Das Überleben hat gelohnt - Erinnern für die Zukunft

Walter Stern: Das Überleben hat gelohnt
Knapp bevor ich in die Schule kam, übersiedelten wir in den sechsten Bezirk. Eine
eigene Wohnung für die Familie, zwei Zimmer für fünf Personen, Küchenfenster auf
den Gang, wenn auch kein Bad, so doch das WC in der Wohnung. Welch gewaltiger
Fortschritt! Besonders für meine Mutter! Endlich eine eigene Küche! Welch
aufregendes Erlebnis, wenn mich meine Mutter in der Küche in einen Holzbottich
stellte, in dem ansonsten die Wäsche eingeweicht wurde, und in warmem Wasser
badete. Oder wenn ich mit einem meiner größeren Brüder das Tröpferlbad besuchte.
Heute gibt es diese Tröpferlbäder kaum mehr, aber in den 1920er und 1930er Jahren
waren diese billigen Badeanstalten wirklich eine stolze Errungenschaft der
sozialdemokratischen Stadtverwaltung, eine Lebensnotwendigkeit für die ärmere
Bevölkerung.
Dann kamen der Arbeiterturnverein, die Kinderfreunde, die Kinderfeste im Lainzer
Tiergarten am „Tag des Kindes“ und die unvergesslichen Stunden im Sommer im
Kinderfreibad beim St.-Johann-Park am Margaretengürtel. 1
Die Volksschule besuchte ich in der Sonnenuhrgasse. Sehr früh kam ich in den
„Blau-Weiß“, eine zionistisch-sozialistische Jugendorganisation.
Ich gehörte eher noch zu den „begüterten“ Kindern, weil ich manchmal eine
Buttersemmel oder einen Apfel in der Schule mit hatte. Der „Apfelputzen“ wurde
dann noch weitergegeben und von den anderen bis zum Kerngehäuse abgenagt.
Die Jahre 1934 bis 1938 waren für den Großteil der Bevölkerung durch Armut
geprägt. Aber es gab natürlich auch sehr reiche Leute. Mein Vater war
selbstständiger Kaufmann, besser gesagt, er betrieb eine „Sortieranstalt“. Hinter
diesem hochtrabenden Namen verbarg sich ein Kellerlokal in der Schweglerstraße, in
dem Textilabfälle sortiert und dann wieder an andere Textilfabriken weiterverkauft
wurden. Er kämpfte ständig um das Überleben der Firma. Ein jüdischer Arbeiter,
mein Vater, meine Mutter, später mein älterer Bruder (und nach Hitlers Einmarsch
sogar ich) arbeiteten dort.
1
2005 in Bruno-Kreisky-Park umbenannt. Vgl. dazu: Autengruber, Peter: Parks und Gärten in Wien. Wien 2008, S. 71.
Dann kam Freitag der 11. März 1938. Am Nachmittag sollte unsere
Klassenmannschaft am „Weiß-Elf-Platz“ in Meidling gegen die Klasse einer
Meidlinger Schule ein Fußballspiel absolvieren. Wir waren schon auf dem Spielfeld,
da kam ein Bub von der anderen Mannschaft zu uns herüber und sagte: „Mit Juden
spül ma net“, deutete auf mich und setzte fort, „ ...den da miaßt´s aus der Mannschaft
stell´n. Früha fang ma net an.“ Das war noch bevor die Nürnberger Rassengesetze
für Österreich Geltung erlangten. War der Bub mit vierzehn Jahren schon ein
eingefleischter Nazi? Oder wollte er bloß einen Vorteil für seine Mannschaft
erreichen, indem ich aus der Mannschaft genommen werden sollte? Die Buben
unserer Klasse wollten aber nicht auf mich verzichten. War es Solidarität mit mir?
Oder wollten sie einfach nicht geschwächt antreten? Sie lehnten ab, und so kam es,
dass das Spiel nicht stattfand und wir nach Hause gingen.
Gegenüber einem Großteil meiner Mitschüler in der Hauptschule galten wir zweifellos
als wohl situiert. Wir bewohnten eine Zwei-Zimmer-Parterrewohnung, etwas feucht,
mit Küchenfenster auf den Gang, so wie eben die meisten dieser Wohnungen.
Immerhin hatten wir die Toilette und Wasser in der Wohnung. Der große Traum
meiner Mutter, eine Wohnung mit Badezimmer, ging ihr nie in Erfüllung. Oder doch,
als nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 mehrere jüdische
Familien im ersten Bezirk am Salzgries in eine Wohnung zusammen eingewiesen
wurden, weil man schon lange vor dem Holocaust jüdische Wohnungen für „arische“
Mieter freimachte. Dort gab es ein Badezimmer.
Und dann kamen die persönlichen Demütigungen. Der Lebensmittelkaufmann in der
Mollardgasse, Herr Schäfer, ein Christlichsozialer, bei dem wir jahrelang einkauften,
ließ uns durch unsere Hausbesorgerin, Frau Macholt, ausrichten, dass er keinen
Wert mehr auf uns als Kundschaft lege und dass wir uns nicht mehr in seinem
Geschäft blicken lassen sollten.
Es ist verständlich, dass wir dem Einzug Hitlers fernblieben und auch nicht auf den
Heldenplatz gingen. Aber von wo kamen auf einmal die vielen Hakenkreuze auf den
Rockaufschlägen her? Wenn einer ohne Hakenkreuz ging, konnte man fast mit
Sicherheit annehmen, dass er Jude sei. Und da bin ich nicht sicher, ob nicht auch
Juden, die nicht allzu jüdisch aussahen, ebenfalls ein Hakenkreuz ansteckten, damit
sie nicht auffielen. Hitlers Anschlussrede hörten wir natürlich im Radio.
Wir, die jüdischen Schüler in der Klasse, blieben nur mehr kurze Zeit in der Schule,
wurden noch im selben Schuljahr ausgeschult und in der so genannten
„Judenschule“ in der Stumpergasse (dort wo heute das Institut für Höhere Studien
beheimatet ist) zusammengefasst. Dort gab es auch jüdische Lehrer, die aus den
anderen Schulen entfernt worden waren. Von Unterricht war in diesem Restschuljahr
kaum mehr die Rede, hatten doch sowohl der Lehrkörper als auch die Schüler
andere Sorgen und Ängste.
In der Öffentlichkeit, auf den Straßen sowie in der Straßenbahn und Stadtbahn
herrschte in den ersten Anschlusstagen Hochstimmung. Was hinter verschlossenen
Türen in den Wohnungen gesprochen wurde, wusste ich nur von den mir bekannten
jüdischen Familien, und das war deprimierend. Man erfuhr von Bekannten, die
verhaftet und nach Dachau gebracht worden waren. Die Situation war nicht in allen
Bezirken gleich. In den St.-Johann-Park durfte ich nicht mehr gehen. Im zehnten
Bezirk in der Favoritenstraße wurden die jüdischen Schuhgeschäfte einfach
geplündert.
Es kam zur berühmt-berüchtigten „Kristallnacht“ vom 9. auf den 10. November, in der
die Tempel angezündet und zahlreiche jüdische Bürgerinnen und Bürger verhaftet
und in NS-Konzentrationslager deportiert wurden. Die Zeitungsberichte und
Rundfunkkommentare waren die Haupthebel, über die die Pogrommaschinerie in
Bewegung gesetzt wurde.
Mich trieb es aus mir unbekannten Gründen auf die Straße, doch ich kam nicht weit.
Kaum hatte ich das Haus verlassen, sah ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gruppe junger Burschen in Uniformen der Hitler-Jugend (HJ). „Da is der
Jud“, hörte ich und fing zu laufen an. In der Mollardgasse kannte ich ein Durchhaus
zur Wienzeile. Dorthin flüchtete ich und dachte zu entkommen. Doch vergeblich. Im
Haus erwischten sie mich und droschen auf mich ein. „Ihr Juden habt unseren
Volksgenossen ermordet, dafür müsst Ihr büßen!“ „Ich war´s nicht“ oder „Was kann
ich dafür?“ oder Ähnliches sagte ich, aber es war sinnlos. Ich versuchte, so gut es
ging, mit den Armen meinen Kopf zu schützen. Trotzdem hatte ich ein
blutunterlaufenes Auge und mehrere geschwollene Stellen im Gesicht abbekommen.
Mir schien die Prügelei endlos. Die Stimme des HJ-Führers klang direkt menschlich,
als er sagte: „So, jetzt hat er genug.“ Ich blieb noch einige Zeit benommen im
Hausflur liegen, dann ging ich auf die Straße und wanderte ziellos durch die Gassen.
Ich konnte nicht nach Hause, das im Moment nur ein Ausweich-Zuhause war. Ich
schämte mich bitterlich. „Warum hast du nicht zurückgeschlagen?“, brannte die
Schmach in meinem Kopf. Natürlich hätte ich sie noch wilder gemacht, aber vielleicht
hätte wenigstens einer von ihnen auch ein blaues Auge gehabt. Aber die Angst vor
einer Verhaftung war enorm. Was ist denn das für ein Heldentum, über einen
wehrlosen Knaben einfach herzufallen?
Mein Bruder Emil berichtete. Er war im 15. Bezirk in der Herklotzgasse gewesen, dort
war die Gefahr geringer, dass ihn wer aus der Nachbarschaft oder ehemalige
Mitschülerinnen bzw. Mitschüler erkennen würden. Er sah, wie der Tempel brannte.
Er war einer unter vielen, die zusahen. Die Feuerwehr war dort, löschte aber nicht,
sondern achtete lediglich darauf, dass das Feuer nicht auf die benachbarten Häuser
übergreife. Ein frommer Jude stürzte in den brennenden Tempel, um die Thorarollen
zu retten. Er trug sie heraus, als ob es um das Leben seiner Kinder ginge.
Wir wohnten dann nicht mehr lange im sechsten Bezirk. Einmal wurden uns noch
durch Steinwurf die Fenster eingeschlagen, aber was war das denn schon gegen
das, was später folgte. Wir mussten dann die Wohnung verlassen und übersiedelten
in den ersten Bezirk auf den Salzgries in ein Haus, das noch in jüdischem Besitz war.
Wir wohnten mit zwei weiteren jüdischen Familien in einer Wohnung. Als ich eines
Abends nach Hause kam, saß ein „Schupo“2 auf einem Stockerl unten im
Stiegenhaus neben einem großen Bogen Packpapier, aus dem Füße mit Schuhen
herausragten. Ich ahnte, dass da etwas passiert sei, zu Hause erfuhr ich, dass sich
der Hausherr vom obersten Stockwerk in die Tiefe gestürzt hatte. Er hat aufgegeben,
hieß es.
Aus dem Buch Walter Stern: Das Überleben hat gelohnt, Wien 2008. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
des ÖGB GesmbH, Wien.
2
Schupo: Angehöriger der Schutzpolizei.
Walter Stern, geb. 1924, ist in der Fallgasse 1 in Mariahilf aufgewachsen. Seine beiden
älteren Brüder haben den Nationalsozialismus in Großbritannien überlebt, ihm selbst gelang
1939 die Flucht nach Palästina. Seine Eltern wurden ermordet:
Josef Isak Stern, geb. 14. April 1889 in Rutki, verhaftet am 1. Sept. 1939, deportiert ins KZ
Buchenwald, dort gest. 9. Juni 1940
Sara Stern, geb. Zupnik am 3. März 1893 in Waniowice, aus der Sammelwohnung 1010
Wien, Salzgries 10/7 am 14. Juni 1942 deportiert nach Sobibor / Izbica.
Sie bekommen Erinnerungsobjekte in der Mollardgasse.