20 17 A-Z Herausgegeben von Salomon Hörler und Helene von Schwichow 2017 Ein spekulatives Glossar Herausgegeben von Salomon Hörler und Helene von Schwichow Mit Illustrationen von David Leimstädtner und einem Nachwort von Stephan Porombka Satz und Gestaltung von Madeleine Klein Academic Victims Leute, die in der „Academic trap“ gefangen sind. Statt in ihrem eigentlichen Berufsfeld zu arbeiten, müssen sie überqualifiziert und unterbezahlt einen Job annehmen, der weder ihrem Bildungsgrad noch ihren Interessen entspricht. 2 0 1 7 . A 1 antividuell Weder Mainstream noch Indie. Weder H&M noch C&A. Auch nicht P&C, Zara oder COS. Einfach anders als die anderen, die immer bloß anders als die anderen sein wollen. 2 0 1 7 . A 2 Nach Aperol Spritz und Hugo sind nun Drinks wie Whiskey Sour, Million Dollar oder Silver Fizz mit rohem Eiweiß in der Cocktailgourmet-Szene angesagt. Aperol Jizz 2 0 1 7 . A 3 ari no mama de (ありのままで) Japanisch übersetzt „so wie ich bin.“ Ari no mama de ist das neue #yolo, sehr beliebt als Motiv auf T-Shirts von Urban Outfitters. Instagram zeigt unter #arinomamade über 3.700.000 Bilder an. 2 0 1 7 . A 4 Arolex Morgens Aronal, abends Elmex, mittags Arolex. Dentalhygiene für Lunchliebhaber. Tubendesign: zitronengelb. 2 0 1 7 . A 5 Ästhetiksalon 2 0 1 7 . A 6 Es geht nicht mehr um deine Frisur. Es geht um deinen Lifestyle. Astroplayer Astroplayer schlägt Global Player, Marketing Myopia Zwei Punkt Null. Red Bull hat als erster die Zeichen der Zeit erkannt. 2 0 1 7 . A 7 Back-to-reality 2 0 1 7 . B 1 Von Virtual Reality überwältigt, lautet das neue Erlebnisprogramm: Echtzeit genießen. Eine Rückbesinnung auf das Leben ohne Google Glass und Oculus Rift. Die Augen werden wieder dafür genutzt, Dinge in Echtzeit und ohne Second Screen zu betrachten. BAMs - best aging moms 2 0 1 7 . B 2 Mütter ü48. (to) beyonce sth. Etwas aufwerten. 2 0 1 7 . B 3 Blackwashing 2 0 1 7 . B 4 Betreiben weiße Menschen, die gerne schwarz wären. Michael Jackson ist jetzt acht Jahre tot. It still seems to matter if you’re black or white. (Vgl. Whigger = White Nigger) Bloggagement Macht deinen Blog zu Geld. Der Bloggager garantiert Unterstützung bei der Monetarisierung all deiner Posts. 2 0 1 7 . B 5 Bodyhaircolorist 2 0 1 7 . B 6 Körperbehaarung ist wieder in. Deshalb eröffnen Friseursalons, die sich größtenteils auf das Frisieren von Scham-, Achsel- und Beinhaaren konzentrieren. Burn In Strategie, einen Job anzunehmen, der offensichtlich auf Selbstausbeutung angelegt ist, und ihn innerhalb kürzester Zeit so zu sabotieren, dass dem jeweiligen Arbeitgeber langfristig ein erheblicher Schaden entsteht. 2 0 1 7 . B 7 Mega erfolgreich und total scharf aussehende Chief Executive Officerette. CEOpatra 2 0 1 7 . C 1 Zustand der vollkommenen Entkopplung. Cloudlos 2 0 1 7 . C 2 Conference Bike 2 0 1 7 . C 3 Bier Bike minus Zapfanlage. Crap Chinesische Trapmusik. 2 0 1 7 . C 4 Crowd Control (CC) Digitale Form der Demokratie. 2 0 1 7 . C 5 Crowdfunding You 2 0 1 7 . C 6 Wir. Finanzieren. Dich. Weil Du es uns wert bist. Datascrooge 2 0 1 7 . D 1 Jemand, der extrem geizig bei der Herausgabe seiner Daten ist. Digital suicide Durch Facebook induzierte Depressionen sind als etabliertes Krankheitsbild im Alltag angekommen. Manchmal scheint der einzige Ausweg der digitale Selbstmord zu sein: #ds 2 0 1 7 . D 2 Fleisch aus dem Reagenzglas. Dollysteaks 2 0 1 7 . D 3 Drone Boning 2 0 1 7 . D 4 Pornographie, die mit Hilfe einer Drohne produziert wird. Dunst Disziplin und Kunst. Oder Nebel. 2 0 1 7 . D 5 Solange etwas für mich Sinn macht, ist es gut für mich. Eigensinn 2 0 1 7 . E 1 Einländer Menschen, die ihr Geburtsland noch nie verlassen haben. 2 0 1 7 . E 2 Emo-CV Trend unter jungen Leuten, ihre Lebensläufe bei Bewerbungen nur noch mit Emojis zu schreiben. 2 0 1 7 . E 3 Facebook führt mit FaceCash einen neuen Weg der Bezahlung ein. Lieblingseis, Biomilch oder Laptop via Smartphone kaufen. Schluss mit nervigem Kleingeld und Kartenzahlung. Facebook wird zu einem noch besseren Freund. FaceCash 2 0 1 7 . F 1 Eine Person, die man datet, um gut auszusehen. Fakelove 2 0 1 7 . F 2 Flame Internet-Berühmtheit. Kurzes Aufflackern eines Gesichts im Feed, einmal neu laden, schon wieder erloschen. Aber drei Sekunden lang haben sich Millionen Leute da draußen ihren Klickreflexen hingegeben. 2 0 1 7 . F 3 Flashbachelor 2 0 1 7 . F 4 Hypnosebasierte Vermittlung von Lehrinhalten eines kompletten Bachelorstudiengangs: Drei Sitzungen à 30 Minuten (je 60 ECTS). Festangestellt ist deine Mutter. Freibeiter 2 0 1 7 . F 5 Tinder für Freundschaft. Frinder 2 0 1 7 . F 6 Gedroned Per Drohne übermittelt. 2 0 1 7 . G 1 Online-Präsenzen von Verstorbenen. (Nicht zu verwechseln mit Smartphonezombies) Ghost 2 0 1 7 . G 2 (einen) G.R.R. Martin machen 2 0 1 7 . G 3 Alle massakrieren. Wirklich alle. Ein Mensch, der bedingungsloses Grundeinkommen bezieht. Grundi 2 0 1 7 . G 4 Das sogenannte Human Internet Protocol steht auf jedem Personalausweis und auf der Geburtsurkunde aller Menschen, die seit dem 01.01.2016 geboren wurden. Die H-IP definiert deine digitale Persönlichkeit und ermöglicht es, die Metadaten der Vorratsdatenspeicherung direkt den richtigen Menschen zuzuordnen. H-IP 2 0 1 7 . H 1 Krankheitsbild: Nackenbeschwerden durch falsche Nutzung des mobilen Endgerätes. Handykopf 2 0 1 7 . H 2 Ausdrucken, abheften, Papierflieger basteln. Das kann man alles vergessen. Vom Einkaufsbon bis zum Mietvertrag. Eine Hardcopy kostet immer extra. Hardcopy 2 0 1 7 . H 3 v Holoporn Mehr 3D als beim Holography-Porn gibt es nicht. Dabei sein ist alles, wie bei den Bundesjugendspielen. 2 0 1 7 . H 4 Adams Apple iChurch 2 0 1 7 . I 1 Ja oder Nein? Chatten ist nicht mehr. Instabang 2 0 1 7 . I 2 Interpassivität Anstatt selbst zu genießen, bezahlt der Interpassive Andere dafür. 2 0 1 7 . I 3 Trend, Mikrokameras an bzw. in den Geschlechtsteilen anzubringen und die Filme nach dem Geschlechtsverkehr im Netz hochzuladen und bewerten zu lassen. Intraporn 2 0 1 7 . I 4 Kand Genmanipulierte Katze, die immer noch süß aussieht, aber nicht mehr die Eigenbrötler-Charakterzüge aufweist, die man Katzen vorwirft. Der „Kand“ ist eine süße Katze, die gerne Gassi geht, jault, weil sie ihr Herrchen vermisst, mit dem Schwanz wedelt, wenn sie sich freut und Bälle bringt. 2 0 1 7 . K 1 Die App für Paare, die ein Kind adoptieren wollen und für Sebastian Edathy. kinder 2 0 1 7 . K 2 Konsumme Die Summe aller Konsumenten, die einen bestimmten Artikel gekauft haben. 2 0 1 7 . K 3 Kreuzgesellschaft Früher: Parallelgesellschaft 2 0 1 7 . K 4 Nicht Latergram, sondern Latermom: Durch Social Freezing kann Frau das Muttersein so lange aufschieben bis es die Work-Life-Balance oder die Vorgesetzten zulassen. (siehe auch: BAMs) Latermom 2 0 1 7 . L 1 Livelife Alles durch digitale Endgeräte Erfasste und in Echtzeit Gestreamte. Oder eine Lebensform. Dem Digitalen entsagend. Das Analoge präferierend. 2 0 1 7 . L 2 LoverBlocker 2 0 1 7 . L 3 Die Möglichkeit die/den Ex mit Hilfe einer App aus sämtlichen sozialen Netzwerken verschwinden zu lassen. Lucker Aus Langeweile und Frust werden immer mehr junge Leute zu Spielern oder auch zu „Luckern“, die versuchen, ihre verpassten Möglichkeiten mit dem Spiel um Geld auszugleichen. Spielen wird zum Trend, der Trend spiegelt sich auch in der Mode wider: Immer mehr Würfel- und Goldbarren- muster sind in der Stadt zu sehen. 2 0 1 7 . L 4 Maskulizisten 2 0 1 7 . M 1 Männer, die bei Demonstrationen der Katholiken, Antisexisten und Homophoben versuchen, ihre bemalten Penisse noch vor den Brüsten der FEMEN ins Bild zu schieben. Me-YouBalance Das Individuum steht an erster Stelle. Man muss auf die Me-You-Balance in Beziehungen achten, um noch genug Zeit für sich selbst zu haben. 2 0 1 7 . M 2 Der aus Japan stammende, lochlose Bagel sieht aus wie eine frittierte Taschen-Calzone und ist der neue Stern am Streetfood-Himmel. Nikuman 2 0 1 7 . N 1 Noganer Bewegung zumeist junger Leute, die davon ausgehen, dass man auch Pflanzen unnötige Schmerzen zufügt, wenn man sie als Essen zubereitet, etwa Korn mahlt, Erdbeeren pflückt oder Kartoffeln aus dem Boden reißt. Noganer verzichten deshalb nicht nur auf tierische, sondern auch auf pflanzliche Produkte jedweder Art. 2 0 1 7 . N 2 Omni-Foodie 2 0 1 7 . O 1 Ein Alles-Esser, Bewegung gegen Veganer, Frutarier und Noganer. Oniversities Online studieren an Oniversities. Das angesagteste und bei Arbeitgebern angesehenste Studium am Puls der Zeit. 2 0 1 7 . O 2 Rückgang der permanenten Smartphone Nutzung im Beisein anderer. Komplimente statt “likes”, Diskussionen statt “comments”, Umarmen statt „swipen“. Open-eyessocialize 2 0 1 7 . O 3 Phaelous Wortkreuzung aus „Phone“ und „jealous“. Eifersucht auf die Zuneigung, die der Partner seinem Handy entgegenbringt (vgl. Phonecrush). 2 0 1 7 . P 1 Verknallt ins Handy. Phonecrush 2 0 1 7 . P 2 PIY Plot it yourself. 3D-Drucker für jeden. 2 0 1 7 . P 3 Gegenbewegung zum Plastikkonsum, die aus dem Bewusstsein für die Schädlichkeit von Plastik entsteht. Plastsick 2 0 1 7 . P 4 PostPostivimus Post-Präfixe sind so 2015. Inzwischen traut man sich tatsächlich neue Bezeichnungen zu verwenden. 2 0 1 7 . P 5 Sie haben Bunker unter der Erde, Vorräte für Jahre und ein UmkehrosmoseGerät. Wenn der Atomkrieg kommt, sind sie prepared. Prepper 2 0 1 7 . P 6 Quantilativ Eine Mischform aus quantitativ und qualitativ; bedeutet das perfekte Mittelmaß gefunden zu haben. Umgangssprachlich auch für „irrelevant“. 2 0 1 7 . Q 1 Stundenlange, gar tagelange RapOrgien. Zustände die man sonst nur von Techno-Raves kannte. Statt Drogen fließen Energy-Drinks. Raverap 2 0 1 7 . R 1 Re.fugee Digitaler Flüchtling. Vor allem Menschen, die durch digitale Zensur und dem Ausschluss aus dem Internet ihre Datenströme durch andere Länder leiten müssen und Websites in Tonga (.to) anmelden. 2 0 1 7 . R 2 Der Versuch, sowohl das virtuelle-, als auch das offline-Ich konsistent darzustellen und dabei beide zur Deckung zu bringen. realisieren 2 0 1 7 . R 3 Refumate Flüchtling, mit dem man seine Wohnung teilt. 2 0 1 7 . R 4 Ein japanisches Unternehmen bei dem Haustiere ausgeliehen werden, löst das Platz- und Zeit-Problem der Stadtbewohner. Von Hunden, Katzen, Kaninchen, Vögeln bis hin zum Frettchen ist für jeden was dabei. Rent-a-pet 2 0 1 7 . R 5 Retro-WG WGs werden immer älter. Menschen Mitte 30 entscheiden sich bewusst, wieder in WGs zu ziehen. Oft auch: „Academic Victims“. 2 0 1 7 . R 6 Sapiosexuell 2 0 1 7 . S 1 Geist macht geil. Schlipster Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Schlipster nicht von einem gewöhnlichen Anzugträger. Lediglich die Tatsache, dass er statt eines Aktenkoffers immer noch einen Jutebeutel über die Schulter hängen hat, verrät seine Vergangenheit. 2 0 1 7 . S 2 Ersatz für Ebay Kleinanzeigen und die Tauschbörse der BSR. App für Dinge, die eigentlich keiner mehr haben will. Eine Mischung aus Mülltonnen durchsuchen und Schrottwichteln. Shindern 2 0 1 7 . S 3 Smartheart Früher: Näh dir dein iPhone ans Herz. Jetzt: Näh dir dein Herz an dein iPhone. 2 0 1 7 . S 4 Kreditwürdigkeit, die nur durch die Analyse von Profilen in sozialen Netzwerken definiert wird. Dank der Vorratsdatenspeicherung, H-IP und Klarnamen-Pflicht, ist durch den social proof Bankbetrug unmöglich geworden. social proof 2 0 1 7 . S 5 Themenstruieren In den Umlauf Bringen von unbedeutenden bzw. nicht bedeutungsschwangeren Themen. 2 0 1 7 . T 1 Timunication 2 0 1 7 . T 2 Mischform aus Timing und Communication: die richtige Kommunikation zur richtigen Zeit. Tinderesting Man empfindet eine Person als tinderesting, wenn man sich mit ihr zwar eine gemeinsame Nacht vorstellen kann, sie aber zugleich für nicht dialogfähig hält. 2 0 1 7 . T 3 Tinderkinder 2 0 1 7 . T 4 Selbsthilfegruppe. Jetset- und Yuccie-Singles auf digitaler One-Night-Stand-Jagd. Ihnen geht es um das schnelle Kennenlernen und vor allem um das bzw. den/die Nächste. Der kurze Nervenkitzel beim Offline-Treffen zählt, der Sex wird eher zur Nebensache. Tingles 2 0 1 7 . T 5 Transface Bezeichnung für die Besetzung eines Transgender Filmcharakters mit einem Darsteller oder einer Darstellerin, der/die nicht transsexuell ist. 2 0 1 7 . T 6 Trendsgender 2 0 1 7 . T 7 Temporäre Anpassung der Geschlechtsidentität an Modetrends. VHS Nach Vinyl feiert jetzt die VHS ihr großes Revival. Denn umständlich ist cool. 2 0 1 7 . V 1 Xenofeminismus 2 0 1 7 . X 1 Netzaffinität, Gender-Hacking und Entfremdung. Auch abseits des Sports wird Testosteron aus Thailand bestellt. Nicht um prächtige Muskeln zu züchten, sondern um körperliche Differenzen aufzulösen. YODA You Only Do Anal. 2 0 1 7 . Y 1 Peinliches Wort, das von erwachsenen Feuilletonlesern aus der Teenagersprache übernommen wird. Beispiele aus vergangenen Zeiten: SWAG, YOLO, CHABO. Yologismus 2 0 1 7 . Y 2 Yuccie Die einst positiv konnotierte Bezeichnung „Young Urban Creative“ gilt auf der Straße nicht mehr als Ehrenzeichen, sondern wird als Beleidigung neben Wörtern wie Hipster, Hurensohn und Arschgeige verwendet. 2 0 1 7 . Y 3 zersmashed 2 0 1 7 . Z 1 kaputt, fertig, durch Das Nächste, bitte. Ein paar Erklärungen zum 2017 Projekt von Stephan Porombka 1. Bücher haben mittlerweile nur noch drei, vier Monate Zeit, um die richtigen Verkaufszahlen zu erreichen. Schaffen sie es nicht, verwandeln sie sich in Mängelexemplare und wandern in den Ramsch. Das wird diesem Buch nicht passieren. Es hat Zeit bis 2017. Und wenn es sich nicht gut verkauft, wird es sogar an Wert gewinnen. Denn je weniger Leute von seiner Superkraft wissen, um so wertvoller ist es für die wenigen, die es besitzen und nutzen, um genau die Trends zu verstehen, Produkte zu entwickeln und Märkte zu besetzen, die von heute aus gesehen in zwei Jahren wichtig sein werden. Wie es das schafft, ist natürlich ein Betriebsgeheimnis. Doch ist einiges davon so offensichtlich, dass es in seinen Grundzügen genauer erläutert werden kann. 2. Zum einen fehlt den Leuten, die für „2017“ verantwortlich zeichnen, die Angst, bloß das zu produzieren, was man gemeinhin Quatsch nennt. Sie machen ihn einfach. Und zwar mit Methode. Denn wer auf den so genannten Quatsch setzt, setzt sich über die Gebote und Verbote hinweg, die das so genannte ordentliche Denken vorschreibt. Wenn erst einmal nichts zu flach, nichts zu blöd und nichts zu peinlich ist, hat man neue Bewegungsspielräume zur Verfügung. In diesen Räumen hat sich seit jeher die Vernunftkritik ganz wohl gefühlt. Aber nicht, weil die Vernunft darin vollends abgeschafft ist. Im Gegenteil. Sie optimiert ihre Funktion. Weil sich alles als vernünftig Geltende in diesem Spielraum überraschend anders beobachten lässt, ist die Vernunft über sich selbst immer wieder so aufgeklärt worden, dass sie sich selber neu verstehen konnte. Das klappt so gut, weil der so genannte Quatsch nicht das Gegenteil der Vernunft ist, sondern als Rückseite zu ihr gehört. Er verabschiedet sich nicht von der Wirklichkeit, um in einer unbehaftbaren Gegenwelt zu verschwinden. Alle Voraussagen für die nächste Zukunft, die in diesem Buch zu finden sind, sind nur deshalb Voraussagen für die nächste Zukunft, weil sie mit dem spielen, was die Gegenwart zur Verfügung stellt. 3. Die So-genannte-Quatsch-Strategie arbeitet also nicht frei schwebend. Sie hakt sich in geltende Ordnungen, Konventionen, Verabredungen, Selbstverständlichkeiten ein und spielt mit ihnen herum. Dass es dafür eine ganze Reihe Spielformen gibt, die über Jahrhunderte hinweg in der Literatur und der Kunst evaluiert worden sind, macht diese Strategie so erfolgreich. Es kann beim einfachen Irritieren bleiben, jedoch gehören die versteckte und offene Provokation genau so ins Set der So-genannten-Quatsch-Strategie wie die Konfrontation und die Destruktion. Es wird mit großer Lust zugespitzt, aufgeblasen, übertrieben, verdreht, zerlegt, zerstückelt und zuweilen auch zerstört. Doch wird dabei immer etwas Neues hergestellt, das dem Alten so weit ähnelt, dass man den Unterschied gut bestimmen kann. Auf den kommt es an. Von der Markierung des Unterschieds geht die eigentliche Wirkmacht der So-genanntenQuatsch-Strategie aus. Sie macht keine letzten Vorschläge, die es zu realisieren gilt. Sie definiert kein tragfähiges Programm. Sie macht nicht mal konstruktive Vorschläge. Sie will etwas ganz anderes. Sie operationalisiert Differenzen. Und damit ist der Aufbau und die Erweiterung genau jener Spielräume gemeint, die notwendig sind, wenn man nicht bei dem stehen bleiben will und nicht stehen bleiben kann, was es schon gibt. 4. Fragt man nach dem Betriebsgeheimnis des 2017-Projektes, dann hat es mit eben diesen Spielräumen zu tun, die aus der Operationalisierung von Differenzen mit Hilfe von so genanntem Quatsch entstehen. Konkret heißt das: Man beobachtet die Kultur der Gegenwart im Hinblick auf besonders symptomatische Entwicklungen. Dann rechnet man sie hoch. Dann dreht und spinnt man sie weiter, verdreht sie, übertreibt sie, pointiert sie, bis sie die Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen erreichen. Wichtig ist, dass sie diese Grenze nicht überschreiten. Beim 2017-Projekt hat man es nicht mit utopischen oder dystopischen Entwürfen zu tun, in denen alles nach eigenen Gesetzmäßigkeiten läuft. Es gibt keine eigenartigen Geräte oder Flugobjekte, keine fremden Planeten in fernen Galaxien. Deshalb gibt es auch keine extraterrestrischen Wesen die Millionen Lichtjahre von uns entfernt leben mögen. 2017 ist nicht 3017. Es ist nicht die große Zukunft. Es ist übermorgen. Es ist das, was uns als nächstes erwartet. Dass mit der So-genannten-Quatsch-Strategie die Grenze zum Utopischen und zum Nonsens nicht überschritten und statt dessen konsequent nur an das Nächste und Nächstmögliche gedacht werden darf, garantiert, dass alle Ergebnisse dieser Beobachtungs-, Reflexions- und Imaginationsbewegung ganz strikt mit der Kultur der Gegenwart verbunden bleiben. Das heißt: Die perfektesten Entwürfe, die im 2017-Projekt entstehen, sind jene, die etwas Abstruses erfinden, von dem man im ersten oder zweiten Moment denkt, dass es das doch eigentlich wirklich schon gibt. Wer so entwerfen kann, ist in der Lage, ein dialektisches Spiel mit der Gegenwart und dem Nächsten zu treiben, das zu höheren Aufgaben nicht nur in der Literatur befähigt. Es ist eine Kompetenz, die zur Schlüsselkompetenz in einer Kultur wird, die sich selbst immer schlechter durch Vergangenheits- und Gegenwartsorientierung verstehen kann und sich stattdessen über experimentelle Anordnungen zur Erforschung möglicher Konstellationen vergewissern muss. In den Hochgeschwindigkeitsbranchen der Trendforschung, der Werbung, dem Journalismus, der Unternehmensberatung, der Krisenkommunikation, der Politik und nicht zuletzt beim Militär weiß man längst, was damit gemeint ist. Deshalb wird genau dort die So-genannteQuatsch-Strategie auch immer häufiger angewandt. Wenn auch nicht immer in aller Öffentlichkeit. 5. Auf das Nächste sind die kleinen Entwürfe des 2017-Projekts aber nicht nur deshalb eingestellt, weil sie konkret vor Augen führen, was uns schon bald erwarten mag. Viel wichtiger ist, wie sie es tun. Die So-genannte-Quatsch-Strategie verabschiedet sich nämlich nicht nur von den großen Entwürfen für eine große Zukunft. Sie verabschiedet sich auch von der großen Erzählung. Es fehlt ihr schlicht die Zeit, um etwas auszubuchstabieren. Die alte Futurologie hat noch auf den dicken Roman und das komplexe Szenario gesetzt. Kein Wunder, sie gehört ja auch in ein anderes Medienzeitalter. Die Erforschung des Nächsten, wie sie das 2017-Projekt betreibt, hat nicht vom Buchdruck gelernt, sondern von Instantanmedien wie Twitter, Instagram und Snapchat, in denen die Beiträge immer nur kurz erscheinen, weil sie von neuen abgelöst oder sogar gleich ganz aufgelöst werden. So leicht und schnell und unbehaftbar geht es auch hier zu. Es wird nichts erklärt. Es wird nicht argumentiert und bewiesen. Hier wird getriggert. Jedes Textstück ruft ein nächstes Bild auf, das, wenns gut läuft, eine Irritationsspur hinterlässt, wie sie dem Betrachter der kleinen „GIF“ genannten, im Netz kursierenden Loop-Filmchen für Sekunden eingeschrieben werden: Es sind keine Geschichten, sondern ausgestanzte Storybeats, die im Moment ihres Erscheinens wie Blitze mögliche Erzählverlaufe vor dem inneren Auge aufscheinen lassen. Was hier geboten wird, ist dementsprechend, Sekundenkino für den Kopf zur Erweiterung des Möglichkeitssinns. 6. Wer das begreift, profitiert vom 2017-Projekt am meisten. Denn dann folgt man den Einträgen nicht so, als müsste man jeden genauer prüfen. Man überlässt sich den Blitzen. Und man schaut nicht zurück. Man blättert weiter zum Nächsten. Vor allem greift man selbst zum Stift. Oder zum Smartphone. Um selbst das 2017-Spiel zu spielen. Tatsächlich wurden die hier vorgestellten Einträge dauernd und am laufenden Band in enorm hoher Stückzahl produziert. Alle 2017-MitarbeiterInnen führen ein analoges oder digitales Notizbuch, in das dauernd Einfälle notiert werden, die immer darauf ausgerichtet sind, den Sinn für das Nächste dadurch zu schärfen, dass man sich etwas vorstellt, das die Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen am überraschendsten erweitert. 7. Entstanden ist auf diese Weise im Rahmen des 2017-Projektes im letzten Jahr eine Art Enzyklopädie mit derzeit knapp 12.000 Einträgen. Derzeit kommen täglich rund hundert neue dazu. Was hier im Druck erscheint, sind Einträge, die per Zufallsgenerator ausgewählt worden sind. Dadurch gleicht kein Buch dem anderen. Und schon die nächste Auflage wird wieder völlig neue Kombinationen präsentieren. Den Zugriff auf die komplette Datenbank, die ihre Einträge den Betrachtern mit einem stroboskopartigen Smart-Flash in hoher Geschwindigkeit in die Augen blendet oder von bekannten Synchronstimmen zu Entspannungsklängen vorlesen lässt, bekommt man hier: www.the2017.com Die vierhundert unterschiedlichen Bücher dieser Auflage dienen nicht nur als besonders hochwertige Einladung, sich die Datenbank einmal genauer anzuschauen. Sie laden auch dazu ein, ein eigenes 2017-Notizbuch zu beginnen und gemeinsam mit Bekannten, KollegInnen und KonkurentInnen das 2017-Spiel zu spielen. Denn tatsächlich bieten die ausgewählten Einträge nur an, was es schon gibt. Viel interessanter ist aber, was als nächstes eingetragen wird. Und dafür sind nicht zuletzt Sie selbst zuständig. Autoren Milena Glimbovski Salomon Hörler Madeleine Klein Luisa Klopfer Marc Klopp David Leimstädtner Isabella Martens Stephan Porombka G3 . G4 . H4 . O2 . R1 A4 . C5 . D2 . F3 . H1 . H3 . R2 . S3 . S5 T5 . Y3 I3 . P3 . P5 . S1 . T6 B6 . F1 . F2 . K1 . L3 . L4 . L5 . M1 C2 . D4 . E2 . G1 . H2 . K3 . L2 . Q1 . T1 . T2 C4 . E1 . G2 . I2 . V1 A1 . B2 . L1 . M2 . O1 . O3 . P4 . R6 B7 . E3 . F4 . I4 . N2 . S4 . T7 Daniel Schabert Björn Schönfeld Helene von Schwichow Alexander Stolle Jovanna Ulmschneider Caspar Wallrabe Caroline Whiteley C3 . N1 . S2 . X1 A2 . T3 A3 . A5 . B3 . B4 . D1 . P1 . P2 . R4 . Y2 . Z1 A7 . C1 . D3 . P6 . Y1 A6 . C6 . D5 . F5 . F6 . K4 . R3 . T4 B5 . I1 . K2 B1 . R5 Ein Projekt der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation der Universität der Künste Berlin Vierte Auflage 2015 © 2015 Smoothsciencefiction Verlag, Berlin/Mexiko City Alle Rechte Vorbehalten Umschlag: Salomon Hörler Satz: Madeleine Klein Gesetzt aus der Clifford Pro, SuperGrotesk, Caslon Pro Druck und Verarbeitung: wirmachendruck.de Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Offenbach am Main ISBM: 1027-7102-1270-0712 [email protected] www.the2017.com
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