Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Sie müssen folgende historische Ereignisse, Autoren und Werke historisch einordnen bzw. zuordnen können: Die Revolution von 1848 Die Gündung des „Zweiten Deutschen Reichs“, 1870/71 Der Erste Weltkrieg, 1914-1918 Der „Anschluss“ Österreichs, 1938 Der Zweite Weltkrieg, 1939-1945 Die Weimarer Republik, 1918-1933 Die Machtergreifung der Nationalsozialisten, 1933 Der österreichische Staatsvertrag, 1955 Der Bau der Berliner Mauer, 1961 Der Fall der Berliner Mauer, 1989 Adalbert Stifter, 1805 –1868 Gottfried Keller, 1819 –1890 Conrad Ferdinand Meyer, 1825 –1898 Theodor Storm, 1817–1888 Theodor Fontane, 1819–1898 Gerhart Hauptmann, 1862–1946 Arno Holz, 1863 –1929 Hermann Bahr, 1863 –1934) Arthur Schnitzler, 1862–1931 Hugo von Hofmannsthal, 1874 – 1929 1 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Karl Kraus, 1874 –1936 Franz Kafka, 1883–1924 Georg Trakl (1887–1914) Thomas Mann, 1875–1955 Alfred Döblin, 1878–1957 Robert Musil, 1880–1942 Joseph Roth, 1894–1939 Heimito von Doderer, 1896-1966 Bert Brecht, 1898 –1956 Erich Kästner, 1899 –1974 Paul Celan, 1920–1970 Max Frisch, 1911 –1991 Heinrich Böll 1917–1985 Ingeborg Bachmann, 1926 –1973 Günter Grass 1927–2015 Thomas Bernhard, 1931–1989 Peter Handke, geb. 1942 Elfriede Jelinek, geb. 1946 Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich, 1854f., zweite Fassung 1879f. Gustav Freytag, Soll und Haben, 1855 Adalbert Stifter, Der Nachsommer, 1857 Theodor Fontane: Effi Briest, 1894f. 2 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel, 1888 Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl, 1900 Thomas Mann: Buddenbrooks, 1901 Franz Kafka: Das Urteil, 1912 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, 1929 Erich Kästner: Kennst du das Land, 1929 Bert Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder, 1939 Paul Celan: Todesfuge, 1948 Max Frisch, Stiller, 1954 Günter Grass, Die Blechtrommel, 1959 Hans Lebert, Die Wolfshaut, 1960 Ingeborg Bachmann, Böhmen liegt am Meer, entstanden 1964, veröffentlicht 1968 Ernst Jandl: wien: heldenplatz, 1966 Uwe Johnson, Jahrestage, 1970-1983 Peter Handke, Wunschloses Unglück, 1972 Thomas Bernhard, Auslöschung, 1986 Sie sollen folgende Fragen in ca. 20 Zeilen beantworten können: Was sind die literarischen Merkmale des „Realismus“? Was unterscheidet den Realismus vom Naturalismus; was haben die beiden Richtungen gemeinsam? Was haben die Autoren und Texte des „Jungen Wien“ gemeinsam? Interpretieren Sie Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe unter dem Aspekt der Kritik am bürgerlichen Wertekanon? 3 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Inwiefern ist Hauptmanns Bahnwärter Thiel ein naturalistischer Text? Was spricht dagegen, diese Novelle als „naturalistisch“ zu bezeichnen? Was ist das literarisch Besondere am „Lieutenant Gustl“? Beschreiben Sie die „Wiener Moderne“ und nennen Sie einige wichtige Autoren sowie deren Werke. Was sind einige Kennzeichen des literarischen Expressionismus? Charakterisieren Sie Thomas Manns Roman Der Zauberberg Charakterisieren Sie Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz Charakterisieren Sie Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Beschreiben Sie die literarische Szene der Weimarer Republik. Was ist die Neue Sachlichkeit? Wer wird/ welche Texte werden dazu gezählt? Was ist „Exilliteratur“? Nennen Sie einige wichtige Autoren der Exilliteratur und ihre Exilländer. Skizzieren Sie die literarische Situation in der BRD von 1945 bis ca. 1960. Skizzieren Sie die literarische Situation in der DDR von 1945 bis ca.1960. Vergleichen Sie Günter Eichs Inventur und Paul Celans Todesfuge. Charakterisieren Sie Max Frischs Roman Stiller Charakterisieren Sie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut Charakterisieren Sie Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel Charakterisieren Sie Uwe Johnsons Roman Jahrestage Beschreiben Sie die literarische Situation in Österreich 1945 bis 1966 Beschreiben Sie die literarische Situation in Österreich 1966 bis 1989 Erläutern Sie die Differenz zwischen dem „Detektivroman“ und dem „Thriller“. 4 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Realismus Der Realismus ist eine literaturgeschichtliche Epoche des 19. Jahrhunderts. Grundprinzipien waren die Nachahmung der Natur und die Darstellung der Realität. Epoche/historischer Hintergrund: Der Realismus beginnt ~1850. Zuvor waren Klassik, Romantik, Biedermeier und Vormärz. Realismus wird meist als Gegenbegriff zur Romantik gesehen. Die Klassik war ein Höhepunkt der deutschen Literaturgeschichte: Damals gab es noch keine deutsche Nation, weswegen man die „kulturelle Nation“ erfand. 1870/71 kam es zur tatsächlichen Vereinigung, man holte nun das Modell der Klassik politisch nach. Die Romantik wurde vom Realismus abgelöst, Zwischenepochen waren Biedermeier und Vormärz. 1848/49 gab es mit der gescheiterten Revolution eine politische Zäsur, die auch das literarische Wirken beeinflusste. Der politische Anspruch des Vormärz verschwand nun. In der Schweiz und in England gab es diese Zäsur allerdings nicht. Auf den Realismus folgt der Naturalismus (= auch ein Teil des Realismus). Stilbegriff: Realistische Autoren hatten einen eigenen Schreibstil. Man wollte stärker „schöne“ Literatur schaffen. Die Wirklichkeit sollte nicht nur dargestellt sondern idealisiert werden. Da man versuchte zu einer einheitlichen gehobenen Sprache zu kommen, gab es keine große Stilvielfalt. Rhetorik, damals ein System/Modell zum Verfassen von Texten, wurde in den Schulen unterrichtet. Texte wurden erzeugt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. In der Antike gab es drei Stilebenen (genera dicendi), den hohen, mittleren und niederen Stil. genus grande => (die höchste) Stilebene: hohes Stilniveau zur Erregung starker, pathetischer Affekte genus medium => (die mittlere) Stilebene: mittleres Stilniveau zur Erregung sanfter, ‚ethischer’ Affekte (zur Erfreuung des Publikums) genus humile => (die unterste) Stilebene: einfaches, aufwandloses Stilniveau (zur Vermittlung von Sachverhalten) Die Frage war, welche Wirkung man erzielen wollte, die Stilebene konnte im Text wechseln. Das wollten die realistischen Autoren hingegen nicht, sie wollten eine einheitliche Sprache. 5 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Ein Kennzeichen des literarischen Realismus war ein eigener Stil, der Versuch der ästhetischen Integration: jedes Element sollte im Text auch eine Bedeutung haben. Der Text sollte ein geschlossenes Kunstwerk sein, wo alles auf etwas verweist. Im Realismus sollte die Wirklichkeit auf eine bestimmte Art dargestellt werden, es ging nicht um eine fotographische Abbildung der Wahrheit. „Wirklichkeit“ im Realismus war mehr als das, was zufällig aufgenommen wurde. Der Begriff „Realismus“ stammt aus ebendieser Zeit und zeigt das Selbstverständnis dieser Epoche. Es ist keine spätere Zuschreibung. Einzelfälle weichen aber meist ein bisschen von den Epochenmerkmalen ab. Zeit: Das Bürgertum kam langsam zu einer ökonomischen (wegen der Revolution aber nicht politischen) Machtposition. Man spricht vom Aufstieg des Bürgertums. Die deutsche Frage blieb nach 1848 vorerst noch offen, es gab noch keinen deutschen Nationalstaat. Später kam es zur kleindeutschen Lösung und schließlich zur Reichsgründung. Während das Bürgertum sich selbst feierte, waren die Realismusautoren eher kritisch. In Österreich (also außerhalb Deutschlands) zeichnete sich bei ihnen auch eine resignative Stimmung ab. Das Bürgertum arrangierte sich mit dem Neoabsolutismus, daneben lief die industrielle Revolution ab. Parallel zur sozialen Frage (siehe Marx) kam es zur Etablierung des Sozialstaats. Es war ein Zeitalter der Säkularisierung und Entmythologisierung, das Christentum ging zurück. Dem folgte ein optimistischer Glaube an die mögliche Verbesserung der Welt. Irdische Belange gewannen an Bedeutung. Die Naturwissenschaften wurden zum dominierenden Paradigma. Der starke technische Fortschritt brachte sowohl Optimismus als auch einen Modernisierungsschock mit sich. Literarische Gattungen: Im Realismus dominierte die Erzählprosa (Roman + Novelle). Viel Lyrik wurde nicht geschrieben. Wegen der industriellen Revolution boomte der Zeitschriftenmarkt, es kam zu einer höheren Nachfrage (z.B. die „Gartenlaube“). Was die Formen angeht, war der Realismus eine konservative Epoche, so hielt man an älterer Lyrik (z.B. Versepen) fest. Es gab kaum Dramatik im Realismus, am bedeutendsten waren die alten Konzepte des historischen Dramas und Versdramas. In der Prosa hatte die Novelle einen besseren Ruf als der Roman, Romanpoetik gab es keine. 6 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Die Novelle zeichnete sich durch eine in sich geschlossene Handlung aus und sollte ein sinnlich fassbares Detail als Symbol haben (z.B. das streitige Dreieck bei „Romeo und Julia auf dem Dorfe“). Der wichtigste Text für die Zeitgenossen war Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ (1855). Es gab folgende Romangattungen im Realismus: Bildungsroman (basierend auf Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“) => Grundstruktur ist die Individualgeschichte einer männlichen Hauptfigur, die ihren Platz in der Gesellschaft finden muss; z.B. Stifters „Der Nachsommer“ Historischer Roman => diente der Selbstvergewisserung der nationalen Vergangenheit und der Bildung Gesellschaftsroman => war viel weniger bedeutend als in England etc. Wichtige Autoren und Werke: Schweiz Gottfried Keller + Conrad Ferdinand Meyer Norddeutscher Ruam Theodor Fontane + Theodor Storm Österreich Marie v. Ebner-Eschenbach + Ferdinand v. Saar Gottfried Keller => Keller wurde wie alle Autoren des Realismus um 1820 geboren; „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, eine damals recht populäre Dorfgeschichte; anfangs wird eine Scheinidylle geschildert, doch bald sieht man, dass sich das Dorf gegen einen Außenseiter (der schwarze Geiger) stellt; dann kommt es zur Feindschaft zwischen den zwei Bauern; zwar tut sich die Möglichkeit eines Happy Ends auf, die jedoch nicht verfolgt wird, da sie außerhalb der bürgerllichen Gesellschaft liegt; Keller kritisierte damit das Bürgertum; Romeo und Julia fällt insofern aus dem realistischen Paradigma heraus, als das Bürgertum nicht dargestellt wird; Keller war v.a. Novellenautor, aber auch wichtiger Romanautor; „Der grüne Heinrich“ war die autobiographisch gefärbte Lebensgeschichte und damit sowohl Bildungsroman (damals sehr populär) als auch Künstlerroman; diese zeigen v.a. männliche Protagonisten, die Künstler werden wollen und somit ein entbürgerlichtes Leben führen wollen; meist überwiegt dabei Desillusionierung Conrad Ferdinand Meyer => er schrieb vor allem historische Novellen; damals bestand ein großes Interesse an Geschichte, es war die Zeit des Historismus, die sich auch in der Literatur niederschlug; Meyer war auch Lyriker, seine Gedichte gingen stark in den Schulkanon ein; er war auf dem Weg zur modernen Lyrik des Symbolismus Theodor Fontane => auch er kritisierte das Bürgertum; er schrieb relativ spät ~1890; er ist der wichtigste Vertreter des Gesellschaftsromans; „Effi Briest“ ist ein Ehebruchsroman; Effi fängt nach 7 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart ihrer Verheiratung eine Affäre an; diese geht schnell zuende, kommt aber ans Tageslicht; ihr Ehemann fordert den Liebhaber aufgrund des bürgerlichen Ehrenkodex zum Duell heraus; der Ehebruch der Frau war ein zentrales Thema im Realismus und zeigt die Brüchigkeit der bürgerlichen Gesellschaft Theodor Storm => berühmt für seine Novellen wie „Der Schimmelreiter“; damals war der komplexe Rahmen typisch für Novellen, hier gibt es z.B. einen Ich-Erzähler, der sich an eine Geschichte erinnert; das ermöglicht die Reflexion darüber und eine gewisse Objektivität Ferdinand von Saar => ein Wiener Autor, der noch bürgerliche Mäzene finden konnte; das Künstlersein war damals schon antiquiert; bekannt ist er v.a. für seine Lyrik (z.B. „Wiener Elegien“) und Novellen; damals gab es viele Novellen, aber nie einen österreichischen Gesellschaftsroman Marie von Ebner-Eschenbach => sie wurde früh verheiratet, konnte aber ihren künstlerischen Interessen nachgehen; sie hatte v.a. mit ihren Erzählungen Erfolg und zeigte sich weniger scheu, leicht tabuisierte Bereiche aufzugreifen, was der realistischen Praxis der Verschönerung zuwiderlief; so thematisierte sie z.B. die Armen; „Das Gemeindekind“ ist ein Roman, indem ein junger Bursche unter schlechten Bedingungen im Dorf aufwächst; Ebner-Eschenbach ist Realistin, da er am Ende gerettet wird (Naturalisten hingegen gehen vom milieudeterminierten Schicksal aus) Naturalismus Es ist umstritten, ob es sich dabei um eine eigene literarische Epoche oder um die Fortsetzung/Radikalisierung des Realismus handelt. Naturalismus gab es v.a. in Deutschland. Es war eine Bewegung junger Autoren, die sich von der Norm absetzen wollten und ein modernes Selbstbild hatten. Die Unterschiede waren: 1) Stofflich-thematisch => der Naturalismus wollte Ausgeschlossenes, Unschönes und Zufälliges darstellen; er bezog sich auch auf Darwins Vererbungslehre; es gab die Vorstellung des vererbten Schicksals, z.B. dass Kinder von Alkoholikern zwangsweise auch Alkoholiker werden müssen; Themen waren Krankheit, Dekadenz und die soziale Frage; politisch war man mit der deutschen Sozialdemokratie verbunden 2) Art des Schreibens => die Naturalisten wollten keinen poetischen Sprachstil, sondern eine 1:1 ungeschönte Sprache (im Realismus sprechen Alle gehoben); man versuchte, möglichst präzise zu imitieren; im Sekundenstil entsprach die Erzählzeit der erzählten Zeit; dabei ging 8 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart man von der äußeren Wirklichkeit aus (beim „Leutnant Gustl“ war es dann die innere Wirklichkeit) Der deutsche Naturalismus war von der Entwicklung der modernen Wissenschaft und der Entwicklung moderner Literatur außerhalb Deutschlands beeinflusst. Man erhob den Anspruch, in der Literatur wissenschaftlich vorzugehen, wobei Émile Zola zum Vorbild wurde. Im experimentellen Roman nach Zola erfand man Personen und ließ sie naturgesetzlich reagieren. Der Darwinismus war mit survival of the fittest und der Dekadenz (Auf- oder Abstieg durch Vererbung; z.B. Thomas Manns „Buddenbrooks“) zentral für den Naturalismus. Ebenso wichtig war Henrik Ibsen, dessen zentrales Thema das Herausbrechen einer Lebenslüge war und so die Fassade des Bürgertums kritisierte. Ibsendramen sind analytische Dramen, die Vorgeschichte wird im Stück aufgedeckt. Tolstoi war bedeutend, da er das bäuerliche Milieu darstellte. Das naturalistische Selbstbewusstsein hing mit der deutschen Reichsgründung zusammen. Die Zentren waren München und Berlin. Es gab zwar keinen programmatischen Schwerpunkt außerhalb, aber quasi-naturalistische Autoren. Beispiele dafür sind die Themen Ebner-Eschenbachs oder Anzengrubers Volksstücke. Der Vormärzautor Büchner wurde wiederentdeckt, „Woyzeck“ erstmals ediert. Woyzeck ist ein einfacher Mann, der sich selbst nicht helfen kann und durchdreht (vgl. „Bahnwärter Thiel“). Ein wichtiger Theoretiker des Naturalismus war Arno Holz. Er propagierte den Sekundenstil und die Formel „Natur = Kunst – x“. Die Natur sollte in der Kunst also möglichst ohne Veränderung dargestellt werden Gerhart Hauptmann => der bedeutendste deutsche Naturalist, auch wenn er vom Programm Zolas abwich; 1862 geboren, starb er 1946. Hauptmann ließ sich von den Nazis missbrauchen. Das Programm des Naturalismus gab er früh auf. Berühmt wurde er mit dem Drama „Vor Sonnenaufgang“, das darwinistisches Denken verdeutlicht. Es gibt eine neureiche Bauernfamilie, eine Tochter ist Außenseiterin. Ein Intellektueller aus der Stadt stößt zur Familie, es kommt zur Romanze. Da die Tochter erblich vorbelastet ist, kommt sie aus der Familie nicht heraus; „Bahnwärter Thiel“ => eine novellistische Studie; neben den Naturszenen setzt Hauptmann die Eisenbahn symbolisch ein; es ist kein klassisch naturalistischer Text; ein Thema ist sexuelle Abhängigkeit; es gibt zwei Frauentypen, das asexuelle Engelswesen und die Frau, die Weib ist; Thiel betreibt einen Kult um seine verstorbene Frau; er fühlt sich eingesperrt, kommt aber auch von seiner neuen Frau nicht weg; es ist keine nüchtern erzählte Fallgeschichte und beinhaltet viel Symbolik 9 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Der Naturalismus ist als Epoche ein nicht unproblematisches Konstrukt. Es ist auch schwer zu sagen, wer oder was naturalistisch ist. Die Jahrhundertwende und die Wiener Moderne In Darstellungen zur Jahrhundertwende wird oft der Naturalismus miteinbezogen, diese ist zumindest Teil der 1. Phase der Literatur dieser Epoche. Die Jahrhundertwende wird bis etwa 1914 datiert. Andere Begriffe sind Impressionismus, Decadence und Wiener Moderne. Mit der Jahrhundertwende beginnt die Moderne, wozu der Naturalismus eher nicht mehr zählt. Kontext: Erfahrung der Modernisierung und Urbanisierung => Um die Jahrhundertwende entstand vor allem Großstadtliteratur. Die Großstadt war das sichtbarste Phänomen dieser Zeit, es entstand erstmals die Massengesellschaft. Man fragte sich, wie sich die Masse auf das Individuum und die Nerven (Reizüberflutung) auswirkt. Der moderne Mensch ist der nervöse Mensch. Neue Medien => Damals begann der Siegeszug von Kino und Film. Dass die Abbildung der Wirklichkeit nun fast 1:1 möglich war, beeinflusste die Realismusdebatten. Die objektive Realität der Welt wurde fragwürdig (wie sie die Realisten und Naturalisten ja darstellen wollten), stattdessen ging man von der Wahrnehmung als einer Konstruktion des Menschen aus. Dies war die Grundlage für den Impressionismus, also die Ansicht, dass die „Wirklichkeit“ vom Auge entworfen wird. Mentalitäts- und sozialer Wandel => Damals kam das Sportkonzept auf. In den Städten entwickelte sich die Jugendkultur, da die Jugendlichen dort weniger stark der elterlichen Kontrolle unterworfen waren. Es kam zur Revolution der Geschlechterverhältnisse. Man stellte die Geschlechterkonzeptionen in Frage und Frauen begannen zu arbeiten (z.B. als Lehrerinnen). Zudem gab es eine öffentliche und wissenschaftliche Diskussion über Sexualität. Individualität => Einerseits wurden die Menschen individualistischer, andererseits stellte man das Konzept des sich selbst definierenden Individuums in Frage (das Unbewusste regiert, das Ich ist nur Fiktion). Themen in der Literatur: 10 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Mit der wachsenden Bedeutung der Metropolen (Paris als Zentrum von Literatur und Kultur) entstand die Großstadtliteratur. Es kam zur Abkehr vom großen Roman, da die Augenblicke wichtiger wurden, so entstand ein Kultur der kleinen Formen und Sinneseindrücke. Neben der Großstadtliteratur hatte die Heimatliteratur als Gegenentwurf Konjunktur. Dorf- und Landgeschichten wurden erstmals realistisch (keine Schäferdichtung mehr) dargestellt, aber auch idealisiert, da man sich ins Landleben und in alte Werte flüchten wollte. Damit stand sie parallel zur Großstadtliteratur und zeichnete sich durch konservativere Schreibweisen aus. Mit den neuen Körper- und Gesellschaftskonzepten hatten verschiedene Frauentypen Konjunktur, z.B. die Femme Fatale, an der die männliche Verunsicherung sichtbar wurde. Die Elektra ist ein Beispiel für den hysterischen Frauentyp. Um die Jahrhundertwende wurde der Darwinismus mit Vorstellungen von Decadence verbunden, was z.B. zur Eugenik führte. Mit der Vorstellung des unrettbaren Ichs kam der Impressionismus (= Subjektzerfall) auf. Hermann Bahr erhob die Nervenkunst zum Signum der Gegenwart, die von einer Tendenz zum Fragmentarischen gezeichnet war. In der Literatur ging man weg von der geschlossenen Literatur hin zu Momentaufnahmen. Sigmund Freud ist ein Beispiel dafür, dass damals viele jüdische Wissenschaftler und Künstler eine große Rolle spielten. Dies ist eine Folge der Gleichstellung der Juden nach 1848. Freud arbeitete die zentrale Kategorie des Unbewussten heraus, die hermeneutisch analysiert wurde und Arthur Schnitzler beeinflusste. Österreich: Der Naturalismus war in Wien (anders als Berlin und München) kaum vertreten. Hermann Bahr wollte die Stadt zu einem Naturalismuszentrum machen, nachdem er diesen in Paris kennengelernt hatte. Später jedoch schrieb er einen Aufsatz zu dessen Überwindung und sprach von der Nervenkunst (= Impressionismus). Schließlich sammelte er einen Zirkel Gleichgesinnter um sich, das junge Wien (auch: Wiener Moderne). Diesem feindlich gesonnen war eine weitere zentrale Figur dieser Zeit, Karl Kraus. Er hatte einen jüdischen Hintergrund, war wohlhabend und wie viele Juden ein Zuwanderer. Kraus begann als Verfechter des Naturalismus, weil darin die bürgerliche Fassade dekonstruiert wurde. Sich selbst sah er als Kritiker des wohlhabenden bürgerlichen Ringstraßenetablissements und der liberalen Partei, daneben kritisierte er auch die jungen Wiener. 1899 gründete er die Zeitschrift „Die Fackel“, die er bis zu seinem Tod 1936 herausgab und die primär als sein Sprachrohr diente. Ein weiteres Feindbild war für ihn die bürgerliche Presse, vor allem die „Neue freie Presse“. Als Sprachkritiker wetterte er gegen den „Phrasensumpf“ und die liberale Presse als „Verlotterer“ der Sprache, indem er in der „Fackel“ Presseartikel zerlegte. Trotz seines jüdischen Hintergrunds war Kraus auch Antisemit, eines seiner Feindbilder war Heinrich Heine. Peter Altenberg schätzte er, obwohl dieser Mitglied der 11 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart jungen Wiener war. Kraus‘ monumentales Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit“ ist gegen den 1. Weltkrieg gerichtet. Anders als andere Literaten war Kraus von Anfang an gegen den Krieg. In den rund 200 Szenen findet sich auch Sprachkritik, indem er tatsächlich gefallene sprachliche Ausdrucksmittel einbaute. Verknüpft mit dem jungen Wien und der Wiener Moderne rund um Hermann Bahr war die Kaffeehausliteratur. Das Kaffeehaus war ein halb privater, halb öffentlicher Ort für Autorentreffen. Ein Beispiel ist Peter Altenbergs Textsammlung „Wie ich es sehe“, eine Reihe kurzer Prosaskizzen. Felix Salten schrieb „Bambi“, auch „Josefine Mutzenbacher“ wird ihm zugeschrieben. Hugo von Hofmannsthal (geboren 1874) galt als das Junggenie der jungen Wiener. Aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammend war er zunächst als Lyriker erfolgreich. Später schrieb er den „Chandos-Brief“, einen fiktiven Brief an Francis Bacon rund um die Sprachkrise. Damals zerbröselte der Glaube der Macht an die Sprache, also der Glaube, dass die Sprache der Wirklichkeit gerecht werden könne (vgl. Realismus/Naturalismus). Hofmannsthal hoffte auf Theater und Oper, da dort nicht Sprache nicht allein auf die Wirklichkeit referierte (also neben Musik und Schauspiel). Er kehrte der Lyrik den Rücken, wurde Dramatiker und verfasste Libretti für Richard Strauss. Arthur Schnitzler (1862-1931) stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Wie sein Vater wurde er zunächst Arzt, später Literat (bei seinen Zeitgenossen galt er als überholt). Schnitzler war vor allem Dramatiker und Erzähler. Berühmt wurde er 1890 mit „Anatol“, einer Sammlung von Einaktern, wo ein Wiener durch die Stadt flaniert und diverse Erfahrungen macht. Das Werk ist als Portrait der Wiener um 1900 zu sehen, Schnitzlers Schriften enthielten aber immer auch Selbstkritik. Sein Skandaldrama „Reigen“, ein Stück über Sexualität, konnte erst nach dem 1. Weltkrieg aufgeführt werden. In zehn Dialogen wird paarweise die Wiener Gesellschaft durchgespielt, von der Prostituierten bis zum Graf. Es ging um Dialoge vor und nach dem Sex, was skandalös war, da Sexualität damit ihrer gesellschaftlichen Privilegierung entkleidet wurde. „Professor Bernhardi“ ist ein Skandalstück von 1912, in dem es um das Verhältnis von Religion und Staat geht. Ein jüdischer Arzt behandelt eine Frau, die nach einer Abtreibung im Sterben liegt, selbst jedoch euphorisch ist und nichts davon weiß. Ein Kaplan will ihr das Sterbesakrament erteilen, was Bernhardi jedoch verweigert. Es kommt zum Skandal und er wird vor Gericht verurteilt. Bernhardi und der Kaplan werden nun von politischen Parteien instrumentalisiert, wobei die beiden Protagonisten die einzig integren Menschen sind. 12 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Schnitzler ist auch berühmt für seine kurzen Erzählungen, z.B. „Leutnant Gustl“ (1900), der erste deutsche Text im Stil des inneren Monologs. Die Erzählung findet im Kopf des Leutnants statt, dessen Bewusstsein der Leser nicht verlässt. Gustl hat Minderwertigkeitskomplexe und ist Antisemit und Frauenfeind. Er entblößt sich unwillkürlich in seinen Gedanken. Expressonismus Eine schwer zu definierende literarische Strömung etwa von 1910-25. Anfangs handelte es sich um eine Jugendbewegung, die gegen andere Literatur wie den Impressionismus war. Gegen 1925 wurde sie von der Neuen Sachlichkeit abgelöst. Historischer Kontext: Der Expressionismus fällt ungefähr mit dem 1. Weltkrieg zusammen. Zuvor hatte es eine relativ lange Friedenszeit und ökonomische Stabilität gegeben. Es war eine großbürgerliche, liberale Ära. Daneben gab es aber auch Probleme. Der Vielvölkerstaat, der die Habsburgermonarchie war, litt unter dem Nationalitätenkonflikt. 1870 entstand nicht nur ein deutscher Staat, der Deutschnationalismus nahm generell zu, vor allem unter den Intellektuellen und Studenten (darunter auch Juden). Der Nationalitätenkonflikt führte auch zu Streitigkeiten in den politischen Parteien Österreich-Ungarns. Um 1900 kann man generell von einer Krisensituation sprechen, wofür etwa die Balkankrise verantwortlich war. Ein Ausdruck der Krise war schließlich der Expressionismus. Anfangs handelte es sich um eine revolutionäre Jugendbewegung, später war der Expressionismus etablierter. Die Jugendbewegung lehnte etablierte Literatur wie den Impressionismus ab. Man war zwar antibürgerlich und antipsychologisch eingestellt, es gab jedoch keine eindeutige expressionistische Schule. Die jungen Expressionisten waren meist junge Männer die auch meist begeistert in den Krieg zogen, viele von ihnen wurden später Nazis. Nach dem 2. Weltkrieg kam es zu einer erbitterten Expressionismusdebatte, man warf der Bewegung vor, ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Merkmale: Der Expressionismus war eine Reaktion auf das Unbehagen wegen des bürgerlichen Fortschritts. Er war auch ein Generationenkonflikt, der sich im Hass auf die Vätergeneration zeigte. Dabei können Väter aber auch Symbole für den Staat, Religion usw. sein. 13 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Es gab eine Begeisterung für moderne Technik, da man vom Altmodischen abkehren wollte. Ebenso begeisterte man sich für Nietzsche und sein Konzept des Übermenschen. Das Frauenbild der Expressionisten entsprach Otto Weiningers Geschlechtermetaphysik. 1903 gestorben, war er noch kein Expressionist, hatte jedoch aufgrund seiner Dissertation großen Einfluss auf die jungen Expressionisten. Diese wurde als Buch unter dem gleichnamigen Titel „Geschlecht und Charakter“ sehr erfolgreich. Weininger ging davon aus, dass jeder Mensch männliche und weibliche Eigenschaften habe. Die männliche Seite repräsentiere positive Aspekte wie Vernunft, Kultur und Wissenschaft, die weibliche Seite wiederum negative Aspekte wie Instinkt und Triebe. Demnach müsste das Weibliche überwunden und das Männliche groß gemacht werden. Diese Polarität sei mit jüdisch (weiblich) und arisch (männlich) gleichzusetzen. Das Weiblich-Jüdische stehe dem Fortschritt im Weg. Die Expressionisten hatten eine Vorliebe für die nicht-bürgerliche Welt, also für Außenseiter und Randgruppen. Zu dieser Zeit gab es beispielsweise im Theater das literarische Genre des Dirnenlieds. Dieses ging von der Idee aus, dass das Weibliche durch die Sexualität domniere, wovon sich das Männliche befreien müsse. Der Expressionismus ist in allen Literaturgattungen nicht gleich stark vertreten. Die Jugendbewegung hatte kaum Zugang zu Bühnen und publizierte daher zunächst vor allem kurze Erzählprosa und Lyrik in Zeitungen und Zeitschriften. Gedichte stellten die Hauptgattung dar. In den Erzähltexten war man scharf gegen die Nachahmung und Wirklichkeit und antipsychologisch eingestellt. Oft gab es keine Individuen sondern nur Typen (z.B. „der Mann“). Die Erzählweise war antitraditionell, so gab es z.B. eher Momentaufnahmen als in sich geschlossene Geschichten. Autoren: Franz Kafka: Um 1900 kam es zu einer Konjunktur fantastischer und schauriger Literatur. Man strebte an, das Unbewusste zu zeichnen und knüpfte an die schwarze Romantik an (z.B. E.T.A. Hoffmann). Auch Kafka ist in diesem Zusammenhang zu sehen, seine Welten hatten irreale und fantastische Elemente. Kafka war ein Autor, der literarisch dem Prager Kreis zugerechnet wird, zu dem auch viele Juden gehörten. So gesehen war Kafkas Situation doppelt prekär, da er als deutschsprachiger Jude in Prag der Minderheit innerhalb einer Minderheit angehörte. Damals nahm der rassistische Anitsemitismus zu, mit dem teils sogar die Massenparteien operierten. Neben den Deutschnationalen wollte auch die christlich-soziale Partei Wähler mit antisemitischer Agitation an sich binden. Kafka lebte als Jurist ein bürgerliches Leben und schrieb daneben Literatur. Zu seiner Zeit war er allerdings nicht sehr einflussreich. Er schrieb vor allem Erzählprosa, hinterließ aber auch drei 14 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Romanfragmente, die nach seinem Tod von Max Brod herausgegeben wurden. Die 1913 geschriebene Erzählung „Das Urteil“ wurde von Kafka als Auto-Geburtserlebnis betrachtet. Er selbst äußerte sich zum Stoff und verwies etwa auf Namensähnlichkeiten der Protagonisten mit sich selbst und Felice Bauer. Zudem ging er davon aus, auch eigene Konflikte (z.B. mit dem Vater) darin verarbeitet zu haben. Kafkas Geschichten werden aus der Sicht der Hauptfiguren erzählt, allerdings nicht konsequent. Ein allwissender Erzähler stellt das teils traumähnliche Geschehen als Realität dar. „Das Urteil“ ist sehr rätselhaft und kann vielfältig interpretiert werden. Das Romanfragment „Der Proceß“ ist eher eine Sammlung von Erzählungen statt Romanen. Kafka schrieb das Schlusskapitel zuerst und arbeitete dann auf dieses hin. Gedichte des Expressionismus => die Lyrik zählt heute als bleibende Leistung des Expressionismus. Sie wurde vor allem in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Die von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie „Menschheitsdämmerung“ begann mit Jakob von Hoddis‘ „Weltenende“, an dem man die stilistische Reihungstechnik sehen kann. Dabei wird Hauptsatz für Hauptsatz scheinbar ohne Zusammenhänge aneinandergereiht, die Wortwahl ist grotesk-komisch. Gottfried Benn setzte in seinen Gedichten auf Schockwirkung. Er begann als expressionistischer Lyriker und wurde in den 1930ern ein Nazi, wurde jedoch von den Nazis wiederum abgelehnt. Nach 1945 wurde er ein bedeutender westdeutscher Lyriker. Als Arzt schrieb er 1912 Gedichte zu seiner Arbeit im Leichenschauhaus, „Kleine Aster“ und „Schöne Jugend“. Dabei griff er auf bekannte Motive zurück, z.B. die junge Frau, die sich ertränkt. Georg Trakl war ein Oper des 1. Weltkriegs. Schon jung hatte er ein Drogenproblem. Er ging als Sanitäter in die Kampfhandlungen und machte den Kriegshorror publik, bevor er schließlich an einer Überdosis Morphium starb. Trakl hatte großen Einfluss auf die Generation nach 1945. Er bediente sich der lyrischen Reihentechnik, indem er Bilder ohne syntaktische Zusammenhänge nebeneinander stellte, z.B. 1915 im Gedicht „Grodek“. Romane des Modernismus Die Romane des Modernismus sind nicht eindeutig Epochen zuzuordnen. An dieser Stelle wird ein gattungsgeschichtlicher Zugang gewählt. Der Roman ist eine literarische Gattung, die erst relativ spät zu literarischen Ehren kam, da ihr Aufstieg erst im 18. Jahrhundert begann. Erstmals kam der Gedanke auf, dass der Roman die Gattung der Moderne sei und den Epos ablösen könne. Der Roman galt zunehmend als Epos des Bürgertums und legte im 19. Jahrhundert weiter an Bedeutung zu. Im 19. Jahrhundert setzte man beim Roman auf traditionelle Erzählung, da man davon ausging die Welt erzählen zu können (vgl. Realismus). 15 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart James Joyce / „Ulysses“ „Ulysses“ von James Joyce ist der Schlüsselroman der Moderne. Er wurde rund um den 1. Weltkrieg geschrieben. Nach Vorabdrucken kam das Buch 1922 heraus. Joyce war ein irischer Schriftsteller. Irland war damals noch eine Kolonie Großbritanniens. Der Roman erzählt 24 Stunden aus dem Alltag Dublins, v.a. aus der Sicht des jungen Literaten Stephen Dedalus und der eigentlichen Hauptfigur, dem durchschnittlichen Bürger und Juden Leopold Bloom. Sie treffen einander im Dubliner Nachtleben, wo Bloom Dedalus vor einer Schlägerei rettet. Joyce modellierte den Text nach Homers Odyssee und verwies auf Episoden aus dieser. Dedalus beschließt Dublin zu verlassen und treibt sich in der Stadt herum. Bloom verbringt indes einen ereignislosen Tag. Dabei ist Dedalus wie Telemach, der seinen Vater Odysseus sucht, während Bloom wiederum Odysseus entspricht, als er morgens sein Haus verlässt, Stephen rettet und am Abend in sein Haus zurückkehrt. Das letzte Kapitel ist ein innerer Monolog der Molly Bloom. „Ulysses“ ist der Abschied vom traditionellen Erzählen, der Versuch, die Wirklichkeit in Sprache zu übersetzen. Dabei wandte Joyce immer stärker verfremdende Mittel an, z.B. katholische Katechismen oder ein fantastisch-surreales Theaterstück im Rotlichtviertel. Zudem montierte er Schlagzeilen in den Text. Der Roman wurde schnell zum Geheimtipp unter Literaturkennern, hatte jedoch auch einen Skandalruf, da es bürgerliche Leserer irritierte, dass alle Gedanken und die Wirklichkeit dargestellt wurden. Thomas Mann / „Der Zauberberg“ Thomas Mann (1875-1955) war ein repräsentativer deutschsprachiger Autor der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Autodidakt entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Mit 25 Jahren wurde er mit den „Buddenbrooks“ berühmt. Rund um den 1. Weltkrieg war Mann konservativ eingestellt, nach dem Krieg kam es aber zu einem politischen Gesinnungswechsel und er wurde Anhänger der Weimarer Republik. Unter den Nazis ging er ins Exil und wurde schließlich eine repräsentative Figur des deutschen Exils. 1945 kehrte er aus den USA zurück, entschied sich aber weder für die BRD oder DDR, sondern die neutrale Schweiz. Um 1900 schrieb Mann die Novelle „Der Tod in Venedig“. Darin reist ein bürgerlicher Schriftsteller nach Venedig und lässt sich dort gehen. Als die Cholera ausbricht bleibt er und riskiert seinen Tod, bis er tatsächlich stirbt. In der Novelle wird die Sympathie der Kunst mit dem Tod thematisiert. Nachdem Mann seine Frau in einer Lungenheilanstalt besucht hatte und von der dortigen morbiden Atmosphäre fasziniert war, wollte er eine Gegennovelle zum „Tod in Venedig“ schreiben. Daraus entstand der Roman, der nach dem 1. Weltkrieg fertiggestellt wurde. 16 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Der Roman wird über einen traditionellen auktorialen Erzähler erzählt. Der junge Hans Castorp besucht eine Heilanstalt, bevor er in das bürgerliche Leben eintritt. Da er von der dekadenten Atmosphäre des Todes fasziniert ist, bleibt er jedoch sieben Jahre lang dort. Am Ende des Romans bricht der 1. Weltkrieg aus, alle reisen ab, Hans wird eingezogen und stirbt vermutlich auf dem Schlachtfeld. „Der Zauberberg“ ist eine Parodie des deutschen Bildungsromans. Die Bildung wird v.a. durch zwei intellektuelle Männer vermittelt, die Hans beeinflussen wollen und sich ideologische Gefechte liefern. Dem italienischen Humanisten Settembrini steht der Jesuit Naphta gegenüber. Das Buch ist von einem Ost-West-Konflikt gekennzeichnet, wobei der Osten geheimnisvoller in Erscheinung tritt, nicht zuletzt in Person der Clawdia Chauchat. Das Werk kann als Zeitroman gelesen werden, der ein realistisches Abbild der Jahre vor dem 1. Weltkrieg liefern soll. Wie ein Zeitroman im Realismus wird das Panorama Europas beschrieben. Weiter wird auch das Phänomen der Zeit thematisiert, also subjektive vs. objektive Zeit. Die Anfangszeit der Handlung wird sehr ausführlich geschildert, die restlichen Jahre jedoch in Windeseile. Ein Bildungsroman ist „Der Zauberberg“ in einer gewissen Weise, da Hans in einem Schlüsselerlebnis lernt, dem Tod keine Macht einzuräumen. Diese Erkenntnis vergisst er jedoch wieder. Textstruktur: Der Roman besteht aus Symbolen, Leitmotiven und einem großen Netz an Querverweisen. Mann arbeitete andere Texte ein, allerdings nicht in Form erkennbarer Montagen wie bei „Ulysses“. Das gleiche Verfahren wandte er auch bei „Dr. Faustus“ an. Alfred Döblin / „Berlin Alexanderplatz“ Alfred Döblin (1878-1957) entstammte einer jüdischen Familie und wurde später Katholik. „Berlin Alexanderplatz“ beansprucht, die Geschichte einer Großstadt zu zeichnen, wobei Döblin zum Mittel der Montage greift. Er montiert Berlin mit Schlagzeilen, fremden Texten (z.B. aus Reiseliteratur), der Bibel etc. Der Roman ist dabei auch die Individualgeschichte von Franz Biberkopf. Er wird aus dem Zuchthaus entlassen, nachdem er seine Geliebte im Affekt getötet hat. Nun will er ein anständiges Leben führen, was ihm aber nicht gelingt. Er verliebt sich in Mieze, wird aber rückfällig, als er dem Kriminellen Reinhold verfällt, der ihn in die Unterwelt zieht. Dieser tötet später auch Mieze. Am Ende des Romans steht ene Quasibekehrungspassage. „Berlin Alexanderplatz“ war ein erfolgreicher Roman, der schon in den 30ern verfilmt wurde, aber auch Döblins einziger Publikumserfolg. Wie Joyce suchte Döbling neue literarische Techniken, um das Großstadtleben darzustellen. Auch dieses Roman kann als Zeitroman gelesen werden. 17 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Robert Musil / „Der Mann ohne Eigenschaften“ Robert Musik (1880-1942) entstammte einer großbürgerlichen Familie und war Intellektueller. Zeit seines Lebens fand er wie Döblin keine Anerkennung und starb schließlich im Schweizer Exil. Erste Konzepte des „Mann ohne Eigenschaften“ erstellte er schon vor dem 1. Weltkrieg, der 1. Band wurde schließlich 1930 gedruckt. Den Roman konnte er nie vollenden, nach seinem Tod wurde 1952 eine Gesamtausgabe veröffentlicht, die aber teils kritisiert wurde. Es gibt keine durchgehende Geschichte, bzw. wird die Geschichte absichtlich nicht erzählt. Stattdessen schrieb Musil diskursive essayistische Passagen. Die Hauptfigur ist der Wissenschaftler Ulrich, der sich ein Jahr lang Urlaub von seinem Leben nimmt. Der Roman spielt in Wien, der Hauptstadt von „Kakanien“, im Jahr 1913. Ulrich trifft auf eine Gruppe von Aristokraten, die bis zum 70. Regierungsjahr Kaiser Franz Josefs 1918 eine patriotische Aktion planen, die das 30. Regierungsjahr des deutschen Kaisers Wilhelm in den Schatten stellen soll. Diese Parallelaktion ist der leere Kern des Romans. Man sucht nach einer zentralen Idee für die Aktion, Ulrich wird der Sekretär. Dadurch wird eine parodistische Schilderung der Gesellschaft mit vielen Handlungsfäden möglich. Musil plante ein utopisches Ende. Ulrich sucht den „anderen Zustand“ hoher Sinnlichkeit und Intellektualität. Literatur der Weimarer Republik/Neue Sachlichkeit Seit 1900 gab es kaum noch klar dominierende Schreibweisen. Eine der literarischen Strömungen der Weimarer Republik war die Neue Sachlichkeit, die in den 1920ern parallel zu anderen Strömungen wie dem Expressionismus lief. Die Weimarer Republik war für Deutschland eine politisch-historische Zäsur und ist zudem eine Epochenbezeichnung der deutschen Literatur. Diese ist augenscheinlich problematisch, da Österreich und die Schweiz nichts mit Weimar zu tun hatten. Allerdings spielte die Weimarer Republik auch für die deutschsprachige Literatur dieser Länder eine große Rolle. Schriftsteller strebten eine Orientierung auf den deutschen Buchmarkt hin an, außerdem gab es dort mehr Verlage. Berlin gewann zudem nach 1918 auch große Anziehungskraft für Autoren, da etwa nach dem Zusammenbruch der K.u.K-Monarchie Wien provinziell erschien. Die Weimarer Republik wurde 1918 nach dem Ende des 1. Weltkrieges ausgerufen. Dies geschah unter problematischen Vorzeichen, da die Demokratie von Vielen nicht gewollt wurde. Es hatte keine Bewältigung des Krieges gegeben, stattdessen zirkulierte die Dolchstoßlegende. Die Republik wurde von Links und Rechts bekämpft. Die Linken hatten mit Blick nach Russland das Bedürfnis nach einem komplette Neuanfang. Die Rechten verlangten nach Restauration oder einem autoritären Führerstaat. Die Wirtschaftskrise machte dem mittleren Bürgertum sehr zu schaffen, es kam zu 18 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Abstiegsängsten und Massenentlassungen, was den rechten Parteien Zulauf brachte. Zuvor hatte es zwar wirtschaftliche Konsolidierung der Republik gegeben, die aber mit der Weltwirtschaftskrise 1929 endete. Der 1. Weltkrieg war ein Bruch für die Menschen. Trotz der vorangegangenen Entwicklungen sah man sich in den 1920ern plötzlich in die Moderne geworfen. Die Stadt wurde zur Großstadt, es gab neuen Massenverkehr, Massenmedien sowie die Massenproduktion von Konsumationsgütern. Neben der Zeitung etablierten sich Film, Grammophon und Radio. Der Firlm wurde zum ernstzunehmenden Medium für die Kunst. Massenmedien gewannen generell an Bedeutung, die Presse wurde von Allen gelesen. Die 1920er brachten zwei bedeutende soziologische Verschiebungen: 1) Der neue Sozialtyp der Angestellten: diese waren keine Arbeiter und hatten kein proletarisches Selbstbewusstsein. Die stärkste Angst war die vor dem sozialen Abstieg. Es entstanden mehr Freizeitmöglichkeiten, den Angestellten stand eine neue Kulturindustrie zur Verfügung. 2) Die neue Fraue: Optische Merkmale waren neue Kleidung und Bubikopf. Frauen wurden selbstständiger und nahmen ihr Leben in die eigene Hand. Dies war eine Folge des 1. Weltkriegs, als Frauen in Männerberufe gekommen waren. Frauen emanzipierten sich nun auch sexuell. Das neue Bild der Frau war aber teils nur ein kulturelles-literarisches Konzept, das Männerängste abbildete. In den 1920ern spielten Schriftsteller in Deutschland erstmals eine Rolle als öffentliche Intellektuelle, die sich zu politischen Fragen äußerten. Phänomen Amerikanismus: Die USA spielten nach dem 1. Weltkrieg erstmals eine bedeutende Rolle in der Weltpolitik. In den 1920ern gewann die amerikanische Kultur in Europa immer mehr an Bedeutung. Neben dem amerikanischen Film war das etwa Jazz, der jedoch von den Konservativen abgelehnt wurde. Die Kritik an den USA wurde während der 1930er immer stärker. Bis 1929 gelang der Weimarer Republik eine gewisse Konsolidierung, danach gab es keine klaren Mehrheitsverhältnisse der Parteien mehr. Stattdessen gab es Präsidialregierungen und die Nazis gewannen an Bedeutung. 1933 endete die Weimarer Republik mit deren Machtergreifung und der Umstellung auf das Führersystem. Neue Sachlichkeit 19 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Literarisch und kulturell knüpfte die Weimarer Republik an die Zeit zuvor an, z.B. an den Expressionismus. Die Neue Sachlichkeit war allerdings neu. Deren Vertreter forderten einen sachlicheren Umgang der Literatur mit der Wirklichkeit. Man war antiexpressionistisch und antisubjektiv eingestellt und strebte den Schreibstil der Pressereporter an. Die Literatur schloss mit ihrer Darstellung der Wirklichkeit quasi an den Naturalismus an. Man warf der Neuen Sachlichkeit vor, dass sie nur beschrieb und nicht programmatisch war. Neusachliche Autoren waren meißt gemäßigte linksliberale Republikaner. Sie pflegten einen gewissen Habitus, das Sich-nicht-Aufregen über die Welt und abgeklärten Zynismus, also den Gegensatz zu den Expressionsten, die ihre Gefühle ausdrückten. Bertolt Brecht / „Vom armen B.B.“ Bertolt Brecht (1898-1956) war ein junges Mitglied der verlorenen Generation. Erfolge konnte er in den 1920ern mit seiner Lyrik und seinen Dramen feiern. „Vom armen B.B.“ (1922) ist typisch neusachlich inszeniert. Es zeigt den Habitus des neusachlichen Menschen und wurde von Brecht als „Gebrauchstext“ definiert. Erich Kästner / „Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?“ Erich Kästner (1899-1974) war in den 1920ern mit einem Gedichtband erfolgreich. Er ging während des 2. Weltkriegs nicht ins Exil, erhielt aber Berufsverbot. „Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?“ (1928) war eine Parodie auf ein berühmtes Gedicht/Lied Goethes. Hans Fallada Hans Fallada (1893-1947) war ein wichtiger Romanautor der Neuen Sachlichkeit. In seinen Romanen beschäftigte er sich mit der Presse und der Angestelltenkultur. „Kleiner Mann, Großer Mann“ (1939) schildert die Geschichte eines Angestelltenpaares, das durch die Wirtschaftskrise will. Fallada ging nicht ins Exil. In seinem Roman „Jeder stirbt für sich allein“ geht es um ein älteres Ehepaar, das Widerstand gegen die Nazis beschließt. Das Buch wurde erst 1947 in der DDR veröffentlicht. Roman Nicht alle Romanautoren der Weimarer Republik waren neusachliche Autoren. So waren etwa Thomas Mann und Alfred Döblin repräsentative Autoren der Weimarer Republik, sie schrieben aber nicht neusachlich. Drama 20 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Mit der Theaterkrise starb das alte bürgerliche Theater, gleichzeitig begann die Zeit der großen Theaterexperimente (z.B. Filmprojektionen). Erich Maria Remarque / „Im Westen nichts Neues“ Ende der 1920er hatte Kriegsliteratur Konjunktur. Remarques (1898-1970) Antikriegsroman „Im Westen nichts neues“ wurde in der Presse vorabgedruckt (1928) und war dort schon sehr erfolgreich. Das Buch (1929) wurde zum Weltbestseller, die ebenfalls erfolgreiche Verfilmung (1930) bekam den Oskar, provozierte aber auch heftige politische Auseinandersetzungen. Es handelt sich um die IchErzählung eines jungen deutschen Soldaten an der Westfront, der aus seinen augenblicklichen Situationen heraus erzählt, aber auch Einsicht in Reflexionspassagen zeigt. Der Roman thematisiert die verlorene Generation, stellt also eine ideologische Botschaft dar. Es wird weniger eine Geschichte als nur Szenen erzählt, dabei wird Kritik am Hinterland in Kontrast zur Front laut. Die Sprache ist teils expressionistisch. Der Roman löste eine Kontroverse aus. Linke Kritiker bemängelten ein fehlendes revolutionäres Bewusstsein, Rechte lehnten das Buch generell ab. Die Verfilmung wurde zum Skandal, der Rechtsstaat gab schließlich auch dem Druck der Nazis nach und verbot den Film. Österreichische Literatur der 20/30er Jahre – Zwischenkriegszeit Geschichte 1918 wurde die 1. Republik als einer der Nachfolgerstaaten der Habsburgermonarchie ausgerufen. Anfangs wurde der baldige Anschluss an Deutschland angestrebt, jedoch von den Siegermächten verboten. Ähnlich wie in Deutschland gab es lange keine Identifikation der Bevölkerung mit dem Staat, eine gewisse Stabilität gab es erst Mitte der 20er Jahre. Doch die politischen Lager der Sozialdemokraten und Christlichsozialen entfremdeten sich, 1933 wurde die Demokratie abgeschafft. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß errichtete ein autoritäres Regime, vergleichbar mit den Regimes in Deutschland, Italien und Spanien. 1927 hatte sich die Lage mit dem Justizpalastbrand in Folge von außer Kontrolle geratenen Protesten gegen ein Skandalurteil rund um erschossene Schutzbündler verschlimmert, dabei starben 89 Menschen. Ab 1933 spricht man schließlich vom Ständestaat. Die Christlichsozialen versuchten nun in Abgrenzung zu Deutschland ein Österreichbewusstsein zu schaffen. Dollfuß starb 1934 bei einem Putschversuch der illegalen Nazis und wurde zum Märtyrer für Österreich und gegen die Nazis stilisiert. Die Verteidigung Österreichs durch die Schutzmacht Italien fand langsam ein Ende, Bundeskanzler Schuschnigg wurde von Hitler in die Enge gedrängt. Er unternahm noch den Versuch einer Volksabstimmung zum Anschluss Österreichs, doch zuvor kam es zur Machtergreifung der Nazis. 21 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Das Selbstbildnis der 1920er war heterogen. Die Sozialdemokraten sahen eher eine deutsche Identität, die Christlichsozialen eine österreichische. Dies lag auch an den unterschiedlichen Rückgriffen auf die Traditionen der Aufklärung und des Katholizismus. Der Ständestaat hatte das Selbstbild eines agrarischen Staates (Alpenstaat; Land der Berge,…). Die Salzburger Festspiele wurden zum Zweck der katholisch-österreichischen Identitätssicherung gegründet. Karl Kraus war eine Person, die Kontinuität zur Zeit vor 1918 darstellte. Er galt seinen Anhängern bis in die 30er als moralische Instanz, verstörte sie aber, als er ein Anhänger des Dollfußregimes wurde. Bildung und Kultur Die 1. Republik erlebte unter Otto Glöckel eine große Schulreform. Der Kircheneinfluss wurde weiter zurückgenommen. Universitäten bekamen mehr Studenten, auch Frauen, Germanistik wurde zum Massenfach. Die Sozialdemokraten gründeten Arbeiterbibliotheken, um die Arbeiter zu bilden, die jedoch am liebsten auf „Schundliteratur“ zurückgriffen. Als die Zensur abgeschafft wurde, konnten manche Texte erstmals erscheinen, darunter Schnitzlers Reigen. Der Film gewann an Bedeutung, Wien war in den 1920ern kurzzeitig eine Filmmetropole. Viele in der Branche Tätige emigrierten später in die USA und machten in Hollywood Karriere, z.B. Billy Wilder. Der Ständestaat wollte die offizielle Kultur vereinnahmen, die Kulturpolitik wurde staatliche gelenkt. Vieles an dieser Literatur erinnert an die NS-Literatur, z.B. die „Heimatkunst“. Theater, Oper und Kabarett gewabbeb ab Bedeutung. Da der Staat eine Kulturgroßmacht sein/bleiben wollte, wurde Wien als kulturelles Zentrum forciert. So kam es nach dem 1. Weltkrieg etwa zur Verstaatlichung des Burgtheaters. Franz Theodor Csokor (1885-1969) führte 1938 erstmals das Theaterstück „3. November 1918“ auf, mit dem Kontinuität zu den Habsburgern hergestellt werden sollte. Der Ständestaat war vom Anschlussgedanken an Deutschland abgekommen, was auch in diesem Stück verdeutlicht wurde. Es spielt in einem Kärntner Spital mit verwundeten k.u.k.-Offizieren, die den Zusammenbruch der Monarchie verspätet mitbekommen. Jeder Offizier steht für eine der Nationen der Monarchie. Sie erkennen schließlich, bald gegen einander kämpfen zu müssen. Einer erschießt sich. Bei seinem Begräbnis wirf jeder „nationale“ Erde in sein Grab, nur der jüdische Stabsarzt wirft „Erde aus Österreich“ hinein. Theater 22 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Jura Soyfer (1912-1939) entstammte einer jüdisch-ukrainischen Familie. Diese floh im 1. Weltkrieg nach Wien, wo Soyfer Sozialdemokrat wurde und Kabarettszenen schrieb. Er wurde im Ständestaat verhaftet und 1938 freigelassen, kurz darauf jedoch wieder von den Nazis verhaftet und 1939 ermordet. Seine Stücke konnten erst nach 1939 aufgeführt werden. Ödön von Horváth / „Geschichten aus dem Wiener Wald“ Ödön von Horváth (1901-1938) war ein Ungar deutscher Muttersprache. Er entstammte einer liberalen Diplomatenfamilie, weswegen er oft umzog. Seine Matura machte er in Wien, in München studierte er Theaterwissenschaften und Germanistik. Mit den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (1931) demontierte er zeitgenössische Wien-Bilder. Die junge Frau Marianne wird darin von einer Männerwelt kaputt gemacht. Sie verliebt sich in den Nichtsnutz Alfred, während sie der Fleischhauer Oskar unbedingt zur Frau will. Marianne bekommt und verliert ein Kind, Alfred lässt sie sitzen und sie landet schließlich nach einigen Schicksalsschlägen bei Oskar. Horváth schrieb in der Tradition des Wiener Volkstheaters, ließ die Protagonisten aber nicht im Dialekt sprechen. Er bediente sich vielmehr eines Bildungsjargons und ließ die Figuren die Hochsprache imitieren. Dabei waren sie erfolglos, was deren generelle Unfähigkeit zeigen sollte. Horváth floh vor den Nazis von Deutschland nach Österreich und ging später nach Paris, wo er von einem herabfallenden Ast erschlagen wurde. Seine Stücke wurden in den späten 60ern wiederentdeckt. Lyrik Die Lyrik der österreichischen Zwischenkriegszeit war eine betonte Rückwendung zur formalkonservativ-traditionellen Lyrik des Barock. Dabei wurde der Anschluss an die deutsche Klassik angestrebt. Theodor Kramer (1897-1958) schrieb in der Tradition des Bänkelsangs und aus der Perspektive von Außenseitern. Er gab unter anderem den Gedichtband „Gaunerzinke“ heraus. 1939 floh Kramer nach London, wo er Exilliteratur schrieb. Josef Weinheber (1892-1945) war ein berühmter Lyriker, der früh von rechten Kreisen gefördert wurde. Er war insofern von Otto Weininger beeinflusst, als er eine männliche und weibliche Sphäre der Sprache unterschied. Zunächst begrüßte er den Anschluss, erkannte jedoch später das Ausmaß der Naziverbrechen und verübte 1945 Selbstmord. Er war ein bedeutender Autor, doch seine NSNähe führte zu Diskussionen. Als Autor schrieb er klassizistisch, so verfasste er etwa Sonette. Erzählliteratur 23 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Die Erzählliteratur der Zwischenkriegszeit war am produktivsten. Die Produktion von Romanen war sehr weitläufig, es gab eine ausgeprägte Großstadtliteratur. Stefan Zweig (1881-1942) war ein auch international sehr erfolgreicher Autor. Am erfolgreichsten war er mit seinen Novellen und romanähnlichen Biographien. Zweig war ein Großbürger, der schon im Ständestaat ins Exil ging. 1942 verübter er in Brasilien Selbstmord. Seine Literatur war auch im Exil sehr anerkannt. Franz Werfel (1890-1945) war ein typischer k.u.k.-Autor, der auch in der Zwischenkriegszeit sehr populär blieb. Als traditioneller Autor verwendete er traditionelle Erzählmuster. Er entstammte dem Prager Judentum und war so mit dem Prager Kreis verbunden. Seit dem 1. Weltkrieg lebte er in Wien, beim Anschluss befand er sich gerade in Italien. Er ging zunächst nach Südfrankreich und dann in die USA ins Exil, wo er 1945 verstarb. Sein Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“ (1929) enthält Autobiographisches und gilt als Schlüsselroman zur Zeit um 1918. Bedeutungsvoll ist sein Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“, der schon früh den Genozid an den Armeniern thematisierte. Josef Roth (1894-1939) war ein typisch „kakanischer“ Autor, der vor allem die Identität zwischen Judentum und Christentum thematisierte. Er war ein galizischer Jude und zunächst ein eher linker Autor, wurde im Exil aber eher zum Monarchisten. Sein „Radetzkymarsch“ (1932) folgt dem Muster des Familienromans. Er zeigt die Geschichte von drei Generationen der Familie Trotta, die mit dem Untergang der Monarchie einhergeht. Ein Trotta rettet Kaiser Franz-Josef bei der Schlacht von Solferino und wird dafür geadelt. Sein Sohn wird ein typischer Beamter, der die Erstarrung der Monarchie verdeutlicht. Der Enkel stirbt schließlich im 1. Weltkrieg. „Radetzkymarsch“ wird oft als nostalgischer Roman missverstanden. Drittes Reich und Exilliteratur Durch das 3. Reich kam es zu einer literarischen Zweiteilung von Autoren, die in Deutschland blieben, und jenen die ins Exil gingen. Die Exilliteratur ist nicht klar abzugrenzen, wichtige Jahre waren etwa 1933, 1938 und 1939. Das Ende der Exilliteratur ist noch schwerer zu bestimmen, da manche Autoren erst sehr spät oder nie zurückkehrten. Literatur im 3. Reich 1933 kam es zur Machtergreifung der Nazis. Die NSDAP war lange Zeit nur eine kleine Partei gewesen, doch dann kam der rasante Aufschwung. Im Zuge des Reichstagsbrandes holten sie sich Sondervollmachten und hebelten die Demokratie aus. Bereits 1933 kam es zu einer Bücherverbrennung. Was nicht dem neuen deutschen Geist entsprach musste weichen. Die 24 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Verbrennungen wurden als spontane Aktion des Volkes propagiert. Das Regime bachte den Kulturund Literaturbetrieb unter seine Kontrolle. Erst hatten viele Autoren noch Hoffnung, dass der Spuk bald vorbeigehen werde, doch schließlich wuchs die Verbitterung der Exilautoren wegen des Verhaltens der deutschen Bevölkerung. Die Nazis waren eine sehr heterogene Bewegung. Das ist wichtig für die Kulturpolitik, da sie sich durchaus auch mit der literarischen Avantgarde und nicht nur alter Literatur (z.B. Goethe) beschäftigten. Ein Beispiel ist Gottfried Benn. Doch auch die Blut- und Bodenliteratur wurde gefördert. Die Literaturpolitik ließ den Schriftstellern größere Freiheiten als in den modernen Massenmedien Film und Radio. Dadurch gab es auch viele unpolitische Texte, die geduldet wurden. Manche waren auch camoufliert anti-nationalsozialistisch, nach dem Krieg spricht man von „innerer Emigration“ solcher in Deutschland gebliebener Autoren. Nach 1945 wurde Literatur aus dem 3. Reich abgelehnt, z.B. wollte Thomas Mann diese keinesfalls beachten. Es gab aber auch Ressentiments den Exilanten gegenüber, die ja den Krieg nicht mitgemacht hatten. Manche Autoren betonten nun auch ihre „innere Emigration“ und stilisierten sich zu Opfern. Es gab explizite NS-Autoren, die sich in den Dienst des Regimes stellten, z.B. bei der Kinder- und Jugendliteratur. Solche Autoren wurden mit Preisen und hohen Auflagen ihrer Werke gefördert. Generell musste man „Arier“ sein, um in Deutschland publizieren zu dürfen. Man musste gegebenenfalls auch vortäuschen, kein Nazigegner zu sein. Die alte literarische Heimatbewegung gewann in der Blut- und Bodenliteratur an Bedeutung, wo man das Landleben verherrlichte. Illegale Literatur gab es im 3. Reich kaum. Der Nationalsozialismus übte in der Frühzeit Faszination auf die Avantgarde aus. Gottfried Benn wurde Parteimitglied, Josef Weinheber hielt sich aus Geltungsbedürfnis an die Nazis. Die bürgerliche Literatur war diesen kaum wichtig, die Massen hingegen hatten große Bedeutung. Das neue Theater dieser Zeit war nach der Krise des bürgerlichen Theaters ebenfalls auf die Massen ausgerichtet, z.B. Festspiele. Die Nazis führten die Thing-Spiele durch, um den Volksgeist zu beschwören. Exilliteratur Exilliteratur ist im Rückblick die wichtigste Literatur dieser Zeit. Von den im 3. Reich gebliebenen Autoren war nur Gerhart Hauptmann wichtig, der sich nun als der deutsche Dichter inszenierte und Symbolfigur des geistigen Nazideutschlands wurde. Er stellte sich bereitwillig als Aushängeschild zur Verfügung. Die anderen bedeutenden Autoren gingen alle ins Exil. Manche waren schon sehr bekannt, z.B. Thomas Mann. Im Exil hatten sie mehr pder weniger Erfolg. Mann erfreute sich bereits 25 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart internationaler Resonanz, andere waren nun vom Buchmarkt abgeschnitten. Die Exilsituation war schwierig, da nicht jeder erfolgreich in eine andere Sprache wechseln und so ein neues Publikum gewinnen konnte. Die Exilliteraten befanden sich also in völlig unterschiedlichen Situationen, was sich auch auf die Rückkehr nach 1945 auswirkte. Bis auf die Gegnerschaft zu den Nazis gibt es bei den Exilanten kaum Gemeinsamkeiten festzustellen, manche mussten aus politischen, manche aus rassischen Gründen fliehen. 1933 ging man eher aus politischen Gründen ins Exil, da man auf ein baldiges Ende des Regimes hoffte. Die frühen Exilliteraten schrieben avantgardistische Texte, kehrten jedoch später zu konservativer Literatur zurück (diese Entwicklung vollzog sich parallel dazu auch im 3. Reich), da sie wirken wollten. Hierzu durften sie nicht avantgardistisch schreiben, um möglichst viele Leser zu erreichen. So kam es auch zu einer Renaissance des historischen Romans. In der inneren Emigration bot dieser auch die Möglichkeit versteckt Stellung zu beziehen. 1933 waren die unmittelbaren Länder die anfänglichen Ziele der Exilanten: Österreich, Schweden, Tschechien, die Schweiz und Frankreich. Diese waren ab 1939 nicht mehr sicher, weshalb man etwa über Spanien und Portugal in die USA ging. Ein zweites zentrales Asylland primär für die Linken war die Sowjetunion. Dies war problematisch, also die UdSSR kurz ein Verbündeter der Nazis war. Die USA waren für Kulturschaffende das wichtigste Exilland, da Hollywood Verdienstmöglichkeiten z.B. für Schauspieler bot. In den 30er Jahren kam es in der linken Szenen zur Debatte darüber, wie man mit dem Nationalsozialismus umgehen sollte. So wurde etwa die Bildung einer Volksfront der Anti-NS-Kräfte diskutiert. Die Kommunisten sahen in den Nazis ein letztes Zucken des Kapitalismus, den es zu bekämpfen galt. Doch man war mit den Sozialdemokraten zerstritten. Die 30er Jahre waren auch die Zeit des großen Terror in der Sowjetunion. Stalin inszenierte als alleiniger Machthaber Säuberungsprozesse und schaltete viele führende Kommunisten aus. Die Moskauer Schauprozesse waren irritierend für linke Beobachter, zumal viele Angeklagte die absurden Vorwürfe auch zugaben. So kam es zu einer Distanzierung linker Intellektueller von der Sowjetunion. Damit einher geht Renegatenliteratur. Dabei handelt es sich um Literatur von Leuten, die sich von einer politischen Bewegung abgenabelt haben, z.B. George Orwell mit „Animal Farm“ und „1984“. Arthur Koestler imaginierte in „Sonnenfinsternis“ einen Angeklagten in der Sowjetunion, der die Anschuldigen auf sich nimmt, da er von der Richtigkeit der Partei überzeugt ist. Während die Nazis in Deutschland sukzessive an Macht gewannen war Österreich mit dem Anschluss 1938 blitzartig nationalsozialistisch. Auch die Universitäten wurden schnell angepasst und viele Studenten und Professoren hinausgeworfen. Die Germanisten waren kaum betroffen, da sie stark 26 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart nazifiziert waren. Viele Kulturträger flüchteten aus Österreich, es gab aber auch einige die blieben und offen mit den Nazis sympathisierten (auch jene, die vorher vom Ständestaat gefördert wurden). 1938 wurden mit dem Bekenntnisbuch österreichischer Dichter literarische Beiträge der Sympathisanten veröffentlicht, darunter Josef Weinheber. Es gab aber auch innere Emigranten, die teils camouflierten Widerstand leisteten. Bertolt Brecht Bertolt Brecht (1898-1956) war seit den 20er Jahren Kommunist. Er verfasste vor allem Dramen, war aber auch ein bedeutender Lyriker. Er gilt als stilbildender Dramatiker der 20er. Seine Dramenästhetik nannte er aristotelisch, da er die Abkehr vom Illusionstheater anstrebte, also von der Vorstellung, im Theater dem wirklichen Leben zuzusehen. Dies gab es erst seit dem 18. Jahrhundert und war ein Kennzeichen des bürgerlichen Theaters. Die Illusion sollte Zuschauer zu Identifikation führen. Genau dies wollte Brecht nicht, der Zuseher sollte vielmehr erkennen, dass etwas exemplarisch gespielt wird. Es handelte sich um ein episches Theater mit klassischen Erzählelementen. Z.B. gab es eine Erzählinstanz oder es wurden Lieder gesungen, um antiillusionistisch zu sein (= Breaking the 3rd wall). Der Zuseher sollte die Erkenntnis aus dem Modell in die Praxis umsetzen. „Mutter Courage und ihre Kinder“ wurde 1938 im schwedischen Exil geschrieben. Es ist an eine Figur Grimmelshausens angelehnt. Das Stück schildert die Geschichte einer einfachen Frau die glaubt, aus dem Krieg ein Geschäft machen zu können. Doch dabei kommen all ihre Kinder um, ohne dass sie zur Erkenntnis kommt. Brecht ging von Schweden aus ins Exil in die USA und kehrte nach dem Krieg zurück. Dort wählte er die sowjetisch besetzte Zone, aus der die DDR wurde. Er wurde zum Vorzeigeautor der DDR, bekam ein Theater und prägte den Inszenier- und Spielstil nachhaltig. Thomas Mann Thomas Mann (1875-1955) war bereits mit den „Buddenbrooks“ berühmt geworden. Er wollte zunächst die Nazis nicht provozieren, damit seine Bücher weiterhin verkauft werden konnten. Auch im Schweizer Exil agierte er sehr zögerlich und distanzierte sich von seinen Kindern Klaus und Erika, die sich gegen die Nazis richteten. Doch auch er wandte sich später gegen das Regime. Er ging als hoch angesehener Autor ins Exil in die USA und worte dort zu der repräsentativen Stimme eines anderen Deutschlands stilisiert. Bei der BBC wurde er auch zur Stimme des Widerstand. Nach dem Krieg ging er in keinen der beiden deutschen Staaten sondern in die Schweiz. Im Schweizer Exil schrieb er den Roman „Dr. Faustus“ (1947) in dem er sich fragte, wieso sich die Nazis an der Macht 27 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart hatten halten können. Er versuchte die Faszination der Deutschen mit dem Regime zu erklären. Im Roman geht es um die Geschichte eines genialen Musikers, der einen Teufelspakt abschließt. Deutschsprachige Literatur nach 1945 Das Kriegsende 1945 stellte für Deutschland und Österreich (in geringerem Ausmaß auch für die Schweiz) einen politischen und literarischen Einschnitt dar. Die Zeit nach 1945 ist durch mehrere Einschnitte gekennzeichnet: Unmittelbare Nachkriegszeit: diese dauerte einige Jahre, bis es ab 1949 zwei deutsche Staaten gab; in Österreich kann man diese Zeit bis 1955 (Staatsvertrag) datieren 1961: die DDR litt immer stärker unter Bevölkerungsverlust durch Abwanderung/Flucht; 1961 wurde schließlich die Mauer gebaut Mitte der 1960er: Mitte der 60er kam es zu kulturellen Umbrüchen; in Österreich endeten die großen Koalitionen, Deutschland bekam eine SPD-Regierung unter Willy Brandt; das Jahr 1968 brachte folgenreiche gesellschaftliche Entwicklungen 1989: mit dem Ende des kalten Krieges entstand wieder ein einzelner, souveräner deutsche Staat; Österreichs Grenzen wurden geöffnet Unmittelbar nach Kriegsende setzte sich die Literatur intensiv mit dem 3. Reich und dem Krieg auseinander. Nach dem 1. Weltkrieg war das anders gewesen, wo die Kriegsliteratur erst verzögert in den 20ern aufkam. Die Literatur wurde von vielen Kriegsteilnehmern verfasst, wobei die Opferperspektive überwog. Der Holocaust wurde erst später thematisiert. Zudem kam die Kahlschlagliteratur auf. „Sie beschrieb das unmittelbare Erleben des Krieges und Nachkrieges aus der Sicht der „kleinen Leute“. Die Literatur sollte bei der Bewältigung des Vergangenen und beim Neuaufbau der Zukunft behilflich sein. Ziel war es, die von der nationalsozialistischen Ideologie missbrauchte Sprache durch Verknappung (=Kahlschlag) zu reinigen.“1 Ein Beispiel ist das Gedicht „Inventur“ von Günther Eich (1948), das die Situation eines Kriegsheimkehrers zeichnet. Typisch für die Kahlschlagliteratur ist die antiexpressionistische Ausrichtung. Man vermied große Worte und strebte den Stil amerikanischer Autoren Hemingway und den neutralen Hard-Boiled-Stil an. Paul Celans „Todesfuge“ (1948) greift eine andere Tradition auf. Celan war ein Kind jüdischer Eltern, die in der Shoah umkamen. Er selbst überlebte. Das Gedicht greift auf den deutschen Hochstil und den Expressionismus zurück. Celan versuchte so, den Holocaust, also das Unsagbare, in Worte zu fassen. 1 http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Tr%C3%BCmmerliteratur&redirect=no#Kahlschlagliteratur 28 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Schweiz: Die Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts war wie jene Österreichs mit dem deutschen Buchmarkt verbunden. Ihr wichtigster Autor war der erst spät berühmt gewordene Robert Walser. Auch Hermann Hesse war zumindest der Staatsbürgerschaft nach Schweizer. Sein Roman „Der Steppenwolf“ (1927) erlebte in den 60ern einen Boom ausgehend von der Hippiegeneration. Die Schweiz war in den 30ern sehr konservativ, auch bei der Literatur. Friedrich Glauser gilt heute als Klassiker der deutschen Kriminalliteratur. Nach 1945 galten Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch als die Schweizer Autoren, in den 50ern waren sie im deutschen Sprachraum sehr erfolgreich. Beide waren Damatiker und Erzähler. Frisch stand als Dramatiker in Brechts Lehrstücktradition. Dürrenmatt schrieb sehr erfolgreich und parabelhafte (damals modern) Stücke. DDR: Die DDR hatte eine eigenständige Kultur- und Literaturpolitik. Da es ein diktatorischer Staat war, rebellierten seine Autoren zunehmend. Anfangs gab es jedoch starke Identifikation mit der DDR. Diese bemühte sich stark Autoren für das „bessere Deutschland“ aus dem Exil zu holen (was in Österreich und der BRD nicht der Fall war). Ein Beispiel für zurückgekehrte Autoren war Bertolt Brecht. Die DDR war kein freier Staat, man musste dem Schriftstellerverband beitreten (dadurch war man aber auch nicht auf den Markt angewiesen). Stilistisch schloss man in der DDR an die Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts an, da Modernismus und Avantgarde verpönt waren. Aus dem realistischen Stil des 19. Jahrhunderts entwickelte man den sozialistischen Realismus. Modernismus galt als bürgerlich dekadent, in den 1950ern dominierte daher konventionelle Literatur. Der Mauerbau führte bei vielen Autoren zu einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der DDR. Sie wollten im Land positive Veränderungen herbeiführen, wurden aber teils ins Exil geschickt. Der Ungarnaufstand 1956, der Prager Frühling 1968 und die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurden für viele Autoren ebenfalls problematische Schlüsselerlebnisse. DDR-Schriftsteller wurden auch im Westen gelesen und teils nur dort veröffentlicht. Ihre Werke wurden teils deswegen Publikumserfolge, weil sie leicht kritische DDR-Autoren waren. Wolf Biermann wurde als Lyriker und Liedermacher berühmt. Jurek Becker ging im Roman „Jakob der Lügner“ der Frage nach, inwiefern Lüge erlaubt ist. Jakob ist ein Ghettobewohner des 3. Reichs, der Lügen über die Fortschritte der Roten Armee erzählt, um Hoffnung zu geben. Christa Wolf galt als DDR-Vorzeigeautorin, wurde jedoch nach 1989 aufgrund ihrer Regimenähe kritisiert. Nach 1989 setzte die bis heute andauernde Post-DDR-Literatur ein, die sich mit dem Leben in der DDR beschäftigt. 29 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart BRD: Nach dem Krieg gab es neben der Kahlschlagsdebatte den Versucht, an die bürgerliche Tradition anzuknüpfen. Es gab kaum personellen Anschluss an Autoren vor 1933 (in Österreich war das leichter möglich). Die Gruppe 47 war eine literarische Gruppierung der Generation der Kriegsteilnehmer. Sie wollte neue Literatur schreiben und wurde stilistisch stark von US-Literatur (Hemingway; Faulkner) beeinflusst. Zu Beginn war es ein relativ loser Bund, teils nahmen auch österreichische Autoren an den Treffen teil. Die Gruppe 47 vertrat v.a. die Operperspektive. Mitglieder waren etwa Günter Grass und der in den 70ern sehr beliebte Heinrich Böll, der zum moralischen Gewissen der BRD wurde. Bald übernahm die Gruppe eine Machtposition in der deutschen Literatur, da auch viele Kritiker an ihr teilnahmen (z.B. Reich-Ranicki). Um 1960 kam das Gefühl der Nachkriegszeit zu einem Ende. Langsam erschienen Romane mi rückblickender Bilanz, z.B. „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. Es war die Zeit des Mauerbaus und des jungen US-Präsidenten Kennedy, generell entstand ein neues Epochenbewusstsein. Dem folgten die Studentenrevolte, die neue Popkultur und das allmähliche Ende der Gruppe 47. Diese wurde nun als Gruppe älterer etablierter Herren gesehen. Bei einer Tagung in Princeton wurde sie schließlich von Peter Handke scharf attackiert. Die Literatur der BRD der 60er ist von der in den 50ern abtrennbar, da es in den 60ern zu Politisierung der westdeutschen Literatur kam. Grass schrieb beispielsweise Reden für die SPD. Diese Politisierung der Literatur führte zu einer neuen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, aber nicht aus der Opferperspektive, sondern mit Analysen der Machtergreifung der Nazis und des Holocaust. Rolf Hochhuth krisierte Papst Pius XII. im Stück „Der Stellvertreter“ für sein Schweigen während der NSZeit, was eine große Diskussion auslöse. Peter Weiß wiederum arbeitete den Auschwitzprozess auf. Waren die 60er eine Zeit der großen Politisierung der Literatur gewesen, so kann man die 70er als Zeit der neuen Subjektivität bezeichnen. Man nahm die Politik zurück und beschränkte sich auf das Innenleben des Menschen. In den 80ern folgte die Repolitisierung. Die Zeit war gekennzeichnet von Friedens- und ökologischen Bewegungen, es entstanden ein starkes Krisenbewusstsein und Angst wegen des Wettrüstens. Viele Entwicklungen der BRD-Literatur nach 1945 gab es so auch in Österreich. Romanliteratur nach 1945 Von den vier hier besprochenen Romanen befassen sich drei mit der Nazizeit. Zwei sind Möglichkeitsromane, vermitteln also ein größeres Bewusstsein dafür, dass man in der Literatur 30 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart mögliche welten aufbaut, bzw. dass die Wirklichkeit mit möglichen narrativen möglichen Sinn geben kann. Max Frisch / „Stiller“ (1954) Max Frisch (1911-1991) war ein Schweizer Autor, der bereits vor dem 2. Weltkrieg literarisch tätig gewesen war. Als Dramatiker war er sehr bekannt und orientierte sich an Brecht. Der Roman „Stiller“ ist durch einen unzuverlässigen Erzähler gekennzeichnet, der im Gefängnis seine Lebensgeschichte niederschreibt. Er leugnet, Stiller zu sein, wobei ihm vorgeworfen wird, der besagte Untergetauchte zu sein. Der Roman spielt 1952, Stiller ist bereits 1946 abgetaucht. Nun erzählt er seinem Wärter angebliche Abenteuer aus Amerika. In „Mein Name sei Gantenbein“ bedient Frisch sich einer ähnlichen Struktur, es werden Geschichten ausprobiert, um Erfahrungen zu beschreiben. Stiller selbst will aus seiner bürgerlichen Existenz heraus. Am Ende akzeptiert er diese jedoch. Das Buch ist in sieben Hefte aufgeteilt. Jedes zweite ist aus Stillers Sicht geschrieben, der seinem Wärter Geschichten erzählt. Die anderen Hefte geben (fiktionale) Perspektiven anderer Personen wieder, die Stiller kannten. Er erzählt darin, was sie parallel zu seiner Absenz erlebt haben (könnten). Der Romam umfasst auch zeitgeschichtliche Elemente, so wird in einer Passage die freiwillige Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg geschildert. Günter Grass / „Die Blechtrommel“ (1959) Günter Grass (1927-2015) gehörte der Generation der Kriegsteilnehmer an. Seinen Geburtsort Danzig und eigene Erfahrungen baute er in die Werke der Danziger Trilogie ein. Grass entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen und war ein begeisterter Hitlerjunge. In der 1959 veröffentlichten „Blechtrommel“ zeigte er sein Entsetzen über seine Beteiligung am Nationalsozialismus. An den Roman anschließend veröffentlichte er die Novelle „Katz und Maus“ und den Roman „Hundejahre“, die zusammen die in Danzig spielende Danziger Trilogie darstellen. „Die Blechtrommel“ wurde ein durchschlagender Erfolg, brachte Grass aber auch teils heftige Kritik ein. Zu Beginn sitzt Oskar Matzerath im Gefängnis – er steht unter Mordverdacht - und erzählt seine Geschichte. Die Handlung setzt 1950 ein und endet gegen 1954. Es werden aber auch viel frühere Ereignisse seiner Familiengeschichte geschildert, beginnend bei der Zeugung seiner Mutter. Oskar erweist sich als unzuverlässiger Erzähler. Seit einem Sturz ist er wachstumsgestört, so die realistische Erzählart. Er selbst gibt jedoch an, schon vor seiner Geburt geistig vollständig entwickelt gewesen zu sein. Als Kind beschließt er schließlich klein zu bleiben und plant zur Erklärung seinen Sturz. Oskar ist ein Ich-Erzähler, der rückblickend auf seine Geschichte zurückschaut, was der Erzählweise barocker Romane entspricht. Als Kind will er eine Blechtrommel haben, mit der er (auch metaphorisch) die 31 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Erinnerung herbeitrommelt. So trommelt er vor allem in den 50ern, um an die Nazizeit zu erinnern. Oskar wächst in Danzig zu einer Zeit auf, in der der Nationalsozialismus die Gesellschaft immer stärker durchdringt. Er sieht sich später verantwortlich für den Tod seiner „drei Eltern“. Oskars Mutter ist Teil einer komplizierten Dreiecksbeziehung mit ihrem Mann und ihrem polnischen Cousin. Oskar geht davon aus, dass letzterer sein Vater ist. Alle drei kommen bis zum Ende der NS-Zeit um. Der Roman besteht aus drei Teilen, die mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, dem Krieg selbst und der BRD korrelieren. Oskar wird in der Nachkriegszeit Künstler. Später spielt er auch in einer Jazzband in einem Zwiebelkeller, in dem Leute sich zum Weinen bringen. Grass zeigt damit die Unfähigkeit der Gesellschaft zu trauern. Stilistische Kennzeichen der „Blechtrommel“ sind eine expressive, bilderreiche Sprache und teils erstaunlich offene Formulierungen. Hans Lebert/“Die Wolfshaut“ (1960) „Die Wolfshaut“ war ein nicht erfolgreicher, österreichischer Roman. Hans Lebert (1919-1993) war ausgebildeter Opernsänger, der Romantitel verweist auf Wagneropern. Während des Krieges konnte er seiner Einberufung durch zahlreiche Umzüge entgehen, am Ende kämpfte er als Partisane. Die Basis für seinen Roman waren Endphasenverbrechen in der Steiermark. Der Roman spielt während 99 Tagen in den Jahren 1952-53 im Dorf „Schweigen“. Dort leben zwei Außenseiter. Der „Matrose“, der den Selbstmord seines Vaters erforschen will. Weiters gibt es einen Fotographen, der an Endphasenverbrechen beteiligt gewesen war. Er hält sich für den Mörder der zahlreichen Toten, die im Dorf nach und nach gefunden werden. Die Verbrechen werden später aufgedeckt: Dorfbewohner hatten am Ende des Krieges Gefangene der Nazis getötet. Nun werden die Mitwisser ausgeschaltet, die Haupttäter sind am Ende aber nicht greifbar. Die Geschichte wird von einer Wir-Erzählinstanz erzählt, bei der es sich um die kollektive Stimme des Dorfs handelt. Im Roman geht es um die nicht aufgearbeitete Vergangenheit und die spirituelle Krise der Nachkriegszeit. Mit der Suche nach Gott weist der Roman zudem spirituelle Elemente auf. Uwe Johnson/“Jahrestage“ (1970-1983) William Faulkner als Vorbild nehmend, schildert Uwe Johnson (1934-1984) in „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) das Schicksal des jungen DDR-Bürgers Jakob. Er wird tot aufgefunden, scheinbar ist der Bahnarbeiter von einem Zug überfahren worden. Allerdings scheint auch der DDR-Geheimdienst eine Rolle zu spielen. Johnson ging von der DDR in die BRD, wo er allerdings nicht glücklich wurde und schließlich nach New York City auswanderte. 32 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Die Stadt war Inspiration für den 4-bändigen Roman „Jahrestage“. Johnson hatte aufgrund der komplexen Romanstruktur Schreibblockaden und kehrte später nach Europa zurück, wo er starb. „Jahrestage“ (1970-1983) spielt in NYC. Johnson nimmt darin Figuren aus „Mutmaßungen über Jakob“ auf. Die Hauptprotagonistin ist Gesine Cresspahl, die Jakobs Tochter alleine in NYC aufzieht. Der Roman hat 365 Kapitel, da alle Tage zwischen August 1967 und 1968 erzählt werden. Johnson tritt als fiktiver Erzähler auf, der mit Gesine spricht. Diese spricht ihre Familiengeschichte auf Tonband, wobei es v.a. um die Mitschuld der Deutschen und ihrer Eltern am 2. Weltkrieg geht. Der Roman enthält auch Zeitgenössisches aus den 60ern. Neben dem New Yorker Alltag stehen Gesines Erzählungen und Abschnitte aus der New York Times. Es geht um traumatische Erinnerungen Gesines, z.B. an ihre schuldgeplagte Mutter, wegen der sie fast ertrunken war. Johnson war auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, für den er eine Chance im Prager Frühling sah. Der Roman endet einen Tag vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Österreichische Literatur nach 1945 Nazideutschland hatte drei Nachfolgstaaten mit unterschiedlichen Geschichtsnarrativen: Die BRD, die DDR und Österreich. Die BRD entwickelte einen Narrativ als schuldbewusster Nachfolgestaat, der sich seiner Verantwortung stellte. Die DDR hingegen sah sich als antifaschistischen deutschen Staat, der eher Sieger als Verlierer war. Österreich stellte sich (und wurde dargestellt) als erstes Opfer der Nazis. Die Literatur in Österreich nach 1945 kann in zwei Epochen geteilt werden: 1945-66 und 1966-89. Mit der verheerenden Bilanz des 2. Weltkriegs gab es zu Beginn der 2. Republik ein deutliches antinationalsozialistisches Bekenntnis. Die Maßnahmen der Entnazifizierung wurden jedoch schon in den 50ern schwächer. 1949 erhielten ehemalige Nazis das Wahlrecht, zudem wurde der VdU (heute FPÖ) gegründet. 1955 gewann Österreich mit dem Staatsvertrag die volle Souveränität und wurde ein neutraler Staat. Ab 1956 begann die Aufstiegsgeschichte der Republik, die von einer starken Zusammenarbeit der SPÖ und ÖVP gekennzeichnet war. 1966 kam es dann zum Einschnitt, als die Zeit der Großen Koalition endete und es erstmals zu einer Alleinregierung (erst unter der ÖVP, dann unter der Kreisky-SPÖ) kam. Das Jahr war auch mit dem Tod Heimito von Doderers sowie den ersten markanten Auftritten Peter Handkes und Thomas Bernhards ein literarischer Einschnitt. 33 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Die kulturelle Eigendefinition Österreichs 1945 schloss an die 1. Republik an. Die Politik sah sich als Fortsetzung der 1. Republik und es gab nach 1945 auch literarische Kontinuität, da seit dem Anschluss 1938 vergleichsweise weniger Zeit vergangen war als in Deutschland seit 1933. Österreichische Literatur nach 1945 bis 1966 Der literarische PEN-Club spielte eine wichtige Rolle in der Organisation der österreichischen Literatur. Doch junge Literaten der Nicht-Kriegsteilnehmer wurden in den 50ern eher ignoriert, die Wiener Gruppe wurde erst in den 60ern bekannter. Dazu zählte H.C. Artmann (1921-2000), der 1958 mit seinen Dialektgedichten „med ana schwoazzn dintn“ erfolgreich war. Die Lyrik der Wiener Gruppe war generell ganz anders als die damalige Befindlichkeitslyrik, sie wollte nicht eigene Befindlichkeiten ausdrücken sondern experimentieren. Auch Ingeborg Bachmann (1926-1973) war als Lyrikerin erfolgreich. Ihr Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ schrieb sie nach einer Prag-Reise kurz vor dem Prager Frühling. Darin verweist sie auf Shakespeares „Winter’s Tale“, in dem die Protagonisten mit einem Schiff in Böhmen landen. Mit Böhmen spricht sie zudem kakanische Traditionen an und verweist auch auf den Bohémien. Bachmann war kein Teil der sprachexperimentellen Wiener Gruppe und fand Anschluss in der Gruppe 47. Die sprachexperimentellen Literaten brachten den erfolgreichen Ernst Jandl (1925-2000) hervor, der aber erst in den 60ern zu Ansehen kam. Jandl thematisierte 1966 mit dem Gedicht „Wien Heldenplatz“ den Anschluss 1938, genauer gesagt die Hitlerrede. Er wollte damit ein Ereignis, für das die Worte fehlen, mit einer Kunstsprache schildern. Darin setzte er an existierende Wörter erinnernde kontaminierte Kunstwörter ein, wodurch er die Stimmung auf dem Heldenplatz wiedergeben konnte. Ilse Aichinger (*1921) verarbeitete in „Die größere Hoffnung“ (1948) ihre eigene Biographie in magisch-realistischem Stil. Aichinger war für die Nazis ein „Mischling 1. Grades“ gewesen und konnte, im Gegensatz zu vielen Familienmitgliedern, in Wien überleben. Der Roman besteht aus Kindererzählungen zur Nazizeit. Ein Mädchen will ein Visum, muss jedoch in Wien bleiben, wo es bei einem Angriff von einer Granate getötet wird. Der Text ist episodenhaft und stammt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Heimito von Doderer (1897-1966) entstammte dem Wiener Großbürgertum. Er war schon in der Zwischenkriegszeit literarisch aktiv gewesen, damals trat er auch der NSDAP bei, die er aber 1941 wieder verließ. Er wollte ein riesiges Romanprojekt verwirklichen, einen Gesellschaftsroman über 34 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Österreich ab 1914. Aus diesem Projekt gingen die Romane „Die Strudlhofstiege“ (1951) und „Die Dämonen“ (1956) hervor, die personell zusammenhängen. In der „Strudlhofstiege“ treffen sich Schicksale unterschiedlicher Personen. Die zeitlichen Schwerpunkte sind die Zeit um 1910 sowie 1923-25, der 1. Weltkrieg wird komplett ausgespart. Damit schloss Doderer an den Kontinuitätsnarrativ der Zeit an. „Die Dämonen“ thematisiert den Justizpalastbrand. Doderer galt als Vorzeigeautor der 2. Republik. Marlene Haushofer (1920-1970) schrieb den Roman „Die Wand“ (1963). Auch sie war genau wie Ingeborg Bachmann in der Kaffeehausliteraturszene der 50er aktiv. Österreichische Literatur nach 1966 Mitte der 60er Jahre gab es einen generellen kulturellen Einschnitt: die 68er-Bewegung, Popmusik, die Anti-Vietnambewegung und das 2. Vatikanische Konzil. In Österreich kam es auch zu Reformpolitik, erst gab es eine ÖVP-Alleinregierung, dann die SPÖ-Regierung unter Bruno Kreisky. Auch die Universitäten wurden reformiert, indem demokratischere Strukturen eingeführt wurden. Im Literaturbetrieb der 60er begann ein bis heute andauerndes Schisma. Der PEN-Club wurde von vielen jungen Autoren als Organisation gesehen, die ihren Interessen nicht gerecht wurde. Es kam zur Spaltung und zur Gründung der Grazer Autorenversammlung. Literatur genoss in den 60ern eine stärkere öffentliche Präsenz. Es wurden Literaturzeitschriften gegründet, z.B. „Manuskripte“ in Graz. Graz galt damals generell als heimliche Literaturhauptstadt Österreichs. Die ökonomische Situation für Schriftsteller blieb prekär, man war wie immer auch auf den deutschen Buchmarkt angewiesen. Der Staat trat immer wieder als Mäzen auf, z.B. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis. Elektronische Medien gewannen für Literaten zunehmend an Bedeutung, da sich im Radio mit Hörspielen und im Fernsehen mit Drehbüchern Geld verdienen ließ. Dramen nach 1966 Das traditionelle illusionistische Theater wurde in den 60ern unbedeutender, wobei vor allem Peter Handke und Thomas Bernhard eine Rolle spielten. Peter Handke wurde 1942 in Kärnten geboren und gehört damit der Nachkriegsgeneration an. Er thematisierte früh die zweisprachige Gesellschaft in Kärnten und trat Mitte der 60er als junger Provokateur auf. Unter anderem griff er die Gruppe 47 bei einem Treffen in Princeton an. Als Dramatiker setzte er auf Skandale, etwa mit der 1966 von Claus Peymann uraufgeführten „Publikumsbeschimpfung“. Darin wurden Bühne und Zuschauerraum umgedreht, Schauspieler 35 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart beschimpften das Publikum. Handke befand sich damit in der Tradition des experimentellen Schreibens. Das Illusionstheater war noch immer vorhanden. In Peter Turrinis (*1944) „Sauschlachten“ rebelliert ein Bauernsohn gegen seine Familie und gibt nur noch Grunzlaute von sich, bis er von dieser geschlachtet wird. Sprachkritik wie bei Handke und Turrini gab es auch bei Elfriede Jelinek (1946), die sich in eine sprachexperimentelle Tradition stellte. Zudem engagierte sie sich politisch und verfolgte linke sowie feministische Standpunkte. Thomas Bernhard (1931-1989) war neben Handke die zentrale Figur der 60er. Er war sowohl Dramatiker als auch Prosaautor und arbeitete mit Claus Peymann zusammen. Sein Stück „Heldenplatz“ (1988), eine Auftragsarbeit des Burgtheaters, wurde im Gedenkjahr 50 Jahre nach dem Anschluss Österreichs uraufgeführt. Es folgte ein gigantischer, von Peymann auch lancierter, Skandal, der die „Kronen Zeitung“ zu entsprechenden Schlagzeilen brachte. Das Stück thematisierte primär die Themen Exil und Heimkehr, wies aber auch Österreichbeschimpfungen auf. Erzähltexte nach 1966 Handke führte in seinen Texten Erzählmuster vor. In „Wunschloses Unglück“ (1972) kehrte der Dramatiker als Reaktion auf den Selbstmord seiner Mutter zum Erzählen zurück. Ein schreibendes Ich erzählt vom Leben seiner Mutter und dokumentiert dabei auch die Mechanismen (= Vorführen von Erzählmustern) der Literaturproduktion. So kommt etwa ein „Formelvorrat zum Erzählen eines Frauenlebens“ zum Einsatz. Die sozialkritische Literatur ab 1970 thematisierte die Lebensbedingungen von Menschen mit ökonomischen Problemen. Franz Innerhofer (1944-2002) zeigte in seiner Trilogie „Schöne Tage“ (1974) eine bereits vergessen geglaubte, ausbeuterische ländliche Welt. Peter Henisch (1943) beschrieb in „Schwarzer Peter“ (2000) die Geschichte eines schwarzen Soldatenkindes in Wien. Thomas Bernhard begann in den 50ern als Journalist zu schreiben, wobei er sich eines konventionellen Stils bediente. Seit den frühen 60ern war er auch literarisch tätig. Seit seiner Jugend war Bernhard lungenkrank, die Folgen dieser Krankheit konnte er nie überwinden. Der Debutroman „Frost“ (1963) wurde von den Kritikern gut angenommen. Bernhard skandalisierte bewusst. „Holzfällen. Eine Erregung“ (1984) gilt als Schlüsselroman zur österreichischen Literaturszene. Der Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986) umfasst die Ich-Erzählung eines raisonierenden Ichs in einer sehr hypotaktischen Sprache. Darin setzt sich Bernhard kritisch mit Österreichs unaufgearbeiteter Vergangenheit auseinander. 36 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Der Kriminalroman Der Kriminalroman ist eine Gattung, die im 20. Jahrhundert zur Fast dominierenden Gattung im Bereich des Romans wurde. Er ist ein internationales Phänomen, aber vor allem im angelsächsischen Raum bedeutend. Das Interesse für Kriminalliteratur begann im 18. Jahrhundert mit dem gestiegenen Interesse am Menschen und damit auch am Verbrecher als Mensch. Vorher war noch das Geständnis (verbunden mit der Folter) wichtig für Gerichtsprozesse gewesen, doch nun gewannen Beweise und Indizien an Bedeutung. Dieses Aufdecken von Verbrechen wurde auch in der Literatur populär. Das Interesse am Detektionsprozess bzw. am Detektiv brachte den Detektivroman hervor. Damals wurde auch das Papier billiger und immer mehr Menschen konnten lesen, was eine billigere serielle Produktion von Krimis ermöglichte. So entstand das Phänomen des Serienhelden, um mit seiner Marke Zeitschriften zu verkaufen (z.B. Sherlock Holmes). Die beiden wichtigsten Idealtypen des Kriminalromans sind der Detektivtroman und der Thriller. Detektivroman Der Detektivroman (auch „Whodunit“ wurde maßgeblich von Edgar Allan Poe (1809-1849) geprägt. Poe war in den 1840er aktiv und interessierte sich für Prozesse der Vernunft. „The Murders in the Rue Morgue“ (1841) lieferte das Konzept für spätere Detektivromane. Poe wollte darin zeigen, wie man mit Vernunft Fälle lösen kann. Dabei prägte er das literarische Grundrezept: Es gibt einen IchErzähler, der einen wichtigeren vernunftbegabten Freund begleitet. Dieser stolpert in einen Kriminalfall, den er als intellektuelle Herausforderung sieht. Durch die Perspektive des Ich-Erzählers wird die Lösung des Falls herausgezögert, da so die Hypothesen des Intellektuellen vorerst unbekannt bleiben. Diese Vorlage war wegweisend für Sherlock Holmes und seinen Begleiter Dr. Watson. Wichtig ist: Es soll aufgeklärt werden, wer der Mörder ist. Über das analytische Erzählen wird geschildert, was zuvor passiert ist. Die wichtigsten Elemente der Romane sind Mord, Fahndung und Lösung. Der Detektiv soll die Vorgeschichte des Mordes rekonstruieren, also das Wie und Warum. Der Detektivroman ist dabei die Geschichte der Fahndung. Die Zahl der Verdächtigen muss eingeschränkt und eine in sich geschlossene Gruppe sein, jede Person hat ein potenzielles Mordmotiv. Sozial homogene und geschlossene Gesellschaften findet man vor allem bei Agatha Christie (1890-1976). Manche Autoren legen falsche Spuren („red herrings“), die den Detektiv und Leser in die Irre führen sollen. Am Ende der Ermittlungen werden alle Verdächtigen versammelt, der Detektiv rekonstruiert die Vorgeschichte und entlarvt den Täter. 37 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Der Detektivroman ist ein analytischer Roman. In spätere Romane wurden auch ethische, moralische und politische Fragen eingebaut, aber die Lösung des Rätsels bleibt immer das wesentliche. Die Opfer werden auch eher unsympathisch beschrieben, um möglichst viele Verdächtige zu ermöglichen und um eine emotionale Reaktion des Lesers zu vermeiden. Ein wichtiger Autor war Arthur Conan Doyle (1859-1930), der Sherlock Holmes gegen 1900 erfand und vier Romane sowie viele Geschichten veröffentlichte. Agatha Christie schrieb in den 1920ern bis 70ern und ließ etwa Miss Marple im ländlichen Raum ermitteln. Kennzeichne des englischen Kriminalromans ist ein geschlossenes bürgerliches und intaktes Milieu, das durch einen Mord gestört wird und durch die Aufklärung wieder intakt gesetzt wird. Eine Sonderform ist der Locked-RoomMystery-Roman, bei dem der Täter während der Ermittlungen noch vor Ort sein muss. Hard-boiled-Romane sind eine amerikanische Variante des Detektivromans, der Teils Thrillerelemente aufweist. Die Protagonisten sind ahrtgesottene Detektive. Dieses Genre entstand in der Zwischenkriegszeit und wurde in kritischer Abkehr von der populären britischen Tradition geschrieben. Verbrechen sind hier Teil des Alltags einer nicht-heilen Welt. Zunächst wurden die Romane in Heften publiziert. Dashiell Hammett (1894-1961; „The Maltese Falcon“) und Raymond Chandler (1888-1959) schrieben fast naturalistisch. Die Morde passieren auf den Straßen einer unheilen Welt, die so auch nach der Aufkkärung des Verbrechens bleibt. Die einzig integre Figur darin ist der Detektiv, meist ein Einzelgänger, der nicht für die Polizei arbeitet. Thriller Auch beim Thriller geht es um Verbrechen, Fahndung und die Überwältigung des Täters. Das zentrale Element ist jedoch die Action, wobei auch der Detektiv Gefahren ausgesetzt ist. Meist ist der Täter schon bekannt. Um 1900 wurde das Genre mit Spionageromanen verbunden (im Vorfeld des 1. Weltkriegs herrschte Spionagehysterie). Thriller bilden ein größeres soziales Spektrum ab, wobei aber auch häufig Vorurteile der Gesellschaft bedient werden (z.B. Ausländerbanden in England). Der Held selbst ist auf der „richtigen Seite“. In späteren Thrillern ging man von der Schwarz-WeißZeichnung weg. Klassische Thriller haben noch klare Definitionen von Gut und Böse (während im klassischen Detektivroman hingegen alle Verdächtigen ein Motiv haben und so nicht als gut/böse gelten können). Sonderformen des Kriminalromans 38 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart In Polizeiromanen ermittelt ein Kommissar mit den Regeln der Polizei. Die Romane soielen im Polizeimilieu und schließen teilweise sozialkritisch an den Naturalismus an. Ein Beispiel wäre Georges Simenons Kommissar Maigret, über den er von 1929-72 schrieb. Historische Kriminalromane werden zeitlich in die Vergangenheit verlegt. Ellis Peters Brother Cadfael ist ein Mönch, der um 1100 in England ermittelt. Ein weiterer berühmter Roman ist Umberto Ecos „Der Name der Rose“. Ein jüngerer Trend sind in der Gegenwart angesiedelte Regionalromane, die die jeweilige Region beleuchten. So thematisieren die Poltromane die Situation im Grenzland. Österreich selbst hat keine reiche Krimitradition. Zu nennen wären die Brennerromane, die teils den Detektivroman parodieren und v.a. durch ihre Sprache wirken. Gegenwartsliteratur Was Gegenwart ist, ist schwer zu definieren. Man könnte etwa 1989 ansetzen, jegliche Definition ist jedoch willkürliche Konstruktion. Erschwerend kommt unsere zu geringe zeitliche Distanz hinzu. Daher sollen hier nur einige Tendenzen, Strömungen und Schlagworte angerissen werden: Postmoderne => Die Postmoderne könnte man als Epoche definieren, die mit der Moderne Schluss macht. John Barth schrieb in den 60ern zwei Aufsätze zur „Literature of Exhaustion“ und „Literature of Replenishment“. Demnach sei die Zeit der Experimente vorbei und die literarische Moderne an ihrem Ende angelangt. „Finnegans Wake“ von James Joyce markiere den modernistischen Endpunkt, moderner könne man nicht mehr schreiben. Man müsse nun ältere Erzählmuster aufgreifen. Barth selbst griff etwa die Erzählmuster aus „1001 Nacht“ und „Don Quijote“ auf und schrieb einen Briefroman (das Genre war im 18. Jahrhundert populär). Globalisierung => Die Nationalliteratur wird unbedeutender, Literatur wird globalisiert. Man liest zunehmend nicht nur mehr Autoren der eigenen Nation, allerdings dominiert das Englisch aufgrund seiner Stellung als lingua franca den globalen Literaturmarkt. Die Globalisierung der Literatur führte auch zu Problemen, wie die Reaktionen auf Salman Rushdies „Satanische Verse“ zeigten, für die er mit dem Tod bedroht wurde. Weitere Schlagwörter sind der Post-Kolonialismus, Migrantenliteratur und das Ende der Gutenberggalaxis (hierbei geht es um die Frage, ob neue Medien wie Internet und Videospiele zu einem Paradigmenwechsel in der Literatur führen). Deutschsprachige Literatur 39 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart 1989 bedeutete einen historischen Einschnitt für Europa, besonders für Deutschland. Die deutsche Verlagslandschaft veränderte sich. In der deutschen Literatur begann die bis heute andauernde DDRBewältigungsliteratur. Österreich musste sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs politisch neu positionieren und begann die Annäherung an die EU. 1986 kam es mit dem Fall Waldheim zu Diskussionen zu Österreichs Rolle während der Nazizeit, gleichzeitig begann der Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider. Österreichs Literatur wurde damals stark politisiert. Zuvor hatte es, anders als in der BRD, nur wenige Äußerungen zur Tagespolitik gegeben. Doch in den 80ern nahm die explizite Auseinandersetzung der österreichischen Literaten mit der Politik zu. Ein Beispiel wäre Robert Menasses „Das Land ohne Eigenschaften“. Ebenso zu nennen sind Josef Haslinger, der politische Essays schrieb, und Franz Schuh. Erzählliteratur Die Erzählliteratur erlebte eine Rückkehr zu traditionellen Erzählmustern. Josef Haslinger (*1955) konnte 1995 mit „Opernball“ einen erfolgreichen Roman herausbringen, in dem er sich wie zunehmend mehr Autoren an der angloamerikanischen Erzählliteratur orientiert, die eingängiger ist. Hasling nahm darin Massenterroranschläge vorweg, indem er einen Anschlag auf den Opernball verbunden mit Medienkritik thematisierte. Robert Menasse (*1954) verarbeitete seine Erfahrungen als Lektor in Südamerika in einer Romantrilogie. Er ist auch heute noch aktiv, z.B. mit „Vertreibung aus der Hölle“. Die jüdische Identität wurde in den 70ern und 80ern wieder Thema der österreichischen Literatur (dies wurde insofern leichter, als die Autoren nicht mehr direkt vom NSTerror betroffen waren). Eva Menasses (*1970) „Vienna“ schildert die generationsübergreifende Geschichte einer jüdischen Familie in Wien. Christoph Ransmayr (*1954) schrieb mehrmals über das Thema der Fremde. In „Die letzte Welt“ fiktionalisierte er Ovids Schicksal im Exil und schrieb über dessen Verleger, der ihm ans Schwarze Meer nachreist. Dort erlebt er Ovids „Metamorphosen“ in der Realität. Bei „Morbus Katahara“ handelt es sich um kontrafaktuale Geschichte rund um den Morgentauplan nach dem 2. Weltkrieg, mit dem Zentraleuropa vollkommen deindustrialisiert werden hätte sollen. Franzobel (*1967) führte die Sprachspielereien der Wiener Avantgarde fort. Michael Köhlmeier (*1949) erzählte die Odyssee neu, wobei er die Zeitebenen der Antike und Gegenwart vermischte. Zudem griff er den barocken Picaroroman auf. Wolf Haas (*1960) schreibt sprachspielerische Kriminalromane. Daniel Kehlmann (*1975) gelang mit der „Vermessung der Welt“ ein erfolgreicher Roman. Thomas Glavinic (*1972) baute in „Der Kameramörder“ das Motiv des unzuverlässigen Erzählers ein. In „Die Arbeit der Nacht“ schreibt er über einen Mann, der eines Tages aufwacht und der letzte Mensch auf der Welt ist. 40 Kriegleder, ÜV Literaturgeschichte 1848 - Gegenwart Zum Abschluss sei erwähnt, dass Autoren mit Migrationshintergrund (den diese oftmals als unbedeutend für ihr literarisches Wirken betrachten) an Bedeutung gewonnen haben. In ihren Texten geht es meist um Identitätsfindung. 41
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