Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie www.charite.de/psychiatrie PD Dr. med. Meryam Schouler-Ocak [email protected] Psychosoziale Situation von Flüchtlingen und Umgang mit Traumafolgestörungen Informationsveranstaltung für Engagierte in der Flüchtlingshilfe Samstag, 21. November 2015, Berlin Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Aufbau Einführung Flüchtlinge und Asylbewerber Häufige Probleme Trauma und Traumafolgestörungen Störungsbilder bei Flüchtlingen und Asylbewerber Umgang mit Traumafolgestörungen Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Daten zu Flüchtlingen • -Lt. Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) weltweit ca. 60 Millionen Flüchtlinge, 2014 ca. 42.500 pro Tag (http://www.kindernothilfe.de/Informieren/Projekte+und+L%C3%A4nder/Asien+und+Osteuropa/Syrien_Libanon _+WAZ_Spendenaktion-p-2096.html?gclid=CJKS8MXWnMgCFacewwodqS8BpQ ) • Anzahl der Asylanträge Jan. - Oktober 2015: 362.153 im Jahr 2014 betrug die Anzahl: 202.834 (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Flüchtlinge und Asylbewerber in Berlin • 2014 waren es 12.000 • 60.000 Flüchtlinge nach Berlin • (Stand: 21.11.2015 – Interview Innensenator Henkel im RBB Inforadio) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Anteil Asylanträge 2014 • Männer 66,6 % • Frauen 33,4 % • 70,5 % Asylbewerber jünger als 30 Jahre (http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen2014.pdf?__blob=publicationFile) • bei Kindern bis 16 Jahren, die 28 % der Asylbewerber ausmachen, ist Verhältnis bei Jungen und Mädchen fast gleich (http://www.n-tv.de/politik/Woher-kommen-all-die-Fluechtlinge-article15691606.html) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Fehlendes Screening • • • Aktuelle EU-Aufnahmerichtlinie verlangt, dass die besondere Schutzbedürftigkeit antragsstellender Asylbewerber zu erkennen ist. Dazu zählt auch das Diagnostizieren psychiatrischer TraumaFolgestörungen Diese Richtlinie gibt auch vor, dass insbesondere der Zugang zu einer adäquaten medizinischen und psychologischen Behandlung für Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge und Asylbewerber sichergestellt werden soll (Europäischen Union (2013) Amtsblatt vom 29.6.2013, Richtlinie 2013/33/EU, Artikel 21 (S. 180/106 DE) und Artikel 25 Absatz 1 (S. 180/108) DE Zugriff am 01.10.2015) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Traumatische Erlebnisse vor der Migration • • • • • • • • • • • Verlust wichtiger Bezugspersonen Ermordung eines Familienmitgliedes oder Freundes von Existenzgrundlage/Zerstörung von Eigentum Unsicherheit der Lebensbedingungen Krieg Folter Inhaftierung Terroranschläge Misshandlungen sexualisierte Gewalt Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Traumatische Erlebnisse während der Migration • Schutz- und Orientierungslosigkeit (Kälte, Hitze, Hunger, Durst, Obdachlosigkeit) • Mangelnde medizinische Versorgung • Überfälle • Diskriminierung • Zeugen oder Betroffene von traumatischen Ereignissen • Erzwungene Trennung von einem Familienmitglied • Ermordung eines Familienmitgliedes oder Freundes • Übergriff durch einen Fremden • Unnatürlicher Tod eines Familienmitgliedes oder Freundes Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Postmigrationsstressfaktoren nach der Migration • • • • • • • • • • • Unmöglichkeit sich zu registrieren, kein Dach über dem Kopf Mangel an Abdeckung der Basisbedürfnisse; Aufenthalt in Sammelunterkünften, Aufenthalt nur in zugeteilten Gemeinden Erzwungene Trennung von einem Familienmitglied Erzwungene Isolation; jedoch keine Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeiten Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden wegen sprachlich - kultureller Barrieren Keine sinngebende Beschäftigung; Abhängigkeit von Sozialleistungen (Existenzminimum - Armut) Fehlende Zukunftsperspektive, unklarer Aufenthaltsstatus „Asyl oder Duldung“, drohende Abschiebung Rassistische und rechtsextremistische Übergriffe Wahrgenommenen Diskriminierung und Stigma Mangelnder Zugang zur medizinischen Versorgung Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ I) Naturkatastrophen Unfälle technische Katastrophen kriminelle Gewalttaten akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit, Überraschung (Maercker 1997) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Längerdauernde, wiederholte traumatische Ereignisse (Typ II) Geiselhaft mehrfache Folter Kriegsgefangenschaft KZ – Haft wiederholte Gewalterfahrungen in Form von Missbrauch, Misshandlung Verschiedene Einzelereignisse, geringe Vorhersagbarkeit des weiteren Verlaufs (Maercker 1997) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie „Man-made“ disasters o o o o o o o o Sexuelle, seelische und körperliche Gewalt in der Kindheit Kriminelle und familiäre Gewalt Vergewaltigungen Krieg und Bürgerkrieg Terroranschläge zivile Gewalt (z.B. Geiselnahme) Folter und politische Verfolgung Massenvernichtung (KZ, „Säuberung“) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Häufigkeit einer PTBS ca. 80% nach Folter ca. 50-70% bei politischen Flüchtlingen ca. 55% nach Vergewaltigung ca. 20-39% der Menschen, die Krieg erlebt haben ca. 25% nach anderen Gewaltverbrechen ca. 15% bei Verkehrsunfällen ca. 7% der Zeugen von schweren Unfällen ca. 4% nach Naturkatastrophen (Kessler et al. 1995; Flatten et al. 2001) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hohe Komorbidität: Querschnitt Suchtentwicklung Angststörungen Persönlichkeitsstörungen Somatoforme Störungen Depressive Stimmung PTBS PTSD (prä-) suizidales Syndrom Dissoziative Störungen Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychische Gesundheit bei Flüchtlingen o41,4% bzw. 54,0% von PTSD in der Gruppe der Asylbewerber und Flüchtlinge Symptome der Angst und Depression bei 84,6% bzw. 63,1% dieser Menschen (Heeren et al. 2014) oErschwerte Zugang zum Gesundheitssystem eine weitere Verschlechterung der vorliegenden psychischen Störungen von Asylsuchenden (Laban et al. 2004, 2005, 2007, 2008; Bhui et al., 2006; Gerritsen et al, 2007) oPsychiatrischer Akut-Versorgung von Asylsuchenden ist in den meisten europäischen Ländern aufgrund kultureller Faktoren, die die Beratung, Diagnosestellung und Behandlung deutlich erschweren, oft unzureichend (Tribe 2002; Priebe et al., 2013) oHäufig eher eine allgemeinmedizinische Erstvorstellung, nicht jedoch eine direkte Vorstellung bei psychiatrisch/psychologisch geschulten Personengruppen (Fenta et al. 2007) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Einfluss des Asylverfahrens auf die Psychische Gesundheit Je länger ein Asylverfahren dauert, desto mehr steigt die Prävalenz für psychische Störungen sowie körperliche Gesundheitsprobleme, und sinkt die Lebensqualität sowie Zufriedenheit der Betroffenen (Laban et al. 2004, 2005, 2007, 2008) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Einfluss des Asylverfahrens auf die Psychische Gesundheit oPsychisch belastete/erkrankte Flüchtlinge erreichen viel zu spät und auf Umwegen die entsprechende fachgerechte Hilfe/Therapie oKenntnisse über einfache Basissymptome häufiger psychischer Beschwerden (‚health literacy’), z.B. wie depressive Anpassungsstörung oder Symptome von Posttraumatischen Belastungsstörungen, fehlen meist in den versorgenden Einrichtungen (Heimen) (Laban et al. 2004, 2005, 2007, 2008) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Med. Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern Flüchtlinge und Asylbewerber benötigen primär eine regelhafte medizinische Versorgung, die vielerorts offenbar nur durch ehrenamtlich organisierte Ärzte und Pflege gewährleistet wird Dadurch gelingt zwar eine Minimalversorgung, eine flächendeckende medizinische Versorgung jedoch noch nicht Hohe Zahl an psychisch erkrankten Asylbewerbern große Welle an psychisch sehr belasteten Menschen auf das Gesundheitssystem Psychotherapeutische Behandlung eine große Versorgungslücke offenkundig Keine Kostenübernahme für Dolmetscher Es besteht hier dringender Handlungsbedarf Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Krankenbehandlung nach §§ 4 und 6 AsylbLG (Classen 23.04.2015) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Krankenbehandlung nach § 2 AsylbLG (Classen 23.04.2015) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Umgang mit Traumafolgestörungen Frühe Intervention I Keine Traumatherapie in der Schockphase Sicherheit Kontrolle Informationsvermittlung und Entpathologisierung Aufklärung über Symptome Aufklärung über Therapiemöglichkeiten Aufklärung über die Nutzung von Ressourcen Unterstützung der Selbstheilungskräfte Normalität der Stressreaktion betonen Soziale Unterstützung Gezielte Interventionen innerhalb der ersten 6 Wochen, Senkung des Risikos einer PTBS (von Hinkeldey & Fischer 2002) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Frühe Intervention II Notwendigkeit der Entwicklung spezifisch wirksamer Interventionen nach Traumatisierung • Intervention unter Verwendung identifizierter Risikofaktoren für PTSD: Identifizieren von Risikogruppen – Screening! • Möglicherweise sehr frühe Intervention (< 10 h) notwendig – soziale Unterstützung • Kognitiv-behaviorale Kurzinterventionen sind vielversprechend (Edukation, imaginative und reale Exposition, kognitive Techniken) (Foa et al. 1991; Bryant et al. 1999; Ehlers et al. 2003; Ehlers & Clark 2003) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Traumazentrierte Psychotherapie (ET) 4 – Phasenmodell: 1. Anamnese, Diagnostik, Beziehungsaufbau, Instruktion bzw. Psychoedukation 2. Stabilisierungs- / Vorbereitungsphase Erlernen und Trainieren von Stresscoping und „self-management“ (Ressourcenmobilisation - Imaginationsübungen) 3. Traumaexposition / Traumasynthese Reintegration von fragmentiert gespeicherter Sinneseindrücke zu Angst-, Symptomreduktion und Integration zu Gedächtnis und Identität: Screen- /Bildschirmtechnik Körpertherapietechniken EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) 4. Trauer und Neuorientierungs-Phase Betrauern, Wut, Abschied und Neuorientierung „Vom Überleben zum Leben“ (Hoffmann 1999, Besser 2002) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Synopsis der Traumaexposition • • • Evidenzbasierte Verfahren: EMDR Verfahren der Verhaltenstherapie • • • • Klinisch bewährt: Screentechniken PITT (Psychodynamisch-imaginative Traumatherapie) CPT (Kognitive Verarbeitungstherapie) Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung Regelhafte Registrierung, basale Grundbedürfnisse Screening Beschleunigung des Asylprozesses Schaffung der Grundlagen für eine adäquate medizinische Versorgung Schaffung der Grundlagen für flächendeckende Arbeit mit Dolmetschern Interkulturelle Kompetenz und interkulturelle Öffnung im Gesundheitssystem Epidemiologische Untersuchungen Forschungsförderung, Integration in Lehre Einhaltung der Standards Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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