Ich habe den Mut zum Leben gewählt

"Ich habe den Mut zum Leben gewählt"
Sakue Shimohira ist am 9. August zusammen mit ihrer jüngeren Schwester und dem Baby
ihrer älteren Schwester in einem Bunker in Nagasaki, als die Atombombe über der Stadt
explodiert. Im Interview schildert sie, welches Grauen sie als Zehnjährige am Tag des
Atombombenangriffs selbst, aber auch in der Zeit danach erlebt hat und wie sie überlebt
hat. Die heute 80-Jährige setzt sich gegen Atomwaffen ein. "Ich möchte, dass die Welt
verspricht, dass sie auf den Krieg verzichtet", sagt Sakue Shimohira.
Das Interview führte Klaus Scherer, NDR, am 16.9.2014.
Klaus Scherer: Wie haben Sie den Krieg erlebt?
Sakue Shimohira: Ich war in der 3.oder 4. Klasse. Bald wurde die Schule wegen des Krieges
geschlossen. Wir sollten in die Bunker gehen, die am Fuße des Berges waren. Wir haben uns
dort versteckt. Kam ein Fliegeralarm, ging man rein und wurde der Fliegeralarm aufgehoben,
kam man raus. Das hat sich wiederholt. Das Problem war, dass wir vom Hunger geplagt
waren. Es gab nichts zu essen. Wir suchten nach essbaren Pflanzen. Dann kam ein
Fliegeralarm. Dann mussten wir schnell wieder in den Bunker reinkriechen.
Und was passierte am 9. August?
Sakue Shimohira: Am 9. August sind wir im Bunker geblieben, weil mein Bruder, der Medizin
studierte, uns gewarnt hatte, dass wir drinnen bleiben sollen, auch wenn der Fliegeralarm
aufgehoben würde. Er erzählte, er habe (Red: von Brandopfern aus Hiroshima, die in
Nagasakis Klinik behandelt wurden) gehört, dass eine neue Bombe in Hiroshima abgeworfen
worden sein soll. Am 9. August sind wir Kinder in einen Bunker gegangen. Der Bruder ging zur
Uni. Meine Mutter holte mit meiner älteren Schwester Löschwasser.
Berichte über Sakue Shimohira:
Testimonies of the Atomic Bomb Survivors (NBC)
Notes from Nagasaki: Sakue Shimohira: My Little Sister Killed Herself. (Website der Organistion
Memories of Hiroshima and Nagasaki--Messages from Hibakusha (atomic bomb survivors)
So hat der Tag angefangen. Wir, die kleineren Kinder gingen zum Bunker. An dem etwa zehn
Meter langen Abhang waren vier Bunker. Als wir ankamen, waren schon sehr viele Leute da.
Die Bunker waren voll. Niemand sagte was, aber ein Baby schrie. Jemand brüllte, „lass' das
Kind nicht weinen, wenn die Amerikaner das hören, schießen sie auf uns“. Die Mutter des
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Babys versuchte das Kind zu stillen, damit es nicht mehr schrie, aber da wir alle unterernährt
waren, kam bei der Mutter auch keine Milch. Das Kind schrie weiter. Viele schimpften auf die
Mutter. Sie wiederholte, "Bitte nicht schreien, bitte nicht ..." und sie drückte den Mund des
Kindes.
Das Kind wurde still, als die Mutter die Hand weg tat. Die Menschen waren beruhigt. Aber das
Kind rührte sich nicht mehr. Die verzweifelte Mutter wusste nicht, dass sie dem Kind auch die
Nase zugehalten hatte. So war der Krieg. Die Menschen starben nicht nur durch Bomben,
sondern auch durch die Rücksichtnahme auf andere, wie bei dieser Situation, von der ich
jetzt erzählte. ... Ich bitte Sie das zu wissen, wenn Sie das nicht wussten, dass das ein Krieg
ist.
Sie sind mit Ihrer Schwester im Bunker geblieben, obwohl der Fliegeralarm aufgehoben
wurde, richtig? Und dann, was ist dann geschehen?
Sakue Shimohira: Ja, ich wollte aus dem Bunker raus. Ich war zehn Jahre alt. Meine
Schwester war acht Jahre. Ich trug auf dem Rücken ein Kind, das Kind meiner älteren
Schwester. Wir wollten rausgehen, aber in diesem Moment sagte meine jüngere Schwester,
man solle nicht rausgehen. In Hiroshima solle eine Bombe gefallen sein, nachdem der
Fliegeralarm aufgehoben worden wäre. So sind wir dort geblieben. Der Bunker leerte sich.
Fast alle anderen waren weg. Ich habe den Gürtel aufgeschnürt, mit dem das Kind auf
meinem Rücken gebunden war.
In diesem Moment blitzte es wahnsinnig hell. Ich erinnere mich an nichts mehr, außer dass
es blitzte. Dann kam ein stürmischer Wind von draußen rein. Im Bunker waren in diesem
Moment nur einige Menschen. Wir und ein paar Freundinnen, weil wir erzählten, die Bombe
in Hiroshima solle erst nach der Entwarnung gefallen sein. Die Druckwelle schlug die Kinder
an die Wand. Wir lagen dort ohnmächtig. Ich weiß nicht, wie lange ich da lag. Jemand sagte,
wach auf! Ich öffnete meine Augen und was ich sah ... waren Menschen, bei denen die Augen
vorn aus den Augenhöhlen hingen und Menschen, die halb verkohlt waren und die Menschen,
deren Innereien heraus hingen. Sie krochen in den Bunker hinein und baten mich, ein Kind,
um Hilfe. „Hilfe, Hilfe!“ Viele solche Menschen sind gekommen. Es wurden mehr und mehr.
Später hörte ich, dass nach dem Blitz eine Detonation gewesen sein soll, aber ich erinnere
mich nicht daran. Ich war nach dem Blitz so lange bewusstlos, bis so viele unmöglich
zugerichtete Menschen zum Bunker zurückkamen. Ich habe dann nach meiner Schwester
gesucht und nach dem Kind, das ich auf dem Rücken getragen hatte.
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Wissen Sie warum der Fliegeralarm aufgehoben wurde?
Sakue Shimohira: Das Flugzeug „schlich“ lautlos herüber, wie ich später erfahren habe. Man
hörte keinen Fluglärm, so dachte man nicht, dass ein Feindbomber nahte. Erst nach diesem
höllischen Blitz war man darauf gekommen, dass eine Bombe abgeworfen wurde. Da es eine
Entwarnung gab, war man unachtsam. Man fing an, alltägliche Sachen zu verrichten, wie
waschen oder kochen.
Wie war das für Sie als Kind, als nichts mehr in Ordnung war und keine Erwachsenen
mehr da waren, die helfen konnten?
Sakue Shimohira: Ja, warum kam dies alles nach der Entwarnung, dachte ich. Im Bunker die
Menschen, ihre zerrissenen Hautstücke, die am Köper hingen und die halb verkohlten
Menschen schrien nach Hilfe. Ich schrie auch nach meiner Mutter. „Mutti, Mutti.“ Sie kam
nicht. Niemand kam, um uns zu helfen. Ob das wirklich eine Entwarnung war? Ich verstand
nichts mehr. Meine jüngere Schwester lag noch bewusstlos an der Wand und das Kind lag
zwischen der Bunkerwand und einer Strohmatte, die von irgendwoher geflogen war.
Ich wollte sie retten, aber zwischen ihnen und mir lagen die inzwischen gestorbenen
verkohlten Menschen, auf denen ich laufen musste. Meine Beine zitterten. Ich dachte, am
Hals einer Leiche gäbe es eine Lücke, in die ich meinen Fuß hätte aufsetzen können, aber
neben dem Hals war eine andere Leiche, die wie mit Wasser aufgeblasen aussah. Ich
versuchte trotzdem zu laufen. Der Boden fühlte sich so wie ein Sumpf. Ich habe nach der
Mutter gerufen. "Mutti hilf mir. Mutti hilf mir."
Ich dachte, die Bombe fiel in der Nähe meines Hauses. Weit war mein Haus nicht vom Bunker
weg. Mein Bruder war in der Uni-Klinik. Ich habe geschrien nach meiner Mutter, nach meinem
Bruder, so laut wie ich konnte, aber keiner von beiden kam. Stattdessen kamen die furchtbar
zugerichteten Menschen von draußen in den Bunker rein und baten mich um Hilfe. "Bitte
helfen Sie mir" oder "bitte geben Sie mir Wasser." Sie flehten um Wasser. "Wasser bitte".
"Wasser bitte". Ich hatte aber kein Wasser ... nichts.
Ich wollte zu meiner Schwester. Ich musste über die Leichen laufen. Ich erreichte die
Schwester und weckte sie. Sie kam zu sich. Wir umarmten uns und schrien zusammen. "Mutti,
Mutti, Mutti".
Aber wo war das Kind, das Kind unserer anderen Schwester? Wir suchten nach ihm. Wir
fanden ihn zwischen der Bunkerwand und einer Matte. Wir zogen es heraus. Und wir schrien
wieder nach unserer Mutter. Wir weinten schrecklich. Es gab noch ein paar Menschen, die
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lebten, eine Koreanerin und eine andere. Ich weiß nicht mehr so genau. Aber meine
Schwester und ich wollten von dieser Hölle gerettet werden. Wir schrien laut und verzweifelt,
aber niemand ... niemand ist gekommen. Es wurde Abend. Es wurde dunkel. Niemand ist
gekommen. Drei Kinder saßen da eng beieinander, Schulter an Schulter. Wir haben geweint
und noch ab und zu nach der Mutter gerufen. So blieben wir da die ganze Nacht.
Manche Verletzte, hieß es, baten auch um den Gnadentod. Stimmt das?
Sakue Shimohira: Ja, das ist wahr. Es gab Menschen, die fürchterlich verbrannt waren. Es tat
ihnen schrecklich weh. Sie schrien, "töte mich, töte mich". Der Bunker war zehn Meter breit
und fünf Meter tief. Diese Stimmen, "töte mich" hallten darin wider. Wir konnten uns aber
nicht bewegen. Wir hatten Angst. Unsere Zähne klapperten. Wir riefen nach der Mutter, durch
die Nacht. Niemand ist gekommen, um uns zu retten.
Wie kamen Sie nach draußen und was war mit Ihrer Mutter?
Sakue Shimohira: Meine Mutter? Ich konnte sie nicht gleich finden. Unser Haus stand etwa
300 Meter vom Epizentrum entfernt. Sie starb dort in der Nähe. Die Mutter habe ich zunächst
nicht gesehen. Meine ältere Schwester fand ich als verkohlte Leiche. Ihre zwei Hände unter
ihrem Gesicht lag sie auf dem Bauch. Wir wussten zuerst nicht, wer das war. Als wir sie
anfassten, zerbröselten die Knochen. Wir haben die unter dem Gesicht gekreuzten Händen
weg getan und an der Augengegend war erkennbar, dass es die Leiche der älteren Schwester
war. Die Mutter fanden wir dort nicht.
Am nächsten Tag kam der ältere Bruder, der in der Uni-Klinik war, die etwa 800 Meter
entfernt vom Epizentrum stand, um uns zu helfen. Er war selbst völlig verbrannt. Er
umarmte uns. Am selben Tag hat er uns für immer verlassen.
Einen Tag später fand man in der Nachbarschaft zwei verkohlte Leichen. Zwei Frauen. Eine
Nachbarin und unsere Mutter. Man hat nicht sofort erkannt, wer wer war. Jeder soll
behauptet haben, "das ist unsere Mutter" bei ein und derselben Leiche. Beide waren so
verkohlt, dass man die eine nicht mehr von der anderen unterscheiden konnte. Meine Mutter
hatte eine goldene Zahnkrone. So soll man sie erkannt haben, als man in ihrem Mund
nachschaute. Als man die Leiche der Muter fand, war ich im Bunker und rief nach ihr. Ich
habe ihre Leiche nicht gesehen. Sie wurde von den Verwandten gefunden.
Wie fing dann wieder so etwas wie Leben an, bei denen, die überlebt hatten?
Sakue Shimohira: Bald wurden solche Kinder wie wir von den jeweiligen Verwandten
abgeholt. Manchmal getrennt von ihren Geschwistern. Aber wir drei Kinder wurden
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zusammen von Geschwistern unserer Eltern auf dem Land aufgenommen, wo wir zu Fuß
hinliefen.
Nach der Ankunft wurden wir von drei verschiedenen Familien aufgenommen. Die Toten
meiner Familie - also mein Bruder, meine ältere Schwester und meine Mutter - wurden von
Erwachsenen geborgen. Die Leichen sollen zusammengebröselt sein. Die Kinder sollten sie
nicht mehr ansehen müssen.
Bald verlor ich die Haare. Mir fielen alle Haare aus. Ich bekam Nasenbluten. Normalerweise
spürt man, wenn das Blut durch die Nase läuft. Ich habe aber nichts gespürt. Ich fand einfach
das Blut auf dem Schoß. Die anderen machten einen Bogen um mich. Sie sagten, ich wäre
schmutzig. Bald kam blutiger Stuhl. Meine Tante sagte, "um Gottes Willen, das Kind hat eine
ansteckende Krankheit". Sie ging mit mir Krankenhaus. Man hat mich isoliert. Meine
Schwester, die ein wenig weg von mir bei anderen Verwandten wohnte, verlor auch alle Haare.
Sie bekam auch den blutigen Stuhl. Auch sie wurde isoliert. Die Strahlenkrankheit war noch
nicht bekannt. Das kleine Kind [ihr Neffe, die Red.] bekam weniger davon ab. Es wurde nicht
isoliert.
Ab wann wusste man, dass das mit der Bombe zu tun hatte?
Sakue Shimohira: Man hatte überhaupt keine Ahnung, was diese Symptome verursachte. Ich
war in der 5. Klasse in der Landschule. Meine Schwester wurde von anderen Kindern
schikaniert. Sie wollte mit mir nach Nagasaki zurückgehen. Ich sagte ihr, "in Nagasaki haben
wir nichts mehr". Sie weinte aber und wollte nach Hause, was immer das war. So sind wir
1946 allein nach Nagasaki zurückgelaufen. Der Stadtteil in Nagasaki, wo wir früher wohnten,
war dem Erdboden gleich gemacht. Überall lagen noch viele weiße Knochen der von der
Atombombe getöteten Menschen verstreut. Wir legten diese Knochen beiseite und machten
Platz für eine Hütte für uns. Wir drei Kinder sammelten Bruchstücke von verbranntem
Zinkblech, die auf der Brandstätte lagen, und bauten eine kleine Hütte. Natürlich ohne Strom,
auch ohne Wasser. Es gab auch kein Essen. Wir sammelten Speisereste von den
Besatzungssoldaten, Brotstücke oder übriggelassene Würstchen und so weiter. Wir haben
auch gewartet, bis sie welche wegwarfen.
Das Sterben hat nicht aufgehört. Die Kranken starben an der Strahlenkrankheit. Ihre
Schwester hatte beschlossen, dass sie nicht mehr leben wollte. Wie ging das alles weiter?
Sakue Shimohira: Ja, die Menschen starben durch rätselhafte Krankheiten. Wir wussten
nicht, dass wir verstrahlt waren. Meine Schwester hatte eine Wunde am Bauch. Es gab aber
überhaupt kein Medikament. Die Wunde am Bauch war entzündet. Die Maden kamen in die
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Wunde und fraßen das befallene Fleisch. Es gab kein Medikament. Man konnte nichts
machen. Eines nachts, es war stockdunkel, da wir kein Licht hatten, hörte ich ein Geräusch in
dieser Dunkelheit. Ich wunderte mich, was das sein könnte. Es war das Geräusch, das die
Maden verursachten, als sie das verfaulte Bauchfleisch meiner Schwester fraßen. Sie bat
mich, diese Maden wegzumachen. „Schwesterchen, tu die weg. Die fressen mich. Es tut weh."
"Ja, das tue ich gern, aber es ist zu dunkel. Ich sehe nichts. Warte, wenn die Nacht vorbei ist,
morgen früh tue ich die Maden weg.“
Als es hell wurde, sagte ich, "Nun tue ich Dir die Maden weg." Als sie aufstand, fielen die
dicken Maden herunter, die sich durch die Nacht von meiner Schwester voll gefressen hatten.
Aber ich sagte ihr, "es ist schlimm, aber wir halten zusammen durch." Ja, das habe ich gesagt.
Ich hatte kein Geld. Ich konnte sie nicht zum Arzt bringen. Wir holten die Essensreste aus
dem Müll der anderen. Jeden Tag dachte ich, der Tod holt uns heute oder vielleicht morgen,
aber wir hielten doch zusammen durch. Ich dachte, wir müssen weiter leben.
Die Shiroyama-Grundschule verlor 1.400 Kinder durch die Atombombe. Sie machte vorläufig
zu. Die Yamazato-Grundschule hatte wieder den Schulbetrieb aufgenommen. Ich wurde in
die 6. Klasse aufgenommen. Meine Schwester in die 4. Klasse. Herr Dr. Nagai machte uns Mut.
"Haltet durch und lebt weiter", sagte er.
Ihre jüngere Schwester hat dennoch nicht durchgehalten. Wie kam das?
Sakue Shimohira: Damals brachten sich fast jeden Tag Schüler um. Am Tag zwei oder drei.
Und es wurden immer mehr. Das hat meine Schwester gesehen. Sie sagte, "Schwesterchen
wir gehen zu der Mutter." Wir lebten nun zu zweit, weil ein Onkel den Neffen aufgenommen
hatte. Die Schwester sagte, "wie die Jungen werfen wir uns auch vor den Zug". Ich sagte,
"nein, das tun wir nicht. Wir haben doch überlebt. Wir leben auch das Leben der Mutter mit".
Aber eines Tages ist sie nicht mehr von der Schule zurückgekommen. Ich habe mich
gewundert. Wo soll sie hingegangen sein? Dann rief jemand, "Ein Mädchen hat sich vor den
Zug geworfen!" Ich bin hingelaufen. Heute ist es dort abgesichert, aber damals war es offen.
Sie hat sich dort vor den Zug geworfen. Ihr Kopf war abgeschnitten. Ihre Arme auch. Die
Zugräder haben alles überrollt. So lag ihre Leiche total nackt da. Die Füße waren auch weg.
Blutbeschmiert war sie tot. Sie hat sich vor den fahrenden Zug geworfen. "Warum hast Du
dich umgebracht! Warum hast Du dich umgebracht! Du hast mich allein gelassen!" Ein
Beamter vom Rathaus brachte eine Kiste und einen Fahrradanhänger. Ich sammelte ihre
Körperstücke zusammen. Der abgeschnittene Kopf lag vor meinem Fuß. Ich hob ihn auf und
tat ihn in die Kiste. Jemand zog den Fahrradanhänger, dem ich bis zum Krematorium folgte.
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Danach wollte ich mich auch umbringen. Aber als ein Zug nahte, bekam ich Angst. Wie
konnte meine Schwester diese Angst ausgehalten haben? Ich habe auf den nächsten Zug
gewartet. Als ich die Dampfpfeife ertönen hörte, dachte ich, es ist nun so weit. Ich stand an
den Schienen. Dann zitterte ich unheimlich. Ich sprang zurück. Wie konnte sich meine
Schwester vor den fahrenden Zug werfen? Sie hatte allen Mut zusammengenommen, um zu
sterben. Um zu leben braucht man auch Mut. Meine Schwester hat den Mut zu sterben
gewählt und ich den Mut zu leben. So lebe ich noch.
Wie ging ihr Leben danach weiter?
Sakue Shimohira: Ja, nun war ich allein. Aber der kleine Neffe lebte noch. Mein kleiner Neffe
und ich machten uns gegenseitig Mut. Wir sammelten wieder essbare Pflanzen. Kennen Sie
den Gänsefuß? Er gibt pechschwarzen Saft ab. Wir haben ihn gewaschen und gegessen. Dann
haben wir den Bohnenabfall geholt. Wir haben gegessen, was die anderen wegwarfen.
Meine Schwester hatte nicht mehr so leben können. Ich sagte oft, wir schaffen das, aber ich
konnte sie nicht überzeugen. Hätte ich doch auch sterben sollen? Wäre ich auch gestoben,
wäre die Familie ausgelöscht gewesen. Wer opfert dann an dem Grab Blumen? Auch als
einzige der Familie werde ich leben, dachte ich. Ich habe den Mut zum Leben gewählt. Meine
Schwester den Mut zum Sterben. Schade. Ich möchte eigentlich, dass sie noch lebt. Wenn sie
doch noch ein wenig länger auf ihrem Leben beharrt hätte, hätte sie doch einen neuen Weg
gefunden.
Wofür kämpfen Sie heute?
Sakue Shimohira: Ich wählte den Mut zu leben, so kann ich heute meine Aufgabe tun, den
Menschen, die den Krieg nicht kennen, zu erzählen, wie grausam Atomwaffen sind. Das ist
die Dummheit der Menschen. Wenn man einmal verstrahlt wird, wird man nie wieder ein
gesunder Mensch. Alle inneren Organe, die verstrahlt werden, bekommen verschiedene
Krankheiten. Im ganzen Körper entstehen Tumore. Der Körper geht von innen kaputt. Ich
möchte, dass wir die letzten Menschen sind, die verstrahlt worden sind. Ich möchte, dass die
Welt verspricht, dass sie auf den Krieg verzichtet. Ich hoffe, die Menschen versuchen
zusammenzukommen und einander zu verstehen. Dafür arbeite ich. Ich reise, so lange ich
kann, und versuche die Anti-Atomwaffen-Idee zu verbreiten.
Übersetzung: Masumi Schmidt-Muraki
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