So beginnen die vier Evangelien

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DONNERSTAG
24. DEZEMBER 2015
Schwerpunkt Eine Lesehilfe zu Weihnachten
Feiertage im Kirchenjahr
So beginnen die
vier Evangelien
Glaube «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu
leben» – Dieser Vers von Hermann Hesse könnte auch über dem Ereignis von Weihnachten
stehen. Mit der Geburt Jesu ist ein neuer Anfang gesetzt. Allerdings beginnen nicht alle vier
Evangelien mit dieser Geburt. Ein Blick auf die Anfänge der Evangelien zeigt Überraschendes.
VON GÜNTHER BOSS
W
enn mich eine Persönlichkeit aus der Musikoder Kulturgeschichte
fasziniert, lese ich gerne Biografien über das Leben dieser
Person. Auf meinem Wunschzettel
steht aktuell eine Biografie über Gustav Mahler (1860 bis 1911). Die Musik
Mahlers, irgendwo zwischen Spätromantik und Moderne angesiedelt,
spricht mich sehr an. Wenn ich dazu
in Stimmung bin, höre ich eine seiner bewegten und emotionalen Symphonien. Auch sein Leben muss äusserst spannend und unkonventionell
verlaufen sein. Seine sprunghafte
Karriere als Dirigent, die Ehe mit
Alma Schindler, seine Krankheiten
und Lebenskrisen – viel Stoff für
eine farbige Lebensbeschreibung.
Zahlreiche Biografien über Gustav
Mahler sind bis heute erschienen.
Sein Leben und Komponieren ist
von verschiedenen Seiten her beleuchtet worden.
Auf den Spuren des Lebens Jesu
An Weihnachten feiern wir
die Geburt des Jesus von Nazaret. Warum nicht auch einmal
eine Biografie über Jesus lesen? Ja, die Weihnachtstage
bieten sich an, der Geschichte
Jesu von seiner Geburt bis zu
seinem Tod nachzugehen. Er
war zwar kein Komponist von
Orchesterwerken, sondern
ein tief religiöser Jude, der
zur Zeitenwende in Palästina
gelebt hat. Er ging als Religionsstifter in die Geschichte
ein. Für die Christenheit ist er
mehr als ein Religionsstifter,
für sie ist er gar der Sohn Gottes. Auch als Sohn Gottes hat
er aber eine ganz weltliche
Geschichte, eine ganz weltliche Biografie, deren Verlauf
man in groben Zügen nachbilden kann.
Zugang eröffnen
Allerdings sind die Biografien über Jesus von ganz anderer Art als zum Beispiel eine moderne Biografie über
Gustav Mahler. Ein zeitgeschichtliches Werk in wissenschaftlicher Methodik über
Jesus liegt uns nicht vor. Jede
Lebensbeschreibung Jesu
muss zurückgreifen auf die
Texte des Neuen Testaments.
Ausserbiblische Zeugnisse
über Jesus von Nazaret sind
nur sehr spärlich vorhanden.
Das Neue Testament selbst
ist, wie die gesamte Bibel, eine Sammlung von mehreren
Schriften. Diese sind wiederum von unterschiedlichem
Charakter und von unterschiedlicher Machart. Und
die Sprache ist rund 2000
Jahre alt und mag uns zunächst in vielem fremd anmuten. So höre ich oft die
Weihnachten modern:
Glasfenster in der Pfarrkirche St. Nikolaus Balzers,
geschaffen von Martin
Frommelt in den Jahren
1982/83. (Foto: Peter Geiger)
Klage, es sei ja so schwer, in der Bi- schlossenes Bild von seinem Leben,
bel zu lesen, es sei mühsam, diese seinem Wirken und seiner VerkünTexte zu verstehen … Gerne möchte digung zeichnen. Mit Recht stellt er
fest, dass dies nur
ich hier eine gewisse Lesehilfe ge«Die biblischen Schriften «im Spiegel der
vier Evangelien»
ben – eine Lesehilsetzen unterschiedliche
möglich ist. Das Traditionell: Weihnachtskrippe in der Pfarrkirche St. Florin Vaduz, geschaffen in
fe zu WeihnachAkzente.»
Neue Testament den 1920er-Jahren von Ferdinand Stuflesser im Grödnertal. (Foto: Wolfgang Müller)
ten, um die Anfänbeginnt mit vier
ge der Evangelien
im Neuen Testament selber erschlie- Schriften, die den Titel «Evangeli- su, also die Zeit, als Jesus bereits et- lium mit dem Stammbaum Jesu. Nur
um» tragen: Das Evangelium nach wa dreissig Jahre alt war. Ganz ähn- Matthäus bringt sodann die Flucht
ssen zu können.
Matthäus, das Evangelium nach lich verfährt das Johannes-Evangeli- nach Ägypten. Er will diesen Jesus
Im Spiegel der vier Evangelien
Markus, das Evangelium nach Lu- um, das späteste
ganz mit der GeDer bedeutende Bibelwissenschaft- kas und das Evangelium nach Jo- der vier Evangeli«Zwei Evangelien bringen schichte des jüdiler Rudolf Schnackenburg hat 1993 hannes. Das griechische Wort en. Es könnte etschen Volkes vergar keine Weihnachtsein wichtiges Buch veröffentlicht «Evangelium» heisst «gute, frohe wa um das Jahr
weben. Er will
geschichte.»
mit dem Titel: «Die Person Jesu im Nachricht». Ein Evangelium ist eine 100 nach Christus
zeigen, dass es
Spiegel der vier Evangelien.» Er eigene Textgattung geworden, die entstanden sein.
sich bei Jesus
möchte darin die Person Jesu cha- es in dieser Form vorher nicht gab. Johannes beginnt sein Evangelium wirklich um den Messias handelt,
rakterisieren. Er möchte ein ge- Alle vier Evangelien berichten über mit dem berühmten Prolog: «Im An- den die Propheten angekündigt hatdas Leben und Wirken Jesu. Und sie fang war das Wort, und das Wort ten. Bei Lukas finden wir von Antun es auf unterschiedliche Weise war bei Gott.» Anschliessend berich- fang an eine deutliche Hinwendung
und mit unterschiedlichen Akzent- tet auch Johannes unmittelbar vom zu den Armen und Ausgegrenzten.
setzungen. Zu allen Zeiten hat dies öffentlichen Wirken Jesu. Eine Ge- Ein Beispiel dafür ist die starke Roldie Theologie fasziniert und be- burtsgeschichte mit Betlehem und le der Hirten in der Geburtsgereichert, dass wir nicht nur ei- Stall sucht man bei Markus und Jo- schichte. Die Hirten waren die
nen Blickwinkel auf die Person hannes vergebens – ein Krippenspiel «Outlaws» der damaligen Zeit. Ein
Jesu haben, sondern vier. mit den beiden Evangelisten ist so- weiteres Beispiel dafür ist das beIrenäus von Lyon nennt die zusagen nicht zu inszenieren.
rühmte Magnificat, das Maria wähvier Schriften im zweiten Der Text des Johannes-Evangeliums rend des Besuchs bei Elisabeth
Jahrhundert
ist sehr stark ge- spricht: «Meine Seele preist die
nach Chrisstaltet und auf sei- Grösse des Herrn, und mein Geist
«Das griechische Wort
tus
das
ne Weise faszinie- jubelt über Gott, meinen Retter. Er
‹Evangelium› heisst
«viergestalrend. Das Geheim- stürzt die Mächtigen vom Thron
‹gute, frohe Nachricht›.» nis von Weihnach- und erhöht die Niedrigen.» (Lk
tige Evangelium». Da es
ten bringt Johan- 1,46.52).
vier Himmelsrichtungen ge- nes in seinem Prolog in einem einzibe, brauche es auch vier gen Satz unter: «Und das Wort ist Im Zentrum steht Ostern
grosse Geister, die über Je- Fleisch geworden und hat unter uns Nur Matthäus und Lukas gestalten
sus berichten.
gewohnt ( Joh 1,14).» Dies ist, wenn also Berichte über die Geburt Jesu.
Nebst den Evangelien fin- man so will, die ganze Weihnachts- Alle vier Evangelisten werden dann
den sich im Neuen Testa- geschichte des Evangelisten Johan- aber sehr viel ausführlicher, detailment auch zahlreiche Brie- nes. Das Wort, von dem vorher in reicher und auch historisch genaufe. Oft wird vergessen, dass abstrakter Weise die Rede war, hat er, sobald es um den Tod Jesu am
die ältesten Texte im Neuen einen menschlichen Körper ange- Kreuz in Jerusalem geht. Dies ist
Testament nicht die vier nommen, ist Fleisch geworden. Und auch erklärbar. Jesus von Nazareth
Evangelien sind, sondern das Wort hat in unserer Zeit und mit hat erst durch Tod und Auferstedie Briefe des Apostels Pau- uns zusammen gelebt, es hat unter hung seine ganze Bedeutung erlus. Man nimmt an, dass uns gewohnt. So knapp und doch langt. Die Jesusbewegung wurde
wir mit dem ersten Thessa- tiefsinnig kann Johannes das Ge- erst nach seinem Tod zahlreicher.
lonicher-Brief den ältesten heimnis der Menschwerdung Gottes So ist es auch verständlich, warum
die Zeit seiner Geburt weitgehend
Text des Neuen Testaments aussagen.
im Dunkeln liegt. Der Erinnerung
vor uns haben. Paulus
dürfte ihn rund 50 Jahre Geburt Jesu bei Lukas und Matthäus näher war für die ersten Zeugen die
nach Christus verfasst ha- Eine eigentliche Geburtsgeschichte Zeit seiner öffentlichen Wirksamben. Allerdings bringen die Jesu bringen nur die Evangelisten keit und sein Schicksal in Jerusalem. Ein Bibelkenner hat einPaulus-Briefe sehr wenige Lukas und Matthäus. Diese
mal gemeint, man könnte
biografische Details über beiden Evangelisten hadie Evangelien auch als
das Leben Jesu. Sie sind ben dabei wohl auf
«Passionsgeschichten
mehr an seiner theologi- ähnliche Quellen zumit ausführlicher Einschen Bedeutung interes- rückgegriffen. Sie
leitung» bezeichnen.
siert. Deshalb ist man für dürften zwischen
Das wichtigste Fest
das Leben Jesu vorwie- Markus und Joalso
der Christenheit war
gend auf die vier Evangeli- hannes,
zwischen
70
denn auch von Beginn
en angewiesen.
und 100 nach
an das Osterfest, die
Keine Geburtsgeschichte
Christus entFeier der Auferstehung.
bei Markus und Johannes
standen sein.
Erst wesentlich später hat
Heute wird das Weih- Allerdings sind ihman, in einer Art Rückpronachtsfest, die Geburt Je- re Schilderungen der
jektion, ein Bild der Geburt Jesu
su, mit viel Aufwand und Geburt Jesu keine historischen Be- entworfen und daraus ein eigenes
«Brimborium» begangen. richte, sondern Legenden. Legen- Fest gebildet.
Die erste Überraschung den, die mit vielen Symbolen und Heute ist das Weihnachtsfest reich
beim Blick auf die Anfän- Anklängen an alttestamentliche befrachtet mit Traditionen und
ge der vier Evangelien ist, Verheissungen gestaltet wurden. Konventionen, die am ursprünglidass zwei von ihnen gar «Legenden» ist hier nicht abwer- chen Sinngehalt oftmals vorbeigekeine Geburtsgeschichte tend gemeint, sonhen. Da tut es gut,
bringen. Das Markus- dern respektvoll, im
die Anfänge der vier
«Die Hirten waren
Evangelium ist das älteste Sinne der altkirchliEvangelien zu lesen,
die ‹Outlaws› der
und
ursprünglichste chen Aufforderung
um wieder die Urdamaligen Zeit.»
Evangelium. Es dürfte um «legenda sunt» – dies
sprünge des Chrisdas Jahr 70 entstanden ist zu lesen! Matthäus
tentums zu entdesein. Markus beginnt mit und Lukas gestalten die Geburtsge- cken. Wo zu viele Ansprüche, zu
den Worten: «Anfang des schichte mit je anderen Akzenten. viel Konsum und Lametta die Tiefe
Evangeliums von Jesus Die Anfänge ihrer Evangelien sind von Weihachten zu verstellen droChristus, dem Sohn Got- wie eine Ouvertüre, sie nehmen we- hen, kann es heilsam sein, sich wietes.» Danach folgt die öf- sentliche Motive des Ganzen vor- der das biblische Leben Jesu vor
fentliche Wirksamkeit Je- weg. Matthäus eröffnet sein Evange- Augen zu führen.