Schweiz am Sonntag, Nr. 126, 10. Mai 2015 GRAUBÜNDEN 37 | «Stress kann gemessen und behandelt werden» Andreas Müller, CEO der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden, und sein Bruder Peter Müller, Chefarzt Kardiologie im Kantonsspital Graubünden, legen morgen die Ergebnisse ihrer Studie «Herz – Hirn – Stress» vor. Die Fachwelt blickt gespannt nach Chur. VON DENISE ALIG Herr Müller, wie sind Sie und Ihr Bruder überhaupt auf die Idee gekommen, die Stressphänomene nach einem Herzinfarkt zu untersuchen? Andreas Müller: Man weiss schon lange, dass Herzinfarkte mit Stress zu tun haben. Die Technik am Herzen selbst ist heute durch Medikamente und hoch spezialisierte Interventionen am Organ weit fortgeschritten, sodass Patienten bereits nach drei bis vier Tagen nach Haus entlassen werden können. Das hinter dem Infarkt liegende Problem – sagen wir mal die Stressphänomene – bleiben aber nach dem Spitalaufenthalt bestehen oder verstärken sich noch. Mein Bruder und ich haben uns einmal darüber unterhalten, ob es möglich sein würde, Stress abzubilden und wie eine angemessene Stressbehandlung aussehen könnte. Daraufhin befassten wir uns in der Gehirn- und Traumastiftung intensiv mit der Frage, ob Stress messbar sein würde. Denn nur mit konkreten Messresultaten, so sagten wir uns, könnten wir eine Objektivierung des Sachverhalts erreichen und damit den Patienten eine wirklich gute Hilfestellung bieten. Ist Ihnen das gelungen? Mit Rücksicht auf die Veranstaltung von morgen will ich natürlich nicht alle Resultate jetzt schon ausplaudern. Ich kann nur so viel sagen: Gewisse Aspekte von Stress können gemessen werden. « Ein Herzinfarkt kann ein traumatisierendes Ereignis sein.» Die wichtigen Aufnahmen des Gehirns zeigten stabile und erklärbare Phänomene. Und, die von uns aus den Messwerten abgeleitete spezifische Stressbehandlung ist – abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten – erfolgreich und nachhaltig. Landläufig stellt man sich vor, dass jemand gestresst ist und deshalb einen Herzinfarkt bekommt. Nach dem Infarkt, so denkt man sich, hat sich der Stress entladen. Ein Herzinfarkt kann im Leben eines Menschen ein sehr einschneidendes und traumatisierendes Ereignis mit erheblichen sozialen und beruflichen Auswirkungen sein. Das Ereignis verstärkt die oft schon vorher bestehenden Stressphänomene der Patienten dramatisch. Sowohl das Ereignis selbst, als auch der davor herrschende Stress werden aber in der Rehabilitation heute nur ungenügend thematisiert und adressiert. Dies steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit den bisher mangelnden Möglichkeiten, Aussagen über die Stressphänomene beim einzelnen Pa- tienten zu machen und ihm zu sagen, welcher Art die mentale Unterstützung sein müsste. Sie wollen die Ergebnisse Ihrer Studie noch nicht im Detail darlegen. Können Sie jedoch die «Übungsanlage» schon verraten? Über einen Zeitraum von drei Jahren wurden insgesamt 86 Patientinnen des Kantonsspitals Graubünden in die Studie aufgenommen. Alle Patienten wurden zu Beginn und nach Abschluss der « Alle Patienten veränderten ihre Stressstrategien hin zu positiver Stressverarbeitung.» ambulanten Rehabilitation von neun Wochen sowie nach einem Jahr klinisch mit verschiedenen gängigen Methoden wie der Fahrrad-Ergometrie und Blutentnahmen untersucht. Als Vergleichskollektiv diente eine Gruppe von 20 klinisch gesunden Menschen. Die Patientinnen wurden nach dem Zufallsprinzip eins zu eins einer aktiven und einer konventionellen Stressverarbeitungsgruppe zugelost. Die Teilnehmer der aktiven Gruppe absolvierten an 25 Tagen ein Gedächtnistraining à 30 Minuten, das überwacht wurde. Zudem führten sie an 20 Minuten pro Tag ein Entspannungstraining durch. Die andere Gruppe erhielt das normale Rehabilitationsprogramm. Waren die Trainings effizient? Das körperliche Training führte zu einer Leistungssteigerung von 15 Prozent. Dieser positive Effekt ist auch nach einem Jahr noch zu sehen. Verglichen mit der Kontrollgruppe von Gesunden zeigte sich aber eine Leistungseinbusse von 14 Prozent bei Frauen und 22 Prozent bei Männern. Die Kontrolle der Risikofaktoren wie Blutfette, Rauchen und Bluthochdruck war während der ersten drei Monate sehr gut. Im weiteren Verlauf verschlechterten sich die Kontrollwerte. Worauf legten Sie und Ihr Bruder bei dieser Studie – übergeordnet gesehen – das grösste Augenmerk? Die Hauptfrage war, wie sich Stress im Gehirn abbilden würde und wie die Erkenntnisse den Patienten zugute kommen können. Zur Erfassung von Stress gelangte die von der Gehirn- und Traumastiftung Graubünden in Zusammenarbeit mit universitären Instituten auf der ganzen Welt entwickelte Methode der evozierten Potenziale zum Einsatz. Was sind evozierte Potenziale? Darunter ist eine Provokationsmethode zu verstehen, mit welcher bei den Patienten mittels Bildern und Klängen bestimmte elektrische Potenziale im Gehirn erzeugt werden, die gemessen werden können. Komplexes Organ: Andreas Müller nimmt in seiner Praxis eine Gehirnmessung vor. OLIVIA ITEM Was für Bilder und Klänge können das sein? Für die Untersuchung verwenden wir ein standardisiertes Set von Bildern und Klängen, die in einer bestimmten Reihenfolge dargeboten werden. Die Kunst bei evozierten Potenzialen ist übrigens die Technik: Bilder und Töne müssen auf die Tausendstelsekunde genau dargeboten und registriert werden. In aufwendiger Arbeit ist es unserer Gruppe gelungen, ein stabiles und präzises Instrument zu entwickeln, welches zuverlässige Ergebnisse ermöglicht. Sie haben es gesagt: Stress ist messbar. Wie wichtig ist diese Aussage für die Wissenschaft? Sehr wichtig, die Fachwelt wird überrascht sein, von dem, was wir morgen vorlegen. Wir haben bewiesen, dass Stressphänomene mit der Methode der evozierten Potenziale erfolgreich provoziert und gemessen werden können. Dies konnte bisher in dieser Art in kei- ner Studie an Herzinfarktpatienten so nachgewiesen werden. Gratuliere! Danke. Aber nicht nur das: Unsere Studie «Herz – Hirn – Stress» zeigt auch, dass nicht alle Menschen gleich auf Ereignisse reagieren. Es kann eher davon ausgegangen werden, dass eine Disposition zu Stressereignissen besteht. Die Behandlung von Stress gelang ebenfalls eindrücklich: Alle Patientinnen und Patienten veränderten ihre Stressstrategien hin zu positiver Stressverarbeitung. Die Patienten, die zusätzlich ein spezifisches Stressverarbeitungsprogramm absolvierten, vermochten die positive Stressverarbeitung länger beizubehalten und entwickelten nachhaltigere Entspannungsstrategien. MORGEN WIRD DAS GEHEIMNIS GELÜFTET Morgen Montag, 11. Mai, präsentieren der Hirnforscher Andreas Müller und sein Bruder, der Kardiologe Reto Müller, im Auditorium der Graubündner Kantonalbank in Chur die Ergebnisse ihrer Studie «Herz – Hirn – Stress». Die Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr. Sie steht unter der Leitung von Professor Walter Reinhart, dem ehemaligen Chefarzt der Medizinischen Klinik des Kantonsspitals Graubünden. Organisatoren sind die Gehirnund Traumastiftung Graubünden und das Kantonsspital Graubünden. Gastreferent ist Professor Roland von Känel, Chefarzt für Psychosomatische Medizin der Klinik Barmelweid (Aargau). (DEA)
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