Unser Wirtschaftssystem läuft auf Selbstzerstörung hinaus

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Samstag, 22. August 2015 —
Samstagsinterview
Michael Sonntag, Psychiater und Unternehmensberater
«Unser Wirtschaftssystem
läuft auf Selbstzerstörung hinaus»
Psychiater Michael Sonntag verschreibt der Wirtschaft mehr Kooperation in Netzwerken statt zentraler Kontrolle.
Interview: Mathias Morgenthaler
Warum haben Sie als Psychiater und
Psychotherapeut in die
Unternehmensberatung gewechselt?
Ich erlebe in meiner Praxis und in der
Beratung immer wieder, wie viele Menschen unter unserem Wirtschaftssystem
leiden und krank werden. Organisationen und Menschen sind keine Maschinen, sondern lebende, verletzliche Systeme. Wir alle erleben täglich, wie Komplexität und Dynamik dramatisch zunehmen. Viele Unternehmen versuchen
dem zu begegnen, indem sie den Druck
nach innen erhöhen, Kontrollmechanismen ausbauen und den Angestellten
prinzipiell misstrauen – das funktioniert
auf Dauer nicht.
Was meinen Sie damit?
Als Arzt sehe ich sehr direkt, wie sich dieses traditionelle Managementdenken im
Gesundheitswesen auswirkt. Wichtige
Bei Gore gibt es
keine Chefs,
dafür hat jeder
einen Mentor.
Akteure im Gesundheitswesen gehen davon aus, dass Menschen grundsätzlich
unselbstständig, uneinsichtig und rein
egoistisch handeln und deshalb als reine
Kostenfaktoren zu kontrollieren und bestrafen sind. Ihre Grundannahme ist,
dass der Patient mutwillig möglichst viele
Leistungen konsumieren will, der Arzt
möglichst viel verdienen will und beide
beabsichtigen, die Krankenkassen zu
schädigen. Ein solches Menschenbild
führt dazu, dass alles möglichst bis ins
kleinste Detail kontrolliert, zentralisiert
und standardisiert wird – so wie es Manager in der Frühzeit der Industrialisierung
machten. Damit wird kein Geld gespart,
sondern nur viel Papier und viel Arbeit
für Controller und Juristen geschaffen.
Aber Sie können nicht abstreiten,
dass die Kosten im Gesundheitswesen in den letzten Jahren aus dem
Ruder gelaufen sind und daher
gespart werden muss.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, man
könne komplexe Systeme auf viele begrenzte Teilprobleme herunterbrechen
und das Ganze so in den Griff bekommen.
Das verursacht nicht nur riesige bürokratische Kontrollapparate mit extrem
hohen Kosten, es ist auch hinsichtlich der
Produktivität hoch ineffizient. Es sind
diese veralteten Grundannahmen und die
entsprechenden Lösungsansätze mit dem
kurzfristigen Kostendenken, die unser
Gesundheitswesen so massiv verteuern
und gleichzeitig verschlechtern. Hier versuchen Manager und gewisse Gesundheitsökonomen mit banaler Milchbüchlein-Ökonomie auf Drittklässlerniveau ein veraltetes und untaugliches
System zu erhalten, statt ein langfristig
wertsteigerndes System zu entwickeln.
Sind Sie aus persönlicher
Betroffenheit so verärgert?
Ja natürlich. Aber was im Gesundheitswesen derzeit passiert und viele sehr
fähige und motivierte Berufsleute dazu
bringt, ihren Job zu quittieren, ist symptomatisch für unsere verunsicherte
und hoch gestresste Gesellschaft. Die
Kernfrage, die mich beschäftigt, ist, wie
ein gesundes System funktioniert. Wie
kann man es schaffen, kostengünstig,
erfolgreich und effizient zu arbeiten in
einem inspirierenden Umfeld, in dem
sich Menschen entfalten und wohlfühlen und gesund bleiben?
Sie halten das aktuelle Wirtschaftssystem für krank?
Es gibt Ausnahmen, aber ja, das System
an sich ist schwer krank, respektive es ist
unfähig, effizient mit den anstehenden
Problemen umzugehen, auch wenn wir
das nicht wahrhaben wollen. Sigmund
Freud führte für jene Aspekte unserer
Psyche, die ihm unerklärlich waren, den
Begriff des Todestriebs ein. In Anlehnung
daran könnte man sagen: Unser traditionelles, auf Command and control aufgebautes, durch die Industrialisierung geprägtes Management- und Wirtschaftssystem ist der Todestrieb der modernen
Gesellschaft. Er läuft auf Selbstzerstörung hinaus, gibt keine plausible Erklärung für die Probleme und verhindert
gleichzeitig, dass wir endlich umdenken
und etwas verändern.
Welches sind die Symptome der
Selbstzerstörung?
Unser Umgang mit physikalischen und
menschlichen Ressourcen ist mörderisch. Konzerne wie Amazon oder Lidl
werden von Menschen ohne jede Sozialkompetenz und ohne jegliches Verständnis für komplexe Zusammenhänge rein
auf kurzfristigen Gewinn getrimmt. Ihr
Hauptzweck ist, die Interessen der Aktionäre, meist Pensionskassen, zu bedienen.
Die Mitarbeiter sind Mittel zum Zweck,
sollen 80 Stunden pro Woche arbeiten,
ohne wirklichen Gestaltungsspielraum;
wenn sie ausgelaugt sind, werden sie ersetzt. Wer als Manager in diesem System
aufsteigen will, braucht psychopathische
Charaktereigenschaften: wenig Empathie, möglichst ausgeprägte Rücksichtslosigkeit und Fähigkeit zur Intrige, Ausbeutung von Umwelt und anderen Menschen, also eine prinzipielle Bereitschaft
zu unethischem Verhalten. Und wir wundern uns, wenn uns Gallup Jahr für Jahr
vorrechnet, dass nur 2 von 10 Angestellten mit innerem Feuer zur Arbeit gehen?
Sie malen übertrieben schwarz.
Ja, vielleicht – aber schauen Sie einmal
die Seco-Studien zum Stress an: Jeder
Dritte ist hierzulande stark gestresst bei
der Arbeit, was Kosten von bis zu 10 Milliarden Franken pro Jahr verursacht.
Gallup bezifferte den materiellen Schaden 2013 für die Unternehmen in
Deutschland, welcher aus fehlendem
Engagement, schwacher Mitarbeiterbindung und Fehlzeiten am Arbeitsplatz
entsteht, auf 110 Milliarden Euro. Woher
kommt dieser Stress und das daraus
resultierende, fehlende Engagement?
Stress ist die körperliche und seelische
Reaktion auf eine subjektiv empfundene
oder reale Ohnmacht, eine Reaktion
darauf, dass wir nichts gegen eine bedrohliche Situation unternehmen können. Von den Folgen für unser Ökosystem ganz zu schweigen.
Welche Art von Wirtschaft wäre
denn gesund in Ihren Augen?
Diese müsste grundsätzlich mit und
nicht gegen die menschliche Natur und
letztlich mit und nicht gegen die Prinzipen lebendiger Systeme arbeiten. Natürliche lebende Systeme haben die Fähigkeit, mit maximaler Produktivität
nachhaltig gemeinsamen Wert für das
ganze Ökosystem, sozusagen für alle
«Stakeholder» zu schaffen – und zwar
mit minimalem Energieaufwand und
unter Beibehaltung einer maximalen
Anpassungsfähigkeit. Das ist die Vorgabe. Wir könnten also viel von der Natur lernen. Zudem funktionieren lebende Systeme nach wenigen, einfachen Prinzipien, mit denen sie fähig
Foto: Adrian Moser
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— Samstag, 22. August 2015
Diese Woche
Leitartikel Börse im Strudel, Tianjin in Flammen: Die Kommunistische Partei
Chinas agiert konfus. Das Vertrauen der Bevölkerung schwindet. Kai Strittmatter
werden, mit der komplexen Umwelt einfach umzugehen. Heute wissen wir zum
Beispiel, dass entgegen der Theorie von
Darwin die langfristig erfolgreichsten
Organismen diejenigen sind, die hohe
soziale Kooperations- und Interaktionsfähigkeit entwickelt haben. Das trifft für
alle Lebensformen zu, von Viren und
Bakterien über Pflanzen, über Ameisen
und Bienen bis hin zum Menschen. Man
spricht vom kooperativen Gen.
Und was heisst das übersetzt in den
Wirtschaftsalltag?
Wenn wir zum Beispiel die soeben erwähnte Kooperationsfähigkeit nehmen,
setzt diese eine hohe Selbstorganisationsfähigkeit und ein hohes persönliches und soziales Verantwortungsbewusstsein voraus. Wir müssen auch lernen zu akzeptieren, dass wir grundsätzlich immer voneinander abhängig sind.
Nachhaltig gesunde Systeme schaffen
zudem immer Rahmenbedingungen, die
ein Maximum an autonomer Handlungsfähigkeit ermöglichen. Dazu braucht es
aber auch entsprechend offene Informationssysteme. Autonomie ohne Informationen funktioniert nicht. Die oft beschworene Innovationsfähigkeit dagegen hängt nicht nur von digitalen Informationssystemen ab, sondern von der
Fähigkeit, miteinander Beziehungen
einzugehen, die unser Denken, aber
auch uns selbst verändern. Das braucht
Rahmenbedingungen, in denen sehr viel
Vertrauen möglich gemacht wird.
Wie können Firmen solche Rahmenbedingungen schaffen?
Auf organisatorischer Ebene heisst dies,
dezentrale, selbstorganisierende, lokale
und regionale Netzwerke zu schaffen.
Es bringt nichts,
Mitarbeiter über
Kontrolle und
Boni zu führen.
Darin fällen kompetente, engagierte
Menschen in multiprofessionellen
Teams vor Ort, entsprechend den gegebenen aktuellen Umständen, in sehr
speditiver Weise die richtigen Entscheide und übernehmen hierfür auch
die langfristige Verantwortung. Das
heisst auch, weitgehend auf zentrale
Kontrolle zu verzichten. Solche dezentrale Netzwerkstrukturen sind mit Abstand die effizientesten und robustesten Systeme.
Woher wissen Sie, dass das in der
Praxis funktioniert – nicht nur in
Start-ups, sondern auch in traditionellen Unternehmen?
Ein Beispiel, das wir im Detail untersucht haben, sind die Schwedischen
Handelsbanken. Die haben vor über
40 Jahren einen kompletten Transformationsprozess durchgemacht und ein
neues, radikal dezentralisiertes System
aufgebaut. Jede kleine Zweigstelle ist
eine selbstständige Bank und fällt vor
Ort autonom sämtliche Entscheide. Sie
sind also extrem realitäts- und kundennah. So werden langfristige, vertrauensvolle Kundenbeziehungen hergestellt, und Kunden erhalten sehr effizient und unbürokratisch massgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen.
Welcher Kundenberater in unseren
Schweizer Banken hat diesen Handlungsspielraum? In den meisten Banken müssen die Angestellten Formulare ausfüllen und Produkte verkaufen,
um ihren Bonus zu erreichen. Das
Motto der Schwedischen Handelsbanken ist «to work with, not against human nature». Sie ist heute einer der
weltweit stärksten Banken hinsichtlich
Eigenkapitalrendite und erwirtschaftet
seit 1970 ununterbrochen mehr Gewinn als ihre Konkurrenten.
Ein Einzelfall?
Nein.
Eindrücklich
ist
auch
W. L. Gore & Associates, unter anderem
die Hersteller von Goretex – ein Unternehmen mit rund 10 000 Mitarbeitern
und einem Jahresumsatz von 3,2 Milliarden US-Dollar. Die Firma wurde konsequent auf die Werte Eigenverantwortung, Autonomie und Freude bei der Ar-
beit aufgebaut. Die Mitarbeiter sind dort
keine unmündigen Produktionsfaktoren,
die geführt und kontrolliert werden müssen, sondern Partner. Es gibt keine Chefs,
sondern Führungsfunktionen auf Zeit,
und jeder Mitarbeiter hat einen Mentor,
der ihn in seiner Entwicklung unterstützt.
Keine Einheit bei Gore umfasst mehr als
120 Mitarbeiter, was selbstorganisiertes
Arbeiten und regelmässige soziale Interaktionen garantiert. Unternehmen, die
so organisiert sind und sich an der Realität im Markt orientieren statt an starren
Budgetvorgaben und internen Machtstrukturen, sind sehr viel flexibler und
leistungsfähiger als stark hierarchisch
geprägte Organisationen.
Gibt es Schweizer Firmen, die das
bereits vorbildlich tun?
Globetrotter, Trisa, Kambly, Zühlke Engineering, Teile von ABB und der Post sind
sehr dynamisch, dezentral und kundennah aufgestellt, um nur einige zu nennen.
Eigentlich war auch unser schweizerisches Gesundheitswesen ein Paradebeispiel eines radikal dezentralisierten,
patientenzentrierten Modells, wo vor Ort
mit dem Patienten und seinen Angehörigen und involvierten Ärzten unabhängig
entschieden wurde, was im Einzelfall der
richtige Weg ist. Auch könnte man einige
kleinere öffentliche und private Spitäler
nennen, die extrem erfolgreich mit diesen Prinzipien arbeiten. Die Schwierigkeit ist, dass es nicht funktioniert, wenn
nur ein paar Elemente modernerer
Managementansätze implementiert werden. Wenn, dann braucht es einen kompletten Paradigmenwechsel.
Machen traditionelle Firmen zu
viele Kompromisse?
Wenn Postfinance sich zwar architektonisch und in Sachen Anstellungsbedingungen einen moderneren Anstrich gibt,
aber gleichzeitig versucht, die Mitarbeiter über Boni und Kontrolle zu führen,
dann beisst sich das in den Schwanz. Es
bringt nichts, eine Wohlfühlatmosphäre
zu schaffen und die Angestellten gleichzeitig über extrinsische Anreize zu steuern. Das ist eine Entweder-Oder-Konstellation. Die Forschung zeigt sehr deutlich
auf: Wenn Sie Boni als Motivationsinstrument einsetzen, fällt die intrinsische Motivation in sich zusammen. Dann liefern
die Leute, was messbar ist und ihr Portemonnaie füllt. Wenn Sie aber sinnvolle
Arbeit und Gestaltungsspielraum anbieten, ist das Thema Geld rasch vom Tisch
und der Kopf frei für die Arbeit.
Was bedeutet der Wechsel von der
Psychiatrie in die Unternehmensberatung für Sie persönlich? Sind die
Manager offen für die Empfehlungen
eines Quereinsteigers?
Ich führe meine Praxis nun schon seit
22 Jahren. Das mit der Unternehmensberatung ist eine Ergänzung. Die tiefe, oft
ergreifende und meist sehr dankbare Arbeit mit den Patienten in der Praxis werde
ich nicht aufgeben. Das mit der Unternehmensberatung sehe ich als eine Art
Primärprophylaxe – wenn es gelingt, unsere Arbeitswelt zu verändern, werden
weniger Leute krank und viele können
beginnen, ihr menschliches und berufliches Potenzial voll zu entfalten. Ob ich als
Quereinsteiger gehört werde? Ich bin oft
selber erstaunt, wie dankbar viele Führungskräfte sind, endlich eine andere,
auch wissenschaftlich fundierte Sicht zu
bekommen. Bekehren will ich ohnehin
niemanden, sondern ich arbeite mit jenen, die auf der Suche sind nach neuen,
passenden Antworten für die Herausforderungen der nächsten Jahre.
Stark, aber unfähig
Die Macht der Bilder. Chinas Kommunistische Partei weiss um sie. Die
Inszenierung der Macht ist eine ihrer
Obsessionen. Ein paar Tage noch,
dann, am 3. September, wird sie ein
Schauspiel vorführen, wie man es
schon Jahre nicht mehr gesehen hat:
eine gewaltige Militärparade im Herzen
der Hauptstadt. Offiziell zur Feier von
70 Jahren Weltkriegsende, tatsächlich
aber eine Demonstration mit dem Ziel,
dem eigenen Volk und der Welt heilige
Schauder der Ehrfurcht zu bescheren
ob der Stärke dieses Landes, der Macht
dieser Partei, der Kraft dieses Staatsund Parteichefs.
Die Partei feiert sich, die Welt zollt
Bewunderung, so war das geplant. Jetzt
kommt alles anders. Über Jahre schien
dieser Führung alles zu gelingen. Nun
klappt nichts mehr. Exporte stürzen ab,
die Wirtschaft stottert. Dringende Reformen stecken fest, der Börse droht der
freie Fall. Die Bilder, die von diesem
Sommer bleiben werden, das sind die
Flammensäulen von Tianjin. Gewaltige
Explosionen keine zwei Autostunden
vom Platz des Himmlischen Friedens
entfernt, inmitten einer Stadt, die für all
das stand, worauf das neue China stolz
war: Moderne, Hightech, Wachstum.
Die Sonderwirtschaftszone Binhai, der
Ort der Explosionen, war ein Symbol
für Chinas Wirtschaftswunder. Über
Nacht wurde sie zum Symbol für alles,
was schiefläuft im Einparteienstaat.
Millionen Investoren geschädigt
Mit dem Wunder ist es nach drei Jahrzehnten ungebremsten Wachstums
vorbei. Für keinen muss das eine
schmerzlichere Erkenntnis sein als für Xi
Jinping, den Mann, der vor drei Jahren
die Macht übernahm. Er war angetreten,
China in die Zukunft zu führen und den
Beweis zu erbringen, dass es dazu die
von der Partei so verteufelten «westlichen Werte» nicht braucht, also keine
Zivilgesellschaft, keine unabhängige
Justiz, keine unabhängigen Medien – keinerlei Kraft ausser der Partei selbst.
Selbst wenn Kritiker über Xis unbarmherzigen Feldzug gegen abweichende
Meinungen klagten, so staunten doch
alle über die Kondition des Mannes in
seinem Feldzug gegen korrupte Funktionäre und Rivalen, über sein Geschick im
innerparteilichen Machtkampf, über
seine Selbstsicherheit. Die Propaganda
strickte aus all dem geschickt einen
neuen Führerkult: der starke, weise
Orlando
Michael Sonntag
Der 56-Jährige ist Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie, Unternehmensberater
sowie Belegarzt an der Klinik Beau-Site in
Bern. Sein Kerngebiet ist die Leitung transformativer Prozesse. Seit 2012 erarbeitet er
mit Robin Fraser (Beyond Budgeting Round
Table, Bbrt.org) die theoretischen und
praktischen Grundlagen für ein ganzheitliches Managementmodell, das auf den
Prinzipien lebender Systeme aufbaut.
Sonntag ist verheiratet, Vater dreier
Kinder zwischen 17 und 22, lebt in Worb und
ist in eigener Praxis in der Elfenau in Bern
tätig. Zu seinen bevorzugten Freizeitbeschäftigungen gehören Schwimmen, Fitness, mit
dem Hund spazieren und das Mitwirken in
der Steelband «Fer Battu». (mmw)
Die gesammelten Samstagsinterviews unter
www.samstagsinterviews.derbund.ch
www.orlando.derbund.ch
Mann, in dessen Hände das Volk beruhigt sein Schicksal legen kann.
Von all dem ist im Moment nicht viel
zu sehen. Innert Wochen hat die Partei
einen gewaltigen Vertrauensverlust an
mehreren Fronten erlitten. Dass die KP
im Krisenmodus agiert, wenn die
Wirtschaft stottert, ist verständlich.
Dass ihr Handeln aber mit einem Mal
konfus und bisweilen panisch scheint,
alarmiert viele. Eine Partei, der die
Dinge entgleiten – das kannte man
bisher nicht. Tatsächlich setzten 80 Millionen chinesische Kleininvestoren so
viel Vertrauen in die Allmacht dieser
Partei, dass sie willig dem Aufruf ihrer
Sprachrohre folgten und ihr ganzes
Vermögen in die Börsen investierten,
die nie viel mehr waren als ein PolitCasino. Der Absturz der Börsen hat
Millionen um ihr Erspartes gebracht.
Sie alle zählen zur neuen Mittelschicht, um deren Vertrauen die KP
buhlt. Die gut verdienenden, gebildeten Städter haben als natürliche Verbündete der Partei längst das Proletariat abgelöst. Die kommunistische
Ideologie ist tot, der steigende Wohlstand hat sie schon vor Jahrzehnten als
Legitimation der KP-Herrschaft ersetzt.
Auch deshalb muss der Partei bang
sein vor mageren Jahren: Da droht ein
Bruch.
Das bisherige Wirtschaftsmodell ist
am Ende. China kommt nur voran,
wenn es seine Wirtschaft umbaut,
wenn es mehr auf Innovation setzt, auf
Dienstleistung und Konsum. Xi Jinping
hat solche Reformen schon 2013 versprochen – ist aber bis jetzt vor zentralen Schritten zurückgeschreckt, sowohl
was die Staatsunternehmen als auch
was die gigantische Verschuldung von
Gemeinden und Städten angeht. Potenzial für neues Wachstum hat China
noch viel – aber dazu brauchte es den
Mut, gegen die Profiteure des alten
Systems vorzugehen. Todesmut? Ein
Die Mittelschicht
ist nicht
so privilegiert,
wie sie dachte.
Kommentar in den Staatsmedien
deutet eine Spaltung der Parteiführung
an. Die Widerstände gegen Reformen,
heisst es da erstaunlich offen, gingen
«über jede Vorstellung hinaus». Die
Antireformkräfte in der Partei seien
«störrisch, heftig, kompliziert und
mysteriös». Xi Jinping ist auch der
Gefangene seines Systems.
Eines Systems, das sich selbst als
Meritokratie verklärt, das im Widerschein der Flammen von Tianjin aber
wieder einmal seine schlimmsten
Defekte offenbarte. Ein Gefahrengutlager inmitten der Stadt mit dem
höchsten Pro-Kopf-Einkommen Chinas,
unmittelbar neben Wohngebieten,
betrieben über Strohmänner, unter
anderen vom Sohn eines Polizeichefs,
ermöglicht und gedeckt durch politische Beziehungen: «Das war Mord
durch Korruption», schrieb einer im
Internet. Und durch Intransparenz,
Fahrlässigkeit und Inkompetenz – alles
Baufehler eines Systems,
das sich jeder unabhängigen Aufsicht
verweigert. Überall in China schütteln
Bürger derzeit fassungslos den Kopf.
Helden statt Opfer
Wieder ist es die Mittelschicht, die mit
einem Mal feststellt, dass sie keineswegs so privilegiert ist, wie sie dachte,
dass auch sie schnell zum Opfer werden kann. Ja, die Partei hat ihre Rezepte: Sie wird materielle Verluste
grosszügig ersetzen, ein paar Sündenböcke finden und vor Gericht stellen,
und sie wird die toten Feuerwehrleute
so sehr als Helden feiern, dass keiner
auf die Idee kommt, in ihnen die Opfer
zu sehen, die sie sind. Sie wird jedes
tiefere Nachdenken über die Katastrophe verbieten – und die Katastrophe
dem Vergessen anheimgeben, wie so
viele andere vor ihr.
Die Militärparade am 3. September
wird ihr Gelegenheit sein, die Aufmerksamkeit abzulenken. Der von der Partei
geschürte Nationalismus ist längst das
zweite Standbein ihrer Legitimität.
Eine seiner zentralen Thesen: Die
«westlichen Werte», für die die USA
und Europa werben, sind nichts anderes als ein Trick, um Chinas Aufstieg zu
sabotieren. Möglich, dass viele der jetzt
Empörten tatsächlich bald wieder
vergessen. Möglich aber auch, dass
immer mehr zum Schluss kommen,
dass es das System der KP ist, das der
Zukunft Chinas im Weg steht.