BEGLEITMATERIAL ZUR INSZENIERUNG DIE ZWEITE PRINZESSIN von Gertrud Pigor nach der Bildergeschichte von Hiawyn Oram und Tony Ross Für Menschen ab 5 Liebe Erzieherinnen und Erzieher; liebe Eltern, haben Sie eigentlich schon einmal von dem sogenannten Entthronungstrauma gehört? Mir war dieser Begriff bisher fremd, allerdings spielt er in der von Sigmund Freud angestoßenen Psychoanalyse eine zunehmend prominente Rolle. „Entthronungstrauma“ nennen Psychoanalytiker den Seelenzustand vieler Erstgeborener, die mit der Geburt des Geschwisterkinds nicht mehr die unbestrittene Nummer eins im Leben der Eltern sind. Kurzum: den bislang unangefochtenen Kronprinzen oder Kronprinzessinnen am elterlichen Hof steht die Entmachtung bevor. Dass dieser Umstand bei den Erstgeborenen nicht uneingeschränkt auf Gegenliebe stößt, klingt durchaus nachvollziehbar, muss doch zukünftig nicht nur das Spielzeug, sondern auch Zuwendung, Zeit und Zärtlichkeit geteilt werden. Wofür es allerdings keinen Begriff gibt, ist das umgekehrte Phänomen, dass auch das jüngere Kind Probleme mit seiner Rolle des ewigen Zweiten haben kann. Das Gefühl, als Zweitgeborenes stets zurückstecken zu müssen, wäre nicht verwunderlich, denn Erstgeborene scheinen per se einen fast uneinholbaren Vorsprung zu genießen: In vielen Kulturen werden ihnen eindrucksvolle Geburtszeremonien gewidmet, sie tragen häufig den Vornamen eines Elternteils und üben zudem lange das Recht des Stärkeren aus. Hineingeboren in eine klassische Hase- und-Igel-Situation können die Jüngeren sich auf lange Sicht anstrengen, wie sie wollen - mindestens einer ist immer schon da, der mehr Kraft in den Fäusten und mehr Worte im Kopf und mehr Spiele im Schrank hat. Genau mit dieser Problematik beschäftigt sich die Inszenierung DIE ZWEITE PRINZESSIN – ganz ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit viel Phantasie, Humor und Musik. Davon ausgehend möchten wir Ihnen mit diesem theaterpädagogischen Begleitmaterial eine Ideensammlung an die Hand geben, die Sie nutzen können, um auf spielerische Weise einen gemeinsamen Austausch anzuregen. So geht es nicht nur darum, Kindern so die Möglichkeit zu geben, ihre Gedanken und Gefühle offen zu artikulieren, sondern sich selbst dafür zu sensibilisieren, die Kinder mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen ernst zu nehmen und genau hinzu- sehen bzw. zu hören. Viel Vergnügen dabei, Ihre Stephanie Preuß (Dramaturgin) DIE ZWEITE PRINZESSIN REGIE PUPPEN AUSSTATTUNG ILLUSTRATIONEN KOMPOSITION DRAMATURGIE SPIEL Frank Bernhardt Frank Alexander Engel Sven Nahrstedt Merle Amalia Fechner Jesko Döring Stephanie Preuß Freda Winter PREMIERE 14.02.2016, Kleine Bühne Die Vorstellungsdauer beträgt 55 Minuten Inhaltsabriss der Inszenierung: Es waren einmal zwei Prinzessinnen, die erste und die zweite. Die Schwestern lebten gemeinsam mit König und Königin in einem prunkvollen Schloss. Und wenn sie nicht gestorben sind… endet hier die Märchenromantik! Die zweite Prinzessin hat es gründlich satt, immer an zweiter Stelle zu stehen: Die große Schwester darf scheinbar alles und sie selbst gar nichts. Zu gerne würde auch sie einmal als Erste gemeinsam mit den Eltern dem Volk vom Balkon aus huldvoll zuwinken… Haste, was kannste fasst die zweite Prinzessin daher den Entschluss, die große Schwester loszuwerden. In der Wahl der Mittel ist sie nicht gerade zimperlich und schreckt so auch nicht davor zurück, den bösen Wolf, der einst Rotkäppchen verspeist hat, um Hilfe zu bitten… Inhaltsverzeichnis: 1. Inszenierungsbezogenes Material 1.1 Geschwisterbeziehungen – ein vernachlässigter Faktor in der modernen Erziehung 1.2 Wie Geschwister unser Leben beeinflussen 1.3 Rivalität und Bindung als gegensätzliche Pole von Geschwisterbindungen 2. Theaterpädagogisches Material 2.1 Vor dem Theaterbesuch 2.2 Nach dem Theaterbesuch 2.3 Gefühle (er-)kennen, ausdrücken und ausleben 2.4 Gefühle zulassen und akzeptieren: den bösen Gedanken einmal freien Lauf lassen 1. Inszenierungsbezogenes Material 1.1 Geschwisterbeziehungen – ein vernachlässigter Faktor in der modernen Erziehung Es ist unbestreitbar, dass die Anzahl der Geschwister pro Familie in den letzten Jahrzehnten erheblich abgenommen hat. Familien mit mehr als drei Kindern sind heute bereits eine Seltenheit, dennoch haben auch heute die Mehrzahl der Kinder Erfahrungen mit Geschwistern: Nur ein Viertel der Kinder bleibt bis zum 18. Lebensjahr ohne Geschwistererfahrung, etwa die Hälfte wächst mit einem Geschwisterkind auf, etwa ein weiteres Viertel hat mindestens zwei Geschwister. Es verwundert daher nicht, dass die Forschung zum Gebiet der Geschwisterbeziehungen einen immer prominenteren Stellenwert einnimmt. Anfänge der Geschwisterforschung – die Suche nach strukturellen Einflussfaktoren Die Reflexion über die Geschwisterbeziehungen setzt nicht erst mit der relativ jungen Forschung im 20. Jahrhundert ein, denn sie findet ihren Niederschlag bereits in Mythologie, Religion und Dichtung. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig die Unterschiede und die Rivalität zwischen Geschwistern, wie die Geschichte vom Brudermord von Abel durch Kain im Alten Testament zeigt. Die psychologische Forschung setzte mit Alfred Adler ein, der bereits vor hundert Jahren den Grundstein für die Untersuchung struktureller Variablen wie Geburtsrangplatz und Geschwisterzahl legte. Er beschrieb besonders die Rolle des ersten und des letzten sowie des mittleren Kindes, die er mit unterschiedlichen Charaktermerkmalen in Verbindung brachte. Generell lässt sich sagen, die frühe Geschwisterforschung konzentrierte sich auf die charakterlichen Unterschiede zwischen Geschwistern und suchte deren Erklärung in familiären Konstellationen. Allgemeine Merkmale von Geschwisterbeziehungen Die moderne Geschwisterforschung, die sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, betont die lebensprägende Bedeutung der Geschwisterbeziehungen, die sich nicht nur auf Kindheit und Jugend beschränkt, sondern sich über das gesamte Leben erstreckt und verändert. Man geht davon aus, dass Geschwister in der heutigen Zeit umso mehr aufeinander angewiesen sind, je kleiner die Familien sind und je kurzlebiger die Ehen und Partnerbeziehungen sind. Im Vordergrund der Untersuchungen stehen weniger strukturelle Merkmale wie bei Adler, sondern die Qualität der Beziehungen selbst, deren Veränderungen im Laufe der lebenslangen Entwicklung und die Bedeutung für die Ausbildung von Selbstbild und Selbstwert. Heute erkennt man: Die Geschwisterbeziehung ist die längste, d.h. zeitlich ausgedehnteste Beziehung im Leben eines Menschen und besitzt etwas Schicksalhaftes, weil man sie sich nicht aussuchen kann, sondern in sie hineingeboren wird. Hinzu kommt, dass Geschwisterbeziehungen nicht beendet werden können - sie wirken fort, auch wenn sich die Geschwister getrennt haben oder keine Kontakte mehr stattfinden: Blutsbande und gemeinsame Geschichte bilden ein unauflösliches Band. Hans Goldbrunner, 2011 (stark bearbeitet) 1.2 Wie Geschwister unser Leben beeinflussen Geschwister kann man sich nicht aussuchen. Man hat sie einfach – ob man will oder nicht. Aber was haben unsere Geschwister dazu beigetragen, dass wir zu der Person wurden, die wir heute sind? Erstgeborenes, Sandwich-Kind oder Nesthäkchen – wie bestimmt die Geburtenfolge, was aus uns wird? Für unser Schicksal und den Erfolg in unserem Leben spielt es durchaus eine Rolle, ob wir das älteste, jüngste oder ein Sandwich-Kind sind. Das meint jedenfalls der amerikanische Wissenschaftshistoriker Frank Sulloway. Er nahm mehr als 6.500 Lebensläufe aus den letzten 500 Jahren unter die Lupe und wertete dabei aus, wie sich die Geburtenfolge der Menschen auf ihre Persönlichkeit auswirkt. Eigentlich wollte Sulloway nie Geschwisterforscher werden. Als studierter Historiker beschäftigte er sich Anfang der 1970er-Jahre mit Wissenschaftsgeschichte. Sein Spezialgebiet: Charles Darwin und die von ihm entwickelte Evolutionstheorie. Doch bald ließ ihn bei seinen Studien eine Frage nicht mehr los: Wieso war es ausgerechnet Charles Darwin, der die revolutionäre Theorie veröffentlichte? Die biologischen Grundlagen, die Daten und Beobachtungen der Natur waren allen Naturforschern der Zeit über zwanzig Jahre bekannt. Doch es wagte niemand, sich gegen das herrschende Dogma von Kirche und etablierter Wissenschaft zu wenden. Was macht einen Menschen zum Revolutionär der Wissenschaft? Durch das Studium von Darwins Biografie und der einiger Mitstreiter entwickelte Sulloway die Idee, dass es eine besondere Veranlagung der Persönlichkeit sein könnte, die einen Forscher zu einem wissenschaftlichen Revolutionär macht. Sulloway machte sich an die Arbeit und sammelte von 230 Befürwortern und Gegnern der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts alle Daten, derer er habhaft werden konnte: vom Beruf der Eltern, über die Zahl der Weltreisen, bis zu religiösen Überzeugungen; insgesamt rund 200 Punkte für jede der untersuchten Personen. Diese Daten wertete er statistisch aus – Das Ergebnis war eine große Überraschung: Denn es war vor allem eine Eigenschaft, die sich dazu eignete, vorauszusagen, ob ein Wissenschaftler damals die Evolutionstheorie befürwortete oder ablehnte: der Platz in der Geburtenfolge. Unter den Gegnern fanden sich hauptsächlich Erstgeborene, unter den Verfechtern hauptsächlich Spätgeborene. Spätgeborene sind rebellischer, Erstgeborene konservativer Der Effekt der Geburtenfolge zeigt sich in den Daten zur Evolutionstheorie so deutlich, dass Sulloway beschloss, auch andere wissenschaftliche Revolutionen zu untersuchen. In jahrelanger Fleißarbeit trug er die biographischen Daten von rund 4.000 Personen zusammen, die sich am Disput um insgesamt 28 wissenschaftliche Revolutionen beteiligt hatten – vom heliozentrischen Weltbild des Nikolaus Kopernikus bis zur Relativitätstheorie Albert Einsteins. Überall entdeckt Sulloway dasselbe Prinzip: Erstgeborene sind eher Verfechter des Status quo, während Spätgeborene und besonders die Letztgeborenen neue Theorien unterstützen, die im Widerspruch zur gängigen Lehrmeinung stehen. In seinen Daten findet er sogar einen Zusammenhang mit der Radikalität des Umbruches. Je radikaler die neue Idee, desto wahrscheinlich war es, dass nur Spätgeborene sie unterstützten. Evolutionäre Psychologie Sulloway Ergebnisse passen gut zum Bild, das die sogenannte evolutionäre Psychologie Anfang der 1990er-Jahre entwirft. Nach dieser durchaus umstrittenen Theorie konkurrieren Geschwister um die Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Eltern: Die Erstgeborenen Danach versuchen die Erstgeborenen ihre Stellung dadurch zu festigen, dass sie die Wertvorstellungen der Eltern übernehmen, sich eher konservativ verhalten und ihre Geschwister dominieren. Das erste Kind erlebt eine besondere Situation, da es zunächst die alleinige Aufmerksamkeit der Eltern erfährt und so im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Mit der Geburt eines zweiten Kindes setzt ein „Entthronungstrauma“ ein. Das ältere Kind tut sich oft schwer mit dieser neuen Situation. Damit verbunden ist die Angst, nun nicht mehr im Mittelpunkt des familiären Geschehens zu stehen, zurückgesetzt oder benachteiligt zu werden. Das erste Kind ist nun nicht mehr konkurrenzlos; häufig setzt Eifersucht auf das zweite Kind ein. Die mittleren Kinder Für mittlere Kinder gestaltet sich die Suche nach ihrer eigenen Stellung bzw. Identität am schwierigsten. Etwas überspitzt kann man sagen: Sie kamen zu spät auf die Welt, um die Privilegien und die Aufmerksamkeit zu genießen, die die Erstgeborenen hatten und sie kamen zu früh auf die Welt, um sich alles erlauben zu dürfen, was den Nesthäkchen oft vorbehalten bleibt. Auf der einen Seite profitieren Mittelkinder: Sie sind größer und älter als die jüngeren Geschwister und können somit als Vorbilder fungieren. Von den älteren Geschwistern lernen sie und können Fehler vermeiden, die den Großen bereits Ärger und Leid eingebracht haben. Andererseits fühlen sich mittlere Kinder oft allein gelassen und überflüssig. Manche bleiben im Hintergrund und behaupten sich wenig zwischen den Geschwistern. Sie fordern selten ihre Rechte ein. Ihr Grundbestreben ist es, Anerkennung zu erlangen. Andere Mittelkinder sind lebhaft und quirlig. Bedingt durch ihre Stellung in der Familie sind Mittelkinder oft gute Diplomaten: Sie vermitteln zwischen den Geschwistern und schließen Kompromisse. Die Letztgeborenen Letztgeborene müssen eine Nische finden, um von den Eltern als einzigartig wahrgenommen zu werden. Sie entwickeln sich deshalb häufiger zu experimentierfreudigen, kreativen und auch rebellischen Menschen. Die jüngsten Kinder erleben ihre Geschwister als größer, schneller und geschickter, was beeindruckend bzw. herausfordernd, aber auch belastend sein kann. Mit den jüngsten Kindern wird häufig sehr zwiespältig umgegangen: Nesthäkchen erfahren von den übrigen Familienmitgliedern einerseits Schutz, Rat und Begleitung, werden liebkost und meist besonders verwöhnt. Andererseits werden sie aber auch abgewiesen und herabgesetzt. Die Jüngsten wissen oft sehr schnell, wie sie sich verhalten müssen, um an ihr Ziel zu kommen. Sie möchten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, zeigen dabei nicht selten Charme und sind häufig sehr lebhaft. Sulloway ist sich sicher, den Mechanismus gefunden zu haben, der manche Wissenschaftler zu Konservativen und manche zu Umstürzlern macht. Für den Alltag der meisten Menschen hat die Geburtenfolge nur einen mäßigen Einfluss. Erbanlagen und Geschlecht spielen seiner Meinung nach eine noch mächtigere Rolle. Doch in Situationen des Umbruchs, da ist sich Frank Sulloway sicher, ist der Rang unter den Geschwistern ein entscheidender Unterschied. Matthias Fuchs, Daniel Münter, Lena Rumler, Natascha Williams, 2008 (stark bearbeitet) 1.3 Rivalität und Bindung Geschwisterbindungen als gegensätzliche Pole von Lange gingen Psychologen davon aus, dass wenigstens die Familie für die Kinder eine „gemeinsame Umwelt“ ist; dass also Geschwister durch die Familie in gleicher Weise geformt werden. Eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten widerlegt dieses Bild: Wenn die Familie wächst, dann müssen die Eltern Zeit und Geld auf mehr Köpfe verteilen. Das führt vor allem zu einer Benachteiligung der Mittelkinder. Eine Studie aus den USA zeigt: Sie erhalten über die gesamte Kindheit gerechnet zehn Prozent weniger Betreuungszeit als die Erstgeborenen und die Nesthäkchen. Unterschiede gibt es sogar in der Gesundheitsversorgung: Die Wahrscheinlichkeit, gegen Masern geimpft zu werden, sinkt bei jedem Kind um bis zu 20 Prozent – so eine britische Untersuchung. Auch wenn Eltern es vermeiden wollen: Meistens entwickelt sich eines der Kinder zum Lieblingskind. Rund die Hälfte der Mütter gibt in Studien zu, ein Kind zu bevorzugen, meistens das jüngste. Die Kinder selber sind da sensibler: Bis zu zwei Drittel berichten von parteiischen Eltern. Jedes von mehreren Geschwistern erlebt also gewissermaßen eine andere Familie, weil es von den Eltern anders behandelt wird, oder sich zumindest anders behandelt fühlt. Dazu kommt, dass jedes Kind in einer Familie Geschwister hat und die Auseinandersetzung mit ihnen die Persönlichkeit auf einmalige Weise formt. Geschwister grenzen sich ab Typische für die meisten Geschwisterbeziehungen ist eine tiefe emotionale Ambivalenz, d.h. das gleichzeitige Vorhandensein von intensiven positiven und negativen Gefühlen. Diese Erkenntnis kann als wichtigstes Ergebnis der neueren Geschwisterforschung bezeichnet werden. Als primäre Beispiele lassen sich hier Geschwisterliebe und Rivalität bezeichnen: Die emotional häufig negativ besetzte Rivalität wird als das auffälligere Merkmal von Geschwisterbeziehungen angesehen, da es Vorstellungen von harmonischen Familien widerspricht. Feindseliges Verhalten versetzt Eltern häufig in Angst und führt oft dazu, dass sie Anstrengungen unternehmen, um es zu vermeiden oder den familiären Frieden auf schnellstem Wege wieder herzustellen. Diese Haltung beruht jedoch auf einer problematischen Grundannahme: Es wird nicht selten davon ausgegangen, dass Aggressivität an sich bereits negativ ist. Dagegen sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Rivalität auf dem gesunden Prozess der Differenzierung und Abgrenzung in einem familiären Umfeld beruht, das weitgehend von Gemeinsamkeit geprägt ist: Geschwisterforscher haben beobachtet, dass die Kinder in einer Familie bemüht sind, sich voneinander abzugrenzen. Die Wissenschaftler sprechen von De-Identifikation: Geschwister suchen sich unbewusst eine Nische, eine einmalige Rolle im Gefüge der Familie und versuchen so die maximale Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern zu erhalten. Besonders später geborene Geschwister suchen Nischen und entdecken Räume, die in der Familie noch nicht besetzt sind. Darum gibt es neben dem stillen Musterschüler oft den wilden Rabauken in der Familie. In der rivalisierenden Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern geht es darum, Unverwechselbarkeit und Individualität zu entwickeln. Dieser Prozess der Differenzierung gestaltet sich umso schwieriger, je mehr von den Eltern und dem sozialen Umfeld die Ähnlichkeiten zwischen den Geschwistern und die familiäre Kohäsion hervorgehoben werden, mit denen sich gewöhnlich die ältesten Kinder am stärksten identifizieren. Verbindende Werte, Leitbilder und Rollenerwartungen erzeugen eine Atmosphäre, die von engem Zusammenhalt und Konformität geprägt ist. Der Konformitätsdruck wird durch Vergleiche zwischen Geschwistern noch erhöht, bei denen einzelne Kinder als Vorbilder hingestellt werden. Kinder werden mit Botschaften konfrontiert wie: „Nimm dir ein Beispiel an deiner älteren Schwester!“, dabei sind heute Anstrengungen, anders als die Geschwister zu sein, heute wichtige Mechanismen, um als Individuum anerkannt zu werden. Verschiedenheit befreit bis zu einem gewissen Grad von dem Zwang zur innerfamiliären Anpassung. Wohlwollende Akzeptanz statt Maßregelung Das Ausmaß an Geschwisterrivalität ist erheblichen Schwankungen unterworfen. Benachteiligungen und fehlende Zuwendung durch Eltern und Erzieher können den Kampf um Anerkennung und damit Rivalisieren verstärken. Entgegen allgemeinen Erwartungen lassen sich heftige Konkurrenzkämpfe besonders in Familien beobachten, in denen auch eine sichere Elternbindung vorhanden ist. In diesem Prozess spielen jedoch die Reaktionen der Eltern eine erhebliche Rolle. Die wohlwollende Akzeptanz des Machtkampfes, die nur bei bedrohlichen aggressiven Aktionen interveniert, fördert auf längere Sicht die Überwindung der Rivalität mehr als ängstliche Beschwichtigungsversuche. Hans Goldbrunner, 2011 (stark bearbeitet) 2. Theaterpädagogisches Material (Möglichkeiten der Vor- und Nachbereitung) In unserem theaterpädagogischen Begleitmaterial beschäftigen wir uns mit der Geschwisterrivalität, wie sie auch in der Inszenierung sichtbar wird. Eine große Rolle spielt hierbei die Wahrnehmung und Akzeptanz der unterschiedlichen Bedürfnisse von Geschwisterkindern. Böse Gedanke zu haben - Gefühle, wie Wut, Hass und Missgunst - sind normal! Gerade Geschwisterbeziehungen zeichnen sich durch widersprüchliche Gefühle zueinander aus; man empfindet gleichzeitig Liebe und Ablehnung für seine Geschwister. Diese Gefühle entstehen oft aus der Verletzung der Bedürfnisse, z.B. fehlender Anerkennung des Kindes als eigenständigen Charakter. Das solche Gefühle auch eine Berechtigung haben, sollte von Erwachsenen unbedingt vermittelt werden. Reden Sie mit den Kindern über die Situationen, in denen emotionale Disharmonien sichtbar werden und suchen Sie nach alternativen Verhaltensmöglichkeiten. Die Kinder gewinnen darüber Vertrauen und Sicherheit. Es fällt Kindern oft sehr schwer, über ihren starken, inneren Konflikt zu reden. Oft schämen sie sich selbst für ihre Gedanken, Gefühle und unsoziales Verhalten, wie im Falle der zweiten Prinzessin. Manchmal scheitert es aber auch daran, dass Kinder selbst nicht ausdrücken können, was sie warum fühlen. Ihnen fehlen die Worte für das, was da gerade eben „ein seltsames Gefühl im Bauch“ auslöst. Wenn Kinder keinen Weg der Selbstbefreiung finden, kann da Auswirkungen auf die Konzentration und das innere Gleichgewicht haben und nicht zuletzt zu aggressivem Verhalten führen. Unser theaterpädagogisches Material liefert deshalb auch spielerische Impulse zum Thema „Gefühle“. Die folgenden Spiele, Übungen, Geschichten und Bastelanleitungen sind Impulse und möchten Sie dazu einladen, sich mit den Kindern auf spielerischem Weg mit dem Stück und den dazugehörigen Themen auseinander zu setzen. Sie können unsere Vorschläge natürlich jederzeit abwandeln und auf den Alltag der Kinder beziehen. Viel Spaß beim Entdecken und Ausprobieren, Ihre Marlen Geißler und Sabine Oeft (Theaterpädagoginnen) 2.1 Vor dem Theaterbesuch Zum Einstieg: STOPP - Wie geht es weiter? Erzählen Sie den Kindern die Ausgangsgeschichte. Überlegen Sie gemeinsam, wie die Geschichte weiter gehen könnte. Was könnte die zweite Prinzessin tun, um endlich erste zu werden? (Hier dürfen alle Ideen geäußert werdenauch Böse.) Hilft ihr vielleicht jemand dabei, ihren Plan, Erste zu werde, in die Realität umzusetzen? Gibt es jemanden, der sie davon abhalten könnte? Wie könnte die Geschichte weitergehen und enden? Die Kinder können ihre Ideen aufmalen und schließlich zu einer eigenen Bildergeschichte zusammenlegen. Anschließend können die Szenen nachgespielt werden. Interessant ist es, die eigenen Ideen mit der Inszenierung des Puppentheaters zu vergleichen. Auswertung: Kennen die Kinder die Situation des „Zweite(r)-Seins“ bzw. die kleine Schwester oder der kleine Bruder zu sein? Oder kennen sie vielleicht auch die Situation der ersten Prinzessin? Wie finden sie es, Erste(r) oder Zweite(r) zu sein? Was stört sie daran? Was ist eigentlich ganz gut? Wie gehen sie mit Ungerechtigkeiten um? Wie reagieren sie, wenn man mal etwas nicht haben kann, was der Andere/die Andere hat? Hatten sie vielleicht schon einmal heimlich den Gedanken, dem (älteren) Geschwisterkind eins auszuwischen und so vom Thron zu schubsen? 2.2 Nach dem Theaterbesuch „Aber die hat ein viel größeres Stück Kuchen als ich….“!- Die Bedürfnisse von Kindern Jedes Kind braucht eine individuelle Behandlung gemäß seiner Bedürfnisse und altersentsprechenden Fähigkeiten. Kinder im Vorschulalter brauchen die Unterstützung von Erwachsenen, um ihre Gefühle, Bedürfnisse und Interessen zu erkennen und zu benennen Was Kinder wirklich brauchen, erfahren Sie in dem folgenden „imaginierten“ Brief der zweiten Prinzessin an ihre Eltern! Die darin enthaltene Mitmachgeschichte lädt dazu ein, über das Thema Gefühle und Bedürfnisse ins Gespräch zu kommen und kommt dem Bewegungsdrang der Kinder nach. Spielerischer Einstieg: Mitmachgeschichte für Kinder und Erwachsene Setzen Sie sich mit den Kindern in einen (Stuhl-)Kreis und lesen Sie den Kindern zum Einstieg den Brief der zweiten Prinzessin vor. Bitten Sie die Kinder auf folgende Wörter zu achten und entsprechend zu reagieren. Immer wenn sie das Wort Torte hören, machen sie einen entsprechenden Laut (z.B. „mhm“, alternativ funktioniert auch lautes Schmatzen) und reiben sich genüsslich den Bauch, als hätten sie gerade gegessen. Bei dem Wort Ich müssen alle Kinder zunächst ganz schnell aufstehen und mit ausgestreckter Hand springen und sich anschließend ebenso schnell wieder setzen, um weiter zu hören zu können: Liebe Mama Königin, lieber Papa König, liebe Grüße von der Klassenfahrt! Heute waren wir in einer Tortenfabrik. Mama, in einer richtigen Tortenfabrik. Da gab es Schokoladentorte, Erdbeertorte, Sachertorte, Schwarzwälderkirschtorte und sogar eine richtige Prinzessinnentorte, aus Himbeer-Marzipan und Sahne. Wie damals zum Geburtstag der ersten Prinzessin. Wisst ihr noch? Ich weiß es noch ganz genau! Ich schreibe euch heute diesen Brief, weil…weil… ich euch schon immer mal was sagen wollte, aber nie wusste wie… Also: Könnt ihr euch noch erinnern, als sich die erste Prinzessin neue rosa Schuhe mit einer goldenen Schleife gewünscht und sie auch bekommen hat? Ich wollte damals auch neue Schuhe, am liebsten Turnschuhe, weil ich doch so gerne im Wald herumrenne. Stattdessen hab ich ihre alten Schuhe bekommen… Also, ich hab das damals ziemlich ungerecht gefunden. Ich hätte auch gerne meine eigenen Schuhe gehabt. Ich bin doch jemand anderes, oder? Zumindest bin ich auf keinen Fall wie meine Schwester, in deren Schuhen ich dann gesteckt habe. Und dann war da ja noch die Sache mit der Torte: Ich hatte an diesem Tag so eine Lust auf diese leckere Himbeer-Marzipan-Sahne-Torte, ich liebe Himbeer-Marzipan-Sahne-Torte. Papa hat uns je ein Stück gegeben. Während die erste Prinzessin ein riiiiiesiges Stück bekommen hat, habe ich ein viiiiiel, viel, viel kleineres bekommen. Menno! Das ist so unfair gewesen. Aber ihr habt gesagt, dass ich viel kleiner sei und gar nicht so viel essen könne. Ich schwöre, ich hätte es geschafft, wenn ihr mich gelassen hättet. Aber ihr habt ja noch nicht mal gefragt, wie groß mein Stück sein soll. Zu allem Überfluss musste ich zur Strafe wegen der Tortensache zu Hause bleiben, während ihr mit der ersten Prinzessin schwimmen gefahren seid. Ich habe vieles einfach nicht verstanden, weil ihr mir es nicht erklärt habt. Ihr habt immer nur gesagt: „Das ist so!“, aber niemals erklärt, warum. Manchmal hab ich gedacht, dass ihr die erste Prinzessin viel lieber habt als mich. Ihr habt immer nur gesagt: „Die erste Prinzessin kann schon schwimmen!“ Aber hättet ihr mich gefragt, was ich kann, dann hätte ich euch gezeigt, dass ich Handstand kann- auch wenn mir das im Wasser nix genützt hätte. Aber ich kann auch viele Dinge, die die erste Prinzessin nicht kann. So, ich muss jetzt wieder weiter. Ich habe euch lieb! Eure erste zweite Prinzessin P.S. …Ich habe drei Stück Himbeer- Marzipan-Sahne-Torte gegessen! Auswertung: Kommen Sie anschließend in ein Gespräch über Gefühle und Bedürfnisse. Wem geht es genauso? Wie fühlt sich das an? 2.3 Gefühle (er-)kennen, ausdrücken und ausleben Vorhang auf für die……wütende Prinzessin! Überlegen Sie gemeinsam, welche Gefühle und Wünsche bei der zweiten Prinzessin in dem Stück sichtbar wurden. Schaffen Sie eine kleine Auftrittssituation (z.B. ein Vorhang oder zwei Tische hochkant aneinander gestellt). Vielleicht finden Sie auch das ein oder andere Prinzessinnen- oder Prinzenkostüm, damit sich die Kinder verkleiden können. Nun dürfen die Kinder raten. Ein freiwilliges Kind geht hinter den „Vorhang“ und kommt als ein(e) Prinz/ Prinzessin mit einem bestimmten Gefühl/Gesichtsausdruck wieder heraus. Die Kinder überlegen, welches Gefühl das ist. Notieren Sie sich das Gefühl. Erweiterung: Gefühlszwilling (lebendiges Gefühls-Memory) Die Kinder tun sich paarweise zusammen. Das (Zwillings-)Paar einigt sich auf ein Gefühl, das sie beide darstellen. Sie überlegen sich, was ganz typisch für das Gefühl ist. Woran (an welcher Körperhaltung, Gestik, Mimik) erkennt man das Gefühl? Nun wird das Paar – das zuvor den Raum verlassen musste – gebeten, die Kinder nach bewährtem „Memory“-Muster aufzudecken. Dieses Paar tritt gegeneinander an. Achten Sie darauf, dass die Kinder gut verteilt – am besten in Reihen zu einem Quadrat stehen. Wer die meisten Paare gefunden hat, hat gewonnen. Dabei nennt Kind X den Namen eines Kindes, das seine Gefühlsgeste zeigen soll. Das Kind bleibt einen Moment stehen. Nun nennt dasselbe Kind einen anderen Namen. Und? Hat es den Gefühls-Zwilling gefunden? Auswertung: Die Kinder lernen, dass es viele Gefühle gibt und dass die gleichen Gefühle manchmal unterschiedlich aussehen können und auch unterschiedlich interpretiert werden können. Sie lernen auch, dass es verschiedene Stufen zu geben scheint, wie stark ein Gefühl sein kann. Erweiterung: Wenn ich wütend/traurig/neidisch bin, dann wünsche ich mir…. In einem weiteren oder separaten Schritt können Sie gemeinsam mit den Kindern überlegen, was sie brauchen, was ihnen gut tun würde (= Bedürfnisse), damit sie nicht mehr wütend, traurig, sauer, müde, gelangweilt oder neidisch fühlen. Die Kinder lernen so vielfältige Strategien kennen, mit ein und demselben Gefühl umzugehen. Hilfe für die „zweite Prinzessin“ Erinnern Sie sich mit den Kindern an die Situationen, in denen sich die zweite Prinzessin ungerecht behandelt fühlte. Wie drückt sie ihre Wut aus? Wie hätte sie noch reagieren können? Was denkt ihr, hätte sie gebraucht/hätte sie sich gewünscht in dem Moment? Die Ideen der Kinder werden direkt ins Rollenspiel umgesetzt: Das Kind, das eine Idee einbringt, darf diese mit anderen Kindern vorspielen, wenn es mag. Abschließend fassen sie nochmal alle Ideen (wertungslos) zusammen. Ganz schön viele Möglichkeiten zu reagieren, oder?! 2.4 Gefühle zulassen und akzeptieren: den bösen Gedanken einmal freien Lauf lassen 1. „DieallerschrecklichsteschwesteraufderWelt“Zaubertrank Wir brauen einen Wie im Theaterstück, in der die Köchin Margarethe einen SchrumpfZaubertrank braut, brauen Sie auch einen Zaubertrank, durch den sich das unliebsame Geschwisterchen verzaubern lässt: Sie setzen sich in einen Kreis um einen Kochtopf. Nacheinander werfen die Kinder eine imaginäre Zutat hinein und äußern nach folgendem Schema ihren Verzauberungswunsch: Kind 1:„Ich nehme [eine ZUTAT, z.B. Spinat], damit bekommt meine Schwester [KÖRPERTEIL, z.B. eine riesige Nase]“ - Kind 2: „Ich nehme Kakerlaken, damit bekommt mein Bruder riesige Ohren!“ - Kind 3…usw. Nun verrühren sie gemeinsam die Zutaten und erfinden dabei einen Zauberspruch, z.B.: „Eene, meene Schwesternschleim, vorbei ist´s mit dem Ewig-Erste sein[…]!“ Heraus kommt: Die aller schrecklichste Schwester auf der Welt Variante Parallel können Sie die Wünsche der Kinder aufmalen und präsentieren am Ende ein Bild, das alle schlimmen Merkmale vereint. Auswertung: Was ist an eurer Schwester/eurem Bruder richtig schrecklich? 2. Zum Abschluss (nicht nur für Geschwister geeignet) - „Was ich an dir mag“ Die Kinder überlegen sich, ob und was sie an dem Anderen (z.B. dem Geschwisterkind) toll finden. Einzelkinder können erzählen, wie ihr ideales Geschwisterkind aussehen könnte und welche tollen Eigenschaften es besäße. 2.5 Anhang: Sorgenfresserchen selbst gemacht Die Grundfigur lässt sich aus Stoffresten oder farbigem Bastelfilz herstellen. Es sollte schön kuschelig sein, damit das Sorgenfresserchen auch mit ins Bett genommen werden kann. Für das Sorgenfresserchen benötigen Sie: Augen: Filz oder Knöpfe; Haare: Stoff, Filz oder Wolle; Ohren: Stoff oder Filz. Kleine Kinder, die noch nicht nähen, können Filz von der Innenseite auch tackern. Ein Klettband kann den Reißverschluss ersetzt, falls das Einnähen eines Reißverschlusses noch zu schwer ist. Achtung: Beachten Sie, dass nur Material verwendet wird, das beim Waschen nicht färbt. Eine ausführliche Anleitung finden Sie unter: http://www.stoffzentrale.ch/fileadmin/Bilder/bilder/Anleitungen_der_Idee n/Sorgen... oder: https://meinekleinigkeiten.wordpress.com/.../anfangernahprojektsorgenfresser/ BEGLEITMATERIAL DIE ZWEITE PRINZESSIN REDAKTION, INSZENIERUNGSBEGL. MATERIAL und LAYOUT Stephanie Preuß THEATERPÄDAGOGISCHES MATERIAL Marlen Geisler, Sabine Oeft FOTOS Jesko Döring INTENDANT Michael Kempchen KÜNSTLERISCHER LEITER Frank Bernhardt PUPPENTHEATER DER STADT MAGDEBURG Warschauer Straße 25 39104 Magdeburg Tel.: (0391) 540 – 3310 www.puppentheater-magdeburg.de THEATERPÄDAGOGIK Sabine Oeft Tel.: (0391) 540-3316 Email: [email protected]
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