sind wir soweit?

26.01.2016
Die psychiatrische Patientenverfügung als
Instrument zur Selbstbestimmtheit
- sind wir soweit?
Dr. med. Brigitt Steinegger
Präsidentin Vereinigung Winterthurer Psychiater (VWP)
Fall 1: 30-jährige Frau
• Tumorerkrankung mit 17J. - Behandlung - Rückfall - Lebermetastase - Behandlung
• Nach 9 Jahren Tumor im Dickdarm: Op, Chemotherapie, Bestrahlung,
Nebenwirkungen
• Pat. macht Patientenverfügung, Urteilsfähigkeit zum Zeitpunkt der Erstellung vom HA
bescheinigt, lehnt lebensverlängernde Massnahmen ab, Bilanz
• 15 Monate später: Bewusstlosigkeit - Notfallstation - Tumorableger im Gehirn
• Pat. verweist auf Patientenverfügung - hält daran fest
• Bewusstseinsverlust - künstliche Ernährung oder Tod
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Fall 2: 30-jährige Frau
• schwere Anorexie seit 17. Altersjahr – mehrfache Klinikaufenthalte, Spezialstationen,
langjährige ambulante Behandlungen
• Gewicht mehrmals lebensbedrohlich tief, Zwangsernährung
• Pat. erstellt PPV, Urteilsfähigkeit zum Zeitpunkt des Verfassens bestätigt, lehnt
Zwangsernährung bei lebensbedrohlichem Untergewicht ab, Bilanz
• 15 Monate später: FU, lebensbedrohliches Untergewicht
• Pat. verweist auf PPV , hält daran fest, nimmt keine Nahrung zu sich
• Bewusstseinsverlust – künstliche Ernährung oder Tod
Übersicht:
•Geschichtlicher Überblick
•Gesetzliche Grundlagen
•Stand der Forschung
•Vorstellung eigene Studie
•Schlussfolgerungen
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Geschichtlicher Überblick:
• 1969 USA: erstes Konzept PV («living will» ), Sterbewunsch
• 1976 und 1990 USA: Recht auf Stellvertreter bei Urteilsunfähigkeit,
Recht auf verbindliches Einhalten einer PV, auch wenn Tod Folge
• 1982 USA: erste psychiatrische PV, «psychiatrisches Testament»
(Szasz)
• 1993: Einführung psych. Testament in Deutschland;
2009: Patientenverfügungsgesetz
• 2013: Inkrafttreten ESR (ZGB Art. 360-456), PV gesetzlich verankert
(ZGB Art.370-373); med. Massnahmen bei psych. Störung und
Behandlung ohne Zustimmung (ZGB Art. 433-434)
Gesetzliche Grundlagen:
•Zustimmung bzw. Ablehnung bestimmter
medizinischer Massnahmen
•Verfügung zum Zeitpunkt von Urteilsfähigkeit für
den Fall einer möglichen Urteilsunfähigkeit
•Bezeichnung einer Vertrauensperson möglich,
die stellvertretend bespricht und entscheidet
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Somatische PV
Psychiatrische PV
• «end of life» Situation
• Ablehnung lebensverlängernder
Massnahmen
• bisher meist gesund
• unbekannte zukünftige Situation
• chronische, oft phasenweise E.
• Zustimmung bzw. Ablehnung
bestimmter Massnahmen
• ähnliche Krankheitsphase erlebt
• bekannte Situation
• Form: schriftlich verfasst, datiert, handschriftlich unterzeichnet
• Vorlagen zulässig (Mustervorlagen z.B. bei Pro Mente Sana und
Sanatorium Kilchberg)
• Gültigkeit nicht befristet, regelmässige Überprüfung mit Datierung
und Unterschrift empfehlenswert
• Zugriff muss gewährleistet sein, Eintrag auf Versichertenkarte
möglich. Ärzte verpflichtet zur aktiven Abklärung der Existenz.
• Ärzte mit wenigen Ausnahmen verpflichtet, der Verfügung zu
entsprechen. Abweichung muss schriftlich festgehalten und
begründet werden.
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Spezielle Regelungen in der Psychiatrie
(ZGB Art. 426-439)
Verminderte Durchschlagskraft im Rahmen einer fürsorgerischen
Unterbringung (FU):
Art. 433: « Der Behandlungsplan wird der betroffenen Person zur
Zustimmung unterbreitet. Bei einer urteilsunfähigen Person ist eine
allfällige Patientenverfügung zu berücksichtigen»
Urteilsfähigkeit
• muss beim Verfassen gegeben sein: Gültigkeit! Empfehlung zur
ärztlichen Bestätigung
• «Fähigkeit zu vernunftgemässem Handeln»
- Nachdenken über Krankheit und Behandlung
- Erkrankung und Behandlungsmöglichkeit erfassen, Informationen
verstehen
- Tragweite der Verfügung verstehen
- Auswirkungen auf best. Krankheitssituation abschätzen, verstehen
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«vernunftgemäss» ist nicht zwingend «vernünftig»
Entstehung möglicher medizinisch-rechtlich-ethischer
Dilemmata
Medizinisch-ethische Richtlinien SAMW (2013)
Grad der Gültigkeit einer PV steigt:
• klare Formulierung
• kurzer Abstand seit Verfassung
• gute Antizipation der zukünftigen Situation
• Werthaltung des Verfassers, Verständnis Lebensqualität
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Forschung zur PPV
Erwartungen hoch:
• Autonomie und Empowerment (Befähigung zu selbstbestimmtem
Leben) fördern
• Beziehungen Patienten-Angehörige-Fachpersonen verbessern
• Toleranz für Patientenautonomie fördern
• Klinikeinweisungen/ Hospitalisationstage verringern
• Kernanliegen: Reduktion von Zwangseinweisungen und
Zwangsmassnahmen
Wichtige Resultate:
• fördert Empowerment
• Patienten erstellen klinisch sinnvolle Verfügungen
• Ablehnung einzelner Massnahmen (z.B. einzelne Medikamente), sehr
selten vollständige Verweigerung der Behandlung
• Wahl bevorzugter Medikamente führt zu erhöhter Verschreibung
derselben und besserer Complience (Bereitschaft zur Mitarbeit)
• Zwangseinweisungen/-behandlungen deutlich reduziert, sofern PPV
mit (geschulter) Vertrauensperson gemeinsam erstellt
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Hürden für Anwendung
Aus Patientensicht:
• Mangel an Kenntnis
• Mangel an Unterstützung beim
Ausfüllen
• wenig Kontakt zu möglichen
Vertrauenspersonen
• Angst vor negativen Folgen
Aus Behandlersicht:
• Besorgnis Ablehnung sinnvoller
Behandlung
• Unklare/wenig bekannte
Gesetzesgrundlage
• Ethische Entscheidungskonflikte
• Einschränkung eigene
Behandlungsautonomie
Wichtigster Wirkfaktor: Förderung des therapeutischen
Bündnisses
Drei zentrale Punkte:
1. Gemeinsames Verfassen: Patient
geschulter Patientenfürsprecher
klinisch tätige Fachperson
2. Befürwortung der PPV durch Fachpersonen
3. Einsatz eines geeigneten Stellvertreters
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Eigene Studie (Sanatorium Kilchberg):
Studienziele:
1. Untersuchung von Haltung, Bekanntheit, Verbreitung und Akzeptanz
der PPV bei klinisch tätigen Fachpersonen
2. Standortbestimmung deutsche Schweiz
3. Erlangung möglicher Anhaltspunkte für die Implementierung der PPV
Studiendesign:
- Anonyme zweizeitige Umfrage
- Vier klinisch tätige Fachgruppen:
Psychiater – Psychologen – Pflegefachleute – Peers
- 16 allgemeine Fragen zur PPV
- 3 fiktive Fallbeispiele
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Resultate: (574 erfasste Rückläufe):
• Bekanntheit: PPV ist allgemein wenig bekannt (unter 50%)
• Verbreitung: noch geringer
• Akzeptanz: sehr hoch (76-88%)
• Haltung der Berufsgruppen kongruent
• Fallbeispiele: hohe Akzeptanz
NB: Je unklarer Rechtslage und je stärker ausgelöstes ethisches
Dilemma, desto weniger Zustimmung und mehr Kommentare
Schlussfolgerungen:
• Positive Haltung aller Fachgruppen
• Profit von guten Forschungsresultaten
• Reduzierte Durchschlagskraft unter FU Bedingungen:
PPV soll dem Patientenwillen entsprechen
und
von Experten als sinnvoll und umsetzbar akzeptiert werden
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Empfohlene Schritte:
• Schaffung von Angeboten zur gemeinsamen
Erarbeitung der PPV (Patienten, geschulte
Patientenfürsprecher, Fachpersonen)
• Schaffung von Angeboten zur besseren Bekanntheit
• Unterstützung der Patienten bei Suche nach
geeigneten Vertretungspersonen
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Instrument zur Selbstbestimmtheit
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Herzlichen Dank
für Ihre
Aufmerksamkeit
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