterbliche Seele recycelt wird und ihre Erinnerungen komplett gelöscht werden.“ „Bitte was?“ Publius verschluckt sich vor lauter Verwirrung an seiner eigenen Zunge und hustet der unfreundlichen Frau auf den Tresen. Nachdem er sich etwas gefangen hat, schaut ihn die Empfangsdame missbilligend an und wiederholt kurz: „Seele 46 recyceln, Erinnerungen löschen“. Panik macht sich in ihm breit und lauter als er eigentlich will, fährt er die Frau an: „Sie können doch nicht einfach meine Seele wiederverwerten und meine ganzen Erinnerungen, mein ganzes Leben löschen. Dieses Recht steht Ihnen doch gar nicht zu.“ Er atmet ein. Die Sekretärin richtet sich schnaubend auf und brüllt: „Bei jedem Zweiten dieselbe Scheiße. Ich halte mich hier nur an meine Vorschriften. Alle paar Minuten muss ich mir den gleichen Dreck von euch anhören. Ich habe noch über vier Stunden Schicht und zuhause warten zwei Rotzplagen und ein Mann mit einem gebrochenen Nasenbein, der mir jeden verdammten Abend die Ohren zuheult. Ich habe es langsam satt hier immer die gleiche Arbeit zu machen.“ Sie atmet ein. Publius zittert, schwitzt und schluckt, als er kleinlaut fragt: „Wo soll ich unterschreiben?“ Seine Unterschrift ist schnörkellos und dennoch nicht zu entziffern. Die doppelte Mutter gibt sich dennoch damit zufrieden und setzt sich wieder auf ihren Allerwertesten. Etwas besser gelaunt verkündet sie dann in einem geschwätzigen Tonfall: 47 „Gut, dann gehen Sie bitte weiter und nehmen Tür Nummer 84“. Obwohl sich Publius absolut sicher ist, dass bis eben die turmhohe Wand hinter der Dame noch vollkommen kahl war, reiht sich jetzt eine Tür neben die andere. Zögerlich nähert er sich den dunkelbraunen Holztüren, welche ihre Nummer mit weißer Farbe in der Mitte tragen. Wiederholt ruft er sich seine Türnummer im Kopf auf, bis er vor einer der Türen steht. Ungläubig starrt er auf die Zahl die von dem dunklen Holz aufleuchtet und erkennt, dass es sich um Nummer 84 handelt, um seine Nummer. Sein Herz schlägt schneller, da er sich abrupt die Frage stellt, was hinter der Tür eigentlich auf ihn lauert. Laut atmet er wiederholt ein und aus, bis er dann die Türklinke hinunterdrückt, in die Pforte tritt und die Tür hinter sich schließt. Die Kamera fährt von der Tür zurück und zeigt die anderen Türen, die alle ebenfalls Nummer 84 tragen und dann so schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Eine Treppe führt nach unten, sehr weit nach unten. Herr Taub geht die nur karg von, an der Wand befindlichen, Kerzen beleuchteten Treppenstufen hinunter und muss sich dabei an seine Leitereskapade erinnern. 48 Die Zeit verfliegt bei diesem Lauf so schnell, das Publius von dem monotonen Hinabsteigen vollkommen den Bezug zu sich selbst vergisst. Nachdem er die fast endlose Treppe bezwungen hat, knallt er in seinen stumpfen Gedankengängen gegen eine Ziegelwand, die ein Sadist dort aufgestellt hat. Langsam kommt er wieder zu sich und nach einigen Sekunden der Verwirrung schreit er vor Schmerzen auf und hält sich dann den eigenen Kopf. Genauso schwach beleuchtet, wie die Treppe, ist auch diese kleine ebene Fläche. Er tastet suchend über die Wände, um etwas Brauchbares zu erfühlen, bis er über Etwas im Boden stolpert und auf der Nase landet. Auf dem Boden liegend kriecht er weiter, bis er die Stelle findet, an der er gestolpert war. Eine Luke ertastet er und der Griff fungiert auch als Stolperfalle. Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund schwindet die Angst aus seinem Körper, die dem Tatendrang platz macht. Mit einer geschickten Bewegung schließt er den Deckel auf und wird sofort von grellem Licht geblendet. Das runde Loch im Boden ist gerade groß genug, dass sich Publius hindurchzwängen kann. Jedoch muss er seinen Bauch einziehen, da sich das Loch dann doch als einige wenige Zentimeter zu eng erweist. Kaum hat er sein Vorhaben vollbracht, als er einige Meter tief fällt und auf einem 49 Teppichboden landet. Er findet sich in einer Art Wartezimmer wieder und wird von bizarr aussehenden Wesen gemustert, die am Rand sitzen. Die Türe öffnet sich, noch bevor Publius einen Ton zu seiner Lage herausbringt, und zum Vorschein kommt ein magerer älterer Mann. Der etwa Mittfünfziger hat eine große Hakennase, einen Ziegenkopf als Kopfbedeckung und ist mit einer schwarzen Robe bekleidet. Er sieht Publius uninteressiert an, wendet sich dann an die Übrigen und sagt emotionslos: „Der Nächste bitte“. 50 Kapitel 4 „Räum endlich dein Zimmer auf und deinen Freund kannst du dann auch direkt nach Hause schicken“ donnert es aus dem Hals einer Dreiundvierzigjährigen, welche dann eine weiß lackierte Tür zuknallt. Der stämmige, etwas kurz geratene Enrique und sein schlanker, etwas lang geratener Kumpel Simon sitzen in ihrer Geisterzentrale. Diese wird zurzeit von der Mutter des Peruaners heimgesucht, welche in ihrem debilen Putzwahn vergaß, dass die Wohnung auch Simon gehört. Seit einigen Minuten sitzen beide zusammen und versuchen ihr gestriges nächtliches Treiben in Worte zu fassen, nebenbei hören sie sich spanische Flüche aus der Küche an. „Ich bekomme dieses merkwürdige Wesen nicht mehr aus dem Kopf“ beginnt Simon leise, nachdem in der Küche Stille einkehrte. „Ich tippe auf einen Außerirdischen, der die Welt unterjochen wollte. Vielleicht auch nur ein Vorbote einer ganzen Invasion dieser Geschöpfe“ sagt Enrique, welcher sich dafür einen skeptischen Blick von seinem besten Freund einfängt. Plympton, der schon immer der rational Denkende der beiden ist und mit den Fantastereien 51 seines Gegenübers noch nie viel anfangen konnte, hat auch diesmal ein passendes Gegenargument bereit: „Wir sind nicht in einem deiner c-klassigen Science-FictionFilmen, daher muss es dafür eine vernünftige Erklärung geben.“ Kaum hat er die Worte ausgesprochen, als da Silva an die Wand schielt und seine absurde Theorie weiter ausschmückt: „Tiere, die mit außerirdischer DNA infiziert wurden und dadurch mutierten. Ganz geheime Forschungen der Amerikaner.“ Der Gesichtsausdruck von Simon ähnelt stark dem einer Person, die seit vierzehn Jahren versucht einer Hecke das Fahrradfahren beizubringen, enttäuscht, am Boden zerstört und trotzdem mit einen gequälten Hauch Motivation. Gekonnt wird nun Simons Gesichtsausdruck ignoriert und mit einer Erweiterung der Theorie fortgefahren: „Eventuell war es ja auch ein Cyborg, aus einem Genlabor eines Außerirdischen.“ Enrique läuft das Wasser im Mund zusammen, als er sich auf dem Titelblatt einer bekannten Zeitung sieht, welche folgende Überschrift trägt „Held und Handlanger entdecken das GenLabor eines Außerirdischen“ und in einem kleinen Kasten weiter unten „Früchtekorb zu gewinnen“. Starr blickt Enrique weiter vor sich hin, in seiner Traumwelt gefangen. Simon, der bis dahin 52 seine Gedanken mit Überlegungen beschäftigt, sagt dann, mehr zu sich selbst: „Von wegen Außerirdische, dafür muss es doch eine plausible Erklärung geben. Es gibt doch mit Sicherheit Menschen, die sich mit solchem Zeug auskennen.“ Dann kramt er ein Telefonbuch hervor, was in dem kleinen Wohnzimmer als Ablage der Fernbedienung dient. Er blättert flüchtig in dem großen Buch herum ohne dass er etwas Bestimmtes sucht. Doch dann fällt sein Blick auf eine kleine Anzeige, die er dann laut vorliest: „UFO“. Enrique wird sofort hellhörig und schielt interessiert in das Buch, als sein Freund das Kleingedruckte der Anzeige vorliest: „Uniformierte, Frigide Omis. Die alten Schabracken von Nebenan.“ Beide fangen laut an zu lachen. Das kantige Gesicht von Enriques Mutter taucht aus der Küchentür auf, schaut grimmig drein und bringt damit die beiden Geisterjäger zum Schweigen. Die Tür wird zugeschlagen und Simon schaut sich nochmals in dem Wälzer um, diesmal aber mir höherer Sorgfalt. Zeile für Zeile, Anzeige für Anzeige durchlesen seine Augen das Telefonbuch, bis sein 53 Blick verharrt und mit einem Röcheln die Aufmerksamkeit von seinem Kumpel einfordert: „Sieh dir das an“. Noch bevor der Südamerikaner seinen Kopf zur Seite neigt, um Einsicht zu erhalten, fährt Simon unbeirrt fort: „Okkulte Rituale, Mythologien aller Art und Wahrsagung“. Der lange Mann hält inne und kaut gedankenverloren an seiner Unterlippe. Fragend sieht Enrique seinen Freund an und überlegt, ob er dazu etwas sagen soll, doch noch bevor er sich entscheiden kann setzt Simon wieder an: „Das wäre doch das Richtige“ „Meinst du, das ist eine seriöse Anzeige? Ich habe den Verdacht, das ist einer von diesen Schwindlern“ wirft Almeida ein, worauf Herr Plympton auch sofort eingeht: „Allerdings haben wir bei solchen Anzeigen immer dieses Problem. Ich schlage vor, wir fahren einfach mal hin und entscheiden vor Ort, ob es seriös ist, oder eben nicht.“ Nach einigen Sekunden Denkzeit, in der sich Enrique ausgiebig an der Schläfe kratzt, fragt er: „Wo ist der Mensch denn zuhause?“ Simon sieht sich noch einmal die Anzeige an und stöhnt dann auf: „Drei Ortschaften weiter, also etwa achtzig Kilometer.“ 54 „Na großartig“ entfährt es Enrique Carlos, dessen Mimik sich nach der Erkenntnis deutlich missmutiger gestaltet, als er sagt: „und wie sollen wir dahin kommen? Du weißt dich, dass wir kein Geistermobil haben und unser Geisterjägerfahrrad ist in der Werkstatt, da sich die Glühbirnen nicht mehr bewegen, wenn man in die Hände klatscht. Oder sollen wir mit dem Bus fahren?“ Darauf weiß Simon jedoch keine Antwort und zuckt daraufhin nur entmutigt mit den Nasenlöchern. Wie auch immer sie es angestellt haben, aber nun stehen sie mit erhobenem Daumen am Straßenrand. Die Autos fahren desinteressiert an ihnen vorbei, dann fängt es leicht an zu regnen, als Enriques Antwort über den Verkehrslärm hinwegtönt: „Großartige Idee, du Spinner. Hätten wir den Bus genommen, wären wir schon längst angekommen.“ Woraufhin seine Begleitung kontert: „Von welchem Geld denn, du Genie? Du hast doch unsere Gemeinschaftskasse geplündert.“ „Ich brauchte das Fußbad und zwar sehr dringend, denn meine Füße schmerzen wie die Hölle“. 55 Wie auf Stichwort, hält ein alter Land Rover vor ihren Füßen, als das letzte Wort des Satzes ausgesprochen wurde. Stockend wird die Fensterscheibe hinunter gekurbelt und ein freundliches rundliches Gesicht eines Halbglatzkopfes erscheint, der sie dann auch direkt freundlich fragt: „Wo müsst ihr denn hin?“ „Pinneberg“ antwort Simon sogleich „Da habt ihr Glück, ich fahre durch Pinneberg. Steigt ein“. Die beiden Anhalter steigen in den dunkelgrünen Geländewagen ein, wobei der Chef des Geisterjägerteams es sich vorne bequem macht. Bevor der Unbekannte losfährt, grinst er sie freudestrahlend an und stellt sich vor: „Ich heiße übrigens Fung Sheng“. Er streckt seine Hand aus und die beiden Geisterjäger werden von den weißen Zähnen angestrahlt, die sich von der schwarzen Haut des Mannes absetzen. „Das ist Simon Plympton und ich bin Enrique Carlos Almeida da Silva.“ „Sehr angenehm“ sagt der Mittvierzieger, legt den ersten Gang ein, fährt los und setzt dann sein Gespräch fort: 56 „Früher bin auch sehr oft getrampt. Aber die Menschen sind in der Beziehung äußerst zurückhaltend und fahren dann lieber an dem bösen schwarzen Mann vorbei.“ Er lacht kurz kopfschüttelnd, bevor er weitererzählt: „Einmal hat mich sogar ein paranoider Kettensägenmörder mitgenommen, wobei er da meinte, dass ihm die Medien für seinen Job sehr gut bezahlen.“ Dann steht das Gespräch und aus dem anfänglichen Nieselregen wird ein starker Wolkenbruch, in dem sich die Scheibenwischer Mühe geben, dem Fahrer einen freien Blick auf die Straße zu gewähren. Die Landstraße ist fast leer gefegt und die Insassen sehen nur die verschwommene Aussicht auf weit gestreckte Felder. Die Wolkenberge verdunkeln den Himmel und es kommt einem vor, als wäre schon der Abend hereingebrochen, da die Scheinwerfer die Straße erhellen müssen. Sheng, dessen Autoradio gerade mit House of the Rising Sun fertig wird, unterbricht die dichte Atmosphäre mit einer Frage: „Was wollt ihr eigentlich in Pinneberg?“ Da Silva schaut in den Rückspiegel, der für diesen Zweck dort hingehängt wurde, zu seinem desorientierten Freund, welcher 57 abweisend die rechte Braue hebt, wobei es die Linke ist, verdammter Spiegel. Da, Silva antwortet: „Wir wollen zu einem Okkultisten“. Der farbige Fahrer dreht den Kopf so ruckartig in Enriques Richtung, dass dieser erschrickt. „Ihr wisst es auch, oder?“ Die zwei Geisterjäger werfen sich gegenseitig Blicke zu. Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt Fung fort: „Sie kommen uns holen. Dämonen und böse Geister. Ich weiß es ganz genau. Es gibt da einen Jungen, der schaut mich immer sehr böse an, wenn ich dienstags mit dem Fahrrad von meinem Schwager zum Bäcker um die Ecke fahre. Wahrscheinlich ein Besessener, oder ein Leibeigener eines Dämons. Die Erde wollen sie erobern. Satan, Luzifer, Beelzebub, die ganz Sippschaft.“ Die Handgelenke des Fahrers verkrampfen sich um das Lenkrad, dann nimmt er tief Luft und erweitert seine Prophezeiung: „Dazu habe ich mir letztens ein Fachmagazin gekauft, worin es heißt, dass die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr lange bestehen bleibt. Denn bald werden finstere Mächte über uns hereinbrechen, die ersten Anzeichen sind schon da. Der Junge 58 zum Beispiel, oder diese seltsamen Lichter, die ich ständig bei Nachtfahrten sehe.“ Simons und Enriques Herzen schlagen nun wie das flehendliche Gezirpe einer Grille in der gottverlassenen Mongolei. „So da wären wir“ schrillt die etwas zu euphorische Stimme des Fahrers und hält dabei am Straßenrand. Irritiert und verängstigt steigen die zwei Gestalten aus dem Geländevehikel. Der Wagen braust so schnell davon, wie er gekommen war. Im Inneren sagt ein afroindischer Mitbürger: „Diese Vollidioten“ lacht dabei schallend und ward im Regen alsbald nicht mehr gesehen. Wie ein Häufchen Elend stehen die beiden Superhelden auf dem Bürgersteig und starren konfus ins Leere, während ihre Klamotten erneut nass werden. Plympton, der sich dann wieder besinnt, fängt dann auch das nächste Gespräch an: „Meinst du das Wesen, was wir gesehen haben, war ein Vorbote all dieser schaurigen Vorhersagen?“ „Ich hoffe nicht“ seufzt der Peruaner 59 „sonst haben wir hier bald einen prall gefüllten Terminkalender und am Wochenende nicht frei.“ Simon erschaudert bei der Vorstellung und drängt dann zum weitergehen: „Lass uns diesen Okkultisten ausfindig machen, vielleicht hat er Antworten“. Eine dunkle Gestalt betritt einen karg eingerichteten Raum. Nur eine Glühbirne, die von der Decke baumelt, erhellt den Raum sporadisch, der stark an ein Kellergewölbe erinnert. Der dürre Mann schreitet zu einem Schreibtisch, welcher sich an der gegenüberliegenden Wand zur Tür befindet und setzt sich auf einen alten Stuhl. Zitternd vor Aufregung durchsieht er die zahlreichen Papiere und Notizblätter, die sich auf dem Schreibtisch zu einer augenscheinlichen Unordnung angesammelt haben. Das Gesicht des Mannes ist von einem diabolischen Grinsen gezeichnet, während er zu sich selbst spricht: „Es ist vollbracht. Endlich konnte ich die bösesten und schrecklichsten Tiere der Welt zusammentragen und zu einem ultimativ bösartigen Tier formen, welche alle Alpträume sprengen wird.“ 60 Er lacht schallend mit erhobenem Kinn und ausgebreiteten Armen. Dann steht er äußerst elegant auf und bewegt sich zu einem Eisengebilde, welches bis an die Decke reicht und einem riesigen Ofen ähnlich sieht. Weiter spricht er monoton mit sich selbst: „Egal welche bizarre Gestalt ich erschaffen habe, ich werde es einem dieser terroristischen Staaten verkaufen.“ Seine Hand will nach einem Griff greifen, wird aber kurz vorher zurück beordert und greift stattdessen einen Schürhaken. „Nur zur Sicherheit“ murmelt der Mann besessen und drückt dann mit der anderen Hand die Klinke herunter. Schwärze befindet sich hinter der Tür. Eine Gestalt erscheint aus der Dunkelheit und der Mann erhebt seinen Schürhaken drohend. Ein nackter Mann steht dann in der Tür und sagt verwirrt: „Hallo, ich bin Anton, wo bin ich?“ Mehr zu sich selbst spricht darauf der dürre Mann im dunklen Gewand: „Das Böseste der Tierwelt zusammengenommen ergibt den Menschen, und er heißt Anton.“ Ein schrilles Klingeln ertönt über den beiden und der Mann in Schwarz tönt euphorisch: 61 „Hui, Besuch“. Er will sich gerade in Bewegung setzen, als er bemerkt, dass Anton weiterhin teilnahmslos und splitterfasernackt in der monströsen Apparatur steht. Der wahnsinnige Mann blickt seine Schöpfung kurz an und sagt ihm dann: „Dort drüben ist eine Kaffeemaschine, bedien dich.“ Nachdem Anton seinen Kaffee austrinken wird, eröffnet er in einer kleinen Ortschaft am Starnberger See ein Kerzengeschäft. „Klingel noch mal, der schläft mit Sicherheit“ fordert Simon seinen Kumpel Enrique auf, der genervt nun schon zum fünften Mal den Totenkopf drückt, welcher an der Wand als Klingel fungiert. Von den unzähligen Reihenhäusern, die die Straße säumen, sieht ihr Zielhaus am schäbigsten aus. Das lag vor allem am Garten, der vor dem Haus zur Straße hin gelegen ist. Dieser sieht aus, als hätte sich dort eine Planierraupe einen Kampf mit einem Rudel Bären geliefert. Lautes Getrampel dringt aus dem Haus und die Tür wird ruckartig aufgerissen, bevor eine laute Stimme daraus hervordringt: „Warum klingelt ihr mir die Ohren kaputt, ihr Armleuchter?“ Vollkommen verunsichert bekommt keiner der zwei Helden eine 62 Antwort heraus. Obwohl es immer noch regnet, kann man durch die Helligkeit das Gesicht des Mannes ausmachen, welches dem irren Arzt in der Praxis sehr ähnlich sieht, in die sich Publius verlaufen hatte. Sein Blick richtet sich erst zu Enrique und dann zu dem ihn überragenden Simon, der ein falsches Grinsen aufsetzt, um die Konfrontation zu entschärfen. „Was wollt ihr?“ fragt der Hexenmeister mürrisch, während er immer noch in der Tür steht und blaue Pantoffeln trägt. Da Silva, der weiterhin mit offenem Mund den Zauberer anstarrt, bekommt von seinem Kollegen einen freundlichen Schlag mit dem Ellenbogen in die Seite, worauf er zu sich kommt und sich an ihr Vorhaben erinnert: „Wir müssen Ihre Fähigkeiten in Anspruch nehmen. Wir haben etwas Unvorstellbares gesehen.“ Nachdem sich alle Beteiligten an einen runden Fliesentisch im Wohnzimmer positioniert haben, beginnen der Waliser und der Peruaner mit ihrer Geschichte, die aber die Tatsache außer Acht lässt, dass sie kurz davor waren sich einzunässen. Interessiert und mit nickenden Kopfbewegungen hört sich der Mann mit dem Ziegenschädel auf dem Kopf die, aus Erinnerungen zusammen gestrickte, Geschichte an. Zeit um sich vorzustellen hatte er keine bekommen, da die beiden 63 Gespensterjäger sofort mit der Geschichte begannen. Etwas aus der Puste beendet Enrique dann die Erzählung: „Was war das für ein Scheißvieh?“. Die Miene des Mannes verfinstert sich daraufhin langsam, bis er wortlos aufsteht, den Raum verlässt und dabei undeutlich murmelt: „Folgt mir“. Der angrenzende Raum führte eine zweistufige Treppe hinunter, die Simon fast übersieht, als er sich das Zimmer voller Bücher ansieht. Der Raum ist riesig und beherbergt ein Dutzend meterlange Schränke, die voll gestopft mit Büchern, Antiquitäten und Tränken ist. Aus der Erfahrung heraus, wo sich die Bücher befinden, begibt sich der alte knochige Mann zu einem der Regale und verschwindet dahinter. Langsam folgen ihm die beiden Besucher, die versuchen einen Überblick über die angesammelten Raritäten zu bekommen. Ein Schrei erfüllt plötzlich den Raum. Schnell stellen die zwei fest, dass er vom undurchsichtigen Hexer gekommen war und gehen schnellen Schrittes in die Richtung, aus der der Schrei gekommen zu sein scheint. Eine Eule fliegt ihnen entgegen, flattert über ihre Köpfe und ist nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen. Wutentbrannt stürmt der Zauberer aus 64 einer Nische hervor, bewaffnet mit einem Gehstock und brüllt der längst verschwundenen Eule hinterher: „Verdammtes Federvieh. Lass dich hier noch einmal blicken und ich haue dir die Stirn so blau, dass sie dir abfällt“. Er beruhigt sich und sagt dann zu den zwei Gästen: „Verdammte Eulen, die gehen immer auf wilde Parties und schlafen hier rotze voll ein, bis ich sie rausschmeißen muss“. Der Waliser und Enrique sehen sich irritiert an, fragen aber nicht weiter nach. Ohne sich weiter mit der Eule zu befassen, dreht sich der Mann zu einem Regal um, durchsucht es hastig und redet dabei weiter mit sich selbst: „Es muss doch hier irgendwo sein. Ich habe es doch erst neulich gesehen, verdammt. Ist es das hier? Nein, doch, nein. Aha, hier, nein auch nicht“. Währenddessen wirft er einige der Bücher auf den Boden, um sich mehr Platz im Regal zu verschaffen. Endlich scheint er das Gesuchte gefunden zu haben, zumindest erstarrt er in der Bewegung und auf seinem Gesicht bildet sich ein wissendes Grinsen, welches man allerdings auch als einen gestörten Tick hätte abtun können. „Na endlich, da ist ja das Scheißding.“ Der Bibliothekar schreitet triumphierend auf einen kleinen Abstelltisch zu, der aus schwarzem Holz besteht und dutzende 65 Bücher beherbergt. Nur ein, genauso schwarzer, Holzstuhl steht in der Nähe des Tisches, auf den sich der rüstige Mann setzt und die beiden Besucher komplett ignoriert, während er in dem Buch blättert, welches er eben aus dem Regal gezogen hat, worauf ein dicklicher Pinguin mit einem roten Schal zu erkennen ist. Erschrocken fährt Da Silva und Plympton zusammen, als der Namenlose aufschreit. „Hier, das ist mit Sicherheit das Vieh, was ihr sucht.“ Die beiden selbsternannten Geisterjäger bekommen langsam wieder Farbe nach dem Schrecken und schauen auf ein Bild im Buch, welches eine detailgetreue Skizze ihrer Beobachtung enthält. Leicht irritiert fragt Simon daraufhin: „Was zur Hölle ist das?“ Während sich der Alte seinen, teilweise grauen, Ziegenbart streichelt, sagt er ungewollt geheimnisvoll: „Eine Elfe“ „Eine Elfe?“ fragen daraufhin zwei Personen, die sich offenbar im falschen Film vermuten, fast gleichzeitig, wobei Simon dann noch abfällig ergänzt: „Das Ding sieht eher aus, wie eine Kreuzung zwischen einem Affen und einem Schwein, dessen Verdauung äußerst labil ist.“ 66 Der Mann in Schwarz, der wohl mit einer solchen Bemerkung gerechnet hat, grinst nur bestimmt. „Filme, Bücher und andere Medien sind vollgestopft mit der Vorstellung, wie ein Elf auszusehen hat. Aber in den ganzen Fantasyromanen werden meist diese Spock-ähnlichen Schwuchteln erwähnt, weil sie einfach schöner anzusehen sind, als diese Ausgeburten eines schlechten Romanautors. So etwas würde kein pubertierendes Mädchen toll finden“ sagt der Bärtige, der währenddessen mit seinen knochigen Fingern unrhythmisch auf das Buch tippt. Dann fährt er nach einer kurzen Denkpause fort: „Übrigens wurden Elfen früher rapide gejagt, wegen ihrer Beine“ Diese Aussage läuft an den zwei Geisterjägern vorbei und geht die Tür hinaus, da sich diese viel lieber mit dem Geschriebenen unter dem Bild beschäftigen. Der alte Zaus zwirbelt sich wieder an seinem Ziegenbärtchen und überschaut die Aktivitäten der Ankömmlinge mit nervösem Blick und zugekniffenen Augen. „Woher kommen diese Wesen?“ fragt Simon, der zu dem Mann aufschaut. Doch der Alte reagiert in keiner Weise, worauf Simon Plympton aufgebracht seine Stimme hebt: „Hallo“. 67 Ein spitzer Schrei, der aus dem Mund des Greises dringt, lässt die Wände erzittern. Der Magier, der darüber nachdachte Sexheftchen in die Bibliothek mit aufzunehmen, fragt unsicher: „Wie bitte, was? Wo die Viecher herkommen? Ach ja, genau.“ Etwas aus dem Konzept gerissen fängt er im offen liegenden Buch zu blättern an und hat dann auch sogleich die Antwort parat: „Aus dem Jenseits“. Mit gruselig aussehenden Armbewegungen untermalt er die Aussage. Den beiden Nebencharakteren läuft es kalt den Rücken herunter. Als der Bibliothekar merkt, dass seine Gesprächspartner mit seinem Satz und vor allem mit seiner überschwänglichen Geste nichts anzufangen wissen, seufzt er lange und greift zu dem ominösen Buch auf dem Tisch. Er durchblättert erneut einige Seiten dieses enorm dicken Buches, dessen Cover weiterhin den Pinguin zeigt, der dieses Mal aber etwas skeptischer schaut. „Das Jenseits bildet eine Welt, die sich von unserer nur minimal unterscheidet. Als vor Anbruch der Zeit sich die Götter der fünf Himmelsrichtungen stritten, wer denn nun auf den Kompass darf, richteten sie ein Spiel aus, welches Tischtennis 68 nicht unähnlich ist. Eine Entscheidung über die absolute Macht sollte dadurch festgelegt überraschenderweise werden, niemand. Die doch es verfeindeten gewann Götter bekriegten sich über Jahrmillionen, bis sie sich irgendwann so weit gebracht hatten, dass sie die Lust verloren. Nur der fünfte und letzte Gott ist ein unsympathischer Sack und kapselte einen Teil der Welt von dieser ab und erschuf sich damit sein eigenes Reich. Dieser Gott versäumte es jedoch irgendetwas aus unserer Welt mitzunehmen. Nach einiger Zeit fehlte im somit das Personal, um sein Reich in Schuss zu halten. Auch eine Anfrage an seine ehemaligen Partner stieß auf taube Zehen. Durch einen Schlupfwinkel gelang es ihm jedoch, ein Schlupfloch zu finden. Wer hat das eigentlich aufgeschrieben? Die Phase, wo sich die Seelen der Menschen von ihrem Körper trennen, bei ihrem Tod, oder bei einem Drone Doom Konzert. Durch diesen Umstand müssen alle Seelen zuerst das Jenseits passieren, bevor sie kategorisiert und wiederhergestellt werden. Einige wenige widersetzen sich jedoch diesem Wiederherstellungsprozess und blieben einfach im Jenseits, um dort ein Leben zwischen den Welten zu führen. Natürlich wäre die Geschichte nur halb so interessant, wenn man jetzt nicht erwähnen würde, dass dem Jenseits gewisse Eigenschaften 69 anhaften. Die Widersetzer können sich so eine kuriose und eigene Welt erschaffen.“ Der Bibliothekar saugt die Luft ein, um seine Lungen mit Sauerstoff zu befüllen. „Und wie kommt ein solches Wesen auf unsere Welt?“ fragt Enrique. „Überall auf der Welt gibt es spezielle religiöse Orte, die als quasi Tore zum Jenseits dienen. Das haben schon unsere Vorfahren erfahren. Diese Orte sind zum Beispiel Stonehenge, die Pyramiden von Gizhe oder der Kölner Hauptbahnhof.“ Mann sieht den beiden Halbstarken sofort an, dass sie diese Geschichte genauso dämlich finden, wie der Leser. Ohne sich davon abbringen zu lassen, fragt der Hexer direkt: „Soll ich euch dorthin bringen?“ Simon, der sich gedankenverloren mit der Zunge einen Rest Brokkoli aus den Zähnen zieht, verschluckt sich und starrt den finster grinsenden Mann erschrocken an. „Wie meinen Sie das?“ fragt Enrique, der sich erwartungsgemäß besser auf absurde Situationen einzustellen weiß, als sein Partner. Der Bart des Ziegenpeters besteht mittlerweile nur noch aus einer einzigen gezwirbelten Locke, was seinen Träger aber nicht davon abhält, daran weiterzudrehen. 70 „Unter dieser Bibliothek laufen die Elementarlinien der Erde zusammen. Durch okkulte Rituale kann ich euch ein Dimensionstor beschwören.“ Das Grinsen des Mannes erinnert Enrique und Simon an das eines Vertreters, der ganz genau weiß, dass die beworbene Fußdusche nach zwei Monaten anfängt ein Eigenleben zu führen und sich dann von Zehen und Pampelmusen ernährt. Aus diesem Grund hegen die beiden berechtigte Zweifel an diesem Angebot. „Ich denke wir wissen genug darüber.“ Versucht Simon der Frage auszuweichen „Vielen Dank für die Hilfe…wo ist der Ausgang?“ „Was, so plötzlich? Jetzt sagt aber nicht, dass ihr Angst bekommen habt.“ Simon jedoch wehrt diese Anschuldigung vehement ab: „Natürlich nicht, aber die Antworten genügen uns wirklich und mit diesen werden wir jetzt guten Gewissens nach Hause gehen, wo wir uns dann weiter damit befassen. Also tschüss“ Sichtlich enttäuscht führt der Ziegentotenkopfträger die zwei aus der Bibliothek, hin zur Eingangstür. „Also, auf wieder sehen“ 71 lügt der Südamerikaner, als sie das Haus verlassen und lassen einen kopfschüttelnden Mann zurück. Kaum auf der Straße angekommen, sagt Enrique triumphierend: „Zum Glück sind wir hier raus gekommen, bevor der irgendeine bescheuerte Show mit uns abzieht. So ein Spinner.“ Simon nickt beipflichtend, zeigt dann aber plötzlich auf ein Plakat und sagt: „Oh, schau mal, in der Stadt ist Kirmes“. Wieder an der frischen Luft, hellen sich die beiden Gesichter auf und Enrique stellt sogleich zutreffend fest: „Geil, Kirmes“. Der Regen hat nachgelassen und nur ein leichter Nieselregen bedeckt den Ort wie ein Nebel. Nachdem die beiden bei einem Imbiss, einige Hundert Meter entfernt, eine grimmige Nonne beim Verzehr einer Currywurst nach dem Weg fragten, gingen sie weiter gen Stadtmitte, wobei sich ihre Haare mit Wasser voll saugen. Bei Enrique lediglich die Brauen. Die verwaschene Jeans und das dreckige, löchrige, schwarze T-Shirt von dem Peruaner stehen dabei im krassen Gegensatz zu dem weißen Zuhälteranzug seines walisischen Freundes, was sie wie ein bizarres Schwulenpärchen aussehen lässt. Während sie über die, noch immer pitschnassen, Bürgersteige 72 gehen, bekommen sie aufmüpfige Blicke von allein erziehenden Müttern vorgeworfen, die zwar selbst das Klischee einer Sozialhilfeempfängerfamilie vollkommen ausfüllt, aber selbst alle Personengruppen in eine Schublade steckt, ohne sie kennen lernen zu wollen. Aus der Ferne durchbricht die Nieselregenfont ein Lichterhorizont, was den zwei Durchnässten einen Schub gibt ihre Schritte zu beschleunigen, da sie der Gedanke begeistert, auf dem Festgelände sich mit ungesunden Fetten die Zugänge zum Herzen zu verstopfen. Trotz des kalten und ungemütlichen Wetters hat es einige hundert Personen an diese Oase des Lichts verschlagen. Das Treiben auf dem Parkplatz, welcher als Festgelände umfunktioniert wurde, wird es zunehmend heiterer, da allmählich die Abendstunden hereinbrechen und sich die Nüchternen entfernen, inklusive einer Rockerbande, die am nächsten Tag früh raus muss, da sie einer älteren Frau versprochen hatten ihren Garten auf Vordermann zu bringen. Die zwei Geisterjäger setzen sich in Bewegung und erkunden was der Jahrmarkt alles zu bieten hat. Sie kommen an Wahrsagern, an Schießbuden und an Zuckerwatteständen vorbei, doch das interessiert sie alles nicht so recht. Die Temperatur fällt noch um einige Grad, als sie an einem großen eckigen Bau vorbeikommen, dessen Wände 73 voller Horrorfratzen in absurden Formen und Farben sind. Über dem Eingang prangt eine Leuchtschrift „Horrorkabinett des Dr. Monster“. Sofort ist Enrique von diesem dunklen und mysteriösen Gebäude fasziniert und zieht wie ein Kind, am nassen Anzug von seinem Partner. „Eine Geisterbahn, super, das ist genau das, was ich nach all den Gruselgeschichten brauche“ sagt Simon, doch sein Freund ist schon auf dem Weg zu der Attraktion. Ein als Teufel verkleideter Kartenverkäufer begrüßt die Ankömmlinge überschwänglich und beginnt sofort von seiner Geisterbahn zu schwärmen: „Hexen, Teufel, Zombies, Gespenster, Wahnsinnige, Metzger, wahnsinnige Metzger und viel mehr erwartet euch im Horrorkabinett“. Grinsend öffnet da Silva seinen Geldbeutel und fragt aufgeregt: „Wie viel bekommen Sie, guter Mann?“ „Für euch ist die Fahrt kostenlos“. Vollkommen begeistert schnappt sich Almeida die zwei Tickets, die ihm entgegengehalten wurden, und hüpft freudig auf einen der leer stehenden Wagen zu. Der Wagen hat die Form eines Totenschädels, wobei die Schädeldecke entfernt wurde, um 74 zwei Sitzen und einem Sicherungsbügel platz zu gewähren. Während der Fahrt erblicken sie schaurige Puppenspiele von Hexenverbrennung und Folter. Dann dreht sich ihr Wagen um neunzig Grad nach links und sie blicken in einen Spiegel, der jedoch statt Simon einen Zombie zeigt. Enrique schreit auf und sagt nach einigen Sekunden des Verschnaufens: „Leck mich am Arsch, war das gruselig“. Der Totenkopf kommt dann plötzlich zum Stehen und neigt sich langsam nach vorne. Simon und Enrique blicken in ein, aus Leichenteilen bestehendes, Loch, dass sich langsam zu drehen beginnt. Dann lässt der Bügel nach und beide fallen schreiend in besagtes Loch. Der Totenkopf richtet sich wieder auf die Schiene und fährt den restlichen Weg zurück, als wäre nichts gewesen. Hinter dem Horrorkabinett taucht der okkulte Bibliothekar auf und isst an einer Portion Zuckerwatte. Ob er etwas mit dem Unfall zu tun hat, werden wir wohl niemals erfahren. Okay, er hat etwas damit zu tun. 75 Kapitel 5 Mehr Sorgen, als über die gruseligen Gestalten im Vorraum, macht sich Publius Taub über den Geruch, der ihn an einen Krankenhausflur erinnert. Der riesige Vierbeiner mit dem Schnurrbart und dem Zylinder hatte zum Glück den Warteraum schon verlassen. So sitzt der Hauptcharakter nun zwischen einen aufrecht sitzenden Haifisch, einer viereckigen Kreuzung von einem Nilpferd und einer Melone, sowie einem lebenden Bett, welches permanent und penetrant die Titelmusik von Beverly Hills Cop summt. Da Publius nicht den Mut hat, einfach nachzufragen, was das denn hier alles zu bedeuten hat, bleibt er wie angewurzelt auf seinem äußerst gemütlichen Stuhl sitzen und ist die meiste Zeit damit beschäftigt möglichst unbeteiligt zu wirken. Die Tür schwingt mit einer solch enormen Wucht auf, dass Publius den Windzug deutlich im Gesicht spürt. „Der Nächste bitte, Publius Taub“ sagt der wahnwitzige Hexer grinsend, worauf sich der Angesprochene vorsichtig erhebt. Kaum dass er sich hingestellt hat, legt der Hai Widerspruch ein: „Sekunde mal, ich sitze hier schon seit fast einer Stunde und der ist erst vor zwei Minuten hier erschienen.“ 76 Die Nilpferd-Melonen-Mixtur schüttelt energisch den Kopf, hört dann aber sogleich erschöpft auf. Der Magier baut sich vor dem Hai auf und antwortet: „Ich mache hier nicht die Regeln. Außerdem stehen Sie gar nicht auf meiner Liste. Das versuche ich Ihnen schon seit fast einer Stunde verständlich zu machen.“ Kopfschüttelnd marschiert der Okkultist aus dem Wartezimmer, direkt gefolgt von einer eingeschüchterten Skizze eines Mannes. Größer als erwartet tauchen hinter der Tür Flure und Abzweigungen auf. Die Wände sind kunstvoll, aber unpassend verziert. Die knallbunten Linien auf der einen Seite konkurrieren mit den schwarzen Kreisen auf der anderen. So dass es aussieht, als wollen sich beide bekämpfen. Unterdessen schaut der Hai auf seine mit Kohle auf die Flosse gemalte Uhr und fragt sich, wann er denn endlich dran kommt. Publius kann mit den schnellen Schritten des Hexers kaum mithalten. Dieser führt ihn in einen Gang nach dem nächsten. Sie kommen dabei an offen stehenden Türen vorbei, wohinter sich seltsame Geschöpfe befinden. Selbige sitzen aber immer hinter einem Schreibtisch, was ein äußerst irritierendes Bild für Publius darstellt. 77 Nach einer langen Weile bleiben sie vor einer Tür stehen, die genauso aussieht wie alle anderen. Schwungvoll und mit einer eleganten Drehung tritt der Magier die Tür aus den Angeln. Drei Gestalten schrecken auf, die, mit dem Rücken zur Tür, an einem Schreibtisch saßen und jetzt stehen. Die aufgeschreckten Wesen spotten jeder Beschreibung. Ein Rüssel, Stoßzähne, die von unten nach oben ragen und eine Kopfform von einem Schwein sollen die wichtigsten Details bleiben, bevor sich der Leser in den Apfelsaft zu seiner Linken erbricht. Unterscheiden kann man die drei nur durch den Umfang ihres Bauches. Dann versucht der mit der dicksten Plauze zu reden, was sich aber mehr wie ein Quieken anhört: „Hallöchen“. Die Stimme erinnert zudem an das Geröchel eines erschöpften Tieres. Das Aufspringen hat wohl doch mehr Kraft gekostet, als angenommen. „Verdammte Scheiße, Sie sollen doch die Tür nur anklopfen und sie nicht jedes Mal eintreten“ bellt der Dickbauch, dessen Gehirn wohl erst jetzt die auf dem Boden liegende Tür bemerkt hat. Dann grinst er Publius sogleich wieder an, wobei man es nicht als Grinsen bezeichnen kann, eher wie die Gesichtzüge kurz nach einem Herzinfarkt. 78 Ein riesiger Eisblock spaziert pfeifend Herr Taubs Rücken hinunter und er erschaudert. Überschwänglich redet die Sau dann weiter auf Publius ein: „Sie sind der Auserwählte, herzlichen Glückwunsch.“ Der Auserwählte findet in dem jetzigen Geschehen keinen Zusammenhang, was er sich aber nicht anmerken lässt und gebannt auf den Sabberfaden seines Gesprächpartners starrt. „Aber Sie müssen uns natürlich erst beweisen, dass sie derjenige sind, den wir auch suchen. Daher haben meine Mitarbeiter und ich“ er zeigt auf seine Klone, die ihn flankieren und genauso unwissend dreinschauen „eine aufschlussreiche Testreihe alleine für Sie konzipiert, Herr Laub.“ Der Hexenmeister, der bis zu diesem Zeitpunkt lediglich unbeteiligt daneben stand, räuspert sich lautstark. Das Rüsselwarzenschwein reagiert gekonnt auf den Hinweis und verbessert sich sogleich „Raub“. Zufrieden lächelt er und Publius Eisblock wandert wieder den Weg nach oben. „Was denn für eine Testreihe?“ 79 stammelt der Auserwählte und erschrickt vor seiner eigenen Courage. Hinzu kommt noch, dass er sich die letzten Seiten lediglich gedanklich mit sich selbst unterhalten hat und er seit längerer Zeit wieder seine eigene Stimme hört. Die drei bizarren Gestalten werfen einen tadelnden Blick auf den Magier, der weiterhin unbeteiligt daneben steht und dümmlich grinst. Plötzlich meldet sich das Warzenschwein zu Wort, welches den geringsten Bauchumfang zu haben scheint: „Eine Testreihe mit theoretischen Fragen und praktischen Aufgaben. Wir haben uns die größte Mühe gegeben, ein Auswahlverfahren zu generieren, um auch die richtige Person mit dem Selbstmordauftrag zu betrauen.“ Die Stimme ist piepsiger, als die des ersten Sprechers und bekommt für den letzten Teil der Aussage sofort einen kräftigen Tritt von der Seite. Doch das bekommt Publius Taub nicht mit, denn seine Gedanken kreisen über die Testreihe mit ihren perversen Experimenten. Dem Eisblock schmerzen tierisch die Füße, als er schon wieder Publius Rücken hinunterklettern muss. Publius Gedanken werden jäh unterbrochen, als die piepsige Stimme lauthals spricht: „Hören Sie mir überhaupt zu, Herr Staub? Sie sollen uns doch folgen.“ 80 Ein stummes Nicken reicht den Schweinemenschen als Antwort und sie marschieren ungelenk aus der Tür hinaus. Nein, das stimmt so nicht. Sie marschieren aus der Öffnung heraus, nehmen aber an, die Tür befinde sich noch am selben Ort wie vor einigen Minuten. Ihre Beine sind unglaublich kurz, so dass sie nur sehr langsam vorankommen. Der Hexer, der Mühe hat, so langsam zu gehen, schlägt die Arme vor sein Gesicht und stöhnt. Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen sind und damit zumindest den nächsten Flur erreicht haben, fängt der Magier an, die Gangart der Rüsseltiere nachzuäffen, worüber sich Herr Taub und er königlich amüsieren. Wie Ninjas drehen sich die drei um, worauf der Schweinemensch, der bisher ohne Sprechrolle auskam, schreit: „Hört sofort auf damit. Ihr wisst gar nicht wie hinderlich solch kurzen Beine sind. Beim Fußball werden wir immer als Letzte gewählt, sogar noch nach den Schwalben, und die kommen nie ohne Fouls aus. In der Balettauswahl wurde ich auch nur höhnisch ausgelacht.“ Eine Träne rinnt über das graubraune Gesicht „wir sind da.“ Die Tür, vor der die komische Fünfergruppe nun steht, sieht genauso aus, wie alle anderen Türen. 81 Denen fällt auch nichts Neues ein. Aber halt, sie bildet doch eine Ausnahme, denn auf ihr steht, in winzig kleiner Schrift, eine 8 und eine 4. Ohne jegliches Zögern betritt Publius den Raum und hofft darauf in ihm endlich mal eine Erklärung für den ganzen Blödsinn zu finden. Aber Pustekuchen. Unsinnigerweise gehe die drei Kurzbeinschweine gleichzeitig durch die Tür, was zu einer sofortigen Verstopfung des Eingangs führt. Gefluche und Getrete übertönt den Lärm, den die Tür durch den Druck ätzt. Trotz immenser Anstrengungen, schaffen sie es nicht gleichzeitig durch die Türe, sondern müssen es einzeln versuchen, was bei den kurzen Beinen einem Entenmarsch gleichkommt. Größer, als von außen einsichtig, ist das Zimmer ähnlich einem Klassenraum, jedoch mit nur einem Schreibtisch, inklusive Stuhl. Nicht einmal Einrichtungsgegenstände haben im Raum einen Platz gefunden, wobei doch so ein Kaktus dem Raum so viel Leben geschenkt hätte. Die kalten Wände rücken Publius immer näher. Auf dem Schreibtisch erkennt Publius Taub einen Stapel Papiere, die fein säuberlich geschlossener sortiert Abteilung dort tippeln positioniert die drei wurden. In unheimlichen Gestalten auf den Tisch zu, der genauso weiß ist, wie die Wände, und formieren sich um seligen. Das Rüsseltier mit der 82 hellsten Stimme, das nun die Verantwortung übernommen hat, tippt mit seinen knochigen Klauen ungeduldig auf den Papierstapel. „Wir erwarten volle Konzentration, wenn Sie diesen Test schreiben. Es gibt ein Zeitlimit von siebenundfünfzig Minuten sowie zweiunddreißig Sekunden. Außerdem bitten wir Sie um absolute Ruhe, da nebenan ein Zombiefilm gedreht wird.“ Krächzt die Sau barsch. Ohne irgendeine Reaktion abzuwarten, wackeln die vier Witzfiguren aus dem Raum und verschließen die Tür hörbar, indem sie diese zunageln. Jetzt kommt es auf dich an, Publius Taub. Also rede deinem Gehirn gut zu, immerhin hast du es die letzten Jahre faul herumliegen lassen. Elegant wie ein Klostein wackeln die Kurzbeinschweine in den Nebenraum, der eine Treppe beherbergt, die über den Testraum führt. Die Decke des Raumes, worin sich Publius eben über seine Aufgaben gebeugt hat, ist von oben her durchsichtig, was die Warzenschweine ausnutzen, um ihre Versuchsperson zu beobachten. Ungemütlich sitzen die drei Ferkel dabei auf Steinquadern. Versuchsobjekt Nummer vierundachtzig greift zu seinem Füllfederhalter und beginnt seine erste Lösung aufzuschreiben. Währenddessen hat es sich der Hexenmeister in einer Nische 83 etwas gemütlicher gemacht und kramt einen Wild-WestGroschenroman aus der Robe. Ein lang anhaltendes Pfeifen entfährt aus dem Nasenloch des Zauberers, als er ausatmet. Er schaut beschämt auf, doch seine Vorgesetzten starren wie gebannt auf den durchschaubaren Boden. Publius braucht einige Zeit, um sich in dem Papierstapel zu Recht zu finden. Die Testfragen umfassen alle Themenbereiche, die sich Publius vorstellen kann und einige, die nicht. Über die Anzahl der Beine eines Esels, bis zu der Anzahl der Beine eines Tisches kreuzt er alle Antworten in kürzester Zeit an. Gerade wundert er sich, wie einfach der Test doch ist, als er auf eine kontroverse Aufgabe stößt. Diese besteht darin, mit dem Füllfederhalter vier Kreise zu malen und alle vier Gliedmaße jeweils daran zu legen. Nachdem Herr Taub, selbst zu einem Zeichner aufgestiegen, die Kreise an die Tapetenwand gekritzelt hat, läuft sein Gehirn auf Hochtouren. Aber anscheinend hört er nicht darauf, denn, mit einem Sprung aus dem Stand, platziert er seine Hände und Füße in den Kreisen. Der Schwerkraft, die wohl auch im Jenseits tadellos funktioniert, meldet sich zu Wort und lässt Publius schmerzhaft auf den Rücken fallen. Obwohl er, augenscheinlich, nur gezeichnet ist, scheint sein Schmerzempfinden prächtig zu funktionieren und er schreit auf. 84 Es würde sich noch zeigen, ob der Zeichner blaue Flecken anbringen wird, zumindest wären diese in diesem Fall und bei diesem Fall angebracht oder aufgemalt. Publius Taub liegt einige Minuten, mit schmerzverzehrtem Gesicht, auf dem Boden und verflucht seine Idiotie. Mit ungelenken Bewegungen rappelt er seinen muskellosen Körper wieder auf die Beine und streckt sich einige Male ausgiebig, um auch den letzten Schmerz aus den Gliedern zu bekommen. Von dem geistigen Totalausfall scheint er sich aber erholt zu haben, da er jetzt schon wieder über seinen Aufgaben sitzt und einen Lösungsweg sucht. Schneller, als man als Beobachter vermutet hätte, beginnt Herr Taub die vier Kreise auf den Boden zu malen. Dann setzt er ein arrogantes Lächeln auf und klopft sich geistig auf die eigene Schulter. Währenddessen geht ein Stockwerk weiter oben ein, von Erstaunen hervorgerufenes, Raunen herum. „Seid doch mal still. Pedro und Pancho liefern sich ein Pferdekutschenrennen mit einer Meute besoffener Indianer“ sagt der, in das Heft Vertiefte, woraufhin er sich feindselige Blicke von den Beobachtern einfängt. Die Schweinedame lenkt das Thema jedoch um und meint anerkennend: 85 „So schnell hat die Aufgabe noch niemand gelöst. Nicht mal dieser Ritter ohne Hose.“ Zustimmend nicken die zwei weiteren anwesenden Schweine und klatschen, äußerst gekonnt, in ihre Pranken. Wieder auf der Höhe des Testlabors, fragt sich Publius gerade, ob er an einem generellen geistigen Abfall leidet, oder ob ihm gerade wirklich die Decke applaudiert hat. Wieder über die Blätter gebeugt, verengt Publius seine Augen zu Schlitzen, was eine hohe Konzentration signalisiert. Obwohl ihm noch weiter der Rücken schmerzt, schiebt er die Gedanken daran zur Seite und schenkt den Aufgaben seine volle Aufmerksamkeit. Geschickt kreuzt er die Antworten an und strengt sich dabei nicht einmal sonderlich an. Vielleicht auch deshalb, da vor allem nach Handlungssträngen von billigen Horrorfilmen aus den 70ern und 80ern gefragt wird. Budget von Alien – Die Saat des Grauens, Hauptdarsteller von Der Planet Saturn lässt schön grüßen oder eine Inhaltsangabe von Nächte des Grauens. Das sind wirklich wichtige Fakten. Wie drei Schutzengel, wenn auch äußerst hässliche, wachen die drei grotesken Schweine mit den Rüsseln über ihr Versuchskaninchen und registrieren jedes Kreuz und jeden Buchstaben, den jenes mit dem Füllfederhalter auf die Papiere malt. Publius konzentrierter Blick, und das rhythmische 86 Aufschlagen der Nüstern, zeigt mit welcher Hingabe er an seiner Aufgabe arbeitet. Die rechte Pranke der Schweinedame hält eine silberne Taschenuhr, deren Zeiger jedoch keinem bekannten Gesetz gehorchen und stattdessen zu einem wilden Tango tanzen, was die Trägerin aber nicht im Geringsten zu beunruhigen scheint. Was für eine gruselige Welt. Besagte Schweinedame nickt ihren Gefährten zu, die etwas überrascht aus dem Halbschlaf erwachen und eilig so schauen, als wüssten sie, worum es ginge. Mit den Knopfaugen beobachten die drei die Testperson argwöhnisch und machen sich über jede Aktion Notizen. Die Zeit für die Fertigstellung entrinnt aus dem Raum. Akribisch arbeitet Publius an den Aufgaben weiter und steigert sich dabei so hinein, dass seine Hand mit der Gedankenflut überfordert ist. So bilden sich zum Teil Sätze, deren Anfang und Ende inhaltlich nichts miteinander gemeinsam haben. Der Füllfederhalter wird weiter an seine Belastbarkeitsgrenze gebracht und sehnt den Abschluss der Testreihe genauso entgegen, wie alle anderen Beteiligten, ausgenommen dem Hexer, der in seine Wild-West Geschichte vertieft ist. Gerade will Herr Taub die letzten Sätze niederschreiben, da ertönt eine markerschütternde Sirene, die 87 Wände und Hände erzittern lässt. Kurz darauf folgt eine Durchsage von einer borstigen tonlosen Stimme: „Ende Gelände“. Publius rappelt sich vom Boden auf, da er diesen, erneut, besuchte, da ihn die Sirene so erschreckte. Wie von einer gewaltigen Macht wird die Tür aus den Angeln gerissen und Beifall applaudierend stürmen die fetten Rüsseltiere in den Raum. Die Zettel sind in alle Richtungen verteilt und eine kleine Tintenlache hat sich auf dem Boden gebildet, direkt vor Herrn Taub, der vollkommen außer sich mitten im Raum steht und seinen Herzschlag im Kopf pulsieren hört. Nachdem ihm mehrfach die Hand geschüttelt wurde und er sogar einen Schmatzer von der heißen Lady bekam, wird er aus dem Raum geleitet und über die Flure wieder zurück getrieben. Nach Luft und einem klaren Gedanken ringend, kann er den kurzen Beinen seiner Begleiter kaum folgen, die sich in einem enormen Tempo bewegen. Dann entdeckt er den Zauberer neben sich, der ohne Anstrengung schritt hält und nebenher seine Westerngeschichte liest. Auch wenn Publius ungläubig den Kopf schüttelt, ist er doch sehr dankbar über die Anwesenheit des Magiers, der in dieser chaotischen Welt einen relativ normalen Punkt bildet, an dem sich Herr Taub klammern kann. Gedankenverloren lässt Publius den Ziegenbart des 88 Hexers los und schenkt ihm ein verliebtes Lächeln, was der Okkultist allerdings nicht wahrnimmt. Räume und Türen fliegen an der Gruppe vorbei, radikale Richtungsänderungen eingeschlagen und Publius hat den kompletten Überblick verloren. Die Türen an den Wänden bekommen größere Abstände zueinander und verschwinden dann ganz aus der Bilderflut. Die Gruppe kommt nach wenigen weiteren Minuten abrupt zu einem Stillstand und steht vor einem riesigen Holztor mit gusseisernen Beschlägen. Publius war gar nicht aufgefallen, dass die Decke plötzlich so hoch über ihren Köpfen liegt. Von den mächtigen Steinwänden getragen, erinnert das Tor an den Eingang zu einer Burg. Doch von einer Burg war nichts zu sehen, nur die Decke, die sich in Finsternis hüllt und daher nur schemenhaft auszumachen ist. Gerade fragt sich das Versuchskaninchen, ob wohl felsenhohe Trolle dieses Tor schon passiert hatten, da wird er von einem stumpfen Schlag aus der Vorstellung gerissen. Der Schlag wurde ausgelöst von einem riesigen eisernen Türklopfer. Bei jedem weiteren Schlag erzittert das massive Gebälk und feiner Staub rieselt aus den Ritzen des uralten Holzes. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen, welches einem die Zehennägel einrollen lässt, öffnet sich die rechte Hälfte des Tores in einer unglaublich langsamen Geschwindigkeit, nach innen auf. Dahinter verbirgt 89 sich eine riesige Kathedrale. Bis auf die fehlenden Fenster gleicht das Innere einem gigantischen Kirchenschiff, wobei alles in einem äußerst schlechten Zustand ist. Der Putz bröckelt von den Wänden und die meisten Bodenfliesen haben Risse. Die kleine bizarre Gruppe geht schweigend weiter und kommt in einen anliegenden Raum, der von kalter Ausstrahlung auch ein Verlies hätte sein können. In ihm befindet sich ein grotesk langer Tisch aus schwarzem Holz. Der Tisch ist von einer Vielzahl von Tellern, Bestecken und Kelchen bewohnt, die zwar alle ordnungsgemäß platziert sind, dies aber augenscheinlich schon so lange, wie die Zeit alt ist. Erst jetzt bemerkt Publius einen Mann, der auf einem Thron an einem der Enden des Tisches sitzt. Der Mann sieht aus, als würde er bereits seit Jahrhunderten dort sitzen und sich ausschließlich vom Staub aus der Luft ernähren. Erinnert etwas an Dornrösschen, bis auf den weißen Rauschebart der ihm ungepflegt im Schoß liegt. Die Augen starr nach vorne gerichtet und die dürren Hände verkrampfen sich um die Lehne, zeigt er keine Regung und scheint wie tot. Die drei versauten Gestalten nähern sich vorsichtig dem Thron. Obwohl sich die Eindringlinge schon seit etlichen Minuten in dem Kirchenkomplex befinden, zeigt der Greis nicht den Hauch einer Regung. Die Augen, blass wie der Mond, weiterhin nach vorne gerichtet, reagiert er auch nicht auf 90 die Frau der Gruppe, die mit ihren kurzen Beinen im Schneckentempo zu dem steinernen Sitz tippelt. Sie nähert sich mit ihren Stoßzähnen der Ohrmuschel des alten Mannes und flüstert unverständliche Worte. Nichts. Ungläubig schaut sie zurück zu ihren Begleitern, die aber lediglich die Klauen heben und den Kopf schütteln. Wo Publius eben noch voller Nervosität war, ist er jetzt etwas gelassener, mit der Hoffnung dass es den Alten einfach dahingerafft hätte. Er schaut sich um und betrachtet einen der Kelche, indem er ihn in die Hand nimmt. Augenblicklich springt der alte Bärtige von seinem Steinthron auf und brüllt aus voller Lunge: „Lass das stehen, du Wicht.“ Vor lauter Überraschung hat der Magier seinen Groschenroman entzweigerissen und hält die beiden Hälften verkrampft in jeweils einer Hand. Den Mund weit geöffnet, starrt er geradeaus und vergisst fast zu atmen. Den drei Begleitern ergeht es kaum anders. So hat sich der Fetteste mit einem Hechtsprung auf den Tisch, vor einer Skulptur reich mit Perlen verziert, geworfen. Wobei das ja eigentlich verkehrt ist. Auch, und vor allem, an Publius ist diese blitzartige Reaktion des Greises nicht spurlos vorbeigegangen. So ist er nicht nur einem Herzinfarkt knapp entronnen, sondern hat auch den, eigentlich stabil aussehenden, Kelch mit der Hand eingedrückt. Wie das Geheul 91 eines Wolfes beklagt der Pensionär diesen Umstand und hält sich dabei die rechte Hand an die Stirn. „Was habt ihr mir denn hier für einen Armleuchter mitgebracht?“ fragt er vorwurfsvoll seine Diener, die weiterhin starr vor Schreck in der Bewegung festgefroren sind. Das weiblichste der Schweinewesen kommt daraufhin als erstes zur Besinnung und kramt einige Unterlagen aus einem Ordner in ihrem gelben Turnbeutel hervor. Im Flüsterton spricht sie dem alten Mann wieder in die Gehörgänge: „Sehen Sie sich die Testergebnisse an, Sir.“ Unbeeindruckt durchsieht der tattere Greis die Blätter, wobei sich seine Augen immer weiter öffnen. Dann murmelt er vor sich hin: „Unglaublich, phänomenal“ und „großartig“. Publius stellt derweil den Kelch vorsichtig an seinen alten Platz zurück, wofür sich aber niemand interessiert. Ungläubig schaut der weißbärtige Mann zu Publius und fragt in einem äußerst verächtlichen Tonfall: „Und das hat wirklich dieser Tor geschrieben?“ Die Schweinedame nickt. Publius hält dem Blick stand. Der Hexer liest an den letzten Seiten des Heftes. Dem Hai sind die Flossen eingeschlafen. „Also schön“ 92 verkündet der Alte und fährt sogleich fort „dann ist es beschlossen, du bist der Auserwählte.“ Eigentlich hatte Herr Taub damit gerechnet, endlich aus diesem Alptraum entkommen zu können, doch anscheinend muss er hier noch etwas länger verweilen. Publius seufzt. Verhalten klatschen die Kurzbeinigen in ihre Pranken, bis sie der Opa mit einer Handbewegung verstummen lässt. „Wir haben da nämlich ein Problemchen. Der fünfte Gott der Himmelsrichtungen hat eine Kreatur aus den Tiefen der Finsternis gerufen, um diese, seine eigene, Welt zu vernichten. Ihm ist die Kontrolle nämlich über die letzten Jahrzehnte zu stark entglitten, da die Seelen der Verstorbenen als eine Art Hausbesetzer diese Welt übernommen haben. Daher werden wir es wie in diesen vorhersehbaren kitschigen Fantasyromanen machen und einfach jemanden losschicken, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat. Herzlichen Glückwunsch.“ Publius seufzt. „Aber keine Angst. Wir schicken dich nicht alleine los. Dir wird ein mächtiges Wesen an die Seite gestellt, welches die Macht besitzt die Kreatur zu vernichten.“ Die Gesichtszüge des jungen und hageren Mannes erhellen sich leicht bei der Vorstellung im Leben endlich etwas 93 Aufregendes machen zu können, noch dazu mit einem machvollen Begleiter. Mit ungewöhnlich flinken Schritten verlässt der zerzauste Mann den Tisch und schreitet auf einen blassblauen Vorhang zu, den bisher noch niemand bemerkt zu haben scheint. Was die Frage aufwirft, ob der Vorhang vorher überhaupt da war. Jedenfalls betätigt der Greis einen unverzierten Hebel im Mauerwerk und brüllt ein schallendes: „Tätäretä“, als sich der Vorhang schwungvoll zur Seite bewegt. Auf der Fläche dahinter steht ein Kamel. Ein sehr kleines Kamel, von etwa fünfzig Zentimetern Höhe. Drollig schaut es mit großen Kulleraugen zu Publius und entblößt dabei eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Nicht ohne Stolz verlautbart der Bärtige: „Darf ich vorstellen? Das ist Kofunga.“ Betretenes Schweigen. Mit weiterhin weit geöffneten Kulleraugen geht das winzige Kamel einige Schritte auf Publius zu und sagt: „Tagchen“ Nachdem der Reiseproviant gepackt und die Ausrüstung zusammengetragen ist, verabschiedet sich Publius und das Kamel mit einem lässigen Handschlag bei dem Weißbart. 94 Eine weitere Schweinegestalt stürzt mit wedelnden Schweinsfüßen in den Raum und legt die Schweinsfüße beiseite. Augenscheinlich jünger, als die bereits bekannten Schweine. „Chef, Chef“ ruft das Wesen aufgeregt „uns sind die kleinen Kamele ausgegangen“. Der Alte schlägt die Arme vor dem Gesicht zusammen und reagiert: „So ein Dreck. Was haben wir denn für Alternativen?“ „Flamingos mit Rheuma“ „Ausgezeichnet. Bringt den nächsten Auserwählten.“ Ihnen gefällt diese Leseprobe? Dann lassen Sie sich doch dazu herab, dem Autor eine Kritik zukommen zu lassen. [email protected] Publius, Enrique und Simon werden 2013 ihr Abenteuer komplett erleben, obwohl sie da nur sehr wenig Lust drauf haben 95 96
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