1 Zur Situation von Flüchtlingskindern und ihren Familien in Berlin Die Arbeiterwohlfahrt ist durch ihren Kreisverband AWO Berlin Mitte e. V. seit ca. 25 Jahren als Betreiber von Flüchtlingsunterkünften in Berlin tätig und mittlerweile in 5 Bezirken vertreten. Dieser Bericht beruht auf Recherchen in Kitas sowie den Erfahrungen von Leitungskräften und Mitarbeiter_innen aus Flüchtlingsheimen. Wenn man sich mit der Frage befasst, was Flüchtlingsfamilien in Berlin brauchen, kommt man schnell neben den fachspezifischen Anforderungen z. B. für Kita oder Schule zu Fragestellungen, die dem Berliner System der Unterbringung und Behandlung von Flüchtlingen geschuldet sind. Deshalb finden sich im Folgenden neben Verbesserungsvorschlägen zu den Rahmenbedingungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien auch ressortübergreifende Forderungen zur Entwicklung eines Verfahrens, das die Bedürfnisse von Kindern und Familien in den Mittelpunkt stellt. Aus dieser Perspektive sind die folgenden Forderungen an das Hilfesystem zu betrachten. 1. Berlin braucht ein Gesamtkonzept zum Umgang mit Flüchtlingskindern und ihren Familien! Der Senat sollte mit diesem Konzept deutliche die Ziele seiner Politik im Umgang mit Flüchtlingen darstellen und Umsetzungsstrategien formulieren. Ebenso sollten die Schnittstellen der unterschiedlichen Zuständigkeiten für alle Behörden klar dargestellt werden. Dies würde sowohl den Mitarbeiter_innen in den Ämtern als auch den Bürger_innen, Sozialarbeiter_innen und den Flüchtlingen selbst eine Orientierung bieten. Die AWO setzt sich auch bundesweit für die Entwicklung eines ganzheitlichen Aufnahmekonzeptes für Flüchtlinge ein. Alle Flüchtlingsheime berichten von Problemen durch unterschiedliche Zuständigkeiten bei der Beantragung von Sozialleistungen: „Der Antrag auf BuT wird mit unserer Unterstützung durch die Eltern beim LAGeSo, also nicht bei dem für die Kitagutscheine zuständigen Bezirksamt, gestellt. Es gilt nicht das Wohnortprinzip, sondern die Zuständigkeit des Jugendamtes richtet sich nach dem Geburtsdatum des ältesten Familienmitgliedes.“ Eine Forderung der AWO lautet deshalb: Öffnung der Regelversorgung in allen Bereichen für Flüchtlinge Dies würde eine Gleichbehandlung von Flüchtlingen mit allen Berliner Bürgern bedeuten und wäre ein Schritt hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Die Verteilung der finanziellen Lasten kann entweder mit Hilfe eines EDV Systems erfolgen oder die Gelder werden nach einem festgelegten Schlüssel auf die Bezirke verteilt. In jedem Fall müssen die Finanzmittel den Menschen folgen und nicht die Menschen dorthin geschickt werden, wo eine Finanzzuweisung erfolgt. Ein weiteres Problem für Kinder und Jugendliche ist der systembedingte Umzug, oft quer durch die Stadt, von der Erstaufnahme- in die Regeleinrichtung. 2 „… manche Kinder sind zu schnellem Wechsel gezwungen bzw. die Eltern und Kinder haben nach Umzug extrem weite Wege. … Die Umzüge sind systemimmanent und können nicht vermieden werden. Hier hilft nur Vernetzung und Hilfe im Falle des Falles. Es kommt oft zu Betreuungsabbrüchen, auch in Schulen durch den Transfer in Gemeinschaftsunterkünfte. … Bei diesen Transfers wird keine Rücksicht auf die Betreuungssituation genommen seitens LaGeSos. Einige Schulen warten lieber die ersten drei Monate ab, bevor sie Kinder aufnehmen, weil sie zu viel Fluktuation in den Willkommensklassen haben und daher überfordert sind.“ Betreuungsabbrüche in Schulen und Kitas sind immer auch Beziehungsabbrüche. Dabei ist eine gute Bindung zu mindestens einer erwachsenen Bezugsperson (Erzieher_in oder Lehrer_in) ein grundlegender Baustein für die Bewältigung von traumatischen Situationen und im Aufbau von Vertrauen und Selbstbewusstsein im Umgang mit der neuen Lebenssituation. Beziehungsabbrüche gefährden deshalb den Übergang in einen geregelten Alltag, verzögern eine Integration, behindern erste Bildungserfolge und insgesamt das Einleben in die neue Gesellschaft hier in Berlin. Aber systembedingte Umzüge überfordern auch unsere Hilfesysteme. Auch Lehrer_innen, Erzieher_innen und ehrenamtliche Helfer_innen müssen immer wieder von vorne anfangen und neue Beziehungen aufbauen anstatt Erfolge zu erleben und Fortschritte der Kinder, Jugendlichen und Familien begleiten zu können. Diese Frustration in Verbindung mit der Konfrontation mit Diskriminierungen, Kriegsschilderungen und dem Nacherleben von Gewaltsituationen führt häufig zu schnellerem Burn Out der Helfer_innen oder Rückzug aus dem Ehrenamt. Deshalb fordert die AWO: Strukturen für bürgerschaftliches Engagement schaffen und Systembedingte Wohnortwechsel für Kinder und Jugendliche vermeiden Der Königsweg hierzu ist eine Unterbringung in eigenen Wohnungen direkt nach einer Orientierungsphase in der Erstaufnahmeeinrichtung. Wo dies nicht möglich ist, muss die Aufenthaltszeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung so kurz wie möglich gehalten werden. Leider sieht die Realität immer noch anders aus und die Verweildauer beträgt in Einzelfällen bis zu einem Jahr. „BuT- Anträge werden vom Kinder- und Jugendbereich für die Familien gestellt, die Leistungen werden in der Regel gezahlt, aber immer mit einigen Wochen Verzögerung zum Einschulungstermin.“ Damit Kinder und Jugendliche schnellstmöglich am Kita- und Schulleben teilhaben können, ist ein schneller Zugang zu den Bildungs- und Teilhabeleistungen dringend erforderlich. Eine Schulische Erstausstattung, Fahrtkosten für den Schulweg, Teilnahme am Mittagessen in Kita und Schule ab dem ersten Tag, Teilnahme an Ausflügen und Reisen in Kita und Schule, Lernförderung und das Mitmachen bei Kultur, Sport und Freizeitaktivitäten sind gesetzliche Leistungen, die auch Kindern von Asylbewerber_innen zustehen und für eine erfolgreiche Integration notwendig sind. Bildungs- und Teilhabeleistungen mit dem Grundantrag sicher stellen 3 2. In der Flüchtlingsunterkunft werden Hilfe- und Unterstützungsangebote für Kinder und ihre Familien benötigt Die bisherigen Standards des LAGeSO sind im Hinblick auf die Ausstattung der Räume und die Anforderungen an den Betrieb sehr offen d. h. niedrig gehalten. Vorgehalten werden müssen je ein Spielraum, Beratungsraum, Hausaufgabenraum und Aufenthaltsraum für alle Bewohner_innen. Hier fehlen bisher Standards für Größe und Ausstattung. Die AWO fordert hier: Eine Orientierung der Spielräume an den Standards der Kindertagesstätten mit mindestens 3qm Spielfläche pro Kind Die Bereitstellung von Sachmitteln für eine kindgemäße Raumausstattung und Spielmaterialien Auch Personalstandards fehlen, es gibt nur unverbindliche Richtwerte. Dies führt zu unterschiedlicher Handhabung in der Bewilligungspraxis und lässt auch eine restriktive Auswertung zu. In Orientierung an den Standards der Kindertagesstätten muss ein Personalschlüssel festgelegt werden. Auch die Versorgung im psychosozialen Bereich ist nicht geregelt. Dabei geht es zum einen um eine schnelle und unbürokratische medizinische Versorgung, zum anderen um die Ermittlung von Hilfebedarfen, z. B. bei chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Gerade Kinder mit Behinderungen benötigen eine schnelle Förderung sowie eine Aufnahme in die Fördersysteme von Kita und Schule wie Unterstützung durch Facherzieher_innen für Integration und Sonderpädagog_innen. Die AWO fordert hier ein System der aufsuchenden Arbeit: Einsatz von Fachpersonal aus der Regelversorgung heraus mit der Einrichtung von festen psychosozialen Angeboten (Sprechzeiten von Kinderärzten, Psychologen) in Aufnahme- und Notunterkünften zur Ermittlung und Erfassung der gesundheitlichen Situation sowie der psychosozialen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen Einsatz von Fachpersonal aus der Regelversorgung heraus zur Beratung von Eltern über das Berliner Bildungssystem und Familienunterstützungssysteme (z. B. Fachkräfte aus Familienzentren, Beratungsstellen) Nach den Berichten aus den Flüchtlingsheimen gehört leider es zum Alltag, dass es trotz aller Bemühungen um einen schnellen Zugang zu Kita und Schule nicht immer gelingt, diesen umzusetzen. Die Suche nach neuen Lehrkräften, die Einrichtung neuer Willkommensklassen, die Verzögerung der ärztlichen Schul- und Kitauntersuchung durch Personalmangel in den Gesundheitsämtern u.a. führen dazu, dass es fast immer zu Beginn der Aufnahme Zeiten gibt, in denen sich die Kinder und Jugendlichen ganztags in der Einrichtung aufhalten. Hier empfiehlt sich eine Strukturierung des Tages und eine Vorbereitung auf das Leben in Deutschland. 4 Stundenweise erste Angebote zum Kennenlernen der Umgebung und erste Sprachangebote (So leben wir in Berlin!) für Kinder und Jugendliche im Schulalter bis die Schule beginnt 3. Zugänge für Flüchtlingskinder in die Kita erleichtern „Drei Kinder (Drillinge) sind gerade 6 geworden und hängen in der Luft: sie sind schon für das nächste Schuljahr angemeldet. Es macht jetzt auch keinen großen Sinn mehr, einen Kita-Gutschein zu beantragen, denn bis der Schein kommt und ich drei Kita-Plätze gefunden habe sind die Sommerferien schon da. … Zurückhaltung der Einrichtungen, da hohe Fluktuation bei den Flüchtlingskindern, Ängste und Vorbehalte gegenüber traumatisierten Kindern, fehlende Sprachkenntnisse der Kinder und Eltern… Beantragung der Kitagutscheine gelingt mit Unterstützung der SozialbetreuerInnen, ansonsten gibt es Verständnisschwierigkeiten und Sprachbarrieren für die Bewohner Die Suche einer geeigneten Kita kann in der Regel so erfolgen: Recherche Sozialbetreuer_innen und Hilfe bei der Terminvereinbarung etc., Auf Grund von Hinweise anderer Bewohner_innen, Geflüchteter oder Bekannt_innen, welche schon einen Kitaplatz haben, mit Hilfe von Ehrenamtlichen. .. Die Kitagutscheine waren nur auf zwei Monate befristet. Wir haben bei der Beantragung der Verlängerung geholfen, aber als diese endlich durch war, war die Familie umgezogen in einen anderen Stadtteil.“ Der Zugang zu Kindertagesstätten scheint regional unterschiedlich erfolgreich zu verlaufen. In der Regel gibt es jedoch nicht genügend Kitaplätze im Umfeld der Flüchtlingseinrichtungen. Insgesamt ist hier ein deutlicher und schneller Ausbau von Kitaplätzen gefordert und ggf. der Einsatz von zusätzlichen Mitteln z. B. durch das Kommunalinvestitionsgesetz des Bundes und eine Weiterführung des Landesprogramms Auf die Plätze, Kitas, Los! Für 2016 gibt es hier wegen der laufenden Haushaltsverhandlungen keinerlei Planungssicherheit für Träger und auch bisher keine Möglichkeit zur Antragstellung für den Ausbau von Plätzen für Kinder über 3 Jahren. Anstelle eines Kontingentes von reservierten Plätzen, das eine Ungleichbehandlung von Kindern zur Folge hätte (alle Berliner Kinder ab dem ersten Lebensjahr haben einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz!), sollten bezirkliche und regionale Netzwerke genutzt werden, um Flüchtlingsrelevante Themen dort einzubringen: z. B. durch regelmäßige Berichte über fehlende Plätze und Belegungsmöglichkeiten in der AG 78 oder in anderen bezirklichen Kita - Netzwerken. Die im LJHA im März 2015 zugesagte regelmäßige Kommunikation zwischen LAGeSo und Jugendverwaltung auf Landesebene scheint leider bisher immer noch nicht zu gelingen (selbst die Übermittlung von aktuellen Belegungslisten der Kinder in Flüchtlingsunterkünften an die handelnden Akteure scheint nicht zu erfolgen) . Erforderlich ist deshalb: die regelmäßige Ermittlung der aktuellen Anzahl von Flüchtlingskindern in den Flüchtlingseinrichtungen der Aufbau einer regelhafte Berichterstellung zur Steuerung der Kooperation zwischen den verschiedenen Ressorts 5 Fachkräfte berichteten über eine verzögerte Ausstellung von Gutscheinen und Befristungen auf die Dauer des Asylverfahrens in Einzelfällen. Hier bedarf es eines landesweiten einheitlichen Verfahrens und einer Kommunikation an die Jugendämter ggf. durch Rundschreiben: die Ausstellung von unbefristeten Kitagutscheinen durch alle Jugendämter eine zügige Bearbeitung der Kita – Gutscheine sicher stellen Flüchtlingskinder müssen beim Kitaplatzausbau und in seinen Finanzierungsinstrumenten berücksichtigt werden und ggf. regionale Kontingente für Flüchtlingskinder eingeplant werden. Dies erfordert: die Berücksichtigung von Flüchtlingseinrichtungen in der Schul- und Kitaentwicklungsplanung das Umfeld von Flüchtlingseinrichtungen im Kitabedarfsatlas berücksichtigen Kitas im Umfeld von Flüchtlingseinrichtungen bei den Ausbauprogrammen berücksichtigen Zum Abbau von Sprachbarrieren die Finanzierung des Gemeindedolmetscherdienst sichern (vgl. LJHA – Beschluss vom 18.3.2015) und in Jugendämtern einsetzen 4. Unterstützung von Kitas, die Flüchtlingskinder aufnehmen Nach dem Eindruck von Kitapädagog_innen wie auch von Mitarbeiter_innen der Flüchtlingsheime will die Mehrzahl der Eltern ihre Kinder in einer Kita unterbringen. „Sie sollen in der Gesellschaft ankommen, Deutsch lernen, spielen und in einer kindgerechten Umgebung ihre Traumatisierungs- und Gewalterfahrungen bewältigen lernen. Manchmal sind die Eltern selbst von der Flucht erschöpft und brauchen Zeit für sich. Viele Flüchtlinge haben traumatisierende Erlebnisse: Krieg, Verlust der nächsten Angehörigen, Verfolgung, Diskriminierung und Not. …Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Betreuung trotz Traumatisierung erfolgreich geleistet werden kann, und somit den Kindern hilft.“ Flüchtlingskinder brauchen in der Kita zunächst einen wertschätzenden und zugewandten Umgang der Pädagog_innen und intensive Sprachanregungen. Klar ist aber auch: Flüchtlingskinder tragen zusätzliche Belastungen, deren Auswirkungen sich nicht immer sofort zeigen wie psychische Belastungen durch Fluchterfahrungen, Sorge um ihre Familienmitglieder, ungeklärte Zukunftsperspektiven und fehlende sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Wünsche und Gefühle. Deshalb ist die Kita hier besonders gefordert und es sind unterstützende Maßnahmen für eine gelingende Integration erforderlich: 6 Unterstützung von Fachberatungsstrukturen zum Aufbau von Netzwerken zum Erfahrungsaustausch der Pädagog_innen, zur Beratung der Eltern über Fragen der Kindererziehung in Deutschland, zur Vermittlung von Kenntnissen über weiterführende Beratungs- und Therapieangebote, zum Aufbau von Strukturen zur intensive Begleitung (Übergabe) der Kinder in die Folgekita bei Umzug von Familien. Fortbildungsangebote zur Sensibilisierung der Pädagog_innen in Kita und Schule, zum Umgang mit Traumata, Vermittlung interkultureller Kompetenzen z. B. zur Beachtung der religiösen Besonderheiten in Bezug auf Essen, Feiertage usw. Dies kann z. B. durch Aufstockung der Mittel des SFBB erfolgen. Verfügbarkeit von Sprachmittler_innen, um mit den Eltern reden zu können Auch hierzu wird der Gemeindedolmetscherdienst dringend benötigt. Individuelle Personalzuschläge für Flüchtlingskinder zur Unterstützung der Kitas, die über dem ndH – Zuschlag liegen und mit dem ersten Kind wirksam werden Aufbau von Familienzentren in Kitas im Umfeld von Flüchtlingseinrichtungen und Aufnahme der Zielgruppe in das Programm der Familienzentren Abschließend sei hier den Unterstützernetzwerken gedankt, über die alle Flüchtlingsheime der AWO verfügen und die mit großem Engagement die Lebenssituation der Flüchtlingskinder und ihrer Familien verbessern helfen. Ihnen gebührt ein herzlicher Dank verbunden mit der bitte an die Politik, diese zu stärken und mit zu denken in den Konzepten zum Umgang mit Flüchtlingen. Diese Netzwerke brauchen hinreichende Koordinierungsund Versorgungsstrukturen, die allen, die sich hier ehrenamtlich engagieren, Erfolge in ihrem Engagement ermöglichen. Berlin, den 18.6.2015 Maria Lingens | Referentin Jugendhilfe - Kinder und Familie Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e.V. Blücherstraße 62 | 10961 Berlin [email protected] Tel +49 30 25389207 | Fax +49 30 25389204
© Copyright 2024 ExpyDoc