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Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Deutsches Seminar
Hauptseminar: „Franz Kafka“
Dozent: Prof. Dr. Fred Lönker
Studentin: Vera Meuret
SS 11
Die Bedeutung
der Frauenfiguren in
Franz Kafkas
Der Proceß
Inhaltsverzeichnis
A.Einleitung……………………………………………………….....................2
B. Hauptteil……………………………………………………………………..3
1. Die Darstellung der Frauenfiguren im Proceß………………………..............3
1.1 Josef K.s Vermieterin Frau Grubach: Die Mutterfigur……………………….3
1.2 Fräulein Bürstner: die potentielle Liebhaberin………………………………..4
1.3 Die Waschfrau/ Die Frau des Gerichtsdieners………………………………...7
1.4 Leni als Verbindung zum Gericht…………………………………………..10
1.4.1 Gespräch zwischen Leni und Josef K……………………………………11
1.4.2 Mythische Verführerin…………………………………………………12
1.5 Weibliche Nebenfiguren……………………………………………………13
1.5.1 Das Mädchen in den Kanzleien…………………………………………13
1.5.2 Die Mädchen beim Maler Titorelli……………………………….……...14
2. Die Wirkung der Frauen auf Josef K………………………………………...15
2.1 Josef Ks. Wahrnehmung der Frauen………………………..……………….17
3. Der gemeinsame Aspekt der Frauen im Proceß………………………..........18
3.1 Die Verbindung der Frauen zum Gericht……………………………………18
3.2 Die Frauen als „Helferinnen“……………………………………………....19
3.3 Erotische Anziehung: Die Frauen als düster-erotisches Element…………......20
C. Schluss……………………………………………………………………...22
D. Literaturverzeichnis……………………………………………………….23
2
A. Einleitung
Franz Kafkas Der Proceß ist ein bedeutendes literarisches Werk, das sowohl inhaltlich als
auch in Bezug auf die Figuren viel Raum für diverse Interpretationen bietet. Es geht darin um
einen „Proceß“, der sich zum Einen in einem gesellschaftlichen Rahmen in Form der
Gerichtsbarkeit abspielt, zum Anderen aber auch um einen inneren Entwicklungsprozess der
zentralen Figur Josef K.
Der weibliche Aspekt wird dabei auf den Protagonisten projiziert, indem er die
vorkommenden Frauengestalten als Helferinnen seines sowohl innerlichen als auch
äußerlichen „Prozesses“ benutzt. Dabei scheinen sie in merkwürdiger Verbindung zum
Gerichtswesen zu stehen und sich zu mystifizierten erotischen Gestalten zu entwickeln.
In dieser Hausarbeit soll der Blickwinkel auf die Frauenfiguren im Proceß gerichtet sein.
Es erscheint am Sinnvollsten, zunächst eine nah am Primärtext angelegte Beschreibung der
Frauenfiguren durchzuführen und ihre jeweiligen charakterlichen Züge zu analysieren. Zu den
bedeutungsvollsten Frauenfiguren gehören Frau Grubach, Fräulein Bürstner, die Frau des
Gerichtsdieners und Leni. Weiterhin liegt es nahe, zusätzlich auf zwei ausgewählte weibliche
Nebenfiguren im Roman einzugehen, die die Bedeutung der Frauen im Proceß ebenfalls
veranschaulichen.
Während Frau Grubach fester Bestandteil von Josef K.s Leben vor dem Beginn des Prozesses
ist, wurden die Bekanntschaften mit den anderen weiblichen Romanfiguren durch den Prozess
impliziert. Deren Begegnungen mit Josef K. sind alle im Sinne eines Leitmotivs als
Helferinnen zu deuten, das in mannigfacher Weise zum Ausdruck kommt.
Die Frauen fungieren zum Einen als Mutterfiguren, Hausfrauen und Ehefrauen, zum Anderen
agieren sie in erotischer Betrachtung auch als Geliebte und Verführerinnen. Auch als simple
Wegweiserinnen
oder
schwesterliche
Ratgeberinnen finden sie
ihre
Bestimmung.
Seltsamerweise haftet den meisten Frauenfiguren im Proceß eine Verbindung zum
Gerichtswesen an, dem sich Josef K. auf der Suche nach der Entlastung seiner Schuld stellen
muss. Offenkundig wird dabei eine „strenge Beschränkung auf die Sehweise der
Hauptgestalt“1 sowohl in Bezug auf die Beurteilung der Frauenfiguren als auch in Bezug auf
seine Erkenntnisgewinnung über die negativ konnotierte Gerichtsinstanz, die „nie empirisch
greifbar [ist], so real indes der Effekt auch sein mag, den seine [Josef K.s] Aktionen
erzeugen“2.
1
Verbeek, Ludo: Der andere Bereich. Eine Lektüre von Kafkas „Prozeß“. In: Luc Lamberechts und Jak de Vos
(Hg.): Jenseits der Gleichnisse. Kafka und sein Werk. Bern 1986, S. 182.
2
Ebd. S. 184.
3
Dieser Fokus findet schlussendlich in der Wirkung und Wahrnehmung des Protagonisten
Eingang in die Textinterpretation. Der Sinneseindruck Josef K.s von den Frauenfiguren
unterliegt einer rätselhaften Wechselwirkung, insbesondere in der Beschreibung ihrer
weiblichen Erscheinung und erotischen Betrachtung.
B. Hauptteil
1. Die Darstellung der Frauenfiguren im Proceß
1.1 Josef K.s Vermieterin Frau Grubach: Die Mutterfigur
Frau Grubach, die Vermieterin der Wohnung von Josef K., nimmt eine sehr stark mütterlich
assoziierte Funktion ein, die mit ihrer Schürze und „ihrem mächtigen Leib“3 als Beschützerin
seines Heimes fungiert. An diesem Ort wird er zum ersten Mal über seinen Prozess informiert,
indem Wächter unerlaubt in sein Heim und somit in seine Privatsphäre eindringen und daher
nach menschlichem Begriff gegen die Sittlichkeit verstoßen. Nach diesem Vorfall versucht er
seine dadurch verursachte innere Unruhe bei Frau Grubach zu relativieren und die „[…]
Ordnung wieder herzustellen […]“ (Der Proceß S. 22), die vor der Verkündung des
bevorstehenden Prozesses existierte. Dies gelingt ihm in dem Moment, als er Frau Grubach
bei sich zu Hause antrifft, da sie die nötige Ruhe und Beständigkeit ausstrahlt, die der
ruhelose Josef K. in Anbetracht eines bevorstehenden Prozesses und der daraus resultierenden
Gemütsverfassung bedarf.
Frau Grubach ist eine Frau mit einem festen Tagesrhythmus, der durch die parallele Ausübung
ihrer Verpflichtungen als Hausfrau und Vermietern komplettiert wird. Ihr geruhsames Gemüt
scheint durch nichts aus der Fassung gebracht werden zu können und kein noch so
ungewöhnliches Geschehnis ihrem Alltagsleben schädlich zu sein.
Im Sinne der Imagination einer guten Hausfrau erfüllt sie ihre häuslichen Pflichten, sie sitzt
„[…] mit einem Strickstrumpf am Tisch […]“(Der Proceß, S. 22), nachdem sie durch den
Besuch der Wächter des Gerichts aufgeräumt und geputzt hatte und Josef K.s Zimmer „[…]
war wieder vollkommen in seinem alten Zustand, das Frühstücksgeschirr, das früh auf dem
Tischchen beim Fenster gestanden hatte, war auch schon weggeräumt“(S. 23).
Ihre Geschäftigkeit bezüglich der Rekonstruktion eines geordneten Heimes nimmt in ihrer
automatischen Explikation schon latent mechanische Züge an, die fast inhuman wirken. In
diesem Kontext dienen die obligatorische Ordnung und Reinheit freilich zu Josef K.s
3
Kafka, Franz: Der Proceß. Stuttgart 2010, S. 21. Im Folgenden zitiere ich nach dieser Ausgabe unter
Angabe der Seitenzahlen in Klammern.
4
Beruhigung, die er gravierend benötigt: „Sie saßen nun beide am Tisch und K. vergrub von
Zeit zu Zeit eine Hand in die Strümpfe“ (S. 23).
Dessen ungeachtet bekräftigen die überspitzt gezeichneten mütterlichen Tugenden Frau
Grubachs zusätzlich den Eindruck einer unglaubwürdigen Perfektionierung ihrer Person.
Ihr Mitgefühl wird in Tränen des Mitgefühls persifliert, die Besorgnis um ihren Untermieter
Josef K. wirkt wie eine Mutter-Sohn-Beziehung, die durch ihren steten Beistand und ihre sich
trivial wiederholenden Aufmunterungen konserviert wird: „[…] aber vor allem dürfen Sie es
nicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt!“ (S. 24).
Frau Grubach ist erfüllt von Nächstenliebe und Bescheidenheit: „[…] Es handelt sich ja um
Ihr Glück und das liegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin
ja bloß die Vermieterin“ (S. 24). Alles um sie herum ist dieser Persönlichkeit angepasst, sie
lebt in einer philisterhaft anmutenden Welt, die sie zu ihrer eigenen gemacht hat.
Zudem intensiviert ihre persönliche Einschätzung zu der Gewichtigkeit von Josef K.s Prozess
den Eindruck eines auf sie disponierten, begrenzten Horizontes:
„ Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie wenn ich etwas Dummes
sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber
auch nicht verstehen muss“.(Der Process, S. 24)
Ihre Hausfrauen-Attitüde wird zu einer Idealvorstellung getrieben, die nicht mehr
glaubwürdig, sondern künstlich erschaffen scheint. Dennoch dient Frau Grubachs
Gutmütigkeit und Freundlichkeit zur „Ich-Konstitution“4 des Protagonisten und zur
Vermittlung von Harmonie in einer traditionell geprägten und unbekümmerten Welt, die sie
mit der „emotionale[n] Grundcouleur einer typischen Mutterfigur“5 verwaltet und die im
völligen Kontrast zu der unbarmherzigen Gerichtswelt steht.
1.2 Fräulein Bürstner: die potentielle Liebhaberin
Fräulein Bürstner verkörpert im Vergleich zu Frau Grubach ein ganz anderes repräsentiertes
Frauenbild. Von Frau Grubach als „[…]gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich,
pünktlich, arbeitsam[…]“(S.26) bezeichnet, erweckt sie zunächst den Anschein einer braven
und naiven jungen Frau, die jeglichen gesellschaftlichen Ansprüchen genügt und gelegentlich
bewusst Kontakt zu Männern pflegt, die Frau Grubach jedoch als unangebracht befindet. Die
vorausgehende Bemerkung ihres Naturells verifiziert sich nur zum Teil. Sie begegnet Josef K.
mit einem exemplarischen Selbstbewusstsein und auffallender Prägnanz, die nur Interesse für
4
Delianidou, Simela: Frauen, Bilder und Projektionen von Weiblichkeit und das männliche Ich des
Protagonisten in Franz Kafkas Romanfragmenten. Unter besonderer Berücksichtigung der Schuldfrage im
Proceß. Frankfurt am Main 2002, S. 62.
5
Ebd. S. 60.
5
auserwählte Gesprächsthemen bezeugt, insbesondere an Angelegenheiten des Gerichtes.
Mit freundlichem aber bestimmtem Ton denunziert sie ihn, verbotenerweise und grundlos ihr
Zimmer betreten und somit ihr Ehrgefühl verletzt zu haben:
„ ‚Es ist sonderbar‘, sagte Fräulein Bürstner, ‚daß ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu
verbieten was Sie sich selbst verbieten müßten, nämlich in meiner Abwesenheit mein
Zimmer zu betreten‘“ (Der Process, S. 29)
Infolge der Ernsthaftigkeit des Gesprächsthemas deutet ihr gelegentliches Lachen einen
unnatürlich erscheinende Koketterie an, die offenkundig mit der Eitelkeit des Fräulein
Bürstner korreliert, den Männern grundsätzlich gefallen zu wollen.
Dies gelingt ihr auf diese Weise gleichermaßen bei Josef K., dessen männliche Triebhaftigkeit
in diesem Zusammenhang auf die Probe gestellt wird. Fräulein Bürstner stellt in der Tat eine
potentielle Liebhaberin und gleichwertige Partnerin dar, die Josef K. darüber hinaus in ihrem
Intellekt ebenbürtig erscheint. Er wählt jedoch einen recht deplatzierte Art der
Kommunikation, indem er mit der Bedeutungsschwere seines Prozesses poussiert und
letztendlich seinem Verlangen nach ihr erliegt, so dass „sein Besuch bei ihr […] zu dem
üblichen Geplänkel eines gewöhnlichen Liebesabenteuers [verflacht]“6.
Der Reiz, der von ihrem souveränen Auftreten und ihrem ausgeprägten Wissensdrang an
Gerichtsangelegenheiten ausgeht, wirkt auf Josef K. sehr betörend, sodass er sich ereifert, ihre
Gunst zu erlangen. Seine ihr geltende Begierde geht mit einer selbst konstruierten Strategie
zur Verdrängung seines Prozesses konform, welche er unterbewusst nur durch die Eroberung
Fräulein Bürstners erzielen kann.
Die leidenschaftliche Regung K.s, die durch ihre evozierte Aufforderung zum Gehen
entfesselt wurde, mutet wie eine Verzweiflungsreaktion an, mit der er sich gegen seine
Einsamkeit im Angesicht des Prozesses zu retten versucht:
„ ‚Ich komme schon‘, sagte K., lief vor, faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann
über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich
gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel
ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.“ (Der Process :S. 34)
Tröndle wiederum vermutet hinter diesem Akt des „Vampirkuß[es]“7 Josef K.s Bestreben,
durch ein „intimes Verhältnis zu ihr […] ihre Kenntnisse um so besser ausbeuten zu können“8.
Das Fräulein wirkt durch Anzeichen von Müdigkeit geschwächt, daher kann sie sich seinen
aufdringlichen Annäherungen trotz ihres Desinteresses nicht vollständig entziehen und lässt
6
Eschweiler, Christian: Kafkas unerkannte Botschaft. Der richtige „Proceß“. Bonn 1998, S. 28.
Tröndle, Isolde: Differenz des Begehrens. Franz Kafka/Marguerite Duras. Würzburg 1989, S.123.
8
Ebd..
7
6
„seine belanglosen Liebkosungen unbeteiligt über sich ergehen, um sich ihm danach
enttäuscht für immer zu entziehen“9:
„Sie nickte müde, überließ ihm schon halb abgewendet die Hand zum Küssen, als
wisse sie nichts davon und gieng gebückt in ihr Zimmer.“( Der Proceß, S. 34)
Fräulein Bürstner repräsentiert die „Überlegenheit eines Frauentyps“ 10, deren Unabhängigkeit
allen Verführungen widerstrebt. Sie nimmt daher in Bezug auf den Versuch der körperlichen
Kontaktaufnahme von Seiten Josef K.s eine bewusst gewählte aktiv-resignative Rolle ein.
Zweifelsfrei ist Fräulein Bürstner eine „zentrale Figur“ des Romans, deren Namen oder
Auftreten „allgegenwärtig […] in fünf der zehn abgeschlossen geltenden Kapitel […] direkt
oder indirekt vor[kommt]“11. Dahin gehend kann ihr eine bedeutende Rolle zugesprochen
werden, vermutlich weil Fräulein Bürstner in dem Roman eine Ausnahme darstellt, da sie „die
einzige Frau im Roman [ist], die in direkter, d.h. nicht über ein intimes Verhältnis zu einem
einflussreichen Mann vermittelter, Beziehung zum Gericht steht“12.
Im Angesicht des Todes von Josef K. tritt sie schließlich im letzten Kapitel latent wieder in
Erscheinung, durch ihre Präsenz begreift K. seine existent desolate Lage und die „[…]
Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zu Bewusstsein“ (S. 208).
Mit dieser Begegnung beginnt die Reflexion seines Erkenntnisprozesses kurz vor seiner
Hinrichtung, „er [hat] nicht mehr die Kraft, sich gegen seine Hinrichtung zu wehren“
13
.
Insofern ist die permanente Konfrontation Josef K.s mit dem Prozess und der Gerichtsinstanz
abgeschlossen. Die Versinnbildlichung von Fräulein Bürstner am Anfang und am Ende des
Romans unterstreicht die „besondere Affinität“14, die Fräulein Bürstner zu dem Helden als
auch zum Gericht aufweist.
Fromm interpretiert ihre Wiederkehr in Relation zu der Handlung im ganzen Roman als eine
Tat der verlorenen Geliebten Josef K.s, dessen Liebesbestreben um sie im ganzen
Romanverlauf, ausgelöst durch den Vampirkuss, nun endgültig der Niederlage geweiht ist15.
Ob dieser Kuss als Zeichen einer wahren Zuneigung zu werten ist in der Umgebung einer
gefühlskalten und berechnenden Gerichtswelt, deren unergründlichen Habitus sich K.
gleichermaßen immer mehr aneignet, gilt es meines Erachtens als kritisch zu bewerten.
9
Eschweiler ( 1998), S. 29.
Hochreiter, Susanne: Franz Kafka: Raum und Geschlecht. Würzburg 2007, S. 153.
11
Ebd. S. 150.
12
Tröndle (1989), S.122.
13
Ebd. S.124.
14
Hochreiter (2007), S. 153.
15
Vgl. Fromm, Waldemar: Artistisches Schreiben. Franz Kafkas Poetik zwischen ‚Proceß‘ und ‚Schloß‘.
München 1998, S. 156.
10
7
1.3 Die Waschfrau/ Die Frau des Gerichtsdieners
Die Frau des Gerichtsdieners wird von Josef K. zunächst als die den Gerichtseingang
bewachende, Kinderwäsche waschende Frau konnotiert und taucht zu seiner ersten
Untersuchung im Gerichtssaal wieder auf. K. wird während seiner Verteidigungsrede durch
ein „Kreischen vom Saalende “ (S. 49) auf sie aufmerksam, da sie offensichtlich in diesem
Augenblick vor der gesamten Zuhörerschaft mit einem Mann kopuliert:
„K. sah nur, daß ein Mann sie in einen Winkel bei der Tür gezogen hatte und dort an
sich drückte. Aber nicht sie kreischte sondern der Mann, er hatte den Mund breit
gezogen und blickte zur Decke.
(Der Proceß, S. 49)
Die Gerichtsverhandlung transformiert durch diesen Akt zu einem „sexuellen Spektakel“16,
das K. zu einer nichtigen Person denunziert, deren Menschenrechte verhöhnt werden. Die
Obszönität des angedeuteten Geschlechtsaktes offenbart sich in dieser Szene durch mehrere
„Wahrnehmungsfragmente“17:„die Grimasse, der unartikulierte
Laut, die [verhüllte]
Bewegung, der nach oben, von der Frau weggewandte Blick“18 pointieren die tiefen Abgründe
des Gerichtes und machen den Vorgang zu einem durch eine Tür abgeriegelten und somit
versteckten, dennoch aber in einer offiziellen Umgebung sich ereignenden Eklat in der
Gerichtswelt.
Am darauf folgenden Sonntag sucht K. schließlich noch einmal die Räumlichkeiten des
Gerichts auf, in denen er wiederholt auf die Waschfrau trifft, die sich als die Frau des
Gerichtsdieners personifiziert und die den auf die weibliche Körperlichkeit reduzierten
Finessen des Gerichts schonungslos ausgeliefert zu sein scheint.
Als Frau des Gerichtsdieners besitzt sie zwar die beste Konnexion zu der über Allem
drohenden Gerichtsinstanz, befindet sich in seiner Hierarchie aufgrund ihres Geschlechtes
jedoch ganz weit unten. Der rücksichtslose und besitzergreifende Umgang mit ihr von Seiten
der männlichen Angestellten des Gerichts demonstriert die Macht des Gerichts und seine
ausführende Gewalt.
Sie dagegen nimmt im Innersten eine scheinbar resistente Haltung ein, die ihre mutmaßliche
Not konkretisiert. Josef K.s bewegende Rede vor Gericht lässt sie Hoffnung schöpfen, dass
durch ihn die Missstände an diesem Ort zu einer Umwandlung der gerichtlichen
Konspirationen geführt werden können:
16
Müller, Klaus- Detlef: Franz Kafka. Romane. Berlin 2007, S. 72.
Stach, Rainer: Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen. Frankfurt am Main
1987, S. 31.
18
Ebd.
17
8
„‘Es ist ja so widerlich hier‘, sagte sie nach einer Pause und faßte K.‘s Hand.
‘Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird, eine Besserung zu erreichen?“
(Der Proceß, S. 52)
Mit dieser ersten Annäherung, die gleichzeitig die eigene Schwäche andeutet und die
männliche Tatkraft herausfordert, „steigert [sie schließlich] schrittweise den Grad der
Intimität“19, die bis zur Unaufrichtigkeit kulminiert: „‘Sie haben so schöne dunkle Augen
[…]. Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie zum erstenmal hier eintraten‘ (S. 54).
Doch diese scheinheilige Schmeichelei lässt K. unterbewusst erkennen, dass sie ihre Hilfe
nicht ernst meint, dennoch obliegt er ihrem weiblichen Charme zu sehr und kann sich seinem
männlichen Beschützerinstinkt nicht entziehen.
Er begegnet ihrer Annäherung nach anfänglicher Abneigung mit wachsendem Wohlgefallen,
Stach will sogar ein „Gefühl von Geborgenheit“20 in seinem Betragen erkannt haben, bis hin
zum kompletten Besitzanspruch an ihrem ganzen Wesen, „[…] weil diese Frau am Fenster,
dieser üppige gelenkige warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schweren Stoff durchaus
nur K. gehörte“ (S. 58).
Stach erwähnt hier nun K.s unterminierte Position, in der er sich dennoch der Gunst der Frau
des Gerichtsdieners sicher wähnt. Diese Annahme wird durch das eingeforderte
Verfügungsrecht des Studenten jedoch kurzerhand widerlegt21:
„Das Gericht ruft, damit ist für die Frau das Spiel beendet“ 22, denn die Frau hat sich dem
Dekret des Gerichtes zu fügen. Das aus der Monotonie heraus entstandene getriebene Spiel
mit Josef K. muss ihrer ernstzunehmenden Aufgabe als Gespielin weichen.
Dabei ist jede autoritative Person der Gerichtsordnung befugt, sich ihren körperlichen
Gefälligkeiten zu bedienen, sie fungiert somit als „sexuelles Freiwild“, das einem
„notwendigen Naturgesetz“[…] [der] uneingeschränkten willfährigen Dienste“ 23 unterworfen
ist.
Dennoch hat sie sich mit den Statuten des Gerichtes und den Trieben von dessen Vertretern,
denen sie Folge zu leisten hat, arrangiert. Deren Autorität insistiert auch jede andere, in der
Machthierarchie untergeordneter Person, sich den Gegebenheiten zu fügen:
„‘Es gibt hierfür keinen Schutz, auch mein Mann hat sich schon damit abgefunden;
will er seine Stellung behalten muß er es dulden, denn jener Mann ist Student und wird
voraussichtlich zu größerer Macht kommen.“( Der Proceß, S. 52)
19
Stach (1987), S. 36.
Ebd. S. 36.
21
Vgl. ebd. S. 37f.
22
Ebd. S. 38.
23
Eschweiler (1998), S. 44.
20
9
Der Gerichtsdiener scheint sich mit der Beziehungskonstellation seiner Ehefrau abgefunden
zu haben, er gibt ihr „die größte Schuld“ (S. 62) „an ihrer ständigen Verführung“ 24.
Das obszöne Buch mit dem Titel „Die Plagen welche Grete von ihrem Manne Hans zu
erleiden hatte“, auf das Josef K. zufällig stößt, versinnbildlicht die allgemeingültige Position
der Frauen am Gericht. Sie agieren als auf den Körper reduzierte, willenlose Satisfaktion der
mächtigen, die Entscheidungskraft innehabenden Männer. Die zunächst von ihr fingierte
Machlosigkeit gegenüber diesen desolaten Umständen wird durch den Anschein einer
gewissen selbst bezweckten Repression entkräftet, die mit ihrer Begegnung mit Josef K. in
seine Richtung positioniert werden soll:
„‘Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie vielemals, denken Sie auch nicht schlecht von
mir, ich muß jetzt zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehn Sie nur seine
krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück und dann geh ich mit Ihnen, wenn
Sie mich mitnehmen, ich gehe wohin Sie wollen‘.“ (Der Process, S. 57)
Hinter ihrer mutmaßlichen Offerte zum gemeinsamen Vorgehen gegen das Gericht und einer
danach folgenden Flucht erahnt Josef K. nun die Möglichkeit, an dem Untersuchungsrichter,
dem Studenten und stellvertretend für sie an dem Gericht Rache zu nehmen, indem er ihre
Geliebte zu seiner eigenen degradiert. Es findet somit eine Verlagerung des Machtkampfes
zwischen Josef K. und dem Gericht auf dem Gebiet der Erotik und der sexuellen Konkurrenz
statt. Doch er merkt schnell, dass er auch aus dieser Position des Verführers nicht als Sieger
hervorgehen kann, da die Frau offensichtlich ein Köder des Gerichts zu sein scheint. 25
Demzufolge kann er den Worten und Versprechungen dieser Dienerfrau keinen rechten
Glauben schenken, sie wirkt wankelmütig und somit nicht vertrauenswürdig. Während sie
gegenüber Josef K. behauptet, dass sie die gerichtliche Umgebung „widerlich“ findet,
streichelt sie ihrem Entführer, „dem Scheusal“(S.59), über das Gesicht, sie lässt sogar einen
gewissen Stolz erkennen, in den Genuss eines solch großen Begehrs eines lüsternen Studenten
und eines einflussreichen Untersuchungsrichters zu kommen.
Ihre Verhaltensweisen sind von Unehrlichkeit geprägt, die zur Normalität geworden zu sein
scheinen und von der jeweiligen „Augenblicksstimmung“ 26 beeinflusst werden. Sie dienen
offensichtlich nur dazu, in der Gerichtswelt zu überleben. Individualität und Aufrichtigkeit
scheinen in diesem Milieu unangebracht, die Frau des Gerichtsdieners hat sich charakterlich
integriert und verkörpert somit eine sittenlose „Unperson“ 27.
24
Müller (2007), S. 74.
Vgl. ebd. S. 73.
26
Stach (1987), S. 53ff.
27
Ebd. S. 55.
25
10
1.4 Leni als Verbindung zum Gericht
Leni, die Pflegerin des Advokaten Huld, suggeriert mit ihren an der Tür erscheinenden
„große[n] schwarze[n] Augen“ (S. 89) eine grenzüberschreitende Wächterin, die in ihrer
„lange[n] weiße[n] Schürze im Vorzimmer [stand] und eine Kerze in der Hand [hielt]“ (S.90)
Josef K. Einlass gewährt, ihn dementsprechend inoffiziell in die diffusen Bahnen des
Gerichtes einführt. Ihr unschuldiges Aussehen in Form eines „puppenförmig gerundete[n]
Gesicht[es]“ (S. 90) und ihre Aufgabe als Pflegerin trügen den Schein ihrer wahren
Persönlichkeit. Im Vordergrund steht dabei ihr Begehren nach den hilfesuchenden Klienten,
die sie regelmäßig für den Advokaten empfängt, kurz darauf zu ihren Liebhabern expliziert,
gleichzeitig aber wie Kinder behandelt28.
Die Bestimmung der Angeklagten ist es, als Schützlinge Lenis, ihr Selbstbestätigung als Frau
zu geben und ihr Wohlgefallen und Zuneigung zu vermitteln.
Die Anstellung als Pflegerin bei dem Advokaten Huld gilt als ideale Verbindung zwischen
dem Gericht und ihren eigenen Begierden. Sie fungiert somit als inoffizielle Angestellte des
Gerichts in Gestalt der Dienerin des Advokaten, die den Angeklagten des Anwalts
Gesellschaft leisten und ihrer Zerstreuung dienen soll, indem sie ihnen wertvolle
Informationen über die Gerichtsverfahren darbietet, die sie irritieren und an den Anwalt
binden sollen. Dem Advokaten steht sie als Geliebte zur Verfügung, die die Klienten in seine
[und auch ihre] Abhängigkeit drängt und ihn währenddessen durch ihre anderen
Liebesbeziehungen zu seiner Unerhaltung beiträgt 29. Deren Beziehung ist demnach einer
korrelativen Nutzfunktion immanent, die zu ihrer beider Vorteil dient. Der markante
Hilfsanspruch Lenis erzeugt zwischen ihr und den unseligen Klienten eine starke
Anziehungskraft, der einer großen Akzeptanz von Seiten des Advokaten beikommt:
„[…] diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön
findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu
werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal
davon.“ (S. 168f)
Die bei Leni existierende Anziehungskraft gegenüber den Angeklagten zeugt davon, dass „das
Gerichtsverfahren […] den Angeklagten […] verwandelt“, somit eine „Transformation“30 des
Verhaltens stattfindet, die Leni zu spüren vermag.
Lenis Hilfe gegenüber Josef K. wirkt wie eine Farce, die nur solange anhält, bis ihr Verlangen
gestillt wird, Tröndle zählt sie somit zum „Typus der vergewaltigenden Frau“ 31.
28
Vgl. Tröndle (1989), S.119.
Müller (2007), S. 89.
30
Verbeek (1986), S. 182.
31
Tröndle (1989), S.119.
29
11
Um ihren eigenen Vorteil stets bemüht, wiederholt sie öfter ihre Hilfsangebote an Josef K., die
nur halbherzig abgegeben werden. Nachdem K. ihr mitteilt, dass er den Advokaten Huld
entlassen will, erfährt er plötzlich von Leni nicht mehr den bisherigen Beistand, sondern eine
tobende Defensive:
„Leni wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in den Weg, wofür
sie ihm mit den Fäusten einen Hieb gab. Noch mit den Fäusten geballten Händen lief
sie dann hinter K., der aber einen großen Vorsprung hatte“ (S. 167f.)
Dabei macht auch Leni bei ihren diversen Liebhabern Zuneigungsunterschiede. Während sie
Block in Josef K.s Anwesenheit diffamiert [„Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer
Kaufmann, ein gewisser Block“] (S. 155), verehrt sie K. desto mehr, indem sie ihm mit ihren
Zugeständnissen Genüge tut, was wohl mit dem Wertegrad des Prozesses zusammenhängt.
K.s Prozess scheint interessanter und komplexer zu sein als Blocks Prozess, daher gilt ihm die
höhere Anteilnahme, die er auch ohne Weiteres ungeteilt haben möchte.
1.4.1 Gespräch zwischen Leni und Josef K.
Mit der Begegnung zwischen Josef K. und Leni beginnt nun ein Wechselspiel zwischen der
sexuellen Anziehung ihrer Geschlechter und einem Austausch an Informationen über das
Gericht, bei dem K. sich von Leni Fragen zu beantworten versucht, während Leni mit
leichtem Widerwillen antwortet, ihm dann aber doch ihre Hilfe zugesteht. Ihre Spekulationen
in Bezug auf mangelndes Interesse von Seiten ihres Objekt des Begehrens, personifiziert in
Josef K., wirkt wie ein kokettes Spiel, dessen Zweck es ist, die gewünschte Aufmerksamkeit
von ihm zu erhalten und mit diesem Mittel ihre Attraktivität zu prüfen: „Aber auch ich bin
eitel und sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle“ (S. 98).
Dies bewirkt tatsächlich die Zunahme seiner Hingabe an ihrer Erscheinung, deren Resultat
jedoch auch nur zu seinem eigenen Vorzug dient, dahingehend, dass er sich ihr Wissen
aneignet und somit mehr über das Gericht erfährt. Ein netter Nebeneffekt dabei ist die
Befriedigung seiner Männlichkeit.
Es steht dennoch außer Frage, dass Leni eine deutliche Überlegenheit gegenüber Josef K.
besitzt, die sie zwar häufig unter dem Vorwand der Bescheidenheit und mit einer affinen
Funktion als „bloßes Weibchen“32 zu untergraben versucht. Sie erscheint als „seelenloses,
austauschbares Wertobjekt“33, dessen sie sich sogar selbst bewusst zu sein scheint: „‘Sie
haben mich eingetauscht‘ rief sie von Zeit zu Zeit, ‘sehen Sie nun haben Sie mich doch
eingetauscht!“ (S. 100).
32
33
Nagel, Bert: Franz Kafka. Aspekte zur Interpretation und Wertung. Berlin 1974, S. 59.
Ebd. S. 59. Ebenso wird Fräulein Bürstner als weibchenhaft und seelenlos charakterisiert.
12
Die Begegnung zwischen Josef K. und Leni ist demnach nur ein befristetes Intermezzo
gegenseitigen Ausnutzens, eine Prostitution von Mann und Frau mit einem einher gehenden
hohlen Verlangen.
1.4.2 Mythische Verführerin
Leni fungiert nicht nur als Verbindung zum Gericht, sondern verkörpert ebenso eine
mythische Verführerin, gekennzeichnet durch ihren körperlichen Fehler:
„Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen
denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger
reichte“ (Der Proceß, S. 100)
Tröndle verweist auf den Eindruck einer tierischen „Kralle“, dessen Attribut bei Kafka eine
„Zugehörigkeit zu den Sirenen“34 andeutet, „einem Zwitterwesen zwischen Mensch und
Tier“35. Ihr auffallend „bitterer aufreizender Geruch von Pfeffer“ (S. 100) erinnert an eine
mythische, dämonische Frauengestalt aus der jüdischen Mythologie 36.
Hochreiter ordnet diese Beschreibung eher in die Gattung der Amphibien ein, da für sie das
Häutchen zwischen ihren Fingern eher wie eine „Schwimmhaut“ 37. anmutet. Welches
animalische Objekt Kafka damit abzeichnen wollte, ist nun unerheblich, feststellen lässt sich
mit dieser Bezeichnung in jedem Fall, dass sie eine nicht gänzlich menschlich assoziierte
Figur ist.
Desto mehr sind die diversen „pejorativen Ausdrücke“ 38 in Bezug auf Leni nachzuvollziehen,
die eine Zusammenstellung von Frauentypen offenbaren: „Stubenmädchen, junges Mädchen,
kleines Fräulein, die Pflegerin, Verdammte, Hexe, schmutziges Ding, Geliebte und ihren
Namen: Leni“39. Die negativen Ausdrücke stammen von dem Onkel Josef K.s, der sofort die
dunklen Abgründe ihres Wesens und sie somit als Bedrohung wahrgenommen hat40.
Die Rundungen ihres Gesichtes, die puppenförmig anmuten, lassen das Bild einer „Maske“ 41
entstehen, ein künstliches Äußeres zur Bewahrung des schönen Scheins und der Verhüllung
ihrer tiefen seelischen Abgründe.
Hinzu kommt die Art und Weise ihrer Annäherung an K., die den Eindruck eines
34
Müller (2007), S. 78.
Tröndle (1989), S.120.
36
Ebd..
37
Hochreiter (2007), S. 149.
38
Ebd.
39
Hochreiter (2007), S. 148.
40
Hochreiter behauptet, dass die Reaktion des Onkels gegenüber Leni einen Moment identitärer Irritation
darstellt, da er in dieser Situation die emotionale, weibliche Rolle übernimmt, während Leni ein rat ionales,
männliches Verhalten zeigt. Hochreiter (2007) S. 149.
41
In diesem Zusammenhang erwähnt Hochreiter ebenfalls die paradoxe Ähnlichkeit Lenis zu Schneewittchen.
Hochreiter (2007). S. 148.
35
13
ungebändigten, wilden Tieres erweckt: „[…] mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien
seinen Schooß […]“ und „[…] sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg
und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare“ (S. 100).
Unter diesen Gebärden nimmt sie den immer schwächer werdenden Josef K. in ihren Besitz:
„Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K.
umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. ‚Jetzt gehörst Du
mir‘, sagte sie.“ (S. 100).
1.5 Weibliche Nebenfiguren
Zwei auffallend ähnlich deutbare Situationen, die Josef K. mit Frauen erlebt, sind zum Einen
das Erlebnis mit dem Mädchen in den Kanzleien und zum Anderen das Auftreten mehrerer
Mädchen bei dem Appartement des Malers, worauf in den folgenden zwei Kapiteln nun
Bezug genommen wird.
1.5.1 Das Mädchen in den Kanzleien
Das Mädchen in den Kanzleien fungiert nun mehr als Hilfe zur Orientierung für Josef K., der
von der beengten, dunklen und stickigen Atmosphäre der Büroräume einem Schwächeanfall
erliegt. Zudem bietet sie ihm ihre Hilfe beim Gehen an, da K. alleine dazu nicht mehr in der
Lage ist, und erklärt mit entschuldigenden Worten das triste Dasein dieser Kanzleien, die wie
ein Ameisenbau anmuten. Mit der Adaption an die räumlichen Gegebenheiten, die offenbar
mit der Dauer ihrer Anstellung kongruent ist, ist die dunkle und drückende Kanzleiluft
scheinbar erträglich, im Gegensatz zu der „verhältnismäßig frische[n] Luft, die von der
Treppe kam“ ( S. 73), von der das Mädchen drohte, abzustürzen.
Das Erscheinungsbild des Mädchens ist mit stark weiblichen Attributen besetzt, „[…] ihr
Gesicht […] hatte den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten
Jugend haben“ (S. 68), zumal sie mit der klischeehaft belegten Typisierung einer Sekretärin
einher gehen. Darüber hinaus besitzt sie ein sich in der Opferrolle befindendes weibliches
Wesen, dass auf falsches Verständnis stößt: „[…]‘als Gerichtsbeamte bekommen wir leicht
den Anschein als ob wir hartherzig wären und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu
darunter‘“(S. 72).
Delianidou sieht in ihr eine „a-sexuelle Schwesterfigur“
42
, die ihm mit ruhiger und
vertrauenserweckender Art durch sein Unwohlsein zu helfen sucht. Tatsächlich ist ihre
Erscheinung nicht von düsterer und erotischer Art im Gegensatz zu den anderen weiblichen
Begegnungen, sondern gibt den Anschein eines höflichen Mädchens, deren Existenz nur
42
Delianidou (2002), S. 67f.
14
behilflicher Art zu sein scheint, um K. sicher aus der Beklemmung der Kanzleien
herauszuhelfen.
1.5.2 Die Mädchen beim Maler Titorelli
Die Mädchen, die Josef K. bei dem Maler Titorelli antrifft und unter denen ein „kaum
dreizehnjähriges etwas buckliges Mädchen“ deutlich die Anführerin repräsentiert,
widersprechen allen normativen Imaginationen von gutem Benehmen und Aussehen. Dies ist
eindeutig am Verhalten der Anführerin zu konstatieren: „Weder ihre Jugend noch ihr
Körperfehler hatte verhindern können, daß sie schon ganz verdorben war“ (S. 129).
Offenkundig auf der Straße lebend, besteht das Verhalten der Mädchengruppe ausnahmslos
aus unsittlichen Handlungsweisen und „moralischer Verderbtheit“ 43, denn „Alle Gesichter wie
auch diese Spalierbildung stellten eine Mischung aus Kindlichkeit und Verworfenheit dar“ (S.
129). Stach entdeckt hier das Phänomen der „Figuren- Multiplikation“44, mittels derer den
Eigenschaften der Weiblichkeit im Proceß jegliche „Individuation“45 genommen wird.
Hiermit kann auf die allgemeine Substanz der fehlenden Individualität einer Figur
hingewiesen werden, indem eine beliebige weibliche Figur ausgewählt wird, anhand derer
ihre Bedeutungslosigkeit aufgezeigt werden kann. In diesem Falle wird durch die Reaktion
der Anführerin die Obszönität deutlich, die das weibliche Naturell zu besitzen scheint:
„ [Das Mädchen] öffnete übermäßig den Mund, schlug leicht mit der Hand gegen K.,
als hätte er etwas außerordentlich überraschendes oder ungeschicktes gesagt, hob mit
beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte,
hinter den andern Mädchen […]“ (S. 129).
Die Räumlichkeit des Malers und sich in seinem unmittelbaren Umfeld befindenden Mädchen
ist atmosphärisch von „sexuellen Anspielungen“ 46 durchzogen: der Maler im Nachthemd, der
neckische Umgang mit den Mädchen, die Bucklige mit roten Lippen47.
Indem sie K. zu dem Maler Titorelli navigieren, erfüllen sie wiederum ihre weibliche
Funktion, ihm in irgendeiner Weise in der Konfrontation mit seinem Prozess behilflich zu
sein. Allerdings erfährt er von dem Maler, dass er und die Mädchen ebenfalls in die Institution
des „ungeheuerlichsten Gerichtes der Welt“48 integriert sind.
Die Mädchen sind omnipräsent, zwar besteht eine räumliche Trennung zwischen ihnen und
Josef K., dennoch hören sie das ganze Gespräch mit und kommentieren es, was eine
43
Hochreiter (2007) S. 154.
Stach (1987), S. 74.
45
Ebd.
46
Hochreiter (2007), S. 154.
47
Vgl. ebd.
48
Tröndle (1989), S.108:
44
15
bedrohliche Haltung annimmt. Sie besitzen einen Schlüssel und können sich jederzeit Zugang
zu der Wohnung des Malers verschaffen.
Auch hier bekommt Josef K. durch die drückende Luft Atemnot und Schwindelanfälle,
vermutlich fühlt er sich stets erdrückt von der Gewichtigkeit des Gerichts, die allgegenwärtig
scheint und immer auf einem Dachboden lokalisiert ist.
2. Die Wirkung der Frauen auf Josef K.
Der Protagonist in dem Roman, Josef K., er- und durchlebt im Proceß eine Welt, die ihm
weitgehend unbekannt ist, da er sie mit ihren unterschiedlichen Machtverhältnissen und
Gremien
nicht
begreift.
Die
zunehmende
Undurchschaubarkeit
gesellschaftlicher
Entscheidungsprozeduren und deren radikale Entfremdung greift Kafka als Thema seines
Romans auf und verdeutlicht deren „Vordringen ins Innerste des Subjekts und die damit
einhergehende Zerrüttung von [nicht nur erotischer] Intimität“49.
An dieser Stelle finden nun die Frauen ihren Einlass in die Thematik des Romans, da die
„Identifikationsproblematik der Hauptgestalt“50 mit der Beziehung zu den Frauenfiguren
konform ist. Die Frauen fungieren als Spiegel seiner wankelmütigen Seele in Reflexion zu
dem Prozess, dessen Prozedur der Schlüsselfigur Josef K. nicht immer evident wird. Die
oftmals
vorgespielte
Souveränität
in
Bezug
auf
den
Umgang
mit
seinen
Prozessangelegenheiten gibt dem Helden eine ambivalente Willenskraft.
Dies ist zum Beispiel im Kapitel Kündigung des Advokaten zu erkennen, in dem er eigentlich
fest beabsichtigt, mit Leni „die fragliche Kündigung genau zu besprechen“(S. 156), jedoch
durch die Anwesenheit des Kaufmanns Block sein Vorhaben revidiert. Aufgrund der
mangelnden Aufmerksamkeit Lenis ihm gegenüber wird sie dementsprechend zu einer Person
degradiert, die seines Vertrauens unwürdig ist:
„[…] es war wohl auch besser, daß er vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechen
konnte; sie hatte wohl kaum den genügenden Überblick über das Ganze“ (S: 157)
„Die Bilder und Projektionen von Weiblichkeit“ stehen in Korrelation „zum männlichen Ich
des Protagonisten“51 und geben eine Sicht auf die gegenseitige Abhängigkeit beider
Geschlechter, die sogar negativ als Repression ausgelegt werden kann.
Alle Frauen sind K. in gewisser Weise in verschieden starken Ausprägungen ergeben, ebenso
ist ihnen Josef K. in der Relation unterlegen.
49
Stach (1987), S. 20.
50
Beicken, Peter: Franz Kafka. Der Proceß. Hg. Von Klaus- Michael Bogdal und Clemens Kammler. München
1995, S. 134.
51
Delianidou, (2002), S.12.
16
Stach argumentiert in die gleiche Richtung im Hinblick darauf, dass Kafka zwar ein
charakterliches Bild der Frauenfiguren in Der Proceß zeichnet, das sie als defizientes
Sexualwesen abwertet, er der Weiblichkeit hinsichtlich ihrer Bedeutung auf das gesamte Werk
und seiner hierarchischen gerichtlichen Ordnung aber vielmehr das „Syndrom der Macht“ 52
überträgt. Die scheinbare Unterlegenheit der Frauen ist demzufolge nur eine Farce, eine sich
über die Geschlechtergrenzen hinweg setzende Täuschung, die durch die Einwirkung des
Gerichts zustande kam und bewahrt wird.
Delianidou bezeichnet Kafkas Methodik zur Auflösung der Geschlechterdifferenz als
„kafkaeske Dekonstruktion“53, in der die Auflösung der Weiblichkeit und mit ihr einher
gehende Wahrnehmungsveränderung „überreal und befremdlich“ 54 wirkt. Es existieren somit
geschlechtsspezifische Darstellungen, deren Begriff des Weiblichen Projektionen männlicher
Sichtweisen sind und „zum größten Teil widersprüchliche Imaginationen“ 55 darlegen.
Die weiblichen Konnotationen im Proceß gehen somit inhaltlich in zwei Richtungen, die der
ständig wechselnden aktiven und passiven Überlegenheit gegenüber den Männern, denen
Josef K. demonstrativ ausgesetzt sind.
An konkreten Textstellen wird nun die Wirkung der Frauen auf K. deutlich. Dabei
unterscheidet sich in der Literaturwissenschaft die Mutterfigur der Frau Grubach mit denen
der Dienerfrauen, Liebhaberinnen, Verführerinnen, Wegweiserinnen und Schwesterfiguren.
Josef K.s Kommentar zu Fr. Grubach, die der mütterlichen Hausfrau zugeordneten
Frauenfigur, unterstreicht die subtile Macht und Fleißigkeit der Frauen bei ihren
geschlechterspezifisch zugeordneten Hausfrauentätigkeiten am Herd und im Heim, die ihn als
Mann in einem Beruf mit einer hohen Position zu überraschen scheint. Sie macht auf ihn den
Eindruck
einer
unterschätzten
Machthaberin
im
Kleinen,
die
er
anhand
ihrer
Sockenproduktion und der zuvor durcheinander gebrachten und nun emsig aufgeräumten
Wohnung erkennen will: „Frauenhände bringen doch im Stillen viel fertig“ (S. 23).
Durch den öffentlichen Geschlechtsakt der Frau des Gerichtsdieners im Gericht erfährt Josef
K. im Kampf für seine Gerechtigkeit eine willfährige Demütigung. Diese Erfahrung wird
Josef K. über seine eigene Verwundbarkeit belehren und seine Selbstkontrolle weiter
schwächen, auch bei der zweiten Begegnung ist die Frau des Gerichtsdieners eine seiner
52
Stach (1987), S. 22.
53
Der Methodik wohnt eine Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistung inne, die nach der Definition „kafkaesk“
erst auf den zweiten Blick erkennbar, dafür umso eindringlicher ist. Delianidou (2002), S.20.
54
Delianidou (2002), S.20.
55
Ebd. S.25.
17
Mission im Weg stehende „starke Gegnerschaft“56, die mit einem erotischen Spiel verbunden
ist, das in Kapitel 1.3 schon eingehend am Text analysiert wurde.
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass für K. die Frau zunächst nicht als individuelle
Person existiert, sondern als „totale Instrumentalisierung“
57
, um die nötigen Informationen
über seinen Prozess zu beschaffen.
An der Figur Lenis wird dies noch deutlicher gezeigt, doch sie gibt den Weg zur Macht für
Josef K. nicht wirklich frei, die Fähigkeit zur Rettung und Zerstörung als Form der
Machtdemonstration dieser so bezeichneten Dienerfrauen offenbaren sich bei ihm als
„Ambivalenz von Begehren und Ekel“58.
Kafka setzt seinen Protagonisten einer von weiblichen Figuren besetzten Umgebung der
gerichtlichen Ordnung aus, die beladen ist von erotischer Anziehungskraft, die aber nicht
durch verminderte Selbstkontrolle bestimmt ist, sondern aus einer Wechselwirkung besteht,
bei der sowohl bei K. als auch bei den Frauen ein anregender Eindruck hinterlassen wird.
Als „Objekt des Begehrens“ scheint K. jedoch „austauschbar“
59
zu sein, denn die Auswahl
der Frauen ist dabei vom Zufall bestimmt.
Um dem tragischen Ende seines Lebens in diesem Sinne gerecht zu werden, unterläuft seine
erotische Motivation im Zweiklang von Qual und Lust laut Kremer „einer Art erotischem
Zwangsuniversum, das auf der Wiederkehr des Immergleichen beruht und dem sich K. nur
durch seine Exekution entziehen kann“60.
2.1 Josef Ks. Wahrnehmung der Frauen
Die
Schilderung
des
Verhaltens
der
Frauenfiguren
erfolgt
immer
aus
K.s
„monoperspektivische[r], völlig auf den Helden zentrierte Darstellung“ 61 und gibt somit ein
auf seine Impression konzentriertes Bild ihres Wesens preis.
Sein Verhalten gegenüber den Frauen zeugt von einer „von männlichen Bedürfnissen
gesteuerte[n] und zensierte[n] Wahrnehmung von Weiblichkeit, die in einer von Männern
dominierten Gesellschaft verbindlich wird“62.
Dies zeigt sich, indem die potenziell heiratsfähigen Frauen für ihn eine Art Besitz darstellen
und bei ihm Eifersucht hervorrufen, wenn er von einem anderen Mann abgedrängt wird.
56
Stach (1987), S. 34.
Ebd. S. 39.
58
Tröndle (1989), S.120.
59
Stach (1987), S. 59.
60
Kremer, Detlef: Franz Kafka, Der Proceß. In: Zimmermann, Hans Dieter (Hg.):Nach erneuter Lektüre: Franz
Kafkas Der Proceß. Würzburg 1992, S.196.
57
61
62
Stach (1987), S. 50.
Ebd. S. 24.
18
Damit einher geht seine zunehmend negative Verhaltensanpassung an die Obdoleszenz der
Männer am Gericht, was das Betragen gegenüber den Frauen anbetrifft.
Gegenüber Fräulein Bürstner und der Frau des Gerichtsdieners begibt er sich auf das gleiche
niedrige Niveau wie die Männer am Gericht, seine Eigennützigkeit steht in Form des
Begehrens im Vordergrund und dies fordert er auch dementsprechend ein. Nach der Szene mit
Fräulein Bürstner, in der er seine Liebkosungen für sich beansprucht, „wird er sich seines
menschlichen Versagens nicht bewusst“63:
„ […] vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er
war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener war […]“
(S: 34)
Die Frauen mutieren somit immer zu einer „sexuelle[n] Beute“64, Sie ordnen sich
selbstverschuldet in diese Bezeichnung ein und müssen somit mit der Konsequenz rechnen,
dass K. entsprechend darauf reagiert und sie auch so behandelt.
Dennoch geht er nicht als Sieger aus diesen erotischen Episoden hervor, sie sind
schlussendlich geprägt von Josef K.s Unterlegenheit gegenüber den Frauen und somit auch
gegenüber dem Gericht, die er aber durch seine vermeintliche Stärke zu kompensieren
versucht65.
3. Der gemeinsame Aspekt der Frauen im Proceß
3.1 Die Verbindung der Frauen zum Gericht
Das Gericht im Proceß und seine „Umgangsformen des Verhaftetseins sind durch Korruption,
Begehrlichkeiten und Fixierungen gekennzeichnet“
66
, deren Wertmaßstäbe nicht immer
kategorisch sondern eher willkürlich durchgesetzt und deren „Figuren sich um eine absolute
Leere bewegen“67.
Die Omnipräsenz des Gerichtes spiegelt sich eindeutig auch in der Machtposition der Frauen
wider, die von einer „Omnipräsenz des Weiblichen“68 zeugt und denen Josef K. im
öffentlichen und nicht im privaten Raum begegnet 69.
Hochreiter formuliert dies in umgekehrter Weise, nämlich dass „das ‚Gericht‘, repräsentiert
63
Eschweiler (1998), S. 29.
Stach (1987), S. 40.
65
Vgl. Müller (2007), S. 74.
66
Fromm (1998), S.153f.
67
Ebd. S.154.
68
Stach (1987), S. 11.
69
Vgl. ebd. S. 11f.
64
19
durch Männer, […] im „Privatzimmer der Frau statt[findet]“ 70 und dort seine wahre Größe
erfährt. Es existiert somit eine Widerspiegelung der Macht habenden Männer im Kontakt mit
den Frauen und –in sexueller Hinsicht- mit ihrer Berührung, die auch K. leibhaftig erfährt.
Emrich unterscheidet dabei „drei Möglichkeiten“ der Relation zwischen den Frauenfiguren
und dem Gericht: „1. außerhalb des Gerichts zu stehen, 2. im Konflikt mit ihm zu leben, 3.
ihm gänzlich verfallen zu sein“71. Ausgenommen davon ist Fräulein Bürstner als „freie,
selbständige Frau“72.
Bei dieser Aufzählung lässt sich Frau Grubach in die erste Kategorie einordnen, die gänzlich
in die Welt des Hausfrauendaseins eingeordnet werden kann. Im Konflikt mit dem Gericht
steht die Frau des Gerichtsdieners und Leni fungiert als Repräsentantin der völligen Symbiose
mit dem Gericht73.
3.2 Die Frauen als „Helferinnen“
Josef K.s Odyssee durch die „streng hierarchische[…] Gliederung dieses [Gerichts-]
Apparates“74 ist geprägt von „Vermittler[n] und Zwischenpersonen“75. Die von den Frauen
erzeugte Wirkung lassen ihn zu folgendem Schluss kommen: „Ich werbe Helferinnen, dachte
er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich
diese kleine Pflegerin (Leni) (…)“ (S. 99)
Die Gemeinsamkeit der Hilfsangebote der Frauenfiguren in dem Roman ist, dass sie, ohne
dass K. es initiiert, sich zu Anfang jedes Mal förmlich aufdrängen, bis er schließlich das
Potential dieser Hilfe erkennt und sich selbst darum bemüht.
Von Leni erhält er den „naiv-dümmliche[n] und zugleich unernst-mechanische[n]“ Rat, das
‚Geständnis‘ abzulegen“76. Leni hat ein „doppeltes Gesicht“ 77: vordergründig gibt sie K. vor,
ihm helfen zu wollen, hintergründig jedoch versucht sie, K. durch diese List verstärkt an den
Advokaten und somit auch an sich zu binden.
Die andere potentielle Helferin, die Frau des Gerichtsdieners, ist ihm durch ihren obszönen
Akt bei Gericht behilflich, da seine Rede dadurch abgebrochen wird, denn man „[…] hat
70
Hochreiter (2007) S. 151.
Emrich, Wilhelm. Franz Kafka. Bonn 1958, S. 275.
72
Für Emrich ist das bekundete Interesse für das Gericht ihrerseits, dem Josef K nicht ausreichend Auskunft
geben kann, entscheidend für den weiteren Verlauf für K.s Prozeß. Vgl. Emrich (1958), S. 275f.
73
Vgl. ebd. S. 277.
74
Allemann, Beda: Zeit und Geschichte im Werk Kafkas. Göttingen 1998, S. 72.
75
Ebd. S. 72.
76
Hiebel, Hans H.: Franz Kafka. Form und Bedeutung. Formanalysen und Interpretationen von Vor dem Gesetz,
Das Urteil, Bericht für eine Akademie, Ein Landarzt, Der Bau, Der Steuermann, Prometheus, Der Verschollene,
Der Proceß und ausgewählte Aphorismen. Würzburg 1999,S.
77
Tröndle (1989), S.118.
71
20
nachher noch sehr ungünstig über [ihn] geurteilt“(S. 52).
Die Funktionalität der Frauen geht nicht mit der Bezeichnung von „Helferinnen“ einher,
sondern enttarnt sie als Irreführung des Gerichtes, was die Szene mit dem Geistlichen im Dom
verdeutlicht:
„‘ Du suchst zuviel fremde Hilfe‘, sagte der Geistliche mißbilligend, ‘und besonders
bei Frauen. Merkst Du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist‘“. (S. 195)
Darauf antwortet Josef K. in partieller, weiser Einsicht:
„‘ Manchmal und sogar oft könnte ich Dir recht geben‘, sagte K., ‚aber nicht immer.
Die Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu
bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich durchdringen.“ (S.
195)
Die Aussage von K. macht seine unterschiedliche Begriffsaufnahme deutlich. Einerseits ist
ihm die Aussichtslosigkeit, die Hilfe dieser Frauen anzunehmen, bewusst, andererseits nimmt
er an, es wird ihm gelingen, durch ihre Hilfe aus dem Prozess unbeschadet herauszukommen,
dabei nimmt er eine sehr naive Haltung ein.
3.3 Erotische Anziehung: Die Frauen als düster-erotisches Element
Josef K. stellt einen selbstbewussten „Biedermann“ dar, der von opportunistisch„bürgerlichen Wertevorstellungen“ geprägt ist und einen festen, rhythmischen Tages- bzw.
Wochenablauf aufweist, der von „Karrierestreben, Statusorientierung, strikte[r] Trennung von
Öffentlichkeit und Privatheit, Stammtisch [und einer] auf den Tag geregelte[n] Sexualität“ 78
durch die gegenwärtige Geliebte Elsa geprägt ist. Demzufolge scheint die ausgesprochen
zügellose und wechselhafte Sexualität, die er während seiner Prozess-Auseinandersetzung
erfährt, ihn geradewegs zu zerstreuen.
Der „Moment des Erotischen“79 erscheint im Proceß in vielfacher Weise und tritt in Form der
Macht- und Triebebene an den Protagonisten heran. Die Gefühlsebene wird in bewusster
Weise ausgelassen, da sie in zu starkem Kontrast zu der gnadenlosen Gerichtsinstanz stehen
würde. Die Grade der Erotik, repräsentiert durch die Begegnung Josef K. mit den voller
Diskrepanzen gezeichneten Frauenzimmern werden dabei völlig in eine Entfremdung
getrieben, die zu einer düsteren Abstraktion bis hin zur Depersonalisierung führt. Die
Frauenfiguren konstatieren sich auf diese Weise als „amoralische[…], bewußtlos
agierende[…] und sexuell aggressive[…] Wesen“ 80.
78
Fromm (1998), S. 151.
Stach (1987), S. 12.
80
Ebd. S. 76.
79
21
Der Position der Frau wird dabei eine emanzipierte Rolle zugestanden, jedoch „[ist]
emanzipiert sein [in diesem Roman] eindeutig pejorativ besetzt“ 81, die nur zur Funktionalität
des Gerichtes und zum Selbstzweck des Protagonisten dient.
Nicht selten werden die Frauen in diesem Zusammenhang zur reinen, dementsprechend
wiederholt in eine erotisch aufgeladene Körperlichkeit gezwungen, die in der Szene mit der
Frau des Gerichtsdieners überdeutlich wird, wo sie von ihrem aufgezwungenen Liebhaber
weggetragen wird und dabei ihre Beine entblößt82.
Tröndle formuliert die wechselnde Prädominanz der Geschlechter unter dem erotischen
Aspekt, dahingehend dass es im
„[…]Klima der Macht, in dem die anwesend- abwesenden Mächtigen das eigentliche
Objekt des Begehrens sind, […] außerhalb der sadistischen Unterwerfung der Frau
und der masochistischen Unterwerfung unter die Frau keine Beziehung zwischen den
Geschlechtern [gibt]“83.
Es herrscht dahingehend eine gegenseitige Unterwerfung der Geschlechter in einem
patriarchalischen Gefüge, die durch die Befehlsgewalt der männlichen Protagonisten, die die
Frauen zu Objekte ihres Begehrens degradieren, initiiert wird.
Dabei darf die Einführung gewisser homoerotischer Elemente nicht außer Acht gelassen
werden, welche die Szene beim Maler Titorelli durch sexuelle Anspielungen bedingt 84: „[…]
breit in seinem Sessel zurücklehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand
darunter geschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich“ (S. 146). Auffällig sind
ebenfalls die zahlreichen Verweisungen auf die Assoziation des Bettes in der Räumlichkeit
des Malers. Infolge dessen bemerkt auch K. selbst, dass der Maler „[…] sich sehr gut in den
Kreis von Helfern [fügte], die K. allmählich um sich versammelte“ (S. 138) und er somit als
männlicher Helfer in die gleiche erotisch beladene Sphäre der Helferinnen eingeordnet
werden kann. Um der Bedeutung der Erotik in Kafkas Roman den nötigen Stellenwert zu
geben, kann man von einer Kollektivität der Erotik sprechen, die sich daran misst, wie stark
diese mit der jeweiligen Frau konnotiert und wie sehr die räumlich beschränkte erotische
Stimmung ausgeprägt ist 85. Als Beispiel dient die Lage der Frau des Gerichtsdieners, die
„vom erotischen Kollektivzwang [befreit werden will]“ und das erotische Treiben passiv über
sich ergehen lassen muss, während Leni „ kollektiv alle Angeklagten [liebt]“ 86 und somit
bewusst die aktive Rolle der Verführerin übernimmt.
81
Hochreiter (2007), S. 70.
Vgl. Stach (1987), S. 53.
83
Tröndle (1989), S.55.
84
Vgl. Hochreiter (2007), S. 154.
85
Vgl. Emrich, Wilhelm. Franz Kafka. Bonn 1958, S. 291.
86
Ebd. S. 292.
82
22
C. Schluss
Die Frauen in dem Roman Der Proceß stellen einen eigenartigen Kontrast zu der männerdominierenden Gerichtswelt dar. Auf Josef K.s Irrweg durch die Irrungen seines Prozesses begleiten ihn Frauen auf diesem Weg. Sie sind ein Teil des Gerichts und fügen eine intensive
Empfindung von Erotik, Düsterem und Rätselhaftem hinzu. Dabei besteht eine „Verbindung
von Prozeß und Sexualität“87 bei jedem Kontakt zu weiblichen Personen. Sie versuchen ihm
zu helfen oder er initiiert ihre Hilfe, wobei ihr Beistand ihm nie wirklich eine Hilfe darstellt,
denn er scheint völlig allein diesen Weg durch den Gerichtsprozess zu gehen.
Scheinbare Helferinnen und Helfer zeigen ihm neue Wege auf, bringen ihn aber in seinem
Anliegen nicht weiter. Die im Roman wiedergegebene Ausweglosigkeit des Angeklagten aus
den Fängen des Gerichts wird anhand der diffusen und düsteren Profile der seinen Weg kreuzenden Frauenfiguren sehr deutlich.
Als Helferinnen getarnt lässt Kafka im Proceß ein grundsätzlich negatives Frauenbild entstehen, da er „keine Frauengestalt geschaffen hat, die als vollmenschliche Persönlichkeit angesprochen werden könnte“88, die in ihrem Tun und ihrer Denkweise als schönes Geschöpf zu
erkennen ist, sondern als „Geschlechtstier mit bloßen Gattungsinstinkten“ 89, deren Absichten
ungewiss scheinen.
87
Müller (2007), S. 77.
Nagel (1974), S. 58.
89
Ebd. S. 58.
88
23
D. Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
- Kafka, Franz: Der Proceß. Stuttgart 2010.
Sekundärliteratur:
- Allemann, Beda: Zeit und Geschichte im Werk Kafkas. Göttingen 1998.
- Beicken, Peter: Franz Kafka. Der Proceß. Hg. von Klaus- Michael Bogdal und Clemens
Kammler. (Oldenbourg Interpretationen; Bd.70) München 1995.
- Binder, Hartmut: Kafka- Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum
Brief an den Vater. München 1976.
- Bödeker, Karl- Bernhard: Frau und Familie im erzählerischen Werk Franz Kafkas.
Frankfurt am Main 1974.
- Delianidou, Simela: Frauen, Bilder und Projektionen von Weiblichkeit und das männliche
Ich des Protagonisten in Franz Kafkas Romanfragmenten. Unter besonderer
Berücksichtigung der Schuldfrage im Proceß. Frankfurt am Main 2002.
- Eschweiler, Christian: Kafkas unerkannte Botschaft. Der richtige „Proceß“. Bonn 1998:
- Fromm, Waldemar: Artistisches Schreiben. Franz Kafkas Poetik zwischen ‚Proceß‘ und
‚Schloß‘. München 1998.
- Hiebel, Hans H.: Franz Kafka. Form und Bedeutung. Formanalysen und Interpretationen
von Vor dem Gesetz, Das Urteil, Bericht für eine Akademie, Ein Landarzt, Der Bau, Der
Steuermann,Prometheus, Der Verschollene, Der Proceß und ausgewählte Aphorismen.
Würzburg 1999. S. 92-105.
- Hochreiter, Susanne: Franz Kafka: Raum und Geschlecht. Würzburg 2007.
- Kremer, Detlef: Franz Kafka, Der Proceß. In: Zimmermann, Hans Dieter (Hg.):Nach
erneuter Lektüre: Franz Kafkas Der Proceß. Würzburg 1992.
- Müller, Klaus- Detlef: Franz Kafka. Romane. Berlin 2007.
- Nagel, Bert: Franz Kafka. Aspekte zur Interpretation und Wertung. Berlin 1974.
- Stach, Rainer: Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen.
Frankfurt am Main 1987.
- Tröndle, Isolde: Differenz des Begehrens. Franz Kafka/Marguerite Duras. Würzburg 1989.
- Verbeek, Ludo: Der andere Bereich. Eine Lektüre von Kafkas „Prozeß“. In: Luc
24
Lamberechts und Jak de Vos (Hg.): Jenseits der Gleichnisse. Kafka und sein Werk. Bern
1986. S. 182- 191.
25