»Meine Seele erhebt den Herrn« Immer fangen wir Menschen mit Gott etwas an. Solange ein Mensch lebt, macht er etwas mit Gott. – Ich möchte geradezu behaupten: der Mensch ist während seines ganzen Lebens ununterbrochen mit Gott beschäftigt. Er kann nichts machen, ohne dass er etwas mit Gott macht. Meist weiß er es nur nicht: Der Mensch kann Gott als Luft behandeln, tun, als ob er nicht wäre, ihn zu einem Nichts machen, etwas macht man eben mit ihm und aus ihm. Wo man erklärt, man könne nichts mit ihm anfangen, wo man sich nicht um ihn kümmert, ihn verdrängt, da fängt der Mensch an, sich selbst einen Gott zu machen. So erklärt mir ein Mann von fünfzig Jahren in angesehener Stellung: »Nachts um 3 Uhr erwache ich, dann kommen die bösen Erinnerungen.« Erinnern ist eine menschliche Tätigkeit. Aber mit einem Mal können Erinnerungen Macht über uns bekommen, können zum Gott werden, vor allem böse Erinnerungen in schlafloser Nacht werden zu einem Gott, der allmächtig oder übermächtig den Menschen beherrscht. Auch die Angst vor der Zukunft kann zu einem solchen Gott werden. Ein Beispiel: Von allen Seiten drängen Verpflichtungen auf mich ein, auf einmal verwandeln sich diese Verpflichtungen in Berge, die mich – wie Gott – von allen Seiten umgeben, mir immer näher rücken, mich zu erdrücken drohen. Verpflichtungen, Leistungen, Arbeiten können zu einem schrecklichen Gott werden. Zwar habe ich selbst sie irgendwann zum Gott gemacht, aber nun werde ich sie nicht mehr los. Das dürfte deutlich sein: ein solcher Gott ist nicht der wahre. Der wahre Gott ist nämlich nicht ein Gott, mit dem wir etwas anfangen können, sondern ein Gott, der etwas mit uns anfangen kann. – Ich glaube und behaupte: immer schon hat er etwas mit uns angefangen. Auf der ganzen runden Welt gibt es keinen Menschen, mit dem und für den dieser Gott nicht schon etwas angefangen hat. Das ist wohl das Beste, was einem Menschen zustößt, dass er aufnimmt, was Gott mit ihm anfing. Wie soll das zugehen? Diese Frage kann ich von mir aus nicht beantworten. Aber ich kann einem Menschen das Wort erteilen, bei dem etwas davon sichtbar und hörbar wird, was Gott angefangen hat mit uns. Es wird der Maria in den Mund gelegt: »Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist frohlockt über Gott, meinen Heiland« (Lk 1,46f). Was hat Gott mit Maria angefangen, dass sie so reden kann? – Und was hat er mit uns angefangen, dass wir ein solches Wort auf die Lippen nehmen dürfen? – Ich blende zurück zum Bericht der Bibel: Die Geschichte, die Lukas erzählt, klingt phantastisch. Der Engel Gabriel habe Maria besucht, sie als Begnadete begrüßt und ihr angekündigt, der Heilige Geist werde auf sie kommen, sie werde den Gottessohn zur Welt bringen. – 132 – aus: Rudolf Bohren - Geistvoll. Hrg. von Rudolf Landau. © Calwer Verlag, Stuttgart Ist der Gottessohn erst auf der Welt, verheißt er den Jüngern wiederum ähnliches. Auch über sie soll der Heilige Geist kommen. Wer Pfingsten miterlebt, hört Begeisterte die großen Taten Gottes erzählen. Mit solchem Erzählen »erheben« sie den Gott Israels. Ein Anklang an das Wort der Maria ist – im griechischen Urtext – unüberhörbar. Pfingsten macht deutlich: was Gott in Maria begann, ist der Anfang einer neuen Menschheit. Darum bildet die Reaktion der Maria auf die unglaubliche Botschaft des Engels ein Modell für jeden Menschen, der etwas vom wahren Gott hört. Maria quittiert die märchenhafte Mitteilung des Engels damit, dass sie Gott Recht gibt. Sie wehrt sich nicht gegen das Kind. Sie wehrt sich nicht gegen das, was ihr gesagt wird. Sie tut nichts gegen das, was von Gott her in ihrem Leib wächst. Im Gegenteil. Sie tut zu all dem noch etwas hinzu: »Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist frohlockt über Gott, meinen Heiland.« Es ist im Grunde nicht sehr viel, was sie hinzutut. Gelehrte Schriftausleger meinten, das Lied der Maria wäre wenig originell. Ihr Lied ist montiert aus lauter Sätzen des Alten Testaments. Maria hat keine eigene Stimme. Sie wiederholt nur, was schon Israel auf Gottes Taten antwortete. – Dieser Mangel an Originalität, scheint mir, ist bedeutsam: mehr als Maria müssen auch wir nicht tun. Wir brauchen nur Gott Recht zu geben in dem, was er mit uns anfing und vorhat. Hierbei kann das Wort, das Maria braucht, für uns zu einem Fahrzeug werden, das uns in Gottes Zukunft fährt, wenn wir nur unser ganzes Wesen ins Wort geben. Bevor wir uns in den einzelnen Worten umsehen, müssen wir kurz überlegen, wohin die Reise geht: es ist gut möglich, dass das Lied schon vor Maria gesungen wurde. Ein Ausleger meint, es sei ursprünglich ein Siegeslied nach gewonnener Schlacht gewesen, zuerst von Aufständischen gesungen. Und ein Prediger nennt es »das Lied einer großen Revolution der Hoffnung«. – In der Tat besingt Maria einen Umsturz. Denn sie erhebt, verändert die Machtverhältnisse auf Erden. Die Hohen stürzen, die Niedrigen werden aufgerichtet. Was Gott heimlich anfing, ist nichts anderes als eine Verwandlung dieser Welt, eine Umwälzung aller Verhältnisse, die alle bisherigen Umwälzungen der Menschheit überholt. Das hat angefangen und das wird weitergehen, und wer den Herrn erhebt, nimmt schon teil an der großen Veränderung. Wer mit Maria den Gott Israels als Herrn erhebt, erklärt damit, dass er der wahre Herr der Welt sei. ›Erheben‹ heißt: in die Höhe heben, aufrichten, befördern, applaudieren. Wer den Herrn erhebt, der fängt nun auch etwas an mit Gott. Er lässt den Gott, den die ganze Welt beiseiteschiebt, Gott sein. Wer den Herrn erhebt, behauptet ihn gegen alle Machthaber und Potentaten dieser Welt. Was zart begann, soll vor der Weltöffentlichkeit sichtbar werden: »Er hat Gewaltige von den Thronen gestoßen und Niedrige erhöht« (Lk 1,52). Das Kind, das Maria zur Welt bringt, wird das Alte, die alte Welt, zu Ende bringen und alles neu machen. Daraufhin singt Maria ihr Lied. Dahin wird uns der Wagen ihrer Worte führen, wo Gott aller Menschen Gott wird. – 133 – aus: Rudolf Bohren - Geistvoll. Hrg. von Rudolf Landau. © Calwer Verlag, Stuttgart »Meine Seele«, sagt Maria, und ich sage es ihr nach. – Meine Seele, das sind meine Erinnerungen, meine Ängste, das ist alles, was ich mir selber bin. Meine Seele soll jetzt tun, was Maria mir vorsagt; nichts kann mich hindern, das zu sagen und zu tun: »Meine Seele erhebt den Herrn.« – Wenn ich das sage, erhebe ich nicht mehr die Erinnerungen und die Ängste zu Gottheiten, ich verzichte grundsätzlich darauf, mir einen Gott zu machen, ich will nicht länger ein Schöpfer Gottes bleiben, sondern ein Geschöpf des Schöpfers sein. All dies, was ich bis jetzt zu meinem Gott machte, soll dazu dienen, den Gott dreifaltig zu erheben, der durch Maria zur Welt kam, der seit Pfingsten in Menschenherzen wohnt und der ein Schöpfer einer Erde ist, auf der im Verborgenen Blumen blühen und Liebende einander glücklich machen. – Wenn aber nachts böse Erinnerungen uns quälen, gibt uns Maria ein Schlüsselwort, das die Tür zur Freiheit öffnet. Die Seele lässt sich mit diesem Wort nicht von einem selbstgemachten Gott niederdrücken, sie lässt vielmehr den Gott Israels hochleben, der auch im Dunkeln wohnt. – Wenn mich tagsüber die Anforderungen und Geschäfte aufregen, gibt es in Aufregung und Hetze eine neue Möglichkeit: Meine Seele erhebt den Herrn, den Herrn, der die großen Veränderungen bringt. Das heißt: die Seele lässt sich nicht beengen durch unmögliche Anforderungen. Sie setzt den Gott Israels in Rechnung, dem alles Mögliche und Unmögliche möglich ist. – Den Erinnerungen und der Angst schreibe ich keine Macht mehr zu. Alle Macht traue ich dem Gott Israels zu. Ihn erhebt meine Seele, und wo eine Seele den Herrn erhebt, wird sie selbst erhoben, über sich emporgehoben. Sie bleibt nicht im Schatten sitzen, sie fliegt »zur Sonne, zur Freiheit«, sie wird frei von sich selbst und von den Verhältnissen einer schmutzigen Umwelt. Wer den Herrn erhebt, wird von ihm mitgerissen in eine Höhe, die für den Menschen sonst unerreichbar bleibt. Er ist nun bei dem, der die Welt umstürzt, so dass die Mächtigen vergehn und die Elenden kommen. Das klingt sehr einfach und missverständlich. Den Herrn erheben hat zunächst andere Folgen. Für das Mädchen aus dem Vorderen Orient sind sie aktenkundig. Was wir den Evangelien entnehmen, sind Stationen von Schmerzen: eine Niederkunft im Stall, eine Flucht in ein fremdes Land und die Teilnahme an einer Hinrichtung. An Maria wird deutlich: Wer frei wird von sich selbst und seiner Umwelt, wird frei für das Leiden Gottes, der an den Verhältnissen der Menschen leidet. – Den Herrn erheben ist das Gegenteil von: den Herrn gering achten, ihn als Luft behandeln. Wer von uns anfängt, den Herrn zu erheben, der fängt an, Gott Recht zu geben. Er wird erfahren, wie schwer es ist, Gott Recht zu geben in einer Welt, die ihn negiert und tötet und nichts von ihm wissen will. Wer diesem Gott Recht gibt, wird wie Maria Stationen von Schmerzen durchlaufen. Möglicherweise wird sein Leben zu einer Karwoche werden, und er wird nichts haben als Jesu Wort, das selig spricht, die Leid tragen. Wer Gott Recht gibt, gibt dem gekreuzigten Gott Recht, und wer den Herrn erhebt, trägt mit am Schmerz Gottes, am Schmerz darüber, dass er von den Menschen wie Luft behandelt und verstoßen wird. Er trägt mit am Schmerz darüber, dass die Schöpfung dieses Gottes von den Menschen malträtiert wird und so viele menschliche Geschöpfe Gottes unmenschlich behandelt werden. Freilich kann diesen Schmerz Gottes kein Mensch anders tragen denn als eigenen Schmerz. Maria leidet, wenn sie – 134 – aus: Rudolf Bohren - Geistvoll. Hrg. von Rudolf Landau. © Calwer Verlag, Stuttgart gebiert, wenn sie flieht, wenn sie ihr Kind sterben sieht. Sie trägt den Schmerz Gottes als menschlichen, als eigenen – privaten – Schmerz. Kein Mensch kann alles Leid der Welt, kein Mensch kann den Schmerz Gottes leiden. Auch wir können den Schmerz Gottes nur im Detail des eigenen Schmerzes tragen; nur wird dieses Detail anders, wo eines Menschen Seele wie Maria den Herrn erhebt. Wer Gott Recht gibt, hat schon etwas von ihm, hat etwas Neues von ihm, hat eine neue Gerechtigkeit, der fängt an, ein neuer Mensch zu sein, ein neuer Mensch für eine neue Erde. Ein neuer Mensch hat auch – einen neuen Schmerz. Im Detail des eigenen Schmerzes leidet er daran, dass Gott immer noch nicht aller Menschen Gott ist. An Maria wird deutlich, wie dieser neue Schmerz aussieht. Was Maria als eigenen Schmerz erleidet, wird nicht Wehleidigkeit sein oder Selbstmitleid, sondern Schmerz des Karfreitags, der Schmerz des Menschen, der von sich selbst befreit ist für den andern und den einen. Dieser neue Schmerz aber weiß: der Gott, der Maria erhebt, macht alles, aber auch alles neu, und so kann dieser Schmerz übergehen in die Freude. Ich denke, kein Mensch wird’s der Maria im Ernst nachsprechen: »Meine Seele erhebt den Herrn«, der nicht auch sagen lernte: »Mein Geist frohlockt über Gott, meinen Heiland.« – »Mein Geist«, das ist – wie Luther sagt – »das Haus, da der Glaube und Gottes Wort innewohnt.« Dieses Haus ist jetzt bis in den letzten Winkel mit Freude erfüllt. Man kann auch sagen: Die Freude, das ist die Höhe, in die der gerät, der den Gott Israels erhebt. Und die Freude bleibt nicht stumm. Sie kann nicht schweigen. Sie muss sich äußern, sich mitteilen. Mit ihrem Geschrei begrüßt sie den kommenden Gott. Aber wie soll das bei uns werden? Wie soll das zugehen, dass der Geist eines Menschen ein Haus wird und erfüllt mit den Rhythmen der Freude? Man bedenke: Gott hat angefangen, uns Freude zu machen, als er sprach: »es werde«, und es ward. Alles, was er gemacht hat, hat er sehr gut gemacht, hat er zu unserer Freude gemacht. – Gott hat angefangen, uns Freude zu machen, als er Israel erwählte unter den Völkern wie eine Braut, um mit Israel auch uns zu erwählen aus allen Völkern, uns bräutlich erwählte zu seiner Freude. – Gott hat angefangen, Freude zu machen, als der Engel zu Maria kam. Er hat angefangen, uns zu besuchen, er hat angefangen, bei uns zu wohnen, damit die Freude bei uns häuslich werde. – Aber die Menschen wollten diesen Besuch nicht. Er störte sie. Er musste weg. Er durfte nicht leben. – Gott hat angefangen, uns Freude zu machen, als er alles Leid der Welt in seinem Schrei sammelte, den er hinausschrie in die Nacht. – Gott hat angefangen, uns Freude zu machen, als er brauste vom Himmel her und niederfiel, pfingstlich auf die Apostel; was die Apostel erfuhren, soll die ganze Menschheit erfahren: alle Menschen werden von Gott begeistert sein. – Alles, was Gott anfängt, fängt er an, dass die Freude wachse in der Welt. Wie der Frühling die Felder begrünt, so wird die Freude Gottes die Erde begrünen. In Gottes Neuheit wird unser Schmerz neu, damit die Freude neu werde. – Wer das Wort der Mutter Maria wiederholt und nachspricht wie ein Kind, wird merken: bei ihm beginnt Gottes Zukunft, die Zukunft der Freude: »Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist frohlockt über Gott, meinen Heiland.« – 135 – aus: Rudolf Bohren - Geistvoll. Hrg. von Rudolf Landau. © Calwer Verlag, Stuttgart Ich habe einmal versucht, das Wort der Maria zu übersetzen und neu zu umschreiben. Vielleicht, dass es dem einen oder anderen hilft, sich dem Wort anzuvertrauen, das ihn in die neue Zeit mitnimmt. Was unter meine haut ging meine psyche die ausgebeutelte sinnt und rühmt hebt hoch lässt hochleben der mich überwältigt und mein geist das alte haus gerät aus dem häuschen summt und singt pfeift lärmt und demonstriert des gottes wegen der mein retter ist mich in eine neue zeit reißt zeit schenkt mir neue Aus: Trost, S. 22–29 – 136 – aus: Rudolf Bohren - Geistvoll. Hrg. von Rudolf Landau. © Calwer Verlag, Stuttgart
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