Am Anfang ist Beziehung

Am Anfang ist Beziehung
Christian Hagen
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Am Anfang ist Beziehung
Christian Hagen
Liebe Gemeinde,
am Anfang ist Beziehung. Das sagt der jüdische Philosoph Martin Buber. Am Anfang ist
Beziehung. In der westlichen Welt haben wir das leider vergessen. Wir halten uns alle für
Individuen, die auf sich allein gestellt sind – hineingeworfen in eine unbarmherzige und
harte, eine gefährliche und bedrohliche Welt. Wenn wir schon keine Ahnung von Philosophie
haben, so kennen wir zumindest einen ihrer Kernsätze, die ins allgemeine Bewusstsein
durchgedrungen sind: „Cogito, ergo sum! Ich denke, also bin ich.“ Diesen Satz hat Rene
Descartes vor 400 Jahren geprägt. Er wurde aus dem Zweifel geboren. Descartes erkannte,
dass der Mensch nichts mit Sicherheit wissen kann; alles kann bezweifelt werden. Am Ende
seiner Gedanken sagte er sinngemäss: Wenn ich schon nichts weiss, so weiss ich doch, dass
ICH es bin, der nichts weiss. Und das, was da denkt, das bin ICH. Ich denke, also bin ich.
Mit dieser Aussage veränderte er die europäische Geistesgeschichte. Das Individuum war
geboren. Das ICH war plötzlich zentral für das philosophische Denken. Zuvor hatte man noch
gesagt, es gäbe objektive Wahrheiten. Fortan aber konnte sich das ICH auf nichts mit
Sicherheit verlassen als nur auf sich selbst. Bis heute wirkt das nach. Es gibt keine
Gewissheit, „alles ist relativ“ – auch so ein schöner Satz, den eigentlich kaum einer in seiner
Tiefenbedeutung versteht. Doch Descartes wurde längst wiederlegt. „Ich denke, also bin
ich.“ Diesen Satz kann ja nicht ein von allen anderen Menschen unabhängiges Individuum
aussagen. Diesen Satz kann nur sagen, wer von irgendjemandem Sprache gelernt hat. Ohne
das Geborenwerden in eine Sprachgemeinschaft lernt der Mensch nämlich keine Sprache.
Bevor ich mich also als Individuum begreife, muss ich wissen: Am Anfang war Beziehung. Am
Anfang war ich im Bauch meiner Mutter. Dann war ich an ihrer Brust und in ihren Armen.
Dann habe ich begonnen zu lernen, zu verstehen, zu sprechen. Und erst viel später erkannte
ich mich als getrennt von der Mutter, als Individuum. Man sieht: Der Mensch ist auf
Beziehung angelegt. Er kann nicht ohne Beziehung existieren.
Ein Christ bekennt sich zu dem drei-einen Gott; Vater, Sohn und Heiliger Geist. Damit sagt er
aus, dass Gott in sich die vollkommene Beziehung ist. Und weil der Mensch nach dem Bilde
Gottes geschaffen wurde, deshalb ist auch er auf Beziehung angelegt. Es ist nicht gut, dass
der Mensch alleine ist (1.Mose 2,18). Es ist nicht gut, dass heute Menschen alleine in ihren
Wohnungen sitzen und die Zeit totschlagen ohne wirkliche Begegnungen mit anderen. Es ist
nicht gut, wenn Menschen nur noch für die Arbeit leben ohne Beziehungen zu leben. Es ist
nicht gut, dass Menschen einsam vor sich hinvegetieren. Es ist nicht gut, wenn man
Asylsuchende ausgrenzt und sie in Wohnbaracken steckt, möglichst weit weg vom wirklichen
Leben der Gemeinschaft.
In Jesus Christus lernen wir, wie wir Beziehungen leben könnten. Gott selbst hat es uns
vorgemacht. „Ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12).“ Gott hat der
Menschheit sich selbst geschenkt und die Gemeinde gegründet. In Apostelgeschichte 2 wird
uns das Ideal dieser Gemeinschaft geschildert. Wir können uns an diesem Ideal orientieren –
natürlich im Wissen, dass man ein Ideal niemals ganz erreichen wird. Wenn wir uns aber an
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diesem Ideal ausrichten, was sollten wir dann beachten? Was können wir lernen? Wie sollte
Gemeinde auch heute noch aussehen? Was macht sie aus?
Gemeinde ist eine intensive Gemeinschaft. Es ist ein gemeinsames Unterwegssein. Die
ersten Christen trafen sich täglich in den Häusern. Sie entwickelten Freundschaften und
beteten miteinander und für einander. Das heisst: Sie teilten ihre Sorgen und Nöte. Und
dann beteten sie. Sie sangen zusammen, sie assen zusammen, sie tranken zusammen, sie
erinnerten sich zusammen, sie beteten zusammen, sie klagten zusammen, sie hofften und
zweifelten zusammen - und sie freuten sich zusammen. Sie waren für einander da.
Sie waren interessiert an einander und an den Menschen. Interesse kommt von „inter esse“
– mitten unter ihnen sein. Sie nahmen Anteil an den anderen und gaben auch Anteil an sich
selbst. Sie versteckten sich nicht vor einander, verheimlichten nicht die eigenen Probleme.
Sie waren da für Glaubende und für Suchende. Sie trafen sich in den Häusern und in den
Tempeln. Sie zogen sich nicht zurück.
Mit der Taufe wurden diese drei Menschen bereits Teil der weltweiten Kirche. Die EmK ist
ein Teilbereich dieser weltweiten Kirche. Sie ist nicht die Kirche, sondern ein Teil von etwas
Grösserem. EmK bedeutet nicht „einzig mögliche Kirche“, sondern Evangelisch
methodistische Kirche. Als EmK anerkennen wir, dass es viele andere Kirchen gibt, die
genauso ihre Existenzberechtigung haben wie wir. Wir halten uns nicht für etwas Besseres.
Wir anerkennen, dass es verschiedene Ausprägungen von Kirche geben kann, geben darf
und geben soll.
Ein Methodist ist ein Christ, nicht mehr aber auch ganz bestimmt nicht weniger! Andere
Christen von anderen Konfessionen sind uns immer willkommen. Wir reichen ihnen die
Hand, auch wenn wir in manchen Dingen anderer Meinung sein sollten. Das einzige, was für
uns zählt, ist, dass ein Mensch seinen Glauben leben will und Gott mit seinem ganzen
Herzen, seiner ganzen Kraft und mit ganzer Seele liebt. Jesus im Zentrum – alles andere ist
Nebensache!
Ich bin froh und glücklich, dass Ihr Drei Euch entschieden habt, in die Mitgliedschaft unserer
Kirche einzutreten. Ich hoffe, dass wir für Euch Heimat sein können, dass wir gemeinsam
wachsen und uns entwickeln können. Ich freue mich auf das Unterwegssein mit Euch.
Mit Eurer Hilfe können wir das Ideal, das uns in Apg 2 gezeigt wird, noch ein wenig näher an
uns heranholen. Mit Euch können wir ganz bestimmt noch ein Stückchen bunter, kreativer,
leidenschaftlicher, spiritueller und intensiver Gemeinschaft leben. Ich hoffe, viel von Euch zu
lernen. Und ich hoffe, dass auch Ihr noch vieles lernen könnt von uns allen.
Am Anfang ist Beziehung. Gott selbst ist Beziehung. Und Er selbst lebt Beziehung; so eng,
dass er sich durch den Heiligen Geist sogar mit uns verbindet! Und wir wollen mit Euch
Beziehung leben, Euch tragen, wo es nötig ist, uns von Euch tragen lassen, wenn es Eure
Kräfte zulassen. Wir wollen Anteil an Euch nehmen und Euch Anteil an uns geben – all das im
Wissen, dass wir an Gottes Liebe teilhaben dürfen. Denn ein Methodist ist ein Mensch, in
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dessen Herz die Liebe Gottes ausgegossen ist – nicht mehr aber garantiert auch nicht
weniger! AMEN
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