Wie Reichtum Armut schafft

1
Zinn Brannenburger Forum 4-6-2015 Wie Reichtum Armut schafft
Karl Georg Zinn
Wie Reichtum Armut schafft
Vortrag am 4. Juni 2015 im Rahmen des Brannenburger Forums
1. Sozialökonomische Ungleichheit heute
2. Historische Entwicklung der Ungleichheit
3. Das Ungleichheitsparadoxon: Die Selbstverstärkung der Ausbeutung durch
Bevölkerungswachstum und Mehrproduktanstieg
4. Der neoliberalistische Angriff auf den sozialstaatlichen Interventionismus –
eine Interpretation der Theorie von Alois Joseph Schumpeter zum
Zukunftssozialismus
Die Formulierung des Vortragsthemas ist identisch mit dem Titel meines Buches.1
Jedoch werde ich Ihnen keine Kurzfassung der Buchveröffentlichung präsentieren,
sondern sozusagen eine Art Fortsetzung bzw. Ergänzung liefern. Selbstverständlich
bleibt der inhaltliche Bezug auf das gesellschaftliche Grundproblem der
sozialökonomischen Verteilung und ihre spezifisch kapitalistischen
Erscheinungsformen bestehen.
Kein besonderes Gewicht wird auf die deutschen Verhältnisse gelegt. Denn eine
Nabelschau wäre angesichts der globalen Verteilungsungleichheit dem Problem
nicht angemessen. In Deutschland leben ungefähr 80 Millionen Menschen, und die
Weltbevölkerung erreicht inzwischen fast siebeneinhalb Milliarden. Die
Verteilungsungleichheit in Deutschland spiegelt die auf der Weltebene faktisch nicht
wider, auch wenn die Ungleichverteilung in Deutschland im längerfristigen Trend
1
Karl Georg Zinn, Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, 4. A.,
Köln 2006.
2
zugenommen hat. Erwähnt sei nur kurz, dass in Deutschland, der reichsten
Volkswirtschaft der Europäischen Union, die Verteilungsungleichheit des Vermögens
seit Jahren zugenommen hat und von allen 34 OECD-Ländern nur die USA eine
noch stärkere Verteilungsdivergenz aufweisen. Auch die Beschäftigungslage in
Deutschland sticht insofern negativ hervor, als die „atypischen
Beschäftigungsverhältnisse“ von 1995 bis 2007, also noch vor Beginn der großen
Krise, um 13 % zugenommen haben; im OECD-Durchschnitt waren es nur 7 %.2 Die
als „deutsches Beschäftigungswunder“ propagierte vergleichsweise niedrige
Arbeitslosenquote verdankt sich primär der erzwungenen Arbeitszeitverkürzung ohne
Lohnausgleich. Vollzeitstellen wurden in Teilzeit und atypische
Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Die tatsächliche
Beschäftigungsentwicklung lässt sich nur am Arbeitsvolumen, d. h. der in einem Jahr
insgesamt geleisteten Arbeitsstunden, ablesen. Von 2000 bis 2011 ging das
Arbeitsvolumen zurück und ist erst danach (wieder) leicht angestiegen. 3
Der Vortrag umfasst vier Teile. Die beiden ersten behandeln empirische Befunde der
Arm-Reich-Spaltung. Die beiden folgenden befassen sich mit theoretischen
Überlegungen. Im ersten Teil werde ich auf die Lohnquotenentwicklung in den USA
eingehen und einige statistische Verteilungsdaten mitteilen, die die globale
Ungleichverteilung verdeutlichen. Im zweiten Teil geht es um die langfristige,
zivilisationsgeschichtliche Ungleichverteilung. Der historische Rückblick wird
erkennen lassen, dass die Verteilung schon immer ein Machtproblem war, und nur
die äußeren Formen der Machtausübung wechselten. Stets ging und geht es um
Aneignung fremder Arbeitsleistung und von Naturgütern wie Grund und Boden,
Rohstoffen usw. Die sozialökonomische Ungleichheit resultiert nicht aus den
natürlichen Unterschieden zwischen den Menschen. Die Spaltung der Menschheit in
Arme und Reiche ist kein evolutionsbiologisch erklärbares Phänomen. Soweit
überhaupt so etwas wie die „Natur des Menschen“ Einfluss auf die gesellschaftliche
Hierarchiebildung hat, so sind es bestimmte angeborene Dispositionen der
Sozialisationsabhängigkeit: Der Mensch wird in eine gegebene Situation
2
Vgl. Donata Riedel, Wachsende Ungleichheit. Die OECD verlangt mehr Umverteilung von
Deutschland, in: Handelsblatt, Nr. 94, 22./24. Mai 2015, S. 13.
3
Im Jahr 2000 betrug die jährlich geleistete Arbeitsstundenzahl der Erwerbstätigen 57, 922 Milliarden.
Sie sank bis 2011 auf 57, 834 Milliarden und stieg dann bis 2013 wieder an auf 58, 071 Milliarden.
http://www.vgrdl.de/Arbeitskreis_VGR/tbls/tab.asp?tbl=tab17
3
hineingeboren und lernt gezwungenermaßen, sich ihr anzupassen. Einige werden zu
Herren, viele zu Knechten erzogen, und darüber hinaus spielen Zufälle eine Rolle.
Im dritten Teil soll der paradoxe Selbstverstärkungsprozess der Ungleichheit
dargelegt werden, der durch den Industriekapitalismus verstärkt wurde und bis heute
anhält. Schließlich wird der vierte, abschließende Teil die jüngste Entwicklung der
westkapitalistischen Gesellschaften beleuchten, und zwar soll mit Rückgriff auf
Schumpeter eine Interpretation gegeben werden, warum es zu dem Bruch zwischen
der sozialstaatlichen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg und der neoliberalistischen
Rückkehr zu dem eigentlich historisch überholten neoliberalistischen
Kapitalismusmodell gekommen ist. In diesem Zusammenhang wird auch kurz
Schumpeters Zukunftsvorstellung skizziert, nämlich seine Erwartung eines quasi
zwangsläufigen bzw. gesetzmäßigen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.
1. Sozialökonomische Ungleichheit heute
In den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern hatte die Ungleichheit zwischen
Arm und Reich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg abgenommen. Es
waren die Jahrzehnte des wohlfahrtsstaatlichen bzw. sozialstaatlichen Fortschritts.
Damals wurde annähernd Vollbeschäftigung erreicht und in einigen Ländern bestand
sogar sogenannte Überbeschäftigung, d. h. es gab weniger Bewerber als offene
Stellen. Seit der neoliberalistischen Wende zum Ende der 1970er Jahre hat sich die
Lage grundlegend verändert. Es entstand dauerhafte Massenarbeitslosigkeit.
Oberflächlich betrachtet erscheint die Arbeitslosigkeit als eine Folge der anhaltend
niedrigen Wachstumsraten. Doch das ist keine Ursachenerklärung. Vielmehr müssen
gerade die anhaltende Wachstumsreduktion und das Versagen der
Beschäftigungspolitik selbst erklärt werden. Das Schlagwort „Stagnation“ weist die
Richtung, wo die Gründe für die verminderte Wachstumsdynamik zu finden sind.
Darauf werde ich jedoch nicht ausführlich eingehen können.4
Um den Umschwung in der Entwicklung der Arm-Reich-Divergenz zu
veranschaulichen, sei die Veränderung der Lohn- und Besitzeinkommensquoten in
den USA während der vergangenen 60 Jahre betrachtet (Tabelle 1 und Abbildung 1).
4
Vgl. Karl Georg Zinn, Die Keynessche Alternative. Beiträge zur Keynesschen Stagnationstheorie, zur
Geschichtsvergessenheit der Ökonomik und zur Frage einer linken Wirtschaftsethik, Hamburg 2008.
4
Von 1949 bis Anfang der 1980er Jahre stieg die Lohnquote (Employee Income
Share) von ca. 60 auf 67 % und fiel dann bis heute wieder zurück auf unter 64 %,
obgleich in der Zwischenzeit das BIP-Wachstum, wenn auch mit geringeren Raten,
noch fortgesetzt wurde. Die wesentliche Ursache für diesen Wechsel in der
veränderten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Situation liegt in der
neoliberalistischen Begünstigung der oberen Einkommen – neben den
Besitzeinkommen auch die Spitzeneinkommen speziell der finanzkapitalistischen
Manager. Was sich anhand dieser US-Daten erkennen lässt, wird von der inzwischen
allgemein bekannten Untersuchung zur Vermögensverteilung, die Thomas Piketty
vorgelegt hat, bestätigt: In den Nachkriegsjahrzehnten ging im Zuge der
wohlfahrtsstaatlichen Politik die Vermögensungleichheit zurück und nimmt seit dem
Umbruch der 70er Jahre wieder zu. 5
5
Thomas Piketty, Capital in the twenty-first Century, Cambridge/M-London 2014.
5
Quelle von Tabelle 1 und Abbildung 1: Howard Sherman/Paul Sherman, Inequality
and the Business Cycle, in: Challenge, vol. 58, Nr. 1, Jan. /Feb. 2015, S. 54f.
Die zunehmende Verteilungsungleichheit innerhalb der hoch entwickelten
Volkswirtschaften tritt jedoch hinter das extreme Ausmaß der globalen, also der
zwischenstaatlichen Arm-Reich-Spaltung zurück.
In den reichen Ländern gibt es eine Minimalversorgung, und es verhungert - bisher
jedenfalls – niemand, was nicht heißt, dass auch Fehlernährung ausgeschlossen
wäre. Zudem können sich die wohlhabenden Staaten eine mehr oder weniger
wirksame Umverteilung mittels Transfereinkommen leisten, so dass die
Sekundärverteilung egalitärer als die Primärverteilung ausfällt.
Im internationalen Rahmen fehlen solche Kompensationsmechanismen weitgehend.
Die Konzentration des Weltreichtums hat in den vergangenen Jahrzehnten (wieder)
stark zugenommen., und die Zahl der Dollar-Milliardäre wächst. Der Reichtum
konzentriert sich nicht nur auf Personen, sondern die Ungleichverteilung zeigt sich
im Reich-Arm-Gefälle zwischen den wohlhabenden Ländern und den Elendsregionen
auf der Erde. Wie Tabelle 2 ausweist, entfielen zu Beginn des zweiten Jahrzehnts
des 21. Jahrhundert auf knapp 17 % der Weltbevölkerung, d. h. auf die
6
wohlhabenden Gesellschaften, fast 54 % des globalen Bruttoinlandsprodukts.
Entsprechend hoch fiel dort das BIP pro Kopf aus: 32.931 US$.
Den Gegenpol bilden die mehr als 18 % der Weltbevölkerung in den armen Ländern.
Sie verfügen über 2.8 % des globalen BIPs. Das BIP pro Kopf entspricht dort mit
1.623 US$. pro Jahr weniger als das monatliche Pro-Kopf-BIP in den reichen
Ländern. Das Verhältnis des BIP pro Kopf zwischen reichen und armen Ländern,
also die interregionale Spaltung (regional spread), beträgt 20:1.
Tabelle 2: Globale Verteilung (BIP und BIP pro Kopf)
Human
Development
Index
sehr hoch
hoch
mittel
gering
Welt
Anteil (%)
Weltbevölkerung
16.8
14.7
49.9
18.1
100
Anteil am
globalen
BIP
53.9
17.0
26.2
2.8
100
BIP
pro Kopf
(PPP $)*)
32 931
11 572
5 203
1 623
10 103
*) ppp = purchasing power parity (Kaufkraftparität)
Quelle: Human Development Report 2013, New York: UNDP 2013, S.165, 197 (eig.
Berechnung).
Die internationale Verteilungsungleichheit ist kein reines Nord-Süd-Phänomen, wie
die extreme Reich-Arm-Spaltung innerhalb der Europäischen Union erkennen lässt.
Je nach statistischer Erfassung bzw. Definition des Arm-Reich-Gefälles ergeben sich
innerhalb der Europäischen Union sehr unterschiedliche Relationen. Eine jüngst von
Dauderstädt und Keltek vorgelegte Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung6 zeigt
generell eine Zunahme der Verteilungsungleichheit in der EU seit Beginn der
aktuellen Krise, nachdem zuvor eine leichte Abnahme zu registrieren war. Die beiden
Autoren betrachten die Durchschnittseinkommen der Quintile, also der ärmsten,
zweitärmsten usw. bis zu den reichsten 20 % der Bevölkerung.
Länderspezifisch gesehen findet sich das ärmste Quintil (Q1) der EU mit 727 €
Jahreseinkommen pro Kopf in Rumänien; das reichste (Q5) in Luxemburg mit 74 516
€ pro Kopf. Es ergibt sich das extreme Verhältnis von 102,5 : 1. Der Vergleich der
ärmsten Armen in Rumänien mit den ärmsten Armen in Luxemburg, also jeweils Q1Quintil, ergibt 727 : 16 239, also 1 : 23.3. Und auch die reichsten Reichen (Q5), die
sich, wie gerade gesagt, mit den 74 516 € Jahreseinkommen in Luxemburg finden,
6
Michael Dauderstädt/Cem Keltek, Das soziale Europa in der Krise, WISO direkt der FES, Mai 2015.
7
haben ein vielfaches Einkommen der sozusagen ärmsten Reichen (Q5) der EU in
Rumänen (Jahreseinkommen 4 759 €). Die Relation beträgt also 15.6 : 1.
Betrachtet man hingegen die EU wie ein einziges Land und ermittelt auf dieser
Grundlage die Quintile ergibt sich 2013 ein Reich-Arm-Verhältnis von 9.5 : 1 in € und
von 6.2 : 1 in Kaufkraftparität gerechnet.7
Tabelle 3: Verteilungsdaten für ausgewählte EU-Länder (HDR 2013)
Land
HDIRang
Minderung
des HDI %
wg. Ungleichheit
Einkommensungleichheit (2000-2010)
oberste 20 %
Ginizu unteren 20 %
Koeffizient
1N
4 NL
5D
7 IRL
7 Schw.
15 DK
17 B
18 Österreich
20 F
21 Finnland
23 Spanien
25 Italien
26 GB
29 CZ
29 GR
35 Slowakei
37 Ungarn
39 Polen
56 Rumänien
57 Bulgarien
6.4
6.9
6.9
7.2
6.2
6.2
8.0
6.6
9.0
6.0
10.1
11.9
8.3
5.4
11.5
6.3
7.4
9.9
12.6
9.9
3.9
4.3
5.7
4.0
4.9
4.4
3.8
6.0
6.5
6.2
3.6
4.8
5.5
4.6
4.3
25.8
28.3
34.5
25.0
33.0
29.2
26.9
34.7
36.0
34.2
26.0
31.2
34.1
30.0
28.2
3 USA
55 Russland78 Ukraine
101 VR China
136 Indien
12.4
7.3
9.2
22.4
29.3
8.4
40.1
3.8
9.6
4.9
40.8
26.4
42.5
33.4
Quelle: Human Development Report 2013, New York 2013, S.152
In Tabelle 3 sind die nationalen Verteilungsrelationen ausgewählter EU-Länder
ausgewiesen und ergänzend noch von USA, Russland, Ukraine, China und Indien.
7
Ebenda, S. 3.
8
Es erscheint völlig unmöglich, unter den gegebenen Status quo-Verhältnissen
innerhalb der EU und auf der Weltebene die extremen Ungleichheiten wesentlich zu
reduzieren. Nach meiner Einschätzung wird es erst in fernerer Zukunft – in zwei bis
drei Generationen – zu einer humanen Verteilungssituation auf der Erde kommen
können. Denn die Menschheit wurde seit Beginn der Zivilisationsentwicklung in
Reiche und Arme gespalten, und diese Konstellationen grundlegend zu verändern,
erfordert einen völlig anderen Zivilisationstyp. Kurz wird darauf im letzten Teil
zurückgekommen.
Verteilungsungleichheit stellt heute – noch weit mehr als in der weiter
zurückliegenden Vergangenheit – eine wesentliche Ursache für die (globale)
Arbeitslosigkeit dar. Die Differenz zwischen Massennachfrage bzw. Massenkaufkraft
und Produktionskapazitäten, also dem Angebot, hat erheblich zugenommen. Die
Reichen wurden reicher, und ihre Ersparnisse stiegen immer weiter an, und zugleich
gab es relativ weniger profitable Anlagemöglichkeiten, - eben weil Massennachfrage
und Produktionskapazitäten sich auseinander entwickelten. Im 19. Jahrhundert und
nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Ersparnisse der Reichen noch weitgehend
durch (Netto-)Investitionen absorbiert. Das ist gegenwärtig nicht mehr der Fall. Wir
stehen vor dem von Keynes analysierten Problem einer permanenten
„Überersparnis“. Fachterminologisch gesprochen: die „freiwillige Ersparnis“ auf einem
zwar möglichen (aber tatsächlich nur noch fiktiven) Vollbeschäftigungsniveau
übersteigt die „freiwilligen Investitionen“ (S > I), und deshalb wird das
Vollbeschäftigungsniveau nicht erreicht. Der Nachfragemangel verursacht
Arbeitslosigkeit, und der Nachfragemangel ist eben durch die Verteilungsungleichheit
bedingt. Die Differenz zwischen hohem Sparkapitalangebot und schwachen
Investitionen schlägt sich sowohl in den extrem niedrigen Zinsen als auch in den
immensen Überkapazitäten in vielen Branchen nieder. Beispielsweise wird die
globale Überkapazität der Kfz-Industrie auf etwa 20 Mio. jährlicher
Produktionseinheiten geschätzt. Es ist also möglich, 20 Mio. mehr Kraftfahrzeuge
herzustellen, ohne dass dazu noch Nettoinvestitionen erforderlich sind.
Selbstverständlich wäre es sozial und ökologisch sinnvoller, statt noch mehr Autos,
speziell den jüngst so beliebten „SUV“s (sports utility verhicle) ausreichend
lebenswichtige Gebrauchswerte für alle Menschen zu erzeugen.
9
Die zunehmende globale Verteilungsungleichheit äußert sich, wie am US-Fall gezeigt
wurde, in der Absenkung der nationalen und somit auch der globalen Lohnquote/n. In
Marxsche Terminologie übersetzt heißt das: Die globale Mehrwertrate (= Mehrwert /
variables Kapital) steigt. Aufgrund der extremen Arm-Reich-Differenz und dem
Mangel an Anlagemöglichkeiten kam es, wie gesagt, zur globalen
Nachfrageschwäche, und sie behindert das weltwirtschaftliche Wachstum. Abbildung
2 zeigt die längerfristige Abnahme des jährlichen BIP-Wachstums in globaler
Dimension. Der theoretische Zusammenhang von zunehmender Ungleichverteilung
und Wachstumsabschwächung findet in Abb. 2 seine empirische Bestätigung.
Abbildung 2: Global output growth rates. 1961-2011
Source: World Development Indicators, World Bank; zitiert nach Leon Podkaminer,
Global output growth: wage-led rather than profit-led? in: real-world economic review,
Nr. 65, 1930, S.116-119.
2. Historische Entwicklung der Ungleichheit
Die extreme globale Ungleichverteilung wirft die Frage auf, wie es dazu kommen
konnte, dass die Menschheit in Superreiche, Reiche, eine auskömmlich lebende
Mittelschicht und eine Masse von Armen und Verelendeten gespalten wurde. Soweit
historische Daten vorhanden sind, lässt sich die Vermutung erhärten, dass der
Beginn der weltweiten Verteilungsdivergenzen mit dem europäischen Kolonialismus
einsetzte. Die Verteilungsdivergenz innerhalb der Gesellschaften wurde schon
Jahrtausende früher in Gang gesetzt – ungefähr seit dem späten Neolithikum mit
10
regionalen Unterschieden. Doch die zunehmende zwischenstaatliche
Verteilungsungleichheit scheint erst mit Beginn der europäischen Neuzeit deutlich
hervorzutreten, und die plausible Erklärung dafür ergibt sich aus der europäischen
Unterwerfung außereuropäischer Gesellschaften. Die kolonialistische Expansion der
Europäer erwies sich für Europa seit dem 15. Jh. an über ein halbes Jahrtausend
hinweg als ein sehr profitables Unternehmen.8 Der europäische Kapitalismus hätte
sich ohne die Ausbeutung von Mensch und Natur in den außereuropäischen Ländern
nicht so rasch und erfolgreich entwickeln können, wenn es denn überhaupt möglich
gewesen wäre, die Industrielle Revolution allein in Europa und dort wiederum zuerst
in Großbritannien zum Durchbruch zu bringen. Auf die Frage, ob der europäische
Industriekapitalismus nicht auch oder sogar vorwiegend seinen Wachstumserfolg der
imperialistischen Ausbeutung der außereuropäischen Gesellschaften und deren
ökonomischer, sozialer und kultureller Deformation zu verdanken hat, kann hier nicht
weiter eingegangen werden. Jedoch verdient dieses Problem, wenigstens erwähnt
worden zu sein; zumal die industriekapitalistische Expansion der Europäer sich
militärischer Aggression bediente und nicht vor Völkermord zurückschreckte.9
Um die historische Entwicklung der globalen Ungleichheit zu verdeutlichen, bietet es
sich an, die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Weltregion mit dem
höchsten BIP pro Kopf und jener mit dem niedrigsten BIP pro Kopf (regional spread)
über einen längeren Zeitraum zu betrachten. Die Daten in Tabelle 4 zeigen, dass seit
1500 bis in die jüngere Vergangenheit eine ständige Zunahme des Arm-ReichAbstandes – von 1 : 1,1 am Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jhs.
etwa 1 : 19 – stattgefunden hat. Lediglich zwischen 1950 und 1973 ergab sich ein
Rückgang von 1:15 auf 1:13. Er erklärt sich unter anderem mit einem gewissen
Wachstumsschub außereuropäischer Länder, speziell von afrikanischen. Die
Westeuropäer besetzten vom 16. Bis zum späten 19. Jahrhundert die Spitze der
internationalen Verteilungspyramide und wurden in dieser Position dann seit dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den westeuropäischen Abkömmlingen in
Nordamerika, Australien und Neuseeland abgelöst.
8
Warum europäische Mächte über Jahrhunderte hinweg große Teile der außereuropäischen Welt
beherrschen und ausplündern konnten lässt sich nicht monokausal erklären, aber eine notwendige
Voraussetzung war die Entwicklung der Feuerwaffen in Europa seit dem 14. Jahrhundert. Vgl. Karl
Georg Zinn, Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen
1989.
9
Vgl. zum Überblick des Imperialismusproblems Frank Deppe/David Salomon/Ingar Solty,
Imperialismus, Köln 2011.
11
Tabelle 4: BIP pro Kopf und interregionale Ungleichheit für den Zeitraum 1000
bis 1998 (internationale Dollars 1900)
Region
H i s t o r i s c h e s D a t u m (Jahr)
1000 1500 1820 1870 1913 1950 1973 1998
Westeuropa
440
USA, Kanada, Australien 400
Japan
425
Asien (o. Japan)
450
Lateinamerika
400
Osteuropa, UdSSR
4354
Afrika
416
Welt
435
Interregionale
Ungleichheit*)
1.1:1
774
400
500
572
416
400
1232
1201
669
575
665
483
1974 3473 4594 11534 17921
2431 5257 9288 16172 26146
737 1387 1926 11439 20413
543 640 635 1231 2936
698 1511 2554 4531 5795
667 917 1501 2601 5729
400
565
418
667
444
867
585 852 1365 1368
1510 2114 4104 5709
2:1
3:1
5:1
9:1
15:1 13:1 19:1
*) Reichste zu ärmster Region
Quelle: Angus Maddison, The World Economy. A Millennial Perspective, Paris:
OECD 2001, S.126.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1820) erreichte das BIP pro Kopf in Westeuropa
und Nordamerika etwa den doppelten Wert von Asien. Bis zur jüngsten
Jahrhundertwende stieg das Verhältnis Westeuropa zu Asien auf ca. 6:1 und das
Verhältnis USA: Asien auf knapp 9:1. Diese statistischen Angaben sind weniger
quantitativ zu verstehen als vielmehr qualitativ im Sinn einer langfristigen
Entwicklungstendenz. Es lässt sich konstatieren, dass offensichtlich reiche Regionen,
nämlich Westeuropa und seine überseeischen Abkömmlinge ihren Reichtum
potenzierten – gemäß dem Schlagwort „die Reichen werden reicher und die Armen
ärmer“. Reichtum verschafft Macht und vice versa. Die Verteilungsfrage ist in erster
Linie eine Machtfrage, und Reiche werden auch deshalb reicher, weil sie über mehr
Macht verfügen. Die Bankenrettungsaktion in Höhe von Hunderten von Milliarden
Euro wird zwar als ein rein ökonomischer Vorgang dargestellt und von der
Öffentlichkeit wohl auch so gesehen, aber faktisch handelte es sich um
Machtausübung des Finanzkapitals.
Der europäische Kolonialismus weist naturgemäß viele Facetten auf. Exemplarisch
sei hier nur auf die Sklaverei bzw. den Sklavenhandel hingewiesen. Es handelt sich
um eine besonders krasse Form der Ausbeutung von Menschen. Sie kam der
Kapitalbildung in Europa auf zweifache Weise zugute. Erstens erwies sich der
transatlantische Sklavenexport als äußerst profitabel; zweitens basierte die
wirtschaftliche Ausbeutung der nord- und südamerikanischen Kolonien in starkem
12
Umfang auf Sklavenarbeit, und die schwarze Bevölkerung vermehrte sich zudem auf
natürliche Weise. Deshalb überstieg die Zahl der amerikanischen
Sklavenbevölkerung auch mehr und mehr die Zahl der importierten Sklaven.
Der Sklavenhandel brachte den europäischen Sklavenhändlern immense Gewinne,
die weitere „Investitionen“ in Mensch und Natur forcierten. Der (trans)atlantische
Sklavenhandel begann bereits vor der Entdeckung Amerikas, nämlich 144510,
nachdem die Portugiesen an der westafrikanischen Küste aktiv geworden waren. Die
Portugiesen blieben auch in der Folgezeit ein stark im Sklavenhandel engagiertes
Land. Allerdings traten bald Konkurrenten auf, und England wurde zum Haupthändler
mit schwarzen Menschen (vgl. Tabelle 5).
Tabelle 5: Atlantische Sklavenexporte im 18. Jahrhundert (1701-1800)
Land
Sklaven in Mio.
Land
Sklaven in Mio.
England
2,532
Nordamerika
0,194
Portugal
1,796
Dänemark
0,074
Frankreich 1,180
andere Länder
0,005
Insgesamt 6,5236
Quelle: Maddison, World Economy, S. 58.
Sklaverei ist jedoch keineswegs verschwunden. Absolut gibt es heute mehr Sklaven
auf der Erde als in irgendeinem früheren Jahrhundert.11 Schätzungen beziffern die
gegenwärtige Zahl von Sklaven auf 25 bis 30 Millionen Menschen, aber faktisch sind
die Lohnarbeitsverhältnisse in den armen, bevölkerungsreichen Ländern nicht nur mit
der früheren Sklaverei vergleichbar, sondern die Lebenssituation der Quasi-Sklaven
von heute ist meist weitaus schlimmer. So wie es auch den chinesischen Kulis, die
im 19. Jh. die Eisenbahnschienen in den USA legten, schlechter erging als der
Mehrzahl der Sklaven in jener Zeit. Denn ein Sklave bzw. seine Arbeitskraft war
wertvoll und entsprechend hoch war sein Marktpreis. Der Sklave stellte ein
Wertobjekt dar, dessen Besitzer ein ökonomisches Interesse hatte, die
Leistungsfähigkeit bzw. den Wert seines Eigentums zu erhalten. Das war weder bei
den chinesischen Kulis der Fall, noch sind die modernen Kulis – denken wir
beispielsweise an Katar und Fifa oder Bangladesch – so gut gestellt wie die
wertvollen Sklaven von einst. Billigarbeitskräfte stehen heute in riesiger Masse zur
10
Vgl. Angus Maddison, The World Economy. A Millenial Perspective, Paris 2002 (OECD
Development Centre Studies), S. 57. Zur historischen Bedeutung von Sklaverei und Sklavenhandel
vgl. Michael Zeuske, Sklaverei und Sklavenhandel, in: Hermann Hiery (Hrsg.), Lexikon zur
Überseegeschichte, Stuttgart 2015, S. 746-1748; Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der
Sklaverei, Berlin 2013.
11
Vgl. Kevin Bales/Becky Cornell, Moderne Sklaverei, Hildesheim 2008; E. Benjamin Skinner,
Menschenhandel. Sklaverei im 21. Jahrhundert, Bergisch Gladbach 2008.
13
Verfügung (die Zahl der globalen Arbeitslosigkeit liegt über 220 Mio.), so dass die
Käufer der Ware Arbeitskraft nicht pfleglich mit ihr umgehen. Das Beispiel Katar oder
die Situation in Bangladesch sind durchaus repräsentativ für viele Länder. Flüchtlinge
im Mittelmeer wären früher eine Beute von Piraten bzw. Sklavenhändlern geworden,
was jene immerhin vor dem Ertrinken bewahrt hätte. Damals gab es eben noch weit
weniger Menschen auf unserer noch längst nicht so ausgeplünderten Erde wie
heute. Um 1750 betrug die Weltbevölkerung 750 Mio., also nur ein Zehntel der
heutigen -, und der (ökonomische) Wert aller Menschen war offenbar höher als
gegenwärtig (vgl. Abbildung 5 unten). Das ist die bittere Wahrheit, und sie
auszusprechen, klingt fast zynisch; aber soll sie deshalb verdrängt werden?
Dass wir in den reichen Ländern zumindest indirekt durch Billigwarenimport von der
Sklavenarbeit profitieren, gelangt meist nichts ins Bewusstsein, ist aber ein
unwiderlegliches Faktum.12 Über Importe sowie durch Standortverlagerung der
Produktion in Niedriglohnländer waren und sind jedoch auch die Arbeitsverhältnisse
in den reichen Ländern betroffen. Das Schlagwort von der Deindustrialisierung lässt
sich bisher zwar nicht auf Deutschland anwenden, aber in den USA, Großbritannien
und manchem anderen OECD-Länder findet es längst seine Bestätigung.
3. Das Ungleichheitsparadoxon: Die Selbstverstärkung der Ausbeutung durch
Bevölkerungswachstum und Mehrproduktanstieg
In seiner umfangreichen Untersuchung zum „Kapital im 21. Jahrhundert“ hat Thomas
Piketty ausführlich dargelegt, dass das Verhältnis von Vermögen und Einkommen
seit Jahrhunderten relativ stabil blieb oder je nach Region zunahm. Eine gewisse
Unterbrechung fand diese Entwicklung nur zwischen 1914 bis in die 1970er Jahre.
Wie ist dieser anhaltende Konzentrationsprozess des Vermögens zu erklären? Der
Rückblick in die Geschichte offenbart, dass es sich dabei um eine sozialökonomische
Gesetzmäßigkeit handelt. Sie trat seit Beginn der Zivilisation hervor und wurde mit
der Entstehung der Hochkulturen mehr und mehr verfestigt.
Sozialökonomische Ungleichheit ist, wie schon bemerkt, kein evolutionsbiologisch
erklärbarer Sachverhalt, sondern beruht auf einem erst nach der jüngeren Steinzeit
(Neolithikum) wirksam gewordenen Mechanismus.
12
Vgl. das Interwiev des Kik-Chefs Heinz Speet: „Zu uns kommt auch der Porsche-Fahrer“, in:
Handelsblatt, Nr. 93, 18. Mai 2015, S. 16f.
14
Mit dem Übergang der Menschheit von den aneignenden Jäger- und
Sammlerkulturen, also dem Wildbeuter-Dasein, zur produzierenden Wirtschaftsweise
der Viehzüchter und sesshaften Ackerbauer in der Zeit vor zwölf- bis dreitausend
Jahren kam es zu einem starken Anstieg des Produktionsüberschusses, dem
Mehrprodukt. Es sei kurz die Bedeutung des Mehrprodukts für die
Zivilisationsentwicklung verdeutlicht, denn das Mehrprodukt ist die Quelle von
Reichtum und politischer Macht.
Die Gesamtproduktion bzw. das Bruttoprodukt einer Gesellschaft lässt sich grob in
drei Teile gliedern: Ersatzprodukt, notwendiges Produkt und Mehrprodukt. Wir
können uns das als eine Menge von Gütern (Sachgüter und Dienstleistungen)
vorstellen. Diese naturalwirtschaftliche Denkweise ist zwar unter dem Einfluss der
geldwirtschaftlichen Verhältnisse weitgehend verloren gegangen, aber sie ist die
Grundlage für ein klares Verständnis von Produktion, Überschuss und Verteilung.
Abbildung 3: Komponenten des Bruttoprodukts
Bruttoprodukt
↓
↓
Ersatzprodukt
Nettoprodukt / Wertschöpfung
(Substanzerhalt)
↓
↓
notwendiges
Mehrprodukt
Produkt
(Reproduktion
der Arbeitskraft
und der übrigen Bevölkerung)
Entsprechend dieser Dreiteilung kann auch die von der Gesellschaft geleistete
Arbeitsmenge in Ersatzprodukt-Arbeit, notwendige Arbeit und Mehrarbeit aufgeteilt
werden. Die bisher gegebene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer individuellen
Hauswirtschaft wie einer Volkswirtschaft wird durch Ersatzprodukt (z. B. Saatgut als
Teil der insgesamt produzierten Getreidemenge) und notwendiges Produkt (=
Ernährung der Arbeitskräfte und ihrer Familien) gesichert. Das Mehrprodukt kann
hingegen für sehr verschiedene Zwecke verwendet werden – Luxusgüter,
Zeremonialbauten, aufwändige Grabstätten, Waffen und Militärarchitektur usw., aber
es kann auch produktiv investiert werden, womit eine Steigerung der Leistungskraft
eines Gemeinwesens erreicht wird. Und ohne Mehrprodukt gäbe es auch kein
Bevölkerungswachstum, denn die nachwachsende Generation muss ernährt werden,
noch ehe sie selbst am Arbeitsprozess teilnehmen kann.
15
Das Bevölkerungswachstum zieht in der Regel auch ohne besonderen technischen
Fortschritt allein schon durch die Zunahme der Arbeitskräftezahl ein weiteres
Mehrproduktwachstum nach sich: Wenn eine Arbeitskraft beispielsweise
durchschnittlich zehn Stunden Arbeit am Tag (an x Tagen im Jahr) leistet, wovon 3
Stunden auf das Ersatzprodukt, 5 Stunden auf das notwendige Produkt und 2
Stunden auf das Mehrprodukt entfallen, heißt das, dass 20 % der Arbeitsleistung
Mehrarbeit darstellen. Prinzipiell wird also mit dem Wachstum der Bevölkerung und
damit der Arbeitskräfte auch das Mehrprodukt absolut zunehmen.13 Wenn und soweit
es von einer herrschenden Klasse angeeignet wird, profitiert diese offensichtlich vom
Bevölkerungswachstum; jedenfalls solange die Zunahme der Arbeitskräfte in
hinreichendem Umfang mit dem komplementären Produktionsfaktor Boden bzw.
Natur im weiten Sinn kombiniert werden kann.
Die Aneignung von großen Teilen des Mehrprodukts mittels Macht, die über die
zivilisationsgeschichtlichen Jahrtausende hinweg häufig, wenn nicht sogar in den
meisten Fällen auf dem Eigentum an Grund und Boden bzw. Kapitalgütern beruhte,
erklärt, warum sich Vermögen bei den Oberschichten ansammelte (vgl. Abb. 4).
Denn aus dem angeeigneten Mehrprodukt konnte Vermögen gebildet, also gespart
werden, was auch geschah. In welcher Form die Vermögensbildung stattfand
variierte erheblich in Abhängigkeit von der historischen bzw. kulturellen Situation.
Renditeorientierte Kapitalbildung im engeren Sinn stellte nur eine, lange Zeit
nachrangige Mehrproduktverwendung dar, und in der vorindustriellen Epoche gab es
auch weit weniger rentierliche Anlagemöglichkeiten als sie dann im
Industriekapitalismus verfügbar wurden: Solange es keine Dampfmaschinen gab,
konnte auch der tüchtigste Investor nicht in eine solche Anlage investieren.
Vorindustrielle Vermögensbildung schlug sich in weit größerem Umfang in Luxusund Prestigeobjekten nieder – Prachtbauten, Edelmetallgegenstände usw. Diese
Vermögensobjekte sammelten sich im Laufe der Geschichte an, wurden vererbt und
Teile von ihnen zählen heute zum Weltkulturerbe. Schematisch stellt sich die
historische Vermögenskumulation folgendermaßen dar: Ein Teil des angeeigneten
13
Ein kluger, weitsichtiger Grundherr wird einen Teil des Mehrprodukts besser seinen Untertanen mit
der Auflage überlassen, mehr Kinder großzuziehen, denn in 15 bis 20 Jahren werden dann mehr
Arbeitskräfte, eine größere Produktion und damit ein gestiegenes Mehrprodukt verfügbar sein. Die
Untertanen werden ihn zudem als „guten Herrn“ wahrnehmen. Wenn der Feudalherr hingegen alles
verprasst, tritt er pekuniär sozusagen auf der Stelle, und seine Untertanen dürften ihm weit weniger
zugeneigt sein.
16
Mehrprodukts wird konsumiert, aber der andere Teil dient der Vermögensbildung,
und somit wird die Vermögensbestand von Generation zu Generation anwachsen.
Das nachstehende Schema mag das weiter verdeutlichen.
Zeit
Mehrprodukt
Kumuliertes Vermögen aus der
Mehrprodukt-Verwendung
t1
M1
→→→→→→→→→→→
V1
t2
M2
→→→→→→→→→→→→
V1 + V2
t3
M3
→→→→→→→→→→→→
V1 + V2 + V3
usw.
tn
∑Vi
Mn
(i = 1,2…n)
Vieles mag durch Krieg und sonstige Katastrophen vernichtet werden und verloren
gehen. Auch verfällt manches Vermögensobjekt wegen mangelnder Reparatur, aber
selbst die eine oder andere Ruine gilt noch als zu erhaltendes Kulturerbe, also als
ein sehenswerter Vermögensgegenstand. In besonderen Fälle übersteigen die
Eintrittsgelder bei weitem die Unterhaltskosten. So erweist sich beispielsweise das
Versailler Schloss als profitable Immobilie, was sicher nicht von seinem ersten
Eigentümer, Louis IVX., beabsichtigt war.
Abbildung 4: Was geschieht mit dem Mehrprodukt?
Mehrprodukt
↓
↓
Von Machteliten
angeeigneter Teil
↓
↓
Konsum
Eigenanteil der Mehrprodukt-Produzenten
↓
↓
↓
↓
↓
Vermögens=
Konsum
Bildung
a) Luxus, Prestige u. drgl.
↓
↓
↓
Ersparnis/Vermögens=
bildung
b) rentierliches Vermögen (Kapital)
c) Infrastrukturen i. w. S.
Wir wissen inzwischen aus der vorgeschichtlichen Forschung, dass die ersten
Ackerbausiedlungen und Viehzüchtergemeinschaften egalitär strukturiert waren. Eine
17
allmähliche Hierarchisierung entstand erst infolge einer relativ starken Zunahme des
Mehrprodukts, des (lokalen) Bevölkerungswachstums und insbesondere seit der
Einführung metallurgischer Technik (zuerst Kupfer, dann Bronze, dann Eisen). 14 Aus
der Hierarchisierung entstanden die Klassengesellschaften, also die Spaltung der
Menschheit in mächtige, reiche Herrschaftsklassen oben und die Masse der
arbeitenden Bevölkerung unten. Mit dieser Neugestaltung der gesellschaftlichen
Verhältnisse wurde die Ausbeutung von Mensch und Natur durch Menschen
installiert bzw. gesteigert. Es ist prinzipiell gleichgültig, ob die Machtausübung mittels
religiösem, ideologischem Charisma, mit brutaler Gewalt und/oder mittels Eigentum
an Mensch und Natur erfolgt. Die Aneignung des Mehrprodukts bzw. eines
erheblichen Teils davon durch die Herrschaftsklasse stärkte deren Machtposition und
ermöglichte ihre Reichtumskumulation. Ein höheres Mehrprodukt wird i. d. R. auch
dazu verwendet, die militärische Stärke auszubauen – und gegebenenfalls Raubund Eroberungskriege zu führen, die im Fall des Sieges die Reichtumskumulation der
Sieger und ihre Macht noch steigern.
Die Zunahme des Mehrprodukts durch Bevölkerungswachstum erklärt hinlänglich
das Herrschaftsinteresse an der demografischen Entwicklung, und es sollte auch
nicht übersehen werden, dass ohne eine große Bevölkerung kein großes Heer
aufgestellt und kein großer Krieg geführt werden konnte. Es lässt sich nicht
vermeiden, die Frage zu stellen, wem die Überbevölkerung auf unserem Planeten
vornehmlich nützt und in wessen Interesse das globale Überangebot an Arbeitskraft
liegt. Es ist jedenfalls ein zwiespältiger Erfolg der Industriellen Revolution, dass sie
mit dem industriekapitalistischen BIP-Wachstum auch das beschleunigte
Bevölkerungswachstum erst ermöglicht hat (vgl. Abbildung 5).
14
Vgl. die umfassenden Darstellung von Herrmann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine
Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, 2. A., München 2015.; Stefan Breuer, Der
charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft, Darmstadt 2014.
18
Abbildung 5: Bevölkerungswachstum
und Naturverbrauch
Die Gegenläufigkeit von Bevölkerungswachstum und schwindenden Naturressourcen
verschärft das Problem, dass die menschliche Arbeit auf die Natur als
komplementären Produktionsfaktor angewiesen ist. Es könnte sich eine Situation
ergeben – und vielleicht ist sie bereits eingetreten -, in der das insgesamt global
verfügbare Arbeitspotential (= Zahl der Arbeitskräfte multipliziert mit der
möglichen/maximalen Zahl von Arbeitsstunden einer Arbeitskraft pro Tag, Monat,
Jahr oder einer anderen Zeitspanne) vom Faktor Natur in seiner (vollen) Verwendung
eingeschränkt wird. Wie lässt sich mit einer solchen Restriktion umgehen?
Gegenwärtig wird nur ein Teil des Arbeitskräftepotentials beschäftigt, und der andere
Teil ist arbeitslos, was für die meisten Armut, Hunger und Elend bedeutet. Die
Alternative wäre, das naturbedingt begrenzte Beschäftigungsvolumen auf alle
Arbeitskräfte zu verteilen. Offensichtlich wird dann keiner seine maximal mögliche
Arbeitsstundenzahl leisten können bzw. müssen. Es würde hier zu weit führen, die
Komplementaritätsproblematik von Arbeit und Natur noch genauer zu untersuchen,
aber es wird bei einigem Nachdenken offenkundig, dass aus der durch die
Ungleichverteilung bewirkten Verwendung von knappen Naturressourcen für Luxus,
Rüstung usw. im Unterschied zur vorindustriellen Vergangenheit heute und in
Zukunft sowohl noch weitaus größere Verelendungseffekte bewirkt werden als auch
ungleich viel mehr Menschen darunter leiden müssen – einfach wegen der extrem
19
verschobenen Relation zwischen Weltbevölkerung bzw. globalem Arbeitspotential
und der noch verfügbaren, tendenziell abnehmenden Naturressourcen.
Indem die arbeitende Bevölkerung dazu gezwungen wird, Mehrarbeit zu leisten und
das erzeugte Mehrprodukt aufgrund der Machtverhältnisse der Herrschaftsklasse zu
überlassen, kumulieren Reichtum und Macht in relativ wenigen Händen – bis heute.
Es kann also als Paradoxon bezeichnet werden, dass die Mehrarbeit der
Arbeitsbevölkerung dazu dient, sie relativ ärmer und machtloser zu machen. Im
Industriekapitalismus hat sich dieser Prozess einerseits wegen des
produktivitätswirksamen technischen Fortschritts nochmals verstärkt, andererseits
entstanden Gegenbewegungen, deren partieller Erfolg – u. a. die Entstehung der
Gewerkschaften und die Installierung kapitalistischer Demokratien – in den reichen
Ländern den sogenannten „Massenwohlstand“ herbeigeführt hat.
Dieser Prozess der Selbstverstärkung der Ungleichheit begann schon vor einigen
Tausend Jahren als der Zivilisation der sozialökonomische Spaltpilz eingepflanzt
wurde, der die Menschheit in Arm und Reich, in Machthaber und Unterworfene
teilte.15 Eine Änderung dieser verhängnisvollen Situation erfordert ein anders
Zivilisationsmodell. Dazu folgen jetzt einige Überlegungen, die wir Joseph Alois
Schumpeter (1883-1950) verdanken.
4. Der neoliberalistische Angriff auf den sozialstaatlichen Interventionismus –
eine Interpretation der Theorie von Alois Joseph Schumpeter zum
Zukunftssozialismus
Wenn hier scheinbar willkürlich Schumpeters Zukunftseinschätzung herausgegriffen
wird, gibt es dafür einige plausible Gründe. Erstens blieb Schumpeters
Sozialismusmodell relativ unbekannt, so dass es mehr Aufmerksamkeit verdient;
zweitens handelt es sich um einen erstaunlich präzise durchdachten und
ausführlichen Sozialismusentwurfe; drittens bestechen Schumpeters Überlegungen
15
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) dürfte der radikalste Zivilisationskritiker nicht nur des 18.
Jahrhunderts, sondern der gesamten Moderne (und „Nachmoderne“) sein. Leider werden Rousseaus
Frühschriften, in denen er gerade dieses Menschheitsproblem thematisiert, selbst von der
wissenschaftlichen Rousseau-Rezeption oft nachrangig oder gar bagatellisierend betrachtet. Vgl.
Rousseau, Von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 preisgekrönte Abhandlung über die von dieser
Akademie aufgeworfene Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur
Läuterung der Sitten beigetragen habe, in: Jean-Jacques Rousseau, Kulturkritische und politische
Schriften, Bd. 1, hrsg. von Martin Fontius, Berlin 1989, 49-82; derselbe, Über den Ursprung und die
Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ebenda, S. 183-274 und Anmerkungen von
Rousseau, ebenda, S. 275-315.
20
durch ihre nüchterne Beurteilung der quasi-gesetzmäßigen Ablösung des
Kapitalismus durch eine sozialistische Ökonomie; und viertens ergibt sich aus
Schumpeters Argumentation eine plausible Erklärung für die neoliberalistische
Wende. Denn die von Schumpeter begründete Entwicklungsperspektive kann sowohl
erklären, warum es zum Neoliberalismus kam, als auch sich daraus eine
Einschätzung ergibt, ob die neoliberalistische Kapitalismus-Restauration längerfristig
durchzuhalten ist.
Joseph A. Schumpeter gehört bekanntlich zu den herausragenden Ökonomen des
vergangenen Jahrhunderts. Er hat dem „Theorem der Langen Wellen“, das von dem
russischen Ökonomen Kondratieff in den 1920er Jahren entdeckt worden war, erst
die bis heute anhaltende Popularität verschafft. Die Langen Wellen werden von
Schumpeter als Folge sogenannter Basisinnovationen erklärt. Die Bedeutung der
Innovationen für die Wirtschaftsentwicklung hatte er bereits in seiner „Theorie der
wirtschaftlichen Entwicklung“(1. A. von 19011-12) herausgestellt, und die Innovatoren
als die zentralen Figuren des Unternehmer-Kapitalismus von den Kapitalgebern bzw.
Kapitalisten klar unterschieden. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen
Entwicklung“ setzte der kapitalistischen Innovationsdynamik ein Denkmal und gilt bei
vielen Ökonomen als die wichtigste Kapitalismus-Monographie des ersten Drittels
des 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher, wenn nicht gar befremdlicher erscheint
deshalb die These des späten Schumpeter zum unvermeidlichen Ende des
Kapitalismus und des Übergangs zum Sozialismus. Schumpeter legte diese Sicht auf
die historische Entwicklung in seinem 1942 erschienen Werk „Kapitalismus,
Sozialismus und Demokratie“16 dar und lieferte eine ausführliche Begründung. Seine
Sozialismusvorstellung weicht zwar von den üblichen Versionen ab, die mit dem
Begriff Sozialismus assoziiert werden, jedoch steht für Schumpeter außer Zweifel, –
wie er betont – dass eine sozialistische Wirtschaft nicht nur funktioniert, sondern
sogar besser funktionieren kann als ihr kapitalistischer Vorgänger. Zwei wesentliche
Vorhersagen traut sich Schumpeter vom historischen Standpunkt des Jahres 1942
aus zu: Erstens werde der Kapitalismus mindestens noch 40 bis 50 Jahre
prosperieren, ehe ein demokratischer, also friedlicher Übergang zum Sozialismus
16
Die zweite deutsche Ausgabe erschien in Bern, 1950, und enthält noch nicht die für die zweite und
die dritte amerikanische Auflage von Schumpeter verfassten „Nachschriften“. Siehe hierzu Joseph A.
Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy, New York etc.: Harper Perennial Modern Thought
2008.
21
explizit auf die politische Tagesordnung komme 17; zweitens jedoch würden bereits
während dieser „Vorlaufphase“ des künftigen Sozialismus gesellschaftliche und
politische Veränderungen eintreten, die sowohl den traditionellen Kapitalismus des
Eigentümer-Unternehmers weiter aufweichen, als auch in ihrer Gesamtheit
vorsozialistische Strukturen hervorbringen. Im Zweiten Weltkrieg sah Schumpeter
einen Beschleunigungsfaktor für jene Tendenzen, die aus seiner Sicht in Richtung
Sozialismus wiesen. In einem Vortrag, den er am 30. Dezember 1949 auf einer
Tagung der American Economic Association unter dem bezeichnenden Titel „Der
Marsch in den Sozialismus“ gehalten hatte,18 bekräftigte er erneut seine feste
Überzeugung, dass der Kapitalismus nicht überleben wird. Es war ihm zugleich
bewusst, dass historische Zufälle, welcher Art auch immer, die „Normalentwicklung“
unterbrechen und modifizieren könnten. Dennoch meinte er, dass seine als Statusquo-Prognose formulierte Zukunftsperspektive aufgrund der unaufhebbaren inneren
Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus sich letztlich bestätigen werde.
Schumpeter verstand sich zwar nicht als Marxist und hatte auch eine andere, viel
konkretere Sozialismusvorstellung als Marx, aber er stimmte mit Marx darin überein,
dass der Kapitalismus aus sich selbst den Sozialismus hervorbringe, also der
Niedergang des Kapitalismus gesetzmäßig erzwungen werde. Schumpeter
widerspricht der Marxschen Arbeitswerttheorie und des daraus abgeleiteten
Theorems vom tendenziellen Fall der Profitrate. Nicht ein ökonomischer
Zusammenbruch drohe dem Kapitalismus, sondern eine allmähliche Auflösung aller
seiner sozialen Lebensbedingungen. Für Schumpeter sind deshalb Marx‘
„soziologischen“ Argumente entscheidend zur Begründung des Absterbens des
Kapitalismus.19 Damit ist gesagt, dass Mentalität, Ideologie und die
sozialpsychologisch bedingten Verfestigungen des Bewusstseins für Schumpeter die
entscheidenden Faktoren sowohl für die Veränderungen als auch für Verzögerungen
17
Gegen seine zeitgenössischen Vertreter der Stagnationstheorie hatte sich Schumpeter äußerst
kritisch geäußert, was ihm zugleich Gelegenheit war, erneut auch gegen Keynes zu polemisieren.
Schumpeter war scheinbar seiner schon in der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ vertretenen
Auffassung treu geblieben, dass ein unerschöpfliches, wachstumsträchtiges Innovationspotential
vorhanden wäre. Jedoch finden sich dann sowohl in der Schrift von 1942 als auch in späteren Texten
deutliche Relativierungen Schumpeters zu seiner ursprünglichen Ablehnung der „Theorie der
schwindenden Investitionschance“, als die er das Stagnationstheorem behandelt. Vgl. zum
stagnationstheoretischen „Bekenntnis“ Schumpeters Norbert Reuter, Ökonomik der „Langen Frist“.
Zur Evolution der Wachstumsgrundlagen in Industriegesellschaften, Marburg 2000, S. 271 ff.
18
The March into Socialism, in: Schumpeter, Capitalism, 2008, l. c., S. 415-425.
19
Vgl. auch Nobert Reuter, Ökonomik der „Langen Frist“. Zur Evolution der Wachstumsgrundlagen in
Industriegesellschaften, Marburg 2000, S. 270 ff.
22
beim Systemwandel darstellen.20 Unter anderem sieht er in der Kapitalkonzentration,
in der Trennung von Eigentum und Management bei den großen
Aktiengesellschaften, in steigender Unzufriedenheit mit den Verteilungsdivergenzen
sowie der bürokratischen Lenkung von Unternehmen Vorboten des Sozialismus.
Schumpeter meinte, dass ein großer Teil der US-amerikanischen Bevölkerung
faktisch bereits sozialistische Verhältnisse bevorzugen und dadurch besser gestellt
würde, dass aber die Begriffe Sozialismus und Kommunismus derart negativ besetzt
sind, dass keine offene Sozialismusdiskussion möglich sei. Diese Einschätzung trifft
wohl auch auf die gegenwärtige Situation zu – auch gerade auf die in Deutschland.
Die niedrige Wahlbeteiligung deutet darauf hin, dass ein wachsender Teil der
Wahlberechtigten den Parteien bzw. der Politik das Vertrauen entzieht und sich von
keiner politischen Gruppierung mehr vertreten sieht. Ein erheblicher, wenn nicht der
überwiegende Teil der Nichtwähler findet sich in den sozialökonomisch schwächeren
Schichten. Dieses gesellschaftliche Segment hätte durchaus eine Verbesserung ihrer
Lebenslage von einer sozialistischen Politik zu erwarten. Jedoch sind alle
einschlägigen Begriffe und Konzeptionen diskreditiert worden. Deshalb wird eine sich
zu sozialistischer Politik bekennende Partei wie die „Linke“ vorerst keine Chance
haben, die politikverdrossenen Nichtwähler für sich zu gewinnen. Der Widerspruch
zwischen objektiv unbefriedigender Lebenslage und den Ressentiments der davon
Betroffenen gegen einen fundamentalen sozialökonomischen Wandel entspricht also
der Diagnose Schumpeters aus den 1940er Jahren: Die sozialistische Sache findet
zwar Zustimmung, aber die herrschende Ideologie ist dagegen und vorerst erweist
sich die Ideologie noch als stärker. Die Unzufriedenheit, die sich in Wahlenthaltung
artikuliert, schwelt jedoch weiter, und gerade dadurch wird trotz der ideologischen
Dominanz des Kapitalismus ein allmählicher Übergang zu einer nachkapitalistischen
Gesellschaft letztlich eintreten. Die Kombination aus tief eingesenktem
Antikommunismus und Unzufriedenheit mit den bestehenden (Verteilungs)Verhältnissen könnte – wie schon früher in der Geschichte – auch eine
neofaschistische „Lösung“ attraktiv werden lassen, zumal Kapitalismus und
Faschismus sich durchaus als kompatibel erwiesen haben.
Vom künftigen Sozialismus, so Schumpeter, werden etliche Strukturelemente des
Kapitalismus übernommen – sowohl weil sie sich bewährt haben, als auch um einen
abrupten Umbruch zu vermeiden. Dies trifft insbesondere auf die freie
20
Vgl. die zusammenfassende Darlegung seiner Argumentation in dem Text „The March into
Socialism, in: Schumpeter, Capitalism 2008, l. c., S. 417f.
23
Konsumgüterwahl, somit Konsumgütermärkte, und generell die instrumentelle
Verwendung des Marktmechanismus im Rahmen einer geplanten
Wirtschaftsentwicklung zu. Hingegen wird die Einkommensverteilung in starkem
Maße politisch bzw. gesellschaftlich, jedenfalls nicht marktabhängig bestimmt.
Teilweise ist das heute schon der Fall. Denn der Marktmechanismus wird bei der
Lohnbildung durch Tarifverhandlungen suspendiert, und Gleiches gilt für staatliche
Mindestlohnregelungen.
Es versteht sich, dass Schumpeters Zukunftsperspektive allen Anhängern des
neoliberalen Status quo widerstrebt und sie bemüht sind, Schumpeter in diesem
Punkt zu ignorieren oder irgendwie zu widerlegen. Ein wohl nur als Kuriosität zu
bezeichnender, dennoch symptomatischer Versuch zur „Entschärfung“ von
Schumpeters Sozialismusperspektive findet sich im Vorwort zur amerikanischen
Ausgabe von 2008 der Monografie „Capitalism, Socialism and Democracy“. Der
Vorwortautor Thomas K. McCraw möchte das Sozialismus-Kapitel als „Satire“
verstanden wissen, als hätte Schumpeter sich sozusagen einen Scherz damit erlaubt
und hätte eigentlich das Gegenteil von dem gemeint, was er schrieb.21
Was ergibt sich aus Schumpeters Zukunftsausblick für die Erklärung der
neoliberalistischen Wende? Bekanntlich brachten die ersten Jahrzehnte nach dem
Zweiten Weltkrieg erhebliche soziale Fortschritte. Deshalb wird von einer
wohlfahrtsstaatlichen bzw. sozialstaatlichen Entwicklung gesprochen. Die damals
vorherrschenden wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Tendenzen bestätigten
Schumpeters Einschätzung, dass sich im Schoße des Kapitalismus sozialistische
Veränderungsmomente entfalten würden. In der Tat suchten die Kritiker dieser
Entwicklung, nämlich den Fortschritt des sozialstaatlichen Interventionismus
Keynesscher Prägung, als sozialistisch/kommunistisch zu brandmarken. Die
Neoliberalen verfolgten dabei eine Langfriststrategie, um diese Entwicklung
aufzuhalten und möglichst rückgängig zu machen. Die historische Chance, dieses
Ziel zu erreichen, bot sich während der globalen Wachstumskrise der 1970er Jahre.
Der Wohlfahrtsstaat und der Keynesianismus wurden von der
wirtschaftsliberalistischen Propaganda für die Krise verantwortlich gemacht. Die
Sozialstaatsverfechter gerieten mangels einer brauchbaren – nämlich sozialistischen
- Vorwärtsverteidigung in die Defensive und mussten schließlich kapitulieren, weil
sich die Regierungen und die großen Parteien dem Neoliberalismus beugten – oder
21
Thomas K. McGraw, Introduction to the Harper Perennial Modern Thought Edition, in: Schumpeter,
Capitalism 2008, l. c., S. XXIII f.
24
meinten sich beugen zu müssen, weil die Wählerschaft von der neoliberalistischen
Meinungsmache betört worden war. Es versteht sich, dass mit der Privatisierung der
elektronischen Medien und dem verstärkten Zugriff der Wirtschaftseliten auf die
Redaktionsarbeit der Printmedien die Möglichkeit zur Manipulation der
Massenmeinungen sehr viel effizienter praktiziert werden konnte.
Der Wählerschaft wurde zur neoliberalistischen Wende bis heute keine sie
überzeugende Alternative geboten. Im Gegenteil verstärkte der Zusammenbruch der
UdSSR nochmals den antikommunistischen Affekt und die Ängste vor einem
Systemwechsel in der breiten Bevölkerung. Doch in dem Maße, in dem der
neoliberalistische Kurs gestützt und damit weiter forciert und es bewusst wird, dass
die große Krise vom Neoliberalismus nicht überwunden wird, wachsen die
Gegenkräfte zum Status quo. Wie erwähnt, wird die Wahlenthaltung wahrscheinlich
nicht in eine plötzlich Zustimmung zu radikalen Reformen umschlagen, aber das ist
auch nicht völlig auszuschließen, wie der Rückblick in die Geschichte zeigt. Das
momentan noch vorherrschende Weiter-so hat aber keine lange Lebenserwartung
mehr. Jedenfalls entspricht die Zuspitzung der sozialökonomischen Krise der
Einschätzung Schumpeters, dass sich der Kapitalismus tendenziell selbst abschaffen
wird. Schumpeter hatte, wie erwähnt, noch 1942 dem Kapitalismus eine optimistische
Prognose gestellt, sie aber auf rund ein halbes Jahrhundert terminiert. Was danach
kommen würde, ließ er zwar offen, verstand sich aber zu einem gewundenen
Zugeständnis an die Stagnationstheoretiker: „The Stagnationists are wrong in their
diagnosis of the reasons why the capitalist process should stagnate; they may still
turn out to be right in their prognosis that it will stagnate – with sufficient help from the
public sector.“22 Schumpeters Sozialismusperspektive stützt sich, wie deutlich wurde,
auf Veränderungen innerhalb des Kapitalismus, die wesentliche
Existenzvoraussetzungen des Systems auflösen oder ganz eliminieren. Die
unorthodoxen wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die seit 2008 anhaltende Krise
lassen sich entgegen den euphemistischen Interpretationen auch als einen weiteren
Schritt im Sinn des Schumpeterschen „Marsch in den Sozialismus“ wahrnehmen. Die
Sozialisierung (!) von Spekulationsverlusten, die zumindest temporären
Verstaatlichungen von Banken und realwirtschaftlichen Unternehmen (beispielsweise
General Motors durch die US-Regierung), die zentralbankpolitische Geldvermehrung
mit ihrem Negativzins-Effekt sowie die forcierte direkte und indirekte
22
Siehe Schumpeter, March into Socialism, S. 425; vgl. auch die Nachweise für Schumpeters
ambivalente Haltung zum Stagnationstheorem bei Reuter, 2000, S. 271 ff.
25
Subventionierung von Innovationen (erneuerbare Energien, Elektromobilität) erfolgen
zwar in der Absicht, den kapitalistischen Akkumulationsprozess zu beleben und das
System zu stabilisieren, aber dass es dazu überhaupt dieser umfangreichen
Staatsinterventionen und der Hunderte Milliarden schweren Umschichtung privater
Schulden in öffentliche – zulasten der Steuerzahler – bedarf, könnte als eine Art
„sozialistische“ Politik zugunsten des maroden Kapitalismus verstanden werden –
sozusagen als Vorübungen wider Willen für einen künftig anstehenden Übergang
zum Sozialismus. Dass in einzelnen Ländern innerhalb und außerhalb der OECD auf
demokratischem Weg sozialistische Parteien Regierungsmacht erlangen, zeugt von
der richtigen Einschätzung Schumpeters, dass ein Systemwandel grundsätzlich auf
demokratischem Weg gebahnt werden kann. Auch die aggressive Gegenstrategie
der dem Kapital hörigen Regierungen und Institutionen – Beispiel „Troika“23 gegen
die griechische Linksregierung – lässt sich nicht mehr so einfach als unbedrohte
Vorherrschaft der kapitalistischen Machteliten charakterisieren, sondern dürfte sich
letztlich als Schwächesymptom einer in ihre Endphase gekommenen
sozialökonomischen Formation herausstellen.
Zum Abschluss noch zwei Zitate von Schumpeter:
 „Schließlich besteht kein so großer Unterschied, wie man denken könnte,
zwischen der Behauptung, daß der Zerfall des Kapitalismus seinem Erfolg
zuzuschreiben, und der Behauptung, daß er durch seinen Mißerfolg
verursacht ist.“24
 „Es ist sehr wohl möglich, daß künftige Generationen auf Beweise der
Unterlegenheit des sozialistischen Planes ebenso herabsehen werden, wie wir
23
„Troika“ ist ein russisches Wort und bedeutet Dreigespann, aber nicht nur das. Im
übertragenen Sinn wird darunter das Dreierbündnis von Stalin, Kamenew und
Sinowjew gegen Trotzkij in den Jahren 1923 bis 1925 verstanden, und als „Troika“
firmierten auch die mit drei Leuten besetzten „Gerichte“, die bei der stalinistischen
„Entkulakisierung“ von 1928 an tätig wurden. Vgl. Norman M. Naimark, Stalin und
der Genozid, Berlin 2010, S.57ff. – Mit der Troika-Semantik haben sich die
austeritätspolitischen Institutionen, Europäischer Rat, Europäische Zentralbank und
Internationaler Währungsfonds, die den Griechen Mores lehren wollen, in unbedarfter
Unbefangenheit ein Etikett aufgeklebt, das nicht gerade auf demokratische
Gesinnung verweist.
24
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, l. c., S. 262.
26
auf Adam Smith´s Argumente gegen Aktiengesellschaften herabsehen, die –
auch sie – nicht einfach falsch waren.“25
25
Ibidem, S. 313.