Sprachentwicklungsstörungen Ausgangslage ! Sprachentwicklung = entscheidend für gesamte kindliche Entwicklung (z. B. Weinert & Grimm, 2008; Weinert, 2011) ! Gute sprachliche Fähigkeiten sind unter anderem = bedeutend für sozioemotionale Entwicklung (z. B. Keller 2000, Knox & Conti-Ramsden, 2003) Sprachentwicklungsstörungen = Voraussetzung für gelingende Schullaufbahn (z. B. Baumert & Schümer 2002) ! Störungen der Sprachentwicklung sind häufig und haben gravierende Konsequenzen und sind mit anderen Störungen assoziiert Prof. Dr. Steffi Sachse, [email protected] ! Hohe gesellschaftliche Relevanz Institut für Psychologie, PH Heidelberg Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Überblick 1 Kleiner Ausflug in die Sprachentwicklung 2 Abweichende/auffällige/gestörte Sprachentwicklung, Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen 1 Sprachentwicklung – Wo geht es hin? 3 Behandlung sprachentwicklungsgestörter Kinder Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Frühe Sprachentwicklung Was gehört zur Sprachentwicklung dazu? Sprachentwicklung beginnt lange vor der Produktion erster Wörter ! Präferenz für mütterliche und Umbegungssprache ! muttersprachspezifisches Schreien ... und sogar schon vor der Geburt: ! Lautunterscheidung ! Erinnern von sprachlichen Mustern Phonologie Semantik Phonologische Entwicklung: Das LautSystem einer Sprache erlernen Semantische Entwicklung: Bedeutungen Ausdrücken können Morphologie/ Syntax Syntaktische Entwicklung: Regeln zur Bildung von Wörtern und zur Kombination von Wörtern erlernen. Pragmatik Pragmatische Entwicklung: den Gebrauch der Sprache erlernen Metalinguistisches Wissen: Reflexives Verstehen der Sprache auf unterschiedlichen Ebenen Steffi Sachse, Wil, 2015 Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Frühe Sprachentwicklung Laut– und Sprachproduktion Laut- und Silbenverdopplung Lallen Schreien Gurren Erste Wörter Spätere Sprachfähigkeiten Steffi Sachse, Wil, 2015 2 Auffälligkeiten und Störungen der Sprachentwicklung Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Variabilität der Sprachentwicklung Variabilität der Sprachentwicklung Anzahl der Kinder Variabilität/Spannweiten der Sprachproduktion im Alter von zwei Jahren kritischer Wert unterschritten Wortschatz (Nach Largo 2003) (Sachse & v. Suchodoletz, 2007) Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Auffälligkeiten der Sprachentwicklung Spracherwerbsstörungen Gründe für eine verzögerte/auffällige Sprachentwicklung Klinisch-diagnostische Leitlinien nach WHO ICD-10 - Sensorische Behinderung: Hörstörungen, Taubheit - Neurologische Schädigungen, Aphasien (Landau-Kleffner-Syndrom) - Mentale Retardierung, Intelligenzminderung - Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autismus) F 80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F 94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend SEKUNDÄRE SPRACHSTÖRUNGEN F 94.0 - keine klar erkennbare Ursache: Sprachentwicklungsstörungen PRIMÄRE SPRACHSTÖRUNGEN - sozialisationsbedingte Auffälligkeiten - Auffälligkeiten im Zuge von Mehrsprachigkeit - allgemein sprachlich schwache Kinder F 98 F…. Steffi Sachse, Wil, 2015 andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F 98.5 F 98.6 KEINE STÖRUNG Mutismus Stottern Poltern Sprachstörungen bei anderen Syndromen Autismus (F84..), IQ-Störung (F 7…) u. v. m. Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Spracherwerbsstörungen Spracherwerbsstörungen Stottern (abgrenzen vom „Entwicklungsstottern“) - Wiederholungen von Silben und Lauten - Dehnen von Lauten - Blockaden mit Verspannungen/Kraftanstrengungen - Auffällige Mitbewegungen der Mimik und Motorik - Emotionale Begleiterscheinungen (Angst, Wut, Scham) - Sprachliches / soziales Vermeidungsverhalten Mutismus - - - - Störung der Kommunikation Sprache wurde bereits erworben, jetzt aber (teilweise) nicht mehr verwendet – Sprechverweigerung Totaler Mutismus vs. Elektiver Mutismus (häufig auch in Kindertagesstätte) Mehrere Ursachen möglich (soziale Ängste, auch in Familie, auslösende Ereignisse, wie Kindergarteneintritt oder –wechsel, Konflikte/Traumata Poltern - Überhastetes Sprechen - Unregelmäßiges Sprechtempo, - Verwaschene, undeutliche Aussprache - Verschmelzen von Lauten und Silben, Satzteile unvollständig oder wiederholt Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Spracherwerbsstörungen Spracherwerbsstörungen Klinisch-diagnostische Leitlinien nach WHO ICD-10 Klinisch-diagnostische Leitlinien nach WHO ICD-10 F 80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache Erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-Syndrom) • F 80.0 F 80.1 F 80.2 umschriebene Artikulationsstörung expressive Sprachstörung rezeptive Sprachstörung F 80.5 F 80.8 F 80.9 erworbene Aphasie mit Epilepsie andere nicht näher bezeichnete • • • Steffi Sachse, Wil, 2015 Verlust der rezeptiven und expressiven Sprache bei erhaltener Intelligenz Spitzenpotentiale im EEG mit und ohne epileptische Anfälle Erkrankungsbeginn im Alter von 3 bis 7 Jahren fakultativ Verhaltens- und emotionale Störungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Spracherwerbsstörungen Umschriebene / spezifische Sprachenwicklungsstörung Klinisch-diagnostische Leitlinien nach WHO ICD-10 Klinisch-diagnostische Leitlinien nach WHO ICD-10 Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens Umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens • • - expressive Sprachentwicklungsstörung (F 80.0) ! Sprachproduktion betroffen - rezeptive Sprachentwicklungsstörung (F 80.1) ! Sprachverständnis- und -produktion betroffen Sprachfertigkeit außerhalb der Norm Sprachstörung nicht bedingt durch o Intelligenzstörung o Hörstörung o hirnorganische Erkrankung o emotionale Störung o anregungsarme Umwelt - Artikulationsstörung (F 80.2) • altersentsprechendes Kommunikationsbedürfnis • relativ ungestörte non-verbale Kommunikation Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Erfurt 2015 Sprachentwicklungsstörungen Spezifische Sprachentwicklungsstörung Wie sehen sprachauffällige Kinder aus? Häufigkeit: 5 - 8 % aller Vorschulkinder • 1. LJahr: eingeschränkte Verstehensleistungen, erste Wörter mit 1 1/2 bis 2 Jahren ? Stabilität über die letzten Jahrzehnte gezeigt Symptome abhängig vom Alter der Kinder und vom Ausprägungsgrad auf den verschiedenen linguistischen Ebenen Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen mit besonderer Berücksichtigung von umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (s2k Leitlinie 2011) Steffi Sachse, Wil, 2015 Steffi Sachse, Wil, 2015 18 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Früherkennung Wie sehen sprachauffällige Kinder aus? Kann im ersten Lebenjahr eine spätere Sprachentwicklungsstörung festgestellt werden? • 2 Jahre: Ansätze zu: - Schreien - Lallen „Late Talker : produktiver Wortschatz sehr gering (im Alter von 24 Monaten kleiner 50) kein Wortschatzspurt mit 17 bis 23 Monaten, meist keine Zweiwortverbindungen, Kommunikation über Laute und Gesten - Benutzung von Gestik - Sprachverarbeitung - erste Wortproduktion und Verständnis (Elternfragebögen z. B. ELFRA 1, Grimm & Doil) ! Keine Vorhersage im Einzelfall möglich! (Übersicht in Sachse & v. Suchodoletz, 2011) Steffi Sachse, Erfurt 2015 21 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Frühdiagnostik im Alter von 2 Jahren Wie sehen sprachauffällige Kinder aus? Late Talkers = Kinder mit verzögertem Sprechbeginn im Alter von 24 Monaten, Sprachentwicklungsverzögerung (Leitlinie) • 3 Jahre: • Kennzeichen: aktiver Wortschatz kleiner als 50 Wörter, bzw. unterhalb der 10. Perzentile, keine /wenig Mehrwortäußerungen eingeschränkter Wortschatz geringe Äußerungslänge, wenig Komplexität (z. B. Grimm 2003, Dale et al. 2003, Fenson et al. 1993) • Früheste Möglichkeit, sprachliche Auffälligkeiten zuverlässig zu diagnostizieren (z. B. Fenson et al. 1993, Rescorla 1998, Feldman et al. 2005, Sachse & v. Suchodoletz 2008) • Betrifft 10 – 20 % der Kinder (Rescorla 1998, Horwitz et al. 2003, Grimm & Doil 2000/2006) • Ein substanzieller Anteil der Late Talkers hat dauerhafte Probleme, bei vielen aber auch Werte im (unteren) Normbereich (z. B. Rescorla 2013) • Die meisten späteren Kinder mit einer USES waren Late Talker, aber nicht Steffi Sachse, Erfurt 2015 alle... 23 Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Wie sehen sprachauffällige Kinder aus? • 4 - 6 Jahre: • > 6 Jahre Ursachen spezifischer Sprachentwicklungsstörungen morphologische und syntaktische Fehler, große Probleme, zusammenhängend über etwas zu berichten weniger offensichtliche formale Fehler Anpassung der sprachproduktiven Leistungen: - kurze Sätze - einfache Sätze - keine komplizierten Strukturen - Probleme beim Verstehen und Einsetzen von komplexen Sachverhalten, Mehrdeutigkeiten, Ironie, ... Genetische Komponente bei 40 % familiäre Häufung 2 bis 7-fach erhöhtes Risiko bei SES bei Verwandten Sprachgene auf Chromosom 2, 7, 12, 13, 22 vermutet Biologische Komponente Probleme im Bereich der Sprachverarbeitung/Sprachwahrnehmung Einschränkungen der phonologischen Merkfähigkeit Sehr diskrete Auffälligkeiten bei MRT-Untersuchungen Weniger effektive neuronale Netze für Sprache Soziokulturelle Komponente Häufung in Unterschichtfamilien moderierende Rolle der Umweltsprache Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Prognose bei unterschiedlichen Sprachauffälligkeiten Konsequenzen für sprachgestörte Kinder • Kinder mit spezifischen Störungen der Sprachentwicklung - entwickeln sich sprachlich weiter - Langjährige logopädische Behandlungen - schließen aber nicht zu Gleichaltrigen auf - SSES im Vorschulalter – andauernde Probleme - Persistenz bis ins Schulalter hinein - Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bzw. –störungen • Sprachauffälligkeiten bei Intelligenzminderungen oder anderen auch medizinischen Faktoren - je nach Grundstörung entwickeln sich Kinder sehr langsam weiter und erreichen unterschiedliche Niveaus - Schulprobleme / Sonderbeschulung - Emotionale und Verhaltensprobleme, deutlich erhöhte Rate an psychischen Störungen - Stigmatisierung • Sozialisationsbedingte Auffälligkeiten, sprachliche Schwächen - gute Prognose bei guter Förderung Steffi Sachse, Wil, 2015 ! Deutlich ausgeprägter bei rezeptiven Auffälligkeiten Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Konsequenzen für sprachgestörte Kinder Tätigkeit von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen nach Abschluss der 10. Klasse 100 80 60 40 Behandlung sprachgestörter Kinder 20 0 a.R. p. SES r. SES K a. R. = allgemeine Retardierung (n = 14) p. SES = über das Alter von 5 Jahren persistierende SES (n = 24) r. SES = Rückbildung der SES bis zum Alter von 5 Jahren (n = 22) K = Kontrollgruppe (n = 43) = Schule (A-Level) = Schule (sonstig) = Arbeit Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen ! Sprachentwicklungsstörungen Auffälligkeiten der Sprachentwicklung Therapeutische Ansätze ! "!Sensorische!Behinderung:!Hörstörungen,!Taubheit! Beratung und Anleitung der Eltern !"!Neurologische!Schädigungen,!Aphasien!(Landau"Kleffner"Syndrom)! Behandlung des Kindes !"!Mentale!Retardierung,!Intelligenzminderung!! ✧ Sprachtherapie !"!Tiefgreifende!Entwicklungsstörungen!(AuLsmus)! ! THERAPIE !"!keine!klar!erkennbare!Ursache:! !!!!Spracherwerbsstörungen,!spezifische!Sprachentwicklungsstörungen! !! ✧ Therapie von Begleitsymptomen ❍ motorische Koordinationsschwäche ❍ Aufmerksamkeitsstörungen ❍ emotionale bzw. Verhaltensstörungen !!!!!"!sozialisaLonsbedingte!Auffälligkeiten! !"!Auffälligkeiten!im!Zuge!von!Mehrsprachigkeit! !"!allgemein!sprachlich!schwache!Kinder!! FÖRDERUNG Steffi Sachse, Wil, 2015 Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Sprachentwicklungsstörungen Therapeutische Ansätze Therapeutische Ansätze Behandlung des Kindes Behandlung des Kindes ❍ Symptomorientierte Sprachtherapie ❍ Training basaler Grundfunktionen (ursachenorientiert) • Behandlung von phonetisch-phonologischen Störungen • Training der Oralmoltorik • Grammatiktherapie • auditive Wahrnehmung • Übungen zur Wortschatzerweiterung, Wortschatztherapien • Zeitverarbeitung (Ordnungsschwellentraining) • Kommunikationsübungen • Automatisierung basaler Funktionen • Übend strukturiert ❍ Alternative Behandlungsverfahren • Naturalistisch • Tomatis • Inputorientiert • Klangtherapie • Hochtontraining • Edu-Kinestetik Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Evidenzbasierung therapeutischer Ansätze? Therapeutische Ansätze Law, J.: Cochrane Review 2005: insgesamt wenig Studien..., große Forschungslücken (IQWiG 2008) Beratung und Anleitung der Eltern: Systematisches sprachbasiertes Interaktionstraining ! Höhere Effekte bei Verfahren für phonetisch-phonologische Störungen und Wortschatztrainings, Grammatik deutlich schwieriger, v.a. Grammatikverständnis (Bishop 2006) ! Fehlende Transfereffekte auf andere Sprachebenen (Leonhard 2008) ! Langfristige Effekte wenig/nicht bewiesen, (Bode 2001, Johnsson 1999) Anleitung der Eltern zu alltagsintegrierter Sprachförderung Interaktives Arbeiten, Videosupervision Beispiele: Hanen Programm (Girolametto et al. 1997) Für den deutschen Sprachraum: Heidelberger Elterntraining (Buschmann 2009) ! Vergleichbare Effekte verschiedener Methoden ! Nachweis auch länger andauernder Effekte bei Kindern mit frühen sprachlichen Verzögerungen ! Ausschließlich Evidenz für symptomorientierte Ansätze!! (s. Suchodoletz 2010) Steffi Sachse, Wil, 2015 Steffi Sachse, Wil, 2015 Sprachentwicklungsstörungen Fazit Sprachtherapie Empfehlungen - - - - Frühe sprachliche Verzögerungen – diagnostische Abklärung von Hör-/ Intelligenzstörungen/tiefgreifenden Entwicklungsstörungen ! Verlaufsuntersuchung nach 3 – 6 Monaten ! evtl. Therapie/ Elterntraining Bei Vorliegen von Risikofaktoren (familiäre Vorbelastung, Sprachverständnisprobleme, Leidensdruck, Unsicherheit der Eltern,...) ! direkter Start mit Elterntraining/Therapie Bei (spezifischen) Sprachentwicklungsstörungen ! Therapie möglichst im Alter von 3 oder 4 Jahren starten, mit intensiver Einbeziehung der Eltern Mehrsprachige Kinder mit unauffälliger Erstsprachentwicklung sowie Kinder mit umgebungsbedingter Sprachauffälligkeit: keine Sprachtherapie sondern Förderung... (Suchodoletz 2010) Steffi Sachse, Wil, 2015
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