Foto als Einstieg

B 1.7 Kurzgeschichte: Abgeschoben
Verantwortungsvoller Umgang mit Haustieren ist leider keine Selbstverständlichkeit. Die Tierschutzvereine versuchen, Missstände aufzudecken und kümmern sich um die vernachlässigten und gequälten Fälle.
Foto als Einstieg:
Grafenauer, Bernhard/Memminger, Gaby: Fabel, Reportage & Co., Methodentraining zur Texterschließung
© Auer Verlag GmbH, Donauwörth X 04561
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B 1.7 Kurzgeschichte: Abgeschoben
Abgeschoben
von Gaby Memminger
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Homer blickte misstrauisch aus dem Wagenfenster. Ein breites Tor öffnete quietschend die
Pforten. Das Auto rollte hindurch und an zahlreichen Einzäunungen vorbei. In jedem befanden sich ein oder zwei Vierbeiner der unterschiedlichsten Rassen. Dann hielt der Fahrer
und half dem alten Rüden auszusteigen. Fremde Gerüche und lautes Gebell verunsicherten
Homer aufs Äußerste. Den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt folgte er dem Mann
in ein Haus. Dort untersuchten ihn vorsichtig zwei Menschen und gaben mitleidige Seufzer
von sich. „Das linke Auge ist entzündet. Sieh mal, die Hüfte ist schief.“ Zitternd blickte der
Rüde zu Boden. Wo war er? Und wo war sein Herrchen? Homer klammerte sich an die Vorstellung, dass sein Besitzer ihn bald finden würde. Sicher war er auf der Suche nach ihm.
Irgendetwas war schiefgelaufen. Heute Morgen wollte sein Herrchen ihm ein neues Spiel
beibringen. Er hatte ihn mit der Leine an einen dicken Stamm gebunden und war ohne ein
Wort verschwunden. Der Rüde wartete ungeduldig, was nun passieren würde. Stunde um
Stunde verging, aber sein Herrchen kam nicht zurück. Die Gegend war Homer unvertraut
und er bekam Angst. Alles Jaulen und Zerren an der Leine war nutzlos, der Baum hielt ihn
fest. So verharrte er nervös hechelnd bis zum Abend. Da erschien plötzlich ein Fremder und
kurz danach hielt vor ihm ein Auto. Damit wurde er an diesen sonderbaren Ort gebracht.
Die beiden Menschen führten Homer nun in eine unbewohnte Einzäunung und gaben ihm
zu fressen und zu trinken. Nach ein paar gierigen Schlucken Wasser suchte der Rüde sich
widerwillig in der Holzhütte einen Schlafplatz. Bei jedem Geräusch schreckte er hoch und
dachte sehnsüchtig an sein Zuhause.
Am nächsten Tag kamen Besucher, die regelmäßig mit den Hunden spazieren gingen. Die
meisten Vierbeiner hatten eine feste Bezugsperson. Ein Mädchen stapfte lustlos von einem
Zwinger zum nächsten. Ihr Patenhund war vor Kurzem vermittelt worden. Das Tierheimpersonal versicherte ihr zwar, dass Tommy einen guten Platz bekommen habe, doch Lilli
war nicht froh darüber. Sie vermisste den Freund und konnte die aufsteigenden Tränen nur
schwer unterdrücken. Am liebsten hätte das Mädchen einen eigenen Hund gehabt, aber die
Eltern erlaubten es nicht. Als Lilli das Büro betrat, lächelte ihr die Angestellte aufmunternd
zu. „Gestern kam ein Neuzugang. Er ist im hinteren Trakt. Hast du Lust, mit dem alten Schäferhund eine Runde zu drehen?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Warum nicht.“ Als
sie den Zwinger betrat, blickte Homer zum ersten Mal auf. Das Mädchen ging in die Knie
und der Rüde legte neugierig den Kopf auf die Seite. Ein Blick genügte. Sie leinte ihn an und
die beiden trotteten schweigend aus dem Tierheimgelände. Der Weg führte sie durch den
schattigen Wald. Die Sonne brannte und warf vereinzelt grelle Strahlen durch das Blätterdach.
Gelegentlich streichelte das Mädchen Homer sanft über den Kopf. Der Hund entspannte sich
und wedelte mit dem Schwanz. „Du brauchst einen Namen“, überlegte Lilli laut. „Ich nenn dich
Crony. Das heißt ‚alter Freund‘.“ Fortan besuchte Lilli den Schäferhund täglich nach der Schule.
Der Rüde hielt pünktlich am Zaun Ausschau. Dann zogen sie einträchtig in gemächlichem
Tempo dahin. Einmal marschierten sie durch den Wald und ein anderes Mal an Feldern und
Wiesen vorbei. Crony genoss ein Bad im Fluss oder sie saßen zusammen auf der Erde und
erspürten den Wind, der behaglich über sie hinwegstrich. Zum Abschluss des Spazierganges
bürstete Lilli das Fell ihres alten Freundes mit weichen Schwüngen bis es glänzte. Medikamente machten seine Hüftschwäche mit der Zeit erträglich. Auch die Schwellung am Auge
verheilte. Irgendwann gewöhnte er sich an den neuen Namen und vergaß, dass er einmal
Homer war. Seinen Lebensabend würde er wohl im Tierheim verbringen. Junge und kräftige
Hunde bekamen schnell ein Zuhause, doch für betagte und dazu kranke interessierte sich
fast keiner. Das hatte er schon beobachtet. Aber Crony war nicht traurig, denn er hatte Lilli.
Vielleicht gab sie ihm eines schönen Tages ja doch ein neues Heim. Darauf hoffte er.
Grafenauer, Bernhard/Memminger, Gaby: Fabel, Reportage & Co., Methodentraining zur Texterschließung
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B 1.7 Kurzgeschichte: Abgeschoben
1. Den Inhalt in Gedichtform wiedergeben
Markiert euch wichtige Begriffe aus der Geschichte und versucht, die Gedichtform eines „Elfchens“
zu bilden.
Aufbau:
1. Zeile: ein Wort (eine Farbe)
2. Zeile: zwei Wörter (was es ist)
3. Zeile: drei Wörter (wie es aussieht)
4. Zeile: vier Wörter (Satz mit „ich“)
5. Zeile: ein Wort (Abschluss)
2. Einen Briefwechsel führen
Schreibt an Lilli einen Brief, in welchem ihr sie nach den Beweggründen für ihr Engagement
im Tierheim befragt. Anschließend verfasst ihr Lillis Antwortschreiben in ausführlicher Form.
Arbeitet im Heft.
Hallo Lilli!
Hallo ………
3. Einen Bericht schreiben
Formuliert in Gruppenarbeit einen Bericht für die Schülerzeitung, der die Situation in einem
Tierheim veranschaulicht.
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