Artikel in der SZ

09.01.2016, Joachim Umbach (SZ) Schwester hat ein Herz für brasilianische Kinder 
Operation geglückt: Die Mütter mit ihren Kindern sind froh, wenn die deutschen Ärzte Fehlbildungen wie beispielsweise Gaumenspalten korrigieren und den Kleinen damit eine bessere Zukunft ermöglichen. Schwester Renate kümmert sich seit Jahren um brasilianische Kinder und Kranke. Bad Saulgau sz (jum) Brasilien ist ihr ans Herz gewachsen: „Ich mag die Menschen hier.“ Das ganze Jahr über kümmert sich Schwester Renate vom Franziskanerorden Sießen in Coroatá um Drogensüchtige und um Gefängnisinsassen. Wenn allerdings die deutschen Ärzte der Interplast‐Organisation einfliegen, um im Regenwaldhospital im brasilianischen Norden vorwiegend kranke Kinder zu operieren, lässt sie sich von ihrem Orden für zwei Wochen freistellen. Dann hilft sie Schwester Veronica vom Salanus‐Orden, die das Hospital auf Zeit organisiert. Die 56‐jährige Renate macht das, weil bei mehr als 150 Operationen jede Hilfe gebraucht wird. Ein klein wenig aber auch, um eine Verbindung zu ihrer deutschen Heimat zu behalten. Seit mehr als drei Jahren war sie nicht mehr in Oberschwaben. Und heuer wird es auch nicht klappen: „Frühestens 2017 wieder.“ Die gelernte Kinderkrankenschwester, die seit acht Jahren in Brasilien lebt, hat einen Spezialauftrag, sie assistiert dem Hals‐Nasen‐Ohren‐Arzt Jan Wittlinger bei der Behandlung der Patienten. Ihr gutes Portugiesisch ist dabei sehr hilfreich. „Ohne ihre Unterstützung ginge es gar nicht“, bestätigt Wittlinger, der sich um Krankheiten wie chronische Mandelentzündungen, Polypenverwachsungen in der Nase oder Ungeziefer in den Gehörgängen kümmert, während Schwester Renate mit den Patienten redet. Auch wenn sie in großer Bescheidenheit sagt, dass ihre Sprachkenntnisse besser sein könnten, macht sie das perfekt. Alle verstehen sie – und alle folgen ihren Anweisungen. Die deutschen Interplast‐Ärzte und ‐Helfer kommen schon seit 23Jahren nach Coroatá. Zum zweiten Mal ist auch die Allgäuer Spendenorganisation BigShoe dabei. Die 2006 während der Fußball‐
Weltmeisterschaft in Deutschland gegründete Einrichtung übernimmt die Kosten aller Operationen. Ermöglicht wird das durch spendable Paten, wie zum Beispiel Fußballstar Mesut Özil, USA‐Fußballtrainer Jürgen Klinsmann und viele andere. Das Team besteht aus zwei Mund‐Kieferchirurgen, zwei Anästhesisten, zwei Plastischen Chirurgen, einem Hals‐Nasen‐Ohren‐Arzt, einer Medizinstudentin sowie zwei OP‐Schwestern und einem Anästhesie‐Helfer. Operiert werden vorwiegend Lippen‐Kiefer‐
Gaumenspalten, aber auch chronisch erkrankte Mandeln. Der vierjährige Joao Victor ist einer der Patienten, denen durch das gemeinschaftliche Engagement von Interplast und BigShoe eine bessere Zukunft ermöglicht wird. Wenn beispielsweise die Lippen‐Kiefer‐
Gaumenspalte nicht im frühen Alter operiert wird, müssen die Kinder mit der Entstellung leben, werden in Brasiliens Norden zum Teil von der Gesellschaft geächtet. Außerdem leiden sie ein Leben lang unter erheblichen Sprech‐, Trink‐ und Essstörungen. Die Mutter von Joao ist mit ihrem Sohn schon am Tag vor dem Eintreffen der deutschen Ärzte angereist. Nur im von Schwester Veronica betriebenen Regenwaldkrankenhaus hat er eine Chance auf Heilung. Den brasilianischen Ärzten im Norden des südamerikanischen Riesenlandes fehlt die Kompetenz für diese Operation, und eine Behandlung durch Fachärzte in São Paulo oder Rio de Janeiro kann sich die Familie nicht leisten. Wenige Tage nach der Operation wird Joao nicht nur im Mundbereich äußerlich verändert sein. Seine Mutter hat eine Art Gelübde abgelegt, dass die langen, lockigen Haare ihres Sohnes erst abgeschnitten werden, wenn er zur Operation zugelassen wird, sie gut verläuft und die Heilung Fortschritte macht. Für Operateur Stefan Hessenberger, Spezialist für Mund‐, Gaumen‐ und Gesichtschirurgie aus München, ist der Eingriff kein Problem: „Alles gut gelaufen!“, sagt er später. Nach drei Tagen darf der Junge schon nach Hause. Und dann wird Mama wohl zu Kamm und Schere greifen ... Auch Laura gehört zu den Besuchern, die schon Stunden vor der Ankunft der deutschen Ärzte im Regenwaldhospital von Coroatá warten. Doch die Fünfjährige steht nicht an, weil sie auf einen Operationstermin hofft. Sie will sich bei den Gästen aus Europa nur bedanken. Die Ärzte Jan Esters aus Lüdinghausen und Michael Sollmann aus Essen haben sie vor eineinhalb Jahren am Hals operiert. Eine Verwachsung hatte dazu geführt, dass sie den Kopf nicht mehr bewegen konnte. Heute ist die schmerzhafte Wucherung so gut wie verschwunden. Dafür werden die Ärzte aus Deutschland mit einem strahlenden Lachen empfangen – und ganz herzlich gedrückt. Die beiden Plastischen Chirurgen betonen übereinstimmend: „Deshalb machen wir das.“ Schwester Veronica versteht dieses Engagement nur zu gut: „Viele nehmen Hunderte von Kilometern Anreise auf sich, weil sie wissen, dass wir versuchen, ihnen zu helfen.“ Aber nicht in allen Fällen können die Mediziner aus dem fernen Deutschland etwas machen. Die fünfjährige Olivia ist extra drei Tage zuvor nach Coroatá gereist, hat stundenlang bei fast 40 Grad in einer riesigen Schlange gewartet – und muss jetzt leider erfahren, dass ihre Lippen‐ und Gaumenspalte nicht operiert werden kann. Der Grund: Neben der Fehlbildung im Mundbereich hat sie auch noch ein Herzleiden. Sofort werden daher alle Ärzte zusammengerufen, um das Risiko abzuwägen. Die Lippen‐ und Gaumenspalte ist für die Spezialisten aus Deutschland an sich kein Problem, doch für mögliche Herz‐Komplikationen ist das Krankenhaus im brasilianischen Regenwald nicht ausgestattet – es gibt keinen Intensivbereich. Sichtlich berührt schicken die Ärzte die kleine Olivia mit ihrer Mutter wieder nach Hause. Für sie bleibt nur der Trost, dass sie vielleicht in Rio oder São Paulo eine große Klinik finden, die den Eingriff übernimmt – falls die Familie das Geld dafür aufbringen kann. Der Anästhesist Frank Möller aus Herne stellt etwas ernüchtert fest: „Alles, was wir machen, muss zum Vorteil des Patienten sein. Und wenn wir – aufgrund der unzureichenden Ausstattung der Regenwaldklinik – Zweifel haben, dass dieser Vorteil erreicht wird, dann müssen wir es lassen.“ Hessenberger, der Spezialist für Lippen‐ und Gaumenspalten bei Kindern, pflichtet ihm bei: „Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass ein Kind aufgrund unkalkulierbarer Komplikationen in Lebensgefahr gerät.“ Schwester Renate bestätigt, nicht ohne Stolz: „So eine Situation hat es bei uns noch nie gegeben.“ Dass bisher alles so glatt gelaufen ist, dürfte auch ihr zu verdanken sein. Zusammen mit Schwester Veronica hat sie – wenn die Ärzte längst wieder in Europa waren – lange Zeit die Nachsorge gemeistert. Dazu musste sie häufig Hunderte von beschwerlichen Kilometern zurücklegen. Deutschland scheint in diesen Momenten unendlich weit weg. Wenn Schwester Renate im Jahr 2017 aber wieder einmal nach Sießen kommt, dann freut sie sich nicht nur auf die schwäbische Voralpen‐
Landschaft mit ihren sanften Hügeln, sondern vor allem auch auf die guten Gespräche mit ihren Mitschwestern: „Das gibt mir immer so viel.“ Besonders schwärmt sie von Schwester Pietra Löbl, die sich auch als freischaffende Künstlerin einen Namen gemacht hat.