Krankheit Frau - Esther Fischer

ESTHER FISCHER-HOMBERGER
KRANKHEIT
FRAU
UND ANDERE ARBEITEN
ZUR MEDIZINGESCHICHTE
DER FRAU
Inklusive zwei Aufsätze aus der Lizenzausgabe.
HANS HUBER
James Ensor (1860-1949): L’étonnement du masque Wouse (1889).
ESTHER FISCHER-HOMBERGER
KRANKHEIT FRAU
UND ANDERE ARBEITEN
ZUR MEDIZINGESCHICHTE DER FRAU
VERLAG HANS HUBER
BERN STUTTGART WIEN
FÜR ERIKA MÜLLER-BENZ
©
1979 Verlag Hans Huber Bern
Satz und Druck: Bentli AG Bern
Printed in Switzerland
INHALTSVERZEICHNIS
Vorbemerkung
7
Geleitwort
8
Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe Überblick (1975)
I. Die stumme Frau
II. Antike
III. Mittelalter
IV. Neuzeit
11
11
16
20
Hysterie und Misogynie - ein Aspekt der Hysteriegeschichte
(1969)
32
Krankheit Frau - aus der Geschichte der Menstruation in ihrem Aspekt als Zeichen eines Fehlers (1974/78)
I. Menstruation ah Zeichen der Überfeuchtung und Unterwärmung - die Antike
II. Menstruation als Zeichen von Bosheit und Giftigkeit Mittelalter und Renaissance
III. Menstruation als Folge einer zivilisatorischen Fehlentwicklung - 18. und frühes 19. Jahrhundert
IV. Menstruation als Äquivalent verbrecherischer Taten - die
forensische Psychiatrie des früheren 19. Jahrhunderts
V. Menstruation als Zeichen der verfehlten Bestimmung die Sexual- und Fortpflanzungsethik des 19. Jahrhunderts
VI. Menstruation als Zeichen einer nervösen Schwäche - späteres 19. und früheres 20. Jahrhundert
VII. Die Menstruation verliert an Symptom- und Symbolwert
- nach den beiden Weltkriegen
Hebammen und Hymen (1977)
I. Einleitung und Zusammenfassung
II. Die Negierung des Hymens
III. Die Neuentdeckung der Jungfernhaut
IV. Die Anerkennung des Hymens
49
53
61
63
68
72
80
85
88
96
102
Aus der Medizingeschichte der Einbildungen (1978)
I. Einbildung, Idee und Kreativität: Psychogenie der Erscheinung im 16./17. Jahrhundert
II. Milz (Oberbauch) und Hypochondrie: Die Idea morbosa
wird zur Krankheitseinbildung
III. Gebärmutter und Hysterie: Die Einbildung bleibt an der
Macht
IV. Einbildungskraft, Idee und Kreativität: Psychogenie der Erscheinung im 20. Jahrhundert
V. Epilog
106
111
115
127
129
Anmerkungen
130
Herkunft der Illustrationen
154
Register
156
Aus der Lizenzausgabe Sammlung Luchterhand 2. Auflage (1988)
- Herr und Weib: Zur Geschichte der Beziehung
zwischen ordnendem Geist und anderen Impulsen (1984)
- Wie männlich ist die Wissenschaft?
Wie mänlich ist die Wissenschaftlerin? (1988)
VORBEMERKUNG
«Krankheit Frau», die Titelarbeit der vorliegenden Sammlung, war
auch der Anlass zu deren Herausgabe, indem sie, als sie nach Jahren
des Liegenbleibens endlich ausgeschrieben war, sich als zu dick für
einen Artikel und zu dünn für ein Buch erwies. Dieses unglückliche Format wäre für die Autorin zum Problem geworden - denn
«publish or perish» heisst es ja - hätte H. Weder vom Huber-Verlag
nicht wiedereinmal in liebenswürdigster Weise Rat geschaffen.
Ihm sei hier speziell gedankt.
Gedankt sei auch dem Schweizerischen Nationalfonds, ohne dessen grosszügige Unterstützung «Krankheit Frau», «Hebammen und
Hymen» und «Aus der Medizingeschichte der Einbildungen» nicht
hätten geschrieben und diese ganze Sammlung nicht hätte redigiert
werden können.
Zum Buche selbst: ich habe eine einführende Übersichtsarbeit an
den Anfang gestellt, im übrigen in der Reihenfolge der Entstehung
der verschiedenen Arbeiten angeordnet. Die Artikel sind im wesentlichen unverändert, «Hysterie und Misogynie» allerdings war
ziemlich überholungsbedürftig - in diesem Zusammenhang sei
noch mein Dank an Cecile Ernst ausgesprochen - ferner wurde da
und dort zwecks Koordination und Komplettierung des Ganzen
bald etwas gekürzt, bald etwas ergänzt. Gewisse Wiederholungen
waren leider unvermeidlich - von Lücken kann bei einer Sammlung von Fragmenten nicht gesprochen werden. Die Querverweise
sind natürlich alle neu, die Bibliographie wurde vereinheitlicht.
Die Illustrationen sind zum Teil hier erstmals beigegeben.
GELEITWORT
Geschichte ist nicht einfach Vergangenheit. Geschichte dient der
Herstellung einer Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie kann dies in sehr verschiedener Weise tun, im Grunde tut
sie es wohl für jeden wieder etwas anders. Mich selbst fasziniert sie
einmal dadurch, dass sie die in manchem Gegenwärtigen - in Gebäuden, Gesetzen, Institutionen, Sitten, Worten usw. - stillschweigend und selbstverständlich präsente Vergangenheit als solche
wahrnehmen lehrt, dass sie also auf die historische Dimension des
Jetzt aufmerksam macht. Auch dadurch, dass sie die Vergangenheit
als eine Aufeinanderfolge von Gegenwarten betrachtet, in deren jeder Menschen sich mehr oder weniger frei bewegten.
Geschichte kann einen lehren, sich von der Gegenwart zu distanzieren, ohne sich von ihr zu entfernen: Sie führt einem die Wandelbarkeit alles Gegenwärtigen vor Augen, sie weist den Einfluss
der Vergangenheit auf die Gegenwart nach und setzt diesen gerade
dadurch in Grenzen - ein altbewährter Beschwörungseffekt; sie
zeigt, dass manches, was ist, auch anders geworden sein könnte.
Allenfalls kann sie sogar wahrnehmen lehren, dass selbst Unabänderlich-Gegenwärtigem die Möglichkeit innewohnt, anders zu
sein. Was einem begegnet, ist ja immer nur eine Auslese von dem,
was es «gibt» - so begegnen verschiedene Zeiten denselben Dingen
oft mit ganz verschiedenen Fragestellungen, Akzentsetzungen, Voreingenommenheiten. Diese Tatsache realisiert man im aktuellen
Augenblick gewöhnlich nicht, es würde einen dies ja oft sogar am
Handeln, am Treffen von Entscheidungen, am Antworten und Reagieren hindern. Bei der Beschäftigung mit Geschichte aber realisiert
man sie auf Schritt und Tritt. Dies schon, weil man da ja gerade die
Wandelbarkeit der Voraussetzungen menschlicher Äusserungen bearbeitet, dann, weil man schon im Arbeitsprozess, beim Zusammensuchen des Materials, auf dem man sein Bild von der Vergangenheit
aufbauen kann, immer und immer wieder auf Lücken, Unvollständigkeiten und Einseitigkeiten stösst. In der Geschichte muss man
mit Wandelbarkeit, Lücken und Einseitigkeit sogar rechnen - man
muss da ja auch nicht handelnd oder entscheidend teilnehmen.
So kann Geschichte ein gelöstes Verhältnis zur Gegenwart herstellen helfen - indem sie Spielraum schafft für einen kreativen
Umgang mit dem Jetzt.
Gerade, wenn man von den Fragen, die sich in den letzten zehn
Jahren an die Situation der Frau knüpften, berührt wurde, konnte
man solchen Spielraum sehr wohl gebrauchen, und ich bin bei der
Beschäftigung mit den hier versammelten Arbeiten, zu welcher
mich Vorwortspflicht zwang, auf die Idee gekommen, es könnte
mich gerade dies zum historiographischen Beruf mitbestimmt
haben. Zwar bin ich immer der Überzeugung gewesen, meine Arbeiten zur Geschichte der Frau seien reine Neben- und Randprodukte meiner im wesentlichen psychiatrie-historischen Tätigkeit.
Auch glaubte ich immer, es beruhe auf Zufall, dass sich am Beispiel
der Geschichte der Frau mancher zentrale historische Mechanismus
besonders anschaulich aufzeigen Hesse. Hinterher frage ich mich
aber, ob «die Frau« mir nicht gelegentlich Modell gestanden habe
beim Entwurf meiner allgemeineren Fragestellungen und ob das
nicht der Grund sei, weshalb sich diese Fragestellungen dann an der
Geschichte der Frau speziell bewährt haben. Dies etwa im Falle der
Frage nach der Funktion der psychiatrischen Diagnose, deren Ausdruckswert in bezug auf die Arzt-Patienten-Beziehung sich an der
Hysterie besonders deutlich zeigen lässt, oder im Fall der noch allgemeineren Frage nach der sozialen Funktion sprachlicher Ausdrucksweisen überhaupt, die in der Hebammen-Hymen-Geschichte besonders klar zutage tritt - vielleicht deshalb, weil keine
Gegenpublikationen seitens der Frauen das Bild komplizieren.
Es wäre in diesem Sinne vielleicht kein Zufall, dass die früheste
der hier vorgelegten Arbeiten («Hysterie und Misogynie», 1969 übrigens mein erster medizinhistorischer Artikel überhaupt) in
frühemanzipatorischem Zorn vorwiegend die entfaltungsbehindernde Wirkung männlich-allzumännlichen Frauenverständnisses
hervorhebt (ähnlich die ebenfalls noch vor dem «Jahr der Frau»
1975 angelegte, wenn auch erst jetzt fertiggeschriebene «Krankheit
Frau»), während die bisher letzte («Aus der Medizingeschichte der
Einbildungen», 1977) vielmehr die Chance wahrnimmt, die darin
liegt, dass die Frau als Ort der Verwirklichung von Geschöpfen der
Einbildungskraft auf eine so alte Tradition zurückblicken kann.
Vielleicht ist es, so besehen, auch kein Zufall, dass jene erste Arbeit
den Uterus vorwiegend als historische «Ursache von tausend
Übeln», wie Demokrit sich ausgedrückt haben soll, behandelt,
während diese letzte ihn mehr in seiner historischen Funktion als
Vorbild für das heute wieder aufgewertete Ernstnehmen von Phantasien und Ideen sieht.
Bern, Mai 1978
10
Esther Fischer-Homberger
GESCHICHTE DER GYNÄKOLOGIE
UND GEBURTSHILFE ÜBERBLICK (1975)
I. DIE STUMME FRAU
Die Geschichte der Gynäkologie und der Geburtshilfe ist zunächst
durch ihre enge Beziehung zur Geschichte der Frau charakterisiert.
Die Frau ist historisch weitgehend stumm. Sie äussert sich offiziell,
wenn überhaupt, vorwiegend durch Vermittlung ihres Mannes und
ihrer Söhne - womit über ihre inoffizielle Stellung und Äusserungsfähigkeit nichts gesagt ist. Auch das literarische Objekt
«Frau» ist durch diese Stummheit geprägt. So sind weite Gebiete
der Vergangenheit der Gynäkologie und Geburtshilfe historiographisch nicht erfassbar und nicht erfasst. Was aber erfassbar und erfasst ist, wirkt noch mehr als das, was man von der Geschichte anderer Spezialitäten weiss, wie die Spitze eines Eisbergs - dem unsichtbar bleibenden Hauptbrocken entsprächen Arbeit und Erfahrung und mündliche Tradition der Hebammen, Hexen, Chirurgen,
Nachbarinnen usw. und das viele, was ungesagt bleibt, auch wo
über die Frau gesprochen wird.
Von der Geschichte der Pädiatrie und des Kindes liesse sich ähnliches sagen. Frau und Kind sind sich historisch in vielem ähnlich.
Die Geschichte der Pädiatrie und der Frauenheilkunde, vor allem
der Geburtshilfe, haben auch bedeutende gemeinsame Wurzeln.
Zahlreiche frühe Klassiker des einen Gebiets sind zugleich solche
des anderen. Dies sei aber nur am Rande bemerkt.
II. ANTIKE
Die antike Gynäkologie-Geburtshilfe, wie sie sich im ägyptischen
Papyrus Ebers (Niederschrift ca. 1550 v. Chr.)1, in der hippokratischen Schrift «Über die Krankheiten der Frauen»2 und im Werk
des Soranus von Ephesus (frühes 2. Jahrhundert)3 darstellt, kreist um
11
die Themen Sterilität, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett,
Uterus, Menses, Lochien und andere Flüsse. Soran, der wichtigste
antike Autor auf diesem Gebiet, der auch auf das Mittelalter überragenden Einfluss ausübte, hat zusätzlich die alexandrinische
Kenntnis vom Ovar, doch kümmert er sich um dieses anatomische
Detail nicht weiter. Die Sterilität kommt als behandlungsbedürftiges Leiden wie als therapeutisches Ziel vor - namentlich Soran gibt
eine ausführliche antikonzeptionelle Beratung, da er Schwangerschaft und Geburt für zwar normale, den betroffenen Frauen aber
unzuträgliche Ereignisse ansieht. Er weist darauf hin, dass die
Grenzen zwischen Antikonzeption und Abort oft fliessend sind. Er
diskutiert auch die ethische Seite des Problems, namentlich das hippokratische Abtreibungsverbot4; er selbst zieht die Antikonzeption
dem Abort aus gesundheitlichen Gründen vor.
Die Frage, inwieweit die Frau als solche ein zwar normales, aber
doch nicht vollwertiges, ein hilfsbedürftiges Wesen sei, zeichnet
sich schon hier ab. Soran hält nicht nur Schwangerschaft und Geburt, sondern auch die Menstruation für ein zwar normales, aber
der Frau nicht zuträgliches Geschehen. Der hippokratische Autor
stellt die Menstruation im Gegenteil als eine Reinigung der Frau
von schädlichen Säften dar, als einen Aderlass der Natur, dessen
Ausbleiben eine allenfalls tödliche Störung des inneren Säftegleichgewichts zur Folge haben kann (vgl. S. 49-50). Auch da ist die Frau
indessen ihrem Wesen nach therapiebedürftig.
Dem empirischen Zugang zum Phänomen Krankheit, beim Hippokratiker auch der humoralpathologischen Orientierung entsprechend, finden Mensesanomalien, rote und weisse Flüsse, Lochien,
Gonorrhoe (Fluss von weiblichem Samen) in den genannten
Schriften grosses Interesse. Der Uterus ist der zentrale Teil des
weiblichen Organismus. Auch darauf ist zurückzuführen, dass die
Antike und ihre Nachfolger zwischen Gynäkologie und Geburtshilfe nicht unsere scharfe Trennung machten. Dislokationen des
Uterus sind ein wichtiges pathologisches Kapitel. Diese Dislokationen konnten in den heute noch bekannten Lageveränderungen bestehen. Der antike Uterus war indessen in noch viel weiteren
Grenzen beweglich. Er konnte sich in den Oberbauch bewegen,
12
sich an die Leber oder ans Herz krallen, er konnte noch weiter
kopfwärts steigen und entsprechend alle möglichen Symptome
verursachen: Angst im Herzen, Zusammenschnüren der Kehle,
Kopfschmerzen, Schwinden der Sinne, Krämpfe5. Die durch Dislokationen des Uterus verursachten Leiden werden «hysterisch» genannt (vgl. S. 34). Als die Wissenschaft die Gebärmutter später ihrer freien Beweglichkeit beraubte, erfuhr die «Hysterie» mannigfache Interpretationswandlungen; die Idee von einem vorwiegend
weiblichen Leiden mit prinzipiell vielfältiger und launischer
Symptomatik aber hat sich durch die Jahrhunderte erhalten (vgl.
S. 126).
Entsprechend einer handwerklich-praktischen Orientierung
werden beim hippokratischen Autor wie bei Soran die gynäkologische Chirurgie und die Geburtshilfe eingehend behandelt. Bei
Soran nimmt die Hebamme eine sehr prominente Stellung ein.
Viele Hebammenhandgriffe werden im Detail angegeben, als ob
eine Hebamme dieses Werk geschrieben hätte. Im kritischen Moment aber muss die Hebamme den Arzt zuziehen - ihm fallen die
Leitung komplizierter Geburten und die in erschütternder Ausführlichkeit beschriebenen Embryotomien und Extraktionen des
toten Kindes zu.
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett waren offensichtlich
damals und bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ernste
Gesundheits- und Lebensgefährdungen für die Frau. Da die perinatale Sterblichkeit der Kinder aus ähnlichen Gründen ebenfalls sehr
erheblich war, hatten die Frauen um so häufiger zu gebären, noch
ganz abgesehen von den meist höheren Lebendkinderzahlen früherer Familien gegenüber heutigen (unseres Kulturkreises), was die
Mortalität der verheirateten Frau weiterhin erhöhte. Es lässt sich
denken, dass dies, kombiniert mit der Armseligkeit des therapeutisch-geburtshilflichen Arsenals dieser Zeiten mit an der Wurzel
der Tendenz liegt, die Frau gegenüber dem Manne minderzuachten. Abwertung und Abwendung sind ja geläufige menschliche
Reaktionsformen in Schmerzsituationen - die auch prophylaktisch
eingesetzt werden. Man trauert nicht so empfindlich um etwas, was
man nicht zu sehr schätzte und liebte.
13
Jedenfalls hat uns schon die klassische Antike neben den besprochenen eher praktisch geburtshilflich-gynäkologischen Schriften
auch theoretische Schriften über das Wesen der Frau hinterlassen,
welche die Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Manne festhalten. Schon bei der Entstehung der Frau fängt es an. In Platos Alterswerk «Timaios» entsteht die Frau aus Menschen, die für ein unrechtes Leben in der nächsten Inkarnation strafweise mit einem
Uterus versehen wurden, unter dessen Tyrannei sie dann ihr trauriges Leben zu verbringen hatte (vgl. S. 34). Aristoteles (384-ca. 322
v. Chr.), dem das Ziel als Ursache der Entstehung von Dingen so
sehr am Herzen lag, betrachtete als Ziel aller Zeugung die Erzeugung von seinesgleichen. Wie bei den Vorsokratikern6 - denen
aber nicht das Ziel als vielmehr der Ursprung der Dinge wichtig
war - gibt es bei Aristoteles assoziative Beziehungen zwischen Samen und Pneuma, Wärme, Leben, Seele. Da nun aber für ihn nur
der Mann zeugungsfähig war, weil der weibliche Organismus infolge eines Minus an Wärme die Nahrung nicht zur Vollendung
des Samens verarbeiten («kochen») konnte, war das Ziel aller Zeugung für Aristoteles der Mann. Die Frau war demgegenüber sozusagen eine Missgeburt, ein impotenter Mann, wiewohl Aristoteles zugestand, dass derartige Geschöpfe zur Erhaltung der Art nötig seien
(vgl. S. 50 und 116).
Der hocheinflussreiche Galenos von Pergamon (um 130-200
n. Chr.) zeigte dann, in Verarbeitung dieser wie auch vorsokratischer Gedanken, dass auf der rechten, besseren Seite des Uterus
eher Knaben als Mädchen entstünden, weil es da infolge der Lebernähe und der speziellen Gefässverläufe wärmer sei als links, wobei
auch hier «Wärme» mit «Leben», «Kraft», «Seele» und hohem
Wert assoziiert war. Links aber entstanden eher Mädchen, welche
nichtausgereiften Knaben glichen, deren Geschlechtsorgane noch
nicht nach aussen durchgetreten waren, ähnlich nicht durchgebrochenen Zähnen bei Feten. Die «testes muliebres» (= Ovarien, eine
alexandrinische Entdeckung) lagen noch innerlich, das Scrotum lag
in Form des Uterus noch unausgestülpt im Inneren der Bauchhöhle, ebenso der noch nicht zum Penis ausgewachsene Hals der
Gebärmutter. Entsprechend lagen die äusseren weiblichen Scham14
Weibliche Genitalien aus Vesal «Fabrica» - eine Illustration zu Galens «Analogie».
15
teile, das Analog des männlichen Präputium, noch am Rumpf. Die
Galensche Analogie ist z. T. für die bis in die Neuzeit andauernde
Begriffsverwirrung um Cervix und Vagina verantwortlich. Galen
hat der Frau in hippokratischer Tradition eigenen Samen zuerkannt, doch spärlicheren, dünneren und kälteren als dem Manne7.
III. MITTELALTER
Das Mittelalter, speziell mit und nach der sogenannten arabischen
Rezeption8, hat dieses Gedankengut neben der hippokratisch-soranischen Überlieferung mehr praktischer Art gepflegt, wobei die
körperlich-seelische Minderwertigkeit und Schwäche der Frau
Züge der theologischen Minderwertigkeit annahm (im 19. Jahrhundert sollte demgegenüber die nervöse Minderwertigkeit in den
Vordergrund treten, vgl. S. 44 und 72-80, speziell 77-78). Schon
der Kirchenvater Tertullian (nach 150 bis um 225) hatte der Frau
geraten, als Angeklagte Gottes zu leben. «Du bist die Pforte des
Teufels», spricht er sie an, «du hast jenen Baum angetastet (wörtlich: entsiegelt), du hast dich zuerst vom göttlichen Gesetz abgewendet, du hast denjenigen verführt, dem der Teufel nichts anhaben konnte ... Du verdienst den Tod ...» «Du gebärst in Angst
und Schmerzen, Frau ... und vergisst, dass du Eva bist?»9 Den Sühnecharakter des Gebärens hatte schon Paulus ausformuliert10.
Den Scholastikern (etwa Thomas von Aquin) wurde solches Denken sehr geläufig11. Sozusagen gegen ihre Absichten kam es dabei
aber zu einem gewissen Verlust der männlich-kirchlichen Kontrolle über wesentliche Bereiche des täglichen Lebens und zu entsprechenden Ängsten. Die Praxis der Gynäkologie und Geburtshilfe kam wieder sehr in die Hände von Nichtgelehrten und vor allem von Frauen - die denn diesen Kompetenzbereich auch eifersüchtig hüteten. Als Hebammen konnten Frauen zu angesehenen
Stellungen, ja zu klerikalen Würden kommen. So wurde den
Stadthebammen vielfach das Recht zuerkannt, zu taufen, damit unter der Geburt sterbende Kinder dieses Sakramentes nicht verlustig
16
gingen. Denn Hebammen waren nicht so sehr ärztliche Hilfspersonen als vielmehr primär spezialisierte Frauenärztinnen - sie sind historisch auch die Ahnfrauen der weiblichen Doktoren der Medizin
(die sich denn auch anfangs meist sekundär auf die Frauenheilkunde spezialisiert haben). Regelungen, welche Kindsmord, Abort,
eigenmächtige Antikonzeption durch Hebammen verhindern sollten, spiegeln die Ängste vor unkontrollierten Kompetenzüberschreitungen seitens dieser Frauen wider. Zum klassischen Teufelskreis sind solche Ängste mit der gedanklichen Assoziation von
Hebammen und Hexen verschaltet gewesen.
Die Entwicklung des Hebammenstandes wie der Geburtshilfe
und Gynäkologie hat viel mit derjenigen der Chirurgen und der
Chirurgie gemeinsam. Sie hat ähnlichen fördernden und hemmenden Einflüssen unterlegen, auch fachlich und personell bestehen
enge Beziehungen. Wenn die mittelalterliche Kirche das chirurgische Blutvergiessen nicht schätzte (was nicht hiess, dass die mittelalterlichen Kleriker ihre Leibchirurgen nicht geschätzt hätten),
wieviel weniger konnte sie das gynäkologisch-geburtshilfliche
Blutvergiessen schätzen. War doch die Schwierigkeit des Geburtsgeschäftes nur die Folge von Evas Sünden, galt doch die Menstruation selbst dem Mittelalter als giftiger Ausfluss der Sünde (vgl.
S. 53-57). Wo die Chirurgie im Mittelalter andererseits günstigen
Boden fand, ging es auch der Geburtshilfe und Gynäkologie besser:
in Italien und Frankreich etwa, oder in den Städten. In Salerno12
studierten und lehrten Frauen; eines der berühmtesten Werke der
Schule von Salerno ist das gynäkologisch-geburtshilflich-kosmetische Werk, das unter dem Namen Trotula läuft (wobei es unklar ist,
ob dies ein Frauenname und ob es überhaupt ein Autorenname sei).
17
Frontispiz und Titel eines Hebammenlehrbuchs von 1580: Scham verbietet unverhüllte
Geburt.
18
Erinnerung an den Sündenfall (vgl. l. Mos. 3,16).
19
IV. NEUZEIT
In der Neuzeit wurde dann Frankreich zum Land der grossen Hebammen; Louise Bougeois/Boursier (1563-1636), geschworene Hebamme der Stadt Paris und Hebamme der Maria von Medici, Gattin
eines Chirurgen, die auch den Steinschnitt und andere chirurgische
Operationen ausführte, ist hier zu nennen, ferner z. B. Marie-Louise
Lachapelle (1769-1821), ebenfalls Chirurgengattin und Tochter
einer Hebamme und eines Chirurgen. Mme Lachapelles Neffe, späterer Professor der Geburtshilfe in Montpellier, hat die Lehren
seiner Tante in Buchform herausgegeben, ihre Schülerin MarieAnne-Victoire Boivin (1773-1841) hat es mit ihrem selbstverfassten
Werk zum Ehrendoktor der Universität Marburg gebracht, während es in den deutschen Landen nur eine ebenso namhafte Hebamme gegeben hat: die chur-brandenburgische Hof-Wehe-Mutter Justine Siegemundin (1648/50-1705), welche ebenfalls ein Buch
geschrieben hat13. «Dieses Buch ... soll, weil ich keine Kinder zur
Welt gebohren, das seyn, was ich der Welt hinterlasse: Habe ich
also nicht nöthig weitläufftig die Ursachen des Drucks zu rechtfertigen»14.
Doch die Emanzipation der Gynäkologie und Geburtshilfe (zum
medizinischen Fach) eilte der Emanzipation der Frau (zur Medizinerin) voraus15. Sie war deshalb zunächst mit einem allmählichen
Übergang in männliche Hände verbunden. So äussert sich schon
der Autor des ersten Hebammenlehrbuchs («Der Swangern Frauen
Rosengarten», 1513), der Chirurge Eucharius Roesslin (gest. 1526),
recht abschätzig über «die hebammen alle sampt, die also gar kein
wissen handt»16. Sogar in Frankreich haben die Hebammen vor
männlichen Geburtshelfern zurücktreten müssen. Der berühmte
Renaissance-Chirurg Ambroise Paré (1510-1590), dessen Lehrbuch
ein ausführliches gynäkologisch-geburtshilfliches Kapitel enthält,
hat seine diesbezüglichen Schüler hinterlassen - Frangois Mauriceau
(1637-1709) sollte dann der erste Chirurg werden, der sich fast ausschliesslich mit Geburtshilfe und Gynäkologie befasste. Mauriceau
hat an der Gebärabteilung des Pariser Hôtel-Dieu gewirkt, die
vielleicht unter dem Einfluss der Mme Louise Boursier entstanden
20
war17. Sein Name überlebt, wie der der Siegemundin, in einem geburtshilflichen Handgriff, nur dass dieser offenbar von den Hebammen des Hotel Dieu schon vor ihm praktiziert (aber nicht publiziert) worden ist. An Mauriceaus Name knüpfen sich auch viele andere Fortschritte seines Faches, ausserdem aber die Verzögerung der
Einführung der Zange in die Geburtshilfe. Als nämlich 1670 der
abenteuerliche Hugh Chamberlen (geb. um 1630), der Spross einer
Familie, die die Zange seit Generationen als Geheimnis hütete,
nach Paris kam, um diese Erfindung zu demonstrieren und zu verkaufen, war Mauriceau am Misslingen dieser Aktion nicht ganz unbeteiligt, er scheint sich darüber als über eine Bestätigung des eigenen Könnens geradezu gefreut haben18.
Im Jahrhundert der Aufklärung ist das Chamberlensche Geheimnis dann aber doch herausgekommen, ausserdem war die Neuerfindung der Zange unvermeidlich in einer Zeit, die die Geburtshilfe
anatomisch-physiologisch begründete. Ausser der Zange sind im
Laufe des 18. Jahrhunderts auch andere geburtshilfliche Instrumente
aufgekommen - Georg Wilhelm Stein (1731-1803), der sich um die
Beckenmessung so sehr verdient gemacht hat, ist der Erfinder
zweier Pelvimeter, eines Cliseometers, eines Cephalo-, eines Labiund eines Baromakrometers19 - einen Gebärstuhl und eine eigene
Modifikation der Zange hat damals ohnehin jeder Geburtshelfer
herausgegeben, der etwas auf sich gab. André Levret (1703-1780),
der sich um eine sachgemässe Entwicklung der Zangenform sehr
bemüht hat, gilt ausserdem als Erfinder der Uterussonde, von der
noch die Rede sein wird. So ist das Durchdringen der Zange im
Lauf des 18. Jahrhunderts auch ein Aspekt der allgemeinen
männlich-geburtshelferischen Bewaffnung mit Hilfsinstrumenten
gewesen. Im Ursprungsland der Zange war man derartigen Instrumenten gegenüber skeptischer. William Smellie (1697-1763) bemühte sich vor allem um eine klare Indikationsstellung für den Gebrauch der Zange; William Hunter (1718-1783) erarbeitete wichtige
anatomische und physiologische Grundlagen der Geburtshilfe20.
Aber auch in England hat die Aufklärung eine Verwissenschaftlichung, Literaturfähigkeit und vor allem eine Eingliederung der
21
Die beiden gegenüberliegenden Seiten: Justine Siegemundin und Francis Mauriceau - man
beachte die Betonung der «geschickten Hand» bei der Hebamme gegenüber dem mit
Geburtshilfe in die Medizin gebracht, die dieses Fach (bei der Beschränktheit der Bildungsmöglichkeiten für Frauen) in die Hände
von Männern brachte. Diese Entwicklung war ja eine ganz allgemeine, wenn sie auch durch Instrumente gelegentlich vorangetrieben worden sein mag. Die Aufklärung hat ja auch Kind und Kin
22
dem Bändchen «mulierum salus» versehenen Instrumentenschmuck des männlichen Geburtshelfers - «hic sol non umbra regit».
derkrankheiten in ärztliche Hände gebracht. Die Entwicklung der
Orthopädie (das Wort stammt von Nicholas Andry, 1658-1742, der
es aus orthos = gerade und paidion = Kind zusammensetzte) kann
hier als repräsentativ gelten. Für die weiblichen Hebammen wurden nun überall spezielle Schulen gegründet, die ihnen die Beleh
23
rung vermittelten, derer sie als medizinische Hilfspersonen bedurften21.
Die Gynäkologie hat sich eigentlich erst im 19. Jahrhundert als
mehr oder weniger selbständiges Fach konstituiert. Sie hatte bis dahin teils in chirurgischen, teils in internmedizinischen, teils in geburtshilflichen Händen gelegen. (Im 19. Jahr hundert hat sich auch
die Pädiatrie endgültig von der Geburtshilfe losgelöst - im Rahmen
der Neonatologie und deren assoziierten Fächern hat sie sich ihr
neuerdings wieder genähert.) Die Grundlagen zur Verselbständigung der Gynäkologie hat vor allem das 17. Jahrhundert gelegt.
Dieses Zeitalter hat mit seinem barocken Interesse für die Naturwissenschaft der Schöpfung, Embryologie und Eier, aber auch mit
dem ihm eigentümlichen Interesse für Drüsen und Mikroskope22
das weibliche Ei und das nun so genannte «Ovar» als sein Träger
ins Gespräch gebracht. Der Name des Sylvius-Schülers Regnier de
Graaf (1641-1673), der die nach ihm benannten Follikel mit dem
Menschliches Ovar, von Graaf auch noch «testiculus mulieris» genannt. Legende: «BB
ova diversae magnitudinis...».
24
weiblichen Ei assoziierte und die weiblichen Hoden deshalb Ovarien nannte, ist hier vor allem zu nennen23. Das Ovar aber sollte
zum Kristallisationskern einer von der weiterhin gebärmutterzentrierten Geburtshilfe losgelösten selbständigen Gynäkologie werden.
Die wissenschaftliche Eigenwürde, die Ovar und Ei der Frau
verliehen, wurde natürlich nicht unwidersprochen hingenommen.
Geradezu anekdotenhaft mutet der Streit der «Animalculisten» gegen die «Ovisten» an, welcher am Anfang des 18. Jahrhunderts entbrannte. Die einen, so etwa Leeuwenhoek, leiteten den Menschen
ganz aus dem neuentdeckten Spermatozoon her - sie sahen ihn da
auch mikroskopisch vollständig vorgebildet - während die anderen
das Ei als den ursprünglichen Keim betrachteten. Gemeinsam war
den streitenden Parteien die Annahme der sogenannten «Präformation» des Keimes in der Keimzelle - ihr Streit nahm denn auch sein
Ende mit dem Durchdringen der «Epigenese»-Theorie, die in der
Samentierchen, wie es der Animalkulist Nicolaas Hartsoeker (1656-1725) sah.
25
Keimentwicklung nicht ein allmähliches Erscheinen von Vorbestehendem, sondern einen allmählichen Bildungsvorgang erblickte24.
Doch das «Ovar» blieb fortan im Bewusstsein der Mediziner, die
sich beruflich um die Frau kümmerten, und verdrängte da allmählich den Uterus aus seiner zentralen Stellung. Ganz deutlich wurde
dies dann im 19. Jahrhundert - 1828 durch Karl Ernst von Baers
(1792-1876) Entdeckung des Säugetiereis neu aktualisiert25 (Graaf
hatte das Ei erst postuliert, gesehen hatte er nur die Follikel).
Nicht mehr Johann Baptista van Helmonts (1579-1644) «nur der
Uterus macht die Frau zu dem, was sie ist», sei als richtig zu betrachten, wird auch der hochberühmte Rudolf Virchow (1821-1902)
1848 schreiben, sondern: «Das Weib ist eben Weib nur durch seine
Generationsdrüse »26.
Doch die Betrachtung der Frau als eine Folge ihrer Ovarien und
die ersten operativen Behandlungen ovarieller Krankheiten (vgl.
«Eine Wärterin, welche Sims’ Speculum hält.» Die physikalisch-diagnostischen Rituale
und Instrumente des früheren 19. Jahrhunderts dienten unter anderem auch der Überwindung der Scheu vor der körperlichen Berührung des Patienten durch den Arzt, die bis
dahin keineswegs gebräuchlich gewesen war. Für das Speculum gilt dies wohl in besonderem Masse.
26
S. 29, übrigens die ersten erfolgreichen intra-abdominellen Eingriffe, noch vor der Aera der Asepsis
und Anaesthesie) waren nicht die einzigen Gründe
für die Entstehung der Spezialität Gynäkologie im
19. Jahrhundert. Ganz allgemein lag dieser viel eher
das Aufkommen des organizistischen und spezialistisch-technischen Denkens jener Zeit zugrunde27.
Dieses dürfte auch das Interesse für das Ovar stimuliert haben. Es hat aber auch den Uterus zum Objekt
eines neuen, organizistischen Interesses und zum Ziel
neuer diagnostischer Manipulationen und Instrumente gemacht, was das Entstehen des Spezialfachs
Gynäkologie seinerseits gefördert hat. Besonders die
Einführung der Uterussonde - das «unschätzbarste
aller diagnostischen Mittel» nennt es ein sehr verbreitetes Lehrbuch der zweiten Jahrhunderthälfte - und
die Einführung des Speculums als routinemässiges
Untersuchungsinstrument durch den Internisten Joseph-Claude-Anthelme Récamier (1774-1856) sind hier
wichtig. Das Speculum war zwar längst bekannt gewesen, aber erst mit Récamier assoziierte sich mit diesem Instrument der prinzipielle Anspruch des Arztes,
die Organe des lebenden Körpers seinen Sinnen diagnostisch zu erschliessen28. Dieser Anspruch ist ja
für den Mediziner des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der physikalischen Diagnostik, ausserordentlich
typisch. Er liegt auch an der Wurzel der Erfindung
des Stethoskops durch Théophile-Hyacinthe Laënnec
(1781-1826), welches damals zum eigentlichen Kennzeichen des Arztes wurde (übrigens war Récamier
Laënnecs Nachfolger als Professor am Collège de
France). Von der Uterussonde, die vielfach ebenfalls
routinemässig benützt wurde, kann ähnliches gesagt
Uterussonde. Der Autor schreibt dazu, dass «einzelne Gynäkologen
sie fast ausnahmslos bei jeder Kranken anwenden» (1874).
27
werden. Mit Hilfe dieses septischen Zauberstabs mag sich ausserdem mancher gynäkologische Spezialist ungewollt, wenn auch
nicht unerwünscht, ein reiches, an den verschiedensten speziellen
Entzündungen der Genitalorgane krankendes Patientengut herbeigeschafft haben. Die bimanuelle Palpation, die sogenannte «combinierte Untersuchung» hat die Uterussonde dann aber in den Hintergrund gedrängt.
Der grosse Aufschwung der Gynäkologie und der Geburtshilfe
aber knüpft sich an die Einführung von Anaesthesie und Antisepsis,
an deren Entwicklung sie selbst historisch übrigens nicht unwesentlich mitbeteiligt sind. Auch hier zeigt sich wieder die Beziehung
zwischen Gynäkologie-Geburtshilfe und Chirurgie.
Schon in den Jahren 1847-1849 hat der in Wien arbeitende Ungar Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) zeigen können, dass dem
Kindbettfieber, welches an seiner Klinik rund 10% der Wöchnerinnen hinraffte, durch Chlorwaschungen der untersuchenden Hände
der vom Sezieren kommenden Studenten vorgebeugt werden
konnte. Als Ursache des Kindbettfiebers hat er, seinen Erfahrungen
entsprechend, einen «zersetzten tierisch-organischen Stoff» betrachtet, wobei er zwar die Bazillen übersehen, aber doch eine rationale
Antisepsis begründet hat. Vor ihm waren psychische Momente
(Angst, verletztes Schamgefühl, schreckenerregender Eindruck des
Sterbeglöckchens), spezielle Auswahl des Patientengutes, grobe
Untersuchungsweise der Studenten, schlechte Ventilation, Diätfehler usw. für das Kindbettfieber verantwortlich gemacht worden,
und entsprechend hatte keine wirksame Prophylaxe gefunden werden können. So schreibt Semmelweis 1861 in seiner klassischen
Schrift «Aetiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers»29.
Dass er seine Erkenntnisse so spät erst publizierte, hat seinen Grund
offenbar darin, dass er schreibfaul und kompliziert war, aber auch
darin, dass er damit auf Widerstände stiess. Die Koryphäen der
Wiener Schule, Skoda und Rokitansky, förderten Semmelweis zwar
entschieden30. Aber für den dortigen Professor der Geburtshilfe,
Johann Klein (1788-1856) hätte die Anerkennung von Semmelweis’
Ideen eine Selbstkritik bedeutet, die nur seltene Menschen zu leisten imstande sind.
28
Die Entdeckung der narkotischen Wirkung des Chloroforms durch Simpson und die
Doktoren Keith und Duncan am späten Abend des 4.11.1847.
Auch in der Geschichte der Anaesthesie nimmt ein Geburtshelfer
eine prominente Stellung ein: James Young Simpson (1811-1870),
berühmter Geburtshelfer in Edinburgh, hat 1847 das Chloroform
in die Anaesthesiologie eingeführt, nachdem im Oktober 1846 unter Äther die erste schmerzlose Operation gelungen war. Simpson
hat das Chloroform speziell zur schmerzlosen Geburt verwendet,
ist aber damit auf den Widerstand kirchlicher Kreise gestossen, die
es als sündig empfanden, den gottgewollten Geburtsschmerz (heute
würde da wohl psychologisch argumentiert) zu unterdrücken.
Noch im Jahr seiner Entdeckung ist er auf diese Argumente schriftlich eingegangen31.
Es wurde bereits erwähnt, dass das Prunkstück der frühen Gynäkologie, die operative Behandlung von Ovarialtumoren, schon vor
der Aera der Anaesthesie und Antisepsis durchgeführt wurde.
Amerikanische Chirurgen (zuerst Ephraim Mac Dowell, 1771-1830,
im Jahre 1809) haben diese Pionierarbeit geleistet. Ebenfalls noch
ohne Anaesthesie und systematische Antisepsis hat James Marion
Sims (1813-1883) im amerikanischen Süden an Sklavinnen seine
berühmte Operation der damals sehr häufigen und invalidisieren29
den (Arbeitsunfähigkeit!) Vesico-Vaginalfistel entwickelt32. Nun
aber, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, waren der operativen Gynäkologie weite Felder geöffnet. Durch den Pariser Chirurgen Jules Emile Pean (1830-1898), fand die amerikanische Ovariotomie in Europa Eingang. Péan war ein berühmter Abdominalchirurg und hat auch selber wichtige gynäkologische Operationen
entwickelt33. Der Kaiserschnitt konnte sich nun ebenfalls allmählich
zum gebräuchlichen Eingriff entwickeln. Bis dahin war er meist
nur in verzweifelten Fällen, wenn überhaupt, ausgeführt worden,
ursprünglich nur an der Toten34.
Die Chirurgie ist aus ihrer Vorrangstellung in der Gynäkologie
erst nach dem Ersten Weltkrieg etwas zurückgetreten, als nämlich
die Endokrinologie für die Gynäkologie brauchbare Resultate zu
liefern begann - was übrigens Gynäkologie und Geburtshilfe
einander wieder näher brachte. Die Endokrinologie hat es mit sich
gebracht, dass die Frau nicht mehr so sehr mit ihrer Gebärmutter
oder ihrem Ovar identifiziert wurde (in einem gewissen Gegensatz
zum Mann, der traditionellerweise eher als ein Mensch und Ich be-
Ovanotomie nach Simpson. Die Anregung zu der Operation, heisst es im zugehörigen
Text, sei alt und eigentlich europäischen Ursprungs, «der Ruhm der ersten Ausführung
derselben gebührt aber, um mit Piorry zu reden, einer ,audace Américaine’, welche von
Mc. Dowell begangen wurde».
30
trachtet wird, dem sein Geschlecht attributartig zugegeben ist), als
vielmehr mit ihrer hormonellen Balance. Doch haben gerade die
endokrinologischen Forschungen auch die moderne Antikonzeption gebracht, welche geeignet ist, die enge Assoziation von Frau
und weiblichen Geschlechtsorganen zu lockern, indem sie die
weibliche Sexualität von der Fortpflanzung loslöst.
Die Geschichte der Antikonzeption beginnt, wie die des Aborts
mit der Medizingeschichte überhaupt (die Ägypter verwendeten
Krokodilsmist als Antikonzeptivum), medizingeschichtlich bedeutsam ist sie aber eigentlich erst im 19. Jahrhundert geworden, wo die
Frauen definitiv und offiziell in medizinische Hände kamen, Récamier die Curette und der amerikanische Berufserfinder Charles Goodyear die Vulkanisierung des Gummis erfand. Die Kämpfe des
19. Jahrhunderts um die Antikonzeption gleichen in vielem den
modernen Diskussionen um die Schwangerschaftsunterbrechung.
Die Betrachtung der Fortpflanzung als zur Normalität der Frau gehörig (wobei das Konzeptionsoptimum z. Z. der Menstruation angenommen und die Menstruation vielfach als abortähnliches Geschehen betrachtet wurde [vgl. S. 68-72]) und Ängste um traditionelle Werte und Ordnungs- bzw. Machtstrukturen standen da auf
der einen Seite. Auf der anderen Seite bestand die im Sinn der
Frauenemanzipation liegende Tendenz, das Fortpflanzungsgeschäft
auch für die Frau freiwillig zu erklären. Bevölkerungspolitische
Argumente wurden von beiden Seiten ins Feld geführt, ethische
selbstverständlich auch (vgl. S. 71-72). Eine leicht und für jede
Frau erreichbare, wirksame Antikonzeption gibt es aber im Grunde
erst seit kurzer Zeit. Die Verlegung des Konzeptionsoptimums
vom traditionellen Zeitpunkt um die Menstruation auf das Intermenstruum durch D. Ogino und Hermann Knaus (1892-1970) datiert
aus den 1930er Jahren, die Entwicklung der antikonzeptionellen
Pillen und der modernen IUDs aus den 60er Jahren35. Die sicher
enorme Bedeutung dieser Entwicklungen für die Geschichte der
Frau und damit auch der Geburtshilfe und Gynäkologie ist noch
nicht abzusehen.
31
HYSTERIE UND MISOGYNIE EIN ASPEKT
DER HYSTERIEGESCHICHTE (1969)
Hysterie - ein psychisches Leiden, das typischerweise beim weiblichen Geschlecht beobachtet wird;
Misogynie - die Abneigung gegen das weibliche Geschlecht; unsere Frage ist: gibt es, historisch gesehen, einen Zusammenhang
zwischen den beiden?
Im heutigen Gebrauch des Wortes Hysterie schwingt nicht selten
ein unfreundlicher Ton mit. Mit der Diagnose Hysterie scheint oft
weniger ein Patient als das Verhältnis des Arztes zum Patienten bezeichnet, und zwar kein gutes. Wenn es sich um weibliche Patienten handelt, wird oft kaum von Patienten, sondern von Weibern oder Frauenzimmern gesprochen. Wenn es sich um männliche
handelt, werden sie oft in für die Frauen wenig schmeichelhafter
Art mit diesen verglichen. Ganz ähnlich hat Ackerknecht aus der
psychopathologischen Etikettierung der sogenannten Primitiven
(z. B. des Medizinmanns) einen abschätzenden Unterton herausgehört.
Nun ist aber die Diagnose Hysterie doch nicht nur ein Schimpfname. Sie entschuldigt ja auch in gewissem Sinne. Viele sogenannte weibliche Tücken gehen unter der Diagnose Hysterie
straflos hin. Durch die psychiatrische Diagnose wird ja die Verantwortlichkeit für ein bestimmtes, meist unbeliebtes Verhalten eines
Individuums von diesem weg auf eine Krankheit verlegt - damit
entgeht der Unbeliebte dann der sonst verdienten Strafe. Er ist mit
seiner Krankheit hinreichend bestraft. Ackerknecht spricht von psychopathologischer Etikettierung als Ausdruck erhöhter mitmenschlicher Toleranz, ja Über-Toleranz36.
So gleicht die Diagnose Hysterie, da sie als für das weibliche Geschlecht so typisch angesehen wird, zwar einerseits einer misogynen Beleidigung dieses Geschlechts, andrerseits aber wirkt sie als
ärztlicher Schutz gegen eine tätige Misogynie.
32
Hat diese beschimpfend-entschuldigende soziologische Doppelfunktion der Diagnose Hysterie ihre historischen Hintergründe
und Verdeutlichungen?
Die Hysterie ist ursprünglich eine ausschliesslich bei Frauen vorkommende Krankheit - ausschliesslich bei Frauen, weil sie eine
Krankheit der weiblichen Geschlechtsorgane war. Das griechische
ὑστἑρα wird mit «Gebärmutter» übersetzt.
Eines der ersten griechischen Dokumente, das man auf die Hysterie bezogen hat, ist ein sogenannter Brief des Demokrit an Hippokrates («Über die Natur des Menschen»37). In diesem Briefe steht,
der Uterus sei «die Ursache von 1000 Übeln». Thomas Sydenham
(1624-1689) zitiert diesen Brief in seiner berühmten Abhandlung
über die Hysterie; er versteht Demokrits Äusserung als ein Äusserung über die Hysterie, welche eben so verschiedene Formen annehmen könne38. Der Terminus «Hysterie» kommt zuerst im Hippokratischen Aphorismus 5, 35 vor - wobei man über seine genaue
Bedeutung im Zweifel bleiben kann. Häufiger findet man das
Wort in der griechischen Literatur in seiner adjektivischen Form39.
Gegen die Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus schafft der einflussreiche Plato (427-348/47 v. Chr.) in seinem «Timaios» eine
Hysterie-Theorie. Nachdem er da die «Entstehung des Weltalls bis
zu der des Menschen», womit die Männer gemeint sind, dargestellt
hat, merkt er nämlich folgendes noch an: «Von den Männern, die
entstanden waren, wurden ... diejenigen, die furchtsam waren und
ihr Leben unrichtig verbrachten, bei der zweiten Entstehung in
Weiber umgestaltet.»
Plato, der für Frauen ohnehin wenig übrig hatte - sie wohl bestenfalls platonisch liebte -, zählte diese gar nicht zu den Menschen.
«Unsere Zusammensetzer wussten», schreibt er, «dass aus Männern
einmal Weiber und die sonstigen Tiere entstehen würden.» Nicht
jeder Mann, der nicht recht gelebt hat, musste jedoch gleich zur
Frau werden. Aus Männern, die nicht gerade schlecht, nur leichtsinnig ihr Leben verbracht hatten, entwickelten sich die Vögel, die
anstatt Haaren Federn erhielten. Es gab aber auch schwerere Strafen als die Verwandlung in eine Frau. Aus den allerunvernünftig33
sten Männern wurden bei der nächsten Entstehung Fische und Muscheln.
Die strafweise Umgestaltung des Mannes zur Frau durch Platos
Götter geschieht dadurch, dass der Organismus mit weiblichen Geschlechtsteilen versehen wird: «... sie sind ein Lebewesen mit der
innewohnenden Begierde nach Gebären eines Kindes», schreibt
Plato über diese Teile. - «Wenn nun in der Blüte ihres Lebens lange
Zeit vergeht ohne dass sie eine Frucht bringen, so führt dies zu
einem Zustand schwer zu ertragender Unzufriedenheit, er zieht
überall im ganzen Körper umher [der Uterus], versperrt die
Durchgänge der Luft und lässt keine Luft aufnehmen. Dieser Zustand führt die Weiber in die äusserste Auswegslosigkeit und bereitet ihnen mannigfache andere Krankheiten ...»40
Platos Hysterie ist also eigentlich eine veterinärmedizinische Parasitenerkrankung. Plato kennt aber keine hysterische Krankheitseinheit. Die Gebärmutter ist bei ihm Ursache mannigfaltiger
Krankheiten, Ursache von Zuständen, die andere hysterisch nennen, selbst aber nicht Krankheitsfokus, sondern Strafe der Götter.
Die ent-schuldigende Funktion der Diagnose entfällt also bei Plato.
Antike Ärzte, welche das Frau-Sein weniger als Strafe denn als
Schicksal, die Gebärmutter weniger als Schandmal denn als anatomische Gegebenheit betrachten, sprechen eher von der hysterischen
«Krankheit». Der Uterus im Weibe verhält sich «wie ein Wesen im
Wesen» schreibt Aretaeus der Kappadocier (ca. 50 n. Chr.). «Wenn
er nun plötzlich in die Höhe steigt, hier eine längere Zeit verweilt
und die Eingeweide mit Gewalt verdrängt, so bekommen die
Frauen Erstickungs-Anfälle, wie bei der Epilepsie ... Aber auch die
Carotiden werden ... zusammengedrückt, worin wiederum die
Schwere im Kopf, die Gefühllosigkeit und die Schlafsucht ihren
Grund hat»41.
Im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dämonenglauben
finden sich manche Mängel, die die antike Frau zu hysterischen
Leiden disponierten, als Prädisposition zum hexischen Pakt mit
dem Bösen wieder. Die Hexenlehre mutet in manchem wie eine
34
Rückverwandlung der medizinischen Hysterielehre in die alte
Lehre von der Schlechtigkeit der Frauen an. Was den «Hippokratischen Schriften» und Aretaeus Krankheit war, welche Frauen überfallen kann, ist nun wieder persönliche Schuld der Frauen. Die
Weiblichkeit wird wieder zum platonesken Schandmal. Es erheben
sich Gelehrtenstreite über die Frage, ob die Frauen eine Seele hätten, Menschen seien, oder nicht.
Der «Hexenhammer», jenes Kompendium der Hexenverfolger,
das 1486 von den anscheinend auch an ihrem Zölibat leidenden Inquisitoren Jakob Sprenger (um 1436-1495) und Heinrich Institoris
(1430-1505) geschaffen worden ist, findet den Grund, «warum in
dem so gebrechlichen Geschlechte der Weiber eine grössere Menge
Hexen sich findet als unter den Männern» in der Erfahrung und in
den Zeugnissen der Schriften und glaubwürdiger Männer, die alle
bestätigen, dass die Frauen von Natur schwach sind - wegen der
«Flüssigkeit ihrer Komplexion», ihrem «Mangel ... des Verstandes»
und «an memorativer Kraft» - der Hexenhammer stellt fest, dass
«das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist». Dies kombiniert sich
sehr unvorteilhaft mit der Tatsache, dass die Frau «fleischlicher gesinnt ist als der Mann», indem die Frau mehr zum Abfall von Gott
neigt als der Mann - «was alles auch die Etymologie des Wortes
sagt: das Wort femina nämlich kommt von fe und minus (fe — fides, Glaube, minus = weniger, also femina = die weniger Glauben
hat), weil sie immer geringeren Glauben hat und bewahrt».
«Schliessen wir: Alles geschieht aus fleischlicher Begierde, die bei
ihnen unersättlich ist ... Darum haben sie auch mit Dämonen zu
schaffen, um ihre Begierden zu stillen ... kein Wunder, wenn von
der Ketzerei der Hexer mehr Weiber als Männer besudelt gefunden
werden...» So bedeutet die Frau für den Mann eine grosse Gefahr.
«Und wie die Sünde der Eva uns weder leiblichen noch seelischen
Tod gebracht hätte, wenn nicht in Adam die Schuld gefolgt wäre,
wozu Eva und nicht der Teufel ihn verleitete, deshalb ist sie [die
Frau] bitterer als der Tod.» Gefahr bedeutet sie namentlich infolge
ihres Umgangs mit dem Bösen, der sie zur Hexerei befähigt. Sie
hext ihren Opfern beliebige sexuelle Impulse oder Störungen, aber
auch Krankheit und Tod an. Besessenheit kann Hexenwerk sein;
35
Besessene oder von Dämonen Gefährdete vermögen oft anzugeben, welche Hexe für ihr Leiden verantwortlich ist42.
Manche Erscheinungen, die in der Folge zu klassischen hysterischen Symptomen werden, treten in der klassischen Hexen- und
Besessenheitslehre als Zeichen teuflischer Einwirkung auf. Kreisbogen, Erstickungsanfälle und Krämpfe finden sich bei Besessenen,
Anästhesien gelten als Hexenzeichen43. Die anästhetische Zone ist
das eigentliche «stigma diaboli», an dem der Teufel die Seinen auf
Erden erkennt, denn er selbst hat es mit den Klauen seiner linken
Hand geprägt. Eine der gängigsten Hexenproben war daher die sogenannte Nadelprobe. Diese bestand darin, dass ein Gerichtsknecht, Scharfrichter oder auch Chirurg mit einer Nadel in alle
auffälligen Hautstellen der als Hexen Verdächtigten stach. Wenn
dann keine Äusserung des Schmerzes erfolgte (oder kein Blut
herausdrang), so war der Verdacht bestätigt44. Auch Krämpfe
konnten die Hexe charakterisieren.
Der Unterschied zwischen Hexen und Besessenen war, wie das
Cécile Ernst herausgearbeitet hat, praktisch von grösster Bedeutung:
Hexen wurden eingeäschert, wie Sprenger und Institoris sich ausdrücken, Besessene exorziert, hatten Hexen doch böswillig-willentlich einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen, während Beses-
Hexenverbrennung, 16. Jh.
36
sene eher als arme Opfer des Bösen galten. Im Einzelfall allerdings
konnte es eine Frage haarfeiner Einzelheiten, sogar des Zufalls sein,
ob man das eine oder das andere annahm - in der Alternative «kriminell oder geisteskrank» mag die alte Problematik nachklingen.
Der Dämonenglaube hatte weittragende Folgen: die Hexenausrottung des 16. und 17. Jahrhunderts hat bezüglich der Zahl von
Exorzismus.
37
Todesopfern Ausmasse angenommen, die nur denjenigen der Judenverfolgungen unseres Jahrhunderts vergleichbar sind45.
Es waren bekanntlich zuerst Ärzte, die gegen den Dämonenglauben aufzutreten wagten. Der Berühmteste unter diesen war wohl
Johan Wier (1515-1588). Wier riet, Besessene von ihrer Melancholie
zu purgieren, bevor man sie geistlich behandle und zuzusehen, dass
man nicht alte melancholische Weiblein als Hexen verkenne46. Empört über Wier und seinesgleichen veröffentlichte hierauf König
James VI von Schottland (der spätere James I von England, 15661625) 1597 eine «Dämonologie», eine neue Rechtfertigung des Dämonenglaubens47. Auf diese «Dämonologie» nun erschien als Antwort ein Werk, das uns hier interessiert, Edward Jordens (1569-1632)
Abhandlung über die Hysterie. Es ist das erste englische Buch über
dieses Thema. Jorden war Experte in Hexensachen und auch von
James VI oft konsultiert worden. Der unmittelbare Anlass zum
Verfassen seines Buches war ihm ein Hexenprozess, in dem sein
ärztlicher Rettungsversuch der Angeklagten vergeblich geblieben
war.
Jorden leugnet so wenig wie Wier, dass es Besessenheit und Hexerei gebe. Doch sei solches heutzutage sehr selten, schreibt er, und
man müsse um Gottes Willen vorsichtig sein, bevor man eine Besessenheit annehme. Denn alle Symptome dämonischer Einwirkungen seien auch für die Hysterie typisch. Die Hysterie aber sei kein
Teufelswerk, sondern eine Krankheit des Uterus. Die Hysterie äussere sich in den sonderbarsten Zeichen, welche nur der sehr geübte
Arzt überhaupt als solche erkenne. Jorden deutet an, dass es seinen
weniger geschulten Kollegen passieren könnte, dass sie mangels genauer Kenntnis der Hysterie hysterische Zeichen als dämonisch bedingt verkennten. So hätten gewisse Zeitgenossen des Hippokrates
alles, was sie nicht gekannt oder zu behandeln gewusst hätten, auf
übernatürliche Ursachen zurückgeführt, ihre tatsächliche Ignoranz
mit Wissen um Übernatürliches bemäntelnd48.
Bei Jorden findet sich also sehr deutlich die ent-schuldigende
Funktion der Diagnose: die Diagnose Hysterie vermag Wirkungen
des Bösen in Krankheitssymptome zu verwandeln, hexische Bosheit durch körperliche, dem Einfluss des Willens entzogene Krank38
heitsursachen zu ersetzen und so allenfalls strafwürdige Hexen vor
dem Scheiterhaufen zu retten. Sie antagonisiert hier also die Effekte
der Misogynie.
Das 18. Jahrhundert ist im ganzen ein eher frauen-freundliches
Jahrhundert. Die Aufklärung tritt für bisher sozial benachteiligte
Gruppen ein, auch für Frauen. Den Hexen- und Dämonenglauben
lässt sie als Aberglauben fallen.
Auch die Frauenkrankheit Hysterie tritt in den Hintergrund.
Sydenham hatte Hysterie und Hypochondrie identisch genannt, für
ihn war es dieselbe Krankheit, die bei den Frauen Hysterie, bei den
Männern Hypochondrie heisse49. Nach seinem Muster löst sich nun
im 18. Jahrhundert die Krankheit Hysterie in der Hystero-Hypochondrie oder einfach in der Hypochondrie weitgehend auf (Blackmore, Whytt und andere)50.
Das 19. Jahrhundert, das sogenannte «Jahrhundert der Frauenemanzipation», das Jahrhundert auch der Reaktionen auf die Emanzipation der Frauen, hat, besonders in seiner zweiten Hälfte, eine
Renaissance platonischen Frauenhasses - und des medizinischen Interesses an der Hysterie - gebracht.
Die Theologie neigte wieder vermehrt zum Glauben an die Hexerei. 1886 kam eine Schrift des Pastors Ernst Muehe bereits in
2. Auflage heraus, in welcher es unter anderem heisst: «Die ... Hexen stehen als Werkzeuge und Agenten der unsichtbaren Geisterwesen im Besitz grosser Macht. ... Sie massen sich ... die Stellung
Gottes selbst an. Das ist aber die eigentliche Stellung des Teufels, ...
der Höhepunkt menschlicher Teufelei» und später: «Der Glaube an
Hexen hat viel Unfug in der Welt angerichtet, und manche arme
... Frau mag durch den ‚Hexenhammer‘ unschuldig ... verbrannt
sein. Doch wollen wir’s uns nicht verhehlen, dass doch auch manches Wahre daran ist.» Der Pastor bedauert: «Leider bietet die neue
Gesetzgebung den Obrigkeiten keine genügende Handhaben, um
diesem Frevel wirksam zu steuern.»51 Die Tendenz, die Wirklichkeit des Hexenwesens in Betracht zu ziehen, scheint bis in unser
Jahrhundert hinein noch zugenommen zu haben. Während im
39
Soldan-Heppe von 1880 «nur eine Stimme von Bedeutung für den
Glauben an die Wirklichkeit der Hexerei» verzeichnet war, stellt
der Bearbeiter der Ausgabe von 1911 fest, dass «der ,Stimmen von
Bedeutung‘ ... gar manche laut geworden» seien52. 1906 gibt
Schmidt die erste deutsche Übersetzung des Hexenhammers heraus,
über dessen «Verfasser wie ... Inhalt» seiner Ansicht nach «zu hart»
geurteilt worden sei53.
Auch die Mediziner samt Psychiatern interessierten sich im
19. Jahrhundert neuerdings für Hexen (Esquirol, Feuchtersieben, Calmeil, der Neurologe Charcot und seine Schüler, der Internist Bernheim u. a.). Und indem diese versuchen, sich die Erscheinungen des
Hexenwesens und der Besessenheit, die nun nicht mehr scharf unterschieden wurden, zu erklären, kommen sie wieder auf die Hysterie. Besonders durch die Hypnose- und Suggestionsforschungen
etabliert sich dann die Überzeugung, dass die Mehrzahl oder sogar
Die Charcot-Schule unterschied im Verlauf der hysterischen Attacke eine epileptoide
Phase, eine Phase der grossen Bewegungen und der Krämpfe, eine Phase der Leidenschaftlichkeit und zum Schluss eine deliriöse Phase. Der klassische «Arc de cercle», der
Kreisbogen, war Bestandteil der zweiten Phase. Im Rahmen dieser Phase konnte auch die
regelrechte «attaque démoniaque» auftreten.
40
alle Hexen Hysterikerinnen gewesen seien54. Charcots Hysterikerinnen weisen Lähmungen, Krämpfe, besonders Arc de cercle, und
Anästhesien auf. Die Nadelprobe wird von der Hexenprobe zur
diagnostischen Untersuchung.
Die Diagnose Hysterie aber ist im 19. Jahrhundert nicht mehr,
wie im 17. Jahrhundert, etwa bei Jorden, hauptsächlich ein begriffliches Instrument zur Abwehr misogyner Tendenzen. Sie erscheint
nun vielmehr auch als Instrument solcher Tendenzen selbst. Die
Hysterikerin ist die säkularisierte Hexe.
41
Die Hysterie wird wieder zur ausschliesslichen Frauenkrankheit
(Louyer-Villermay, Landouzy, Georget, Broussais usw.55). Falls sie
nicht wieder als eine Krankheit der Gebärmutter, sondern - wie
schon im 18. Jahrhundert - als eine Krankheit des Nervensystems
betrachtet wird, so befällt sie nun doch hauptsächlich weibliche
Nervensysteme, und nicht männliche. Denn, so heisst es, nur das
unreife, unentwickelte Nervensystem, wie es die Frau hat, neigt
zur hysterischen Reaktionsweise. So wird die beobachtete Häufung
der Hysterie beim weiblichen Geschlecht zum Beweis für dessen
nervliche Minderwertigkeit - denn im Jahrhundert der Entwicklungslehre fallen Wertordnung und Entwicklungsreihe zusammen.
So wird der Glaubensdefekt der fe-mina des «Hexenhammers»
zum Intelligenzdefekt der Frau des 19. und 20. Jahrhunderts, zur
angeborenen Willensschwäche, zur Infantilität, zu Möbius’ physiologischem Schwachsinn des Weibes.
So wird die Hysterika zur Hexe. Der hysterische Charakter äussert sich anerkanntermassen in einer «... Neigung, alles auf sich zu
beziehen, ... Launen, ... Neigung zu Täuschungen und Lügen, ...
Züge von ausgesprochenem Neid, von kleineren oder grösseren
Bosheiten ...»56.
Emil Kraepelin (1856-1926) beschreibt die Hysteriker als «...
gleichgültig gegen fremdes Leid, rücksichtslos gegen ihre Umgebung ...», als «Virtuosen des Egoismus», die «nicht selten in unglaublichster Weise» ihre Umgebung «tyrannisiren und ausbeuten». Es charakterisiert sie ausserdem neben der «Gewohnheit, sich
in alle möglichen fremden Angelegenheiten unberufen einzumischen» und «zu intriguieren», die Neigung zu «Verdrehung von
Thatsachen, zur Lüge und Verläumdung», eine Neigung, «die eigene Person auf ein gewisses Piedestal zu setzen», eine «nimmer ruhende Unzufriedenheit [wie schon bei Plato], das ungemein anspruchsvolle Wesen», eine «schadenfrohe, kleinliche Rachsucht»
sowie ein «Hang, zu klatschen, zu schmähen, zu medisiren, ...
Aus Paul Julius Möbius: «Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-Unterschieden», Heft ►
«Geschlecht und Kopfgrösse», welches beginnt mit dem Satz «Der Umfang des... Kopfes
wächst ... mit den geistigen Kräften.» Die Umfänge wurden mit Hilfe eines Instruments
gemessen, welches die Hutmacher gebrauchten, um die Hutweite zu bestimmen.
42
43
durch welche Hysterische ... zum Schrecken der Ärzte und Anstalten werden können, welche mit ihrer Behandlung sich zu befassen
gezwungen sind».
Man kann sich beim Lesen der Kraepelinschen Beschreibung der
Hysteriker des Eindrucks kaum erwehren, dass Kraepelin anstelle
der Spitalbetten für die Hysteriker am liebsten Straflager oder
Scheiterhaufen substituiert hätte. Auch hat man unwillkürlich den
Eindruck, Kraepelin ziele mit dieser Beschreibung fast ausschliesslich auf weibliche Personen. Tatsächlich fügt er hinzu, dass die genannten Charakterveränderungen beim weiblichen Geschlechte
«eine viel grössere Ausdehnung und typischere Entwickelung» erlängen als bei der männlichen Hysterie57.
In späteren Auflagen seiner Psychiatrie mässigt Kraepelin seinen
Ton zu sachlicher klingender Ärztlichkeit. Weniger spitz, aber
nicht weniger scharf, richten sich nun seine Feststellungen gegen
die Frauen. Wie Francotte findet nun Kraepelin die Hysterie eine
«amplification de la mentalité féminine». Er stellt die Hysterie nun
in «enge Beziehungen zu den natürlichen, dauernden Eigentümlichkeiten des weiblichen Geschlechtes ...» Sie ist nämlich «eine Erkrankungsform des unentwickelten, naiven Seelenlebens». Hierauf
weisen der Umstand, dass viele hysterische Dienstboten aus ländlichen Verhältnissen stammen, und wiederum «die starke Beteiligung des weiblichen Geschlechtes» hin.
Wenn Männer hysterisch werden, so ist dies meist «auf Grundlage psychopathischer Minderwertigkeit», während «die Hysterie
der Frauen im allgemeinen mehr einer natürlichen Entwicklungsrichtung entspricht, unter Umständen auch einem Zurückbleiben
auf kindlicher Stufe ...»58. Es sind nach allgemeiner Ansicht nur
schlechte, nämlich «weibische (höflicher: weibliche) Männer»59, die
hysterisch werden können. «Ein Gelehrter, ein Verstandesmensch
kann ... niemals ein echter Hysterischer sein», schreibt Dubois.
Höchstens Männer mit «weibische[r] Gemütsart», worunter eine
«kindische Gemütsart» und «geistige und moralische Schwäche»
verstanden sind, werden auch seiner Ansicht nach hysterisch60.
Übrigens sollen, um auf Kraepelin zurückzukommen, die Juden
leichter hysterisch werden als die germanischen Völker61.
44
Wir haben die Werke von drei Autoren, Plato, Jorden, Kraepelin,
auf Zusammenhänge zwischen einer misogynen Haltung und der
Diagnose Hysterie hin etwas näher betrachtet. Es soll nun noch das
Werk eines vierten Autors, ein Feuerwerk von Misogynie, solcher
Betrachtung unterzogen werden: das des Otto Weininger (18801903)62.
Otto Weininger hat 1903, 23jährig, sein über 400 Seiten dickes
Buch «Geschlecht und Charakter, eine prinzipielle Untersuchung»,
herausgebracht. Weininger war Jude. Er war, während er sein Buch
schrieb, für unsere Begriffe und auch für diejenigen damals Lebender63 offensichtlich geisteskrank; nichtsdestoweniger hatte er seinerzeit grossen Einfluss auf die Gemüter. Sein Werk hat innerhalb von
zwei Jahren fünf Auflagen erlebt und dann noch weitere. Stefan
Zweig (1881-1942) war nur einer von den Tausenden, die Weininger
für ein Genie hielten64. August Strindberg glaubte, Weininger habe
«das schwerste aller Probleme gelöst» - «Voilà un homme!» rief er
über ihn aus65. Das Buch ist unter dem Einfluss der Möbiusschen
Schrift (Paul Julius Möbius, 1853-1907) «Über den physiologischen
Schwachsinn des Weibes» geschrieben worden66. Doch möchte
Weininger nicht, dass man seinen Standpunkt mit «den hausbackenen, und nur als tapfere Reaktion gegen die Massenströmung [gemeint ist die Emanzipation der Frau] erfreulichen Ansichten von
P. J. Möbius» verwechsle. Denn ihm scheint, das Weib sei nicht
schwachsinnig, da es eine regelmässige «Schlauheit, Berechnung,
,Gescheitheit‘» besässe zur «Erreichung naheliegender egoistischer
Zwecke». Es sei vielmehr «weder tiefsinnig noch hochsinnig, weder scharfsinnig noch gradsinnig, es ist vielmehr ..., so weit wir
bisher sehen, überhaupt... als Ganzes ...un-sinnig».
Folgendes Bild entwirft Weininger von der Frau: ihr Lebenszweck, ihr einziger, ist die Kuppelei. Ähnlich wie im Hexenglauben tritt die weibliche Geilheit in ihrer Gefährlichkeit für den
Mann wieder in den Vordergrund des Frauenbildes. Lust steht bei
der Frau, wo beim Manne Wert steht, Geschlechtstrieb, wo der
Mann liebt, Trieb, wo dem Mann Willen gegeben ist, Wiedererkennen statt Gedächtnis, Individuation statt der Individualität des
Mannes - «der tiefststehende Mann steht also noch unendlich hoch
45
über dem höchststehenden Weibe». Die Frauen haben keine Freiheit, keinen Unsterblichkeitsdrang, kein Ich. Weininger fragt sich,
ob die Frauen überhaupt Menschen seien, verneint die Frage, zählt
die Frauen aber auch nicht zu den Tieren oder Pflanzen. Sie sind
für ihn vor allem Nichts.
So mass Möbius den Schwachsinn des Weibes (vgl. Abb. S. 43). «Der ,Conformateur‘ oder
Kopfformer besteht aus einem Kranze von sechzig Tasten, die den Kopf umfassen und
durch Federkraft zusammengehalten werden. Am oberen Ende tragen die Tasten convergirende Drähte, die in Spitzen endigen, sodass die Anordnung der Spitzen ein verkleinertes Bild der Tasten-Stellung giebt. Beim Gebrauche wird der Tastenkranz wie ein Hut
auf den Kopf gesetzt, und zwar so, dass er den grössten Umfang des Kopfes fasst. Ist das
geschehen, so wird die Klappe, an deren unterer Fläche ein Stück Papier befestigt ist, niedergedrückt, und die Spitzen dringen durch das Papier. Die auf dem Papier entstehende
Figur wird die Reduction genannt; sie ist ein in die Länge gezogenes verkleinertes Bild
des Kopfumfanges. Will man aus der Reduction den wirklichen Kopfumfang finden, wie
es beim Hutmachen nöthig ist, so verfährt man folgendermaassen. Die Reduction wird
auf Pappe geklebt und ausgeschnitten, der Ausschnitt aber wird in die Nebenform gelegt,
d. h. auf einem Brettchen befestigt, das einen Kranz von horizontal verschieblichen Zapfen trägt. Jeder Zapfen ist fünf Centimeter lang, und sie werden von allen Seiten so an die
Reduction aus Pappe herangeschoben, dass dem Umfange dieser überall fünf Centimeter
zugesetzt werden. Ist dies geschehen, so werden die Zapfen in ihrer Lage durch Schrauben fixirt, die Reduction wird herausgenommen, und nun entspricht der äussere Umfang
des Zapfenkranzes dem Kopfumfange.»
46
Diese Nichtigkeit der Frauen ist es, was sie so rezeptiv macht.
Alles, was die Frau ist, ist sie durch den Mann. Die Frau ist so rezeptiv, dass sie selbst diese Rezeptivität verleugnen kann. So wird
es möglich, «dass die männliche negative Wertung der Sexualität
die positive weibliche vollständig im Bewusstsein des Weibes überdecke». So erhält das Weib vom Manne «eine zweite Natur, ohne
auch nur zu ahnen, dass es seine echte nicht ist, es nimmt sich ernst,
glaubt etwas zu sein und zu glauben, ... so tief sitzt die Lüge ...».
Hier wird nun die Hysterie ins Feld geführt. «Auf die Blosslegung des ‚psychischen Mechanismus‘ der Hysterie kann unendlich
viel, ja ... alles ankommen», schreibt Weininger bedeutsam. Er hält
die Hysterie nämlich für den Effekt der Kollision zwischen der eigentlichen kupplerischen nichtigen Natur des Weibes und ihrer
vom Manne übernommenen Pseudopersönlichkeit, welche «sie in
ihrer Passivität vor sich und aller Welt zu spielen übernommen
hat». Die Hysterie ist die «organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes».
Dass nicht alle Frauen hysterisch seien, obwohl ja doch alle verlogen seien, erklärt sich damit, dass es noch «Megären» gibt. Die
Megären, so nennt Weininger seine bösen Hexen, sind zwar auch
verlogen, aber nicht so nach innen hin wie die Hysterikerinnen.
Megäre oder Hysterika - das sind nach Weininger also die Möglichkeiten der Frau; Hexe oder Hysterika - das ist die Alternative der
Misogynie.
«Das Weib ist die Schuld des Mannes», schreibt Weininger, und in
gewisser Beziehung hat er wohl recht. «Die Juden sind die Schuld
des Ariers», hätte er auch sagen können. Denn er findet, vom bekannten Selbsthass der sozial benachteiligten Gruppen erfüllt,
grosse «Kongruenz» zwischen Juden und Frauen. Auch die Juden
sind Kuppler, lüsterne, geile, seelenlose nichtige Geschöpfe, ohne
Unsterblichkeitsbedürfnis, ohne Freiheit; «der echte Jude hat wie
das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert». Der Arier
ist von alledem das Gegenteil.
Sagte nicht auch Kraepelin, die Juden neigten zu Hysterie mehr
als die Germanen? «Trotz der abträglichen Wertung des echten Juden», fügt Weininger zu seinen Ausführungen ahnungsvoll hinzu,
47
«kann nichts mir weniger in den Sinn kommen, als... einer theoretischen oder gar einer praktischen Judenverfolgung in die Hände
arbeiten zu wollen. Ich spreche über das Judentum als platonische
Idee ...»67.
Weininger hat sich mit 23 Jahren erschossen. Ein Psychiater, der in
ihm kein Genie erblicken konnte und sein Buch als Unsinn betrachtete, hat bei ihm retrospektive eine Hysterie diagnostiziert.
«Darum konnte sich auch Möbius», schreibt er, «trotz alles Abscheus
vor dem Buche doch des Bedauerns nicht erwehren»68. Moebius hat
nämlich Weiningers Werk unter dem Titel «Geschlecht und Unbescheidenheit» kritisiert. Er hat nachgewiesen, «dass alles Tatsächliche bereits in seinem ,physiologischen Schwachsinn des Weibes’
und anderen seiner Schriften enthalten sei»69. - Heute würde man
bei Weininger wahrscheinlich eine paranoide Schizophrenie diagnostizieren. Weiningers Zehntausende von Lesern und der grosse
Neurologe Möbius aber sind nicht einfach geistesgestört zu nennen.
Die Einstellung gegen das weibliche Geschlecht, die sich Ende
des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet hat, gleicht
einem Massenwahn, speziell demjenigen, der den Hexenverfolgungen des 16./17. Jahrhunderts zugrunde gelegen hat. Die daraus erwachsene Verfolgung hat aber bekanntlich diesmal nicht die
Frauen, sondern die Juden getroffen. Die Juden glichen ja den
Frauen, sie neigten ja, wie diese, zur Hysterie.
Es ist über die soziologischen Ähnlichkeiten zwischen Hexenverfolgung und Judenverfolgung schon viel gesagt worden. Insofern
die Diagnose Hysterie auf eine bestimmte soziologische Situation
der Diagnostizierten hinweist, gehört offenbar auch sie zu diesen
Ähnlichkeiten.
Hysterie und Misogynie war unser Thema. Ich habe versucht, an
vier Beispielen aus der Geschichte, Plato, Jorden, Kraepelin und
Weininger, zu zeigen, dass, wo die Hysterie diagnostiziert wird, die
Misogynie meist nicht fern ist - ob sie nun durch die Diagnose
neutralisiert und verdeckt oder ausgedrückt werde.
Wenn es aber diese eine Korrelation gibt zwischen einer soziologischen Situation und einer psychiatrischen Diagnose, könnte es
nicht noch mehrere geben?
48
KRANKHEIT FRAU - AUS DER
GESCHICHTE DER MENSTRUATION
IN IHREM ASPEKT ALS ZEICHEN
EINES FEHLERS (1974/78)
I. MENSTRUATION
ALS ZEICHEN DER ÜBERFEUCHTUNG
UND UNTERWÄRMUNG DIE ANTIKE
«Schon Hippokrates hat erkannt», so könnte man klassisch-medizingeschichtlich beginnen, dass die Menstruation mit der Schwäche
des weiblichen Geschlechts in engstem Zusammenhang steht. Der
historischen Präzision halber muss allerdings gleich beigefügt werden, dass die sogenannte «Hippokratische Schrift» «Über die
Krankheiten der Frauen», welcher man dies entnimmt, nicht auf
Hippokrates selbst zurückgeht - die in den «Hippokratischen Schriften» zusammengefassten Werke gehen nur zum kleinsten Teil sicher auf ihn zurück. Nun, in dieser Schrift stellt sich die Menstruation als ein Ausdruck der weiblichen Konstitution dar. Diese ist
feuchter, weniger dicht, weniger stark als die des Mannes. Wie
lockere Wolle viel Nässe in sich aufsaugt, saugt sich das lockere
weibliche Gewebe mit vieler Flüssigkeit voll und übervoll - die
Menstruation ist, so besehen, ein regulatives Abtropfen des Überflüssigen. Sie zeigt an, dass der weibliche Körper sein humorales
Gleichgewicht verloren hat, zugleich behebt sie diesen Zustand im Symptom verbinden sich ja häufig Zeichen eines Leidens und
heilsame Reaktion darauf. Verhaltung der Menses bedeutet daher
Dekompensation: Frösteln, Rückenweh, Fieber, schleimiges Erbrechen, blutiger Urin, Tod. Bei einigen wird der verhaltene Blutfluss
nach zwei Monaten in die Lunge verschoben und die Kranke wird
schwindsüchtig. Das nichtevakuierte pathogene Blut kann sich
auch irgendwo lokal festsetzen und dort Geschwüre, Eiteransammlungen und Schwellungen machen, ein Glied lähmen, Krämpfe
49
verursachen. «Manchmal bilden sich auch Geschwüre in der Gebärmutter»70. Es ist anzunehmen, dass die Hippokratiker auch die
Amenorrhoe infolge organischer Veränderungen, etwa Cervixkarzinom, nicht für sekundär, sondern für primär angesehen haben.
Wie sie andrerseits auch Zwischenblutungen als Menstruationen
aufgefasst haben müssen.
Die hippokratische Lehre von der Menstruation muss natürlich
auf dem Hintergrund der antiken Humoralpathologie gesehen
werden, welche den menschlichen Organismus im wesentlichen als
ein Ensemble von Säften betrachtet. Gesundheit ist der Zustand des
Gleichgewichtes dieser humores, Krankheit, Dyskrasie, das Gegenteil - meist sind es Säfteüberschüsse, die dafür verantwortlich
sind. Die humoralpathologische Therapie besteht daher zu wesentlichen Teilen im Austreiben und Ablassen der pathogenen Säfte Schwitzen, Erbrechen, Abführen und Aderlass. Humoralpathologisch besehen ist die Frau an ihrer weiblichen Konstitution im
Grunde natürlicherweise krank, und ihre Menstruation hat den
Charakter eines regelmässigen natürlichen Aderlasses, der sie vor
den Folgen ihres Leidens bewahrt. Daher die «monatliche Reinigung».
Es ist der Vergleich mit dem Mann, der die Frau als nicht ganz
vollkommen erscheinen lässt. Im Vergleich mit der männlichen ist
die weibliche Konstitution feuchter, weniger dicht, weniger stark.
In ihrer Ergänzungsfunktion im Bezug auf den Mann allerdings ist
die Frau eben doch normal und richtig gebaut. Namentlich hat die
Frau dem Manne ja Kinder zu schenken - tatsächlich steht für die
Hippokratiker die Tatsache, dass die Frau überfeucht ist, im Dienst
der Fortpflanzung. In der Schwangerschaft nämlich wird ihr sonst
überschüssiges Menstrualblut für den Aufbau und die Ernährung
des Kindes verwendet71. Die Gefahren einer Menstruationsstörung
drohen denn auch vor allem Frauen, die keine Kinder gehabt
haben72.
Das Menstrualblut ist damit ein wesentlicher Zeugungsbeitrag
der Frau. Doch wird in der hippokratischen Schriftensammlung als
eigentlicher Zeugungsbeitrag ein «weiblicher Samen» angenommen73.
50
Bei Aristoteles wird das Menstrualblut klar zum eigentlichen und
einzigen Beitrag der Frau zur Herstellung eines Kindes - es wird
zum Analog des männlichen Samens. Allerdings zum etwas minderen Analog. Während der männliche Same Träger des in seinem
Wesen immateriellen, dynamischen, geistigen Prinzips der Form
ist, des eigentlichen schöpferischen Zeugungsprinzips (vgl. S. 116),
liefert die Frau in ihrem Menstrualblut lediglich die rohe Materie,
aus der das Kind gebildet wird74. Zweifellos wurzelt dieses Konzept
zum Teil in ackerbauerischen Erfahrungen. Wie die Frucht des Feldes fraglos dem Bauern und nicht dem Acker gehört und wie er
bestimmt, was da wachsen soll, gehört das Kind dem Vater - der
Vater bestimmt Namen, Art und Aussehen des Kinds. So ist das
Kind nach Aristoteles im Prinzip eine einfache Replika des Vaters:
ein Knabe, der genau so aussieht wie er. Wenn das Kind nicht dem
Vater gleicht oder gar ein Mädchen ist, ist das die missgeburtsartige
Folge einer Abbremsung des väterlich-schöpferischen Impulses
durch die rohe, kalte Materie des Menstrualblutes75. Denn die Qualität «kalt» kommt diesem auch bei Aristoteles zu. Dass das Menstrualblut rot ist und nicht hell wie der männliche Same, hängt
nach ihm wiederum mit der weiblichen Konstitution zusammen.
Die Frau ist «kälter» als der Mann. «Kälte» bedeutet dabei nicht
eine mit dem Thermometer gemessene, nicht eine messbare Temperatur, sondern eine Grösse abstrakt-philosophischer Natur, zunächst einmal das Gegenteil von Wärme. Wärme aber war mit
Feuer, Kraft, Leben und einem hohen Wertbegriff assoziiert76.
Wärme hatte ihren Hauptsitz und Ausgangspunkt im Herzen, das
nach Aristoteles das erste und wichtigste Organ des ganzen Körpers
und Sitz der übergeordneten Seele war77. Wärme war die wichtigste Antriebskraft des physiologischen Funktionierens - dem entspricht der Umstand, dass die Antike physiologische Vorgänge mit
Vorliebe nach dem Modell des Kochens deutete, was wieder im
Zusammenhang damit steht, dass der Verdauungsapparat die eigentliche Achse der Physiologie war, ähnlich wie mit dem späten
18. und 19. Jahrhundert das Zentralnervensystem zum «Rückgrat»
der Physiologie und übergeordneten Organsystem wurde. Jede
Zeit tendiert dazu, die Lebensvorgänge entsprechend ihrer Techno51
logie zu deuten: im späten 18. und 19. Jahrhundert haben die sich
selbst bewegenden und dem Menschen gehorchenden Maschinen
dem physiologischen Denken Modell gestanden, in der Antike waren es die Vorgänge in Küche und bäuerlichem Betrieb: Gerinnung, Gärung und vor allem das Kochen. Wie man durch Kochen
rohes Material zu feinen Gerichten verarbeitete, so verarbeitete der
menschliche Organismus kraft seiner Wärme die aufgenommene
Nahrung zu Feinerem; zu Säften und Geweben. Wenn die Frau
nun infolge ihrer Kälte beziehungsweise ihrem Mangel an Wärme
statt hellen Samens rotes Menstrualblut hervorbrachte, so war das
im Grunde Zeichen eines physiologischen Mangels. Ihr Organismus, namentlich Leber und Venen, war unfähig, die aufgenommene rohe Nahrung so gut durchzukochen und zu vervollkommnen wie der des Mannes. Dies erscheint um so einleuchtender, als
Aristoteles umgekehrt den männlichen Samen als hämatogen, d. h.
in den Blutgefässen hergestellt, betrachtete. Aristoteles setzt kontinuierliche Übergänge zwischen Venen und Samenkanälen voraus, die der kontinuierlichen Verarbeitung des roheren Blutes zum
Feinsten, dem männlichen Samen, dienen. Nach sexuellen Exzessen
nimmt dieser daher bisweilen blutartigen Aspekt an78. «Somit ist
die Frau eine Art zeugungsunfähiger Mann. Denn Weibchen sein
bedeutet eine gewisse Schwäche, weil es nicht imstande ist, aus der
letzten Nahrungsstufe Samen ausreifen zu lassen. Diese Stufe ist
Blut ... und der Grund ist die Kälte des Wesens. Wie nun in den
Gedärmen bei Verdauungsstörungen der Durchfall entsteht und in
den Adern sonstige Blutflüsse, so ist auch der Monatsfluss aufzufassen. Auch dieser ist ein Blutfluss. Aber» - Aristoteles scheint sich
von der Idee distanzieren zu wollen, dass man die Menstruation
mithin als Krankheitssymptom aufzufassen habe - «Aber während
jene krankhaft sind, ist dieser natürlich»79. Dies wieder passt zu
Aristoteles’ Auffassung der Frau als Missbildung bzw. Mindergeburt, die aber aus Gründen der Arterhaltung unentbehrlich sei80 Auffassung, die das Abendland in zahllosen Modifikationen und
Ausformungen weiter gepflegt hat81.
Soranus von Ephesus (vgl. S. 12) hat der Frage nach der Nützlichkeit der Menstruation ein ganzes Kapitel gewidmet, in welchem er
52
auch die Krankhaftigkeit der Menstruation als solcher diskutiert. Er
lehnt die humoralpathologische Auffassung der Menstruation als
Reinigung ab mit dem Argument, die Natur hätte das Entstehen
überflüssiger Stoffe im weiblichen Körper durchaus vermeiden
können. Auch die Rückführung der Menstruation auf widernatürliche Ulzerationen in der Gebärmutter weist er zurück. Seiner
Meinung nach ist die Menstruation Voraussetzung der weiblichen
Fruchtbarkeit, doch schadet sie der Frau, denn nichtmenstruierende, männliche Frauen pflegen sehr robust zu sein und
junge Mädchen geniessen die strahlendste Gesundheit82.
II. MENSTRUATION ALS ZEICHEN
VON BOSHEIT UND GIFTIGKEIT MITTELALTER UND RENAISSANCE
Im Mittelalter, wo die Begriffe von Krankheit und Sünde besonders eng und bisweilen bis zur Identifikation assoziiert werden,
nimmt die Menstruation - wie die Pflicht der Frau, in Schmerzen
zu gebären (vgl. S. 16, 18, 19), Züge einer Folge der Versündigung
an. «Wenn ein Weib den Monatsfluss hat«, so steht es schon in
Mose 3, 15, 19-33, «so bleibt sie sieben Tage lang in ihrer Unreinheit, und jeder, der sie berührt, wird unrein bis zum Abend. Auch
alles, worauf sie während ihrer Unreinheit liegt, wird unrein, und
alles, worauf sie sitzt, wird unrein.» Wer irgendetwas berührt, womit sie in Berührung gekommen ist, wird unrein. «Wenn aber ein
Weib den Blutfluss lange Zeit hindurch hat, nicht zur Zeit ihres
Monatsflusses ..., so ist sie während der ganzen Zeit ihres unreinen
Flusses unrein ... Wenn sie aber rein geworden ist von ihrem
Flusse, so soll sie sieben Tage zählen; darnach gilt sie als rein. Und
am achten Tage nehme sie zwei ... Tauben und bringe sie zum
Priester ...; der Priester aber soll die eine als Sündopfer und die andre als Brandopfer darbringen, und so soll ihr der Priester Sühne
schaffen vor dem Herrn wegen ihres unreinen Flusses. So sollt ihr
die Israeliten von ihrer Unreinheit befreien, damit sie nicht um ihrer Unreinheit willen sterben ... Das ist das Gesetz über den, der an
einem Fluss leidet, und über den, der einen Samenerguss hat, sodass
53
er dadurch unrein wird, und über die, welche am Monatsfluss leidet ...»83. Dieser Text enthält neben der Beschreibung der Unreinheit der Menstruierenden den deutlichen Hinweis auf die Unschärfe der Grenze zwischen normaler, regelmässiger Menstruation und
einer genitalen Blutung, die man heute als Symptom einer Krankheit auffassen würde. Ferner gibt er am Schluss die Analogie von
Monatsblutung und Samenerguss, Analogie, in deren Licht die
Menstruation deshalb als Sünde erscheint, weil sie in den Dienst
der Fortpflanzung gestelltes Material nutzlos verschüttet.
Wie aber ein Symptom Zeichen einer Krankheit und zugleich
Ausdruck einer Selbstheilungstendenz sein kann, kann das Sündenmal auch zugleich Strafe und damit einen Schritt in Richtung der
Versöhnung bedeuten.
Unter den Schriften der Hildegard von Bingen (1098-1179), einer
Äbtissin, die mit sehr vielen massgebenden Persönlichkeiten ihrer
Zeit brieflich und persönlich verkehrte, hochangesehen, einflussreich und repräsentativ für ihre Zeit - unter den Schriften dieser
Frau also befindet sich auch eine medizinische: «causae et curae».
Diese belegt uns das Verfliessen von Sündenmal, physischem Makel
und reinigender Strafe im Begriff der Menstruation in recht typischer Weise. «Als der Fluss der Begierde in Eva eingezogen war»,
heisst es da, «wurden alle ihre Gefässe dem Blutstrom geöffnet. Daher erlebt jede Frau bei sich stürmische Vorgänge im Blute, so dass
sie, ähnlich dem Ansichhalten und Ausfliessen des Mondes, die
Tropfen ihres Blutes bei sich behält und vergiesst ... Denn wie der
Mond zu- und abnimmt, werden beim Weibe Blut und Säfte während der Zeit des Monatsflusses gereinigt. Andernfalls würde es
nicht am Leben bleiben können, weil es reicher an Flüssigkeit ist
wie der Mann, und in schwere Krankheit verfallen ... Alle Gefässe
des Weibes würden unversehrt und gesund geblieben sein, wenn
Eva allezeit im Paradiese verblieben wäre.» Der Straf- und Sühnecharakter der Menstruation äussert sich auch darin, dass nach
Hildegard «in dieser Zeit das Haupt des Weibes krank, seine Augen
matt und sein ganzer Leib schwach» wird84. Die religiöse These
vom Ursprung der Periode aus Evas Sünde, kommentiert Paul
Diepgen, war keineswegs eine Privatmeinung der heiligen Hilde54
gard, sondern eine allgemeine Überzeugung der im Mittelalter tonangebenden Gelehrten, der Theologen85. Und sie hat bis weit in die
Neuzeit hinein, sogar in nicht-säkularisierter Form, fortgelebt.
Noch im 17. Jahrhundert schreibt ein wiederum repräsentativer
Autor, der Iatrochemiker Johann Baptista van Helmont aus Brüssel:
«Will man aber nach der Ursache dieser Blödigkeit fragen» - er
nennt die Menstruation «monatlichen Zoll» oder «monatliche Blödigkeit» - «so ist gewiss, dass die Eva nach der Essung des verbotenen Apffels sich den (sic!) Kützel der geylen Lust unterwürffig gemacht, auch den Mann zur fleischlichen Vermischung angereitzet
und zugelassen: Daher die hiervon empfange Menschliche Natur
ins Verderben gerathen, und fortan in solcher Unart geblieben: um
welches Verderbens willen die Nachkommen der vorigen unvergleichlichen Reinigkeit beraubet worden. Dannenhero die Vermuthung entstehet, dass Eva ... das Zeugnüs auf alle ihre Nachkommen bringen müssen, wie nicht nur sie gefallen, sondern diese
Schuld ... auch auf die ihrigen gerathen, und dieselben dieser blutigen Verunstaltung an ihrer Natur entgelten müssen. ... Solcher Gestalt nun ist dieser Fluch in die Natur eingegangen und wird auch
so bleiben. Und um eben dieser Ursache willen ist auch die Nothwendigkeit dieser Monathlichen Schwachheit entstanden. ... Dannenhero möchte man aus dem bisshero gemeldeten diesen Schluss
machen: dass die unvergleichliche Mutter Christi, ... weil sie niemahlen keine Verderbung bey sich statt finden lassen, folglich auch
nie dieser Monathlichen Blödigkeit unterworffen gewesen ...»86.
Die Lehre von der Menstruation als Sündenmal klingt auch in jener Ansicht eines iatrochemisch interessierten späteren Autors nach,
über die Müller-Hess in seiner überaus reichhaltigen Arbeit berichtet, nach welchem «das menstruationserregende Ferment in dem
Apfel der Eva enthalten gewesen sei»87.
Die Sünde ist in diesem Zusammenhang engstens mit der Sexualität assoziiert - wobei auf Eva eine doppelte Last zu liegen kommt:
die der eigenen Sexualität und dazu noch die derjenigen Adams,
denn sie ist die Verführerin - und gleichsam zur eigenen Entlastung
scheint Adam dann Evas Menstruation als gerechte Strafe zu empfinden.
55
War die Menstruierende unrein und sündig, so leuchtete es ein,
dass die von ihr abgeschiedene Materie ein Gift sein müsse - wobei,
da das Mittelalter aus materieller und geistiger Schädlichkeit
keinen Gegensatz machte, der Giftbegriff mit dem Begriff des bösen Zaubers verfloss. Die Auffassung des Menstrualblutes als Gift
hat seine antiken Wurzeln in der Naturgeschichte des Plinius (Gaius
Plinius Secundus, 23-79 n. Chr.). Es kann nichts Bemerkenswerteres
gefunden werden als der Fluss der Frauen, heisst es da. «Denn Wein
so im Most ist, machet er zu seiner Zeit sauer, die Früchten angegriffen welck, was gepflantzet verdoret davon. Er verbrennet das
Gewechs der Gärten, die Frücht an den Böumen thut er abfallen.
Der Widerschein der Spiegel wirt dardurch verduncklet, das Eisen,
so es gleich wol gescherpffet, wirt stümpff, des Helffenbeins Weisse
gelb. Es sterben davon die Immen in ihren Stöcken, und verrostet
gleich was er berüret. So ihnen die Hund schlecken, werden sie unsinnig, unnd ist kein Artzney für derselbigen Hund Biss. ... Und
dise gantz beschwerliche kranckheit kömmet alle malh in dreissig
Tagen ... Ettliche haben ihn mehr ... ettliche gar nimmer. Aber
dieselbigen sind unfruchtbar»88. Auch Aristoteles kennt das Phänomen, dass sich in Anwesenheit Menstruierender Spiegel trübten.
Diese Wirkung wird für ihn durch den Blick vermittelt. Aristoteles
erkennt dem Sehorgan einige eigene Strahlkraft zu, und diese äussert sich im Fall der fiebrigen Störung des Bluts der Menstruierenden am blanken Spiegel durch roten Beschlag89. Die Giftwirkung
des Menstrualblutes wird hier zum bösen Blick. Der böse Blick der
Menstruierenden und die Giftwirkung des Menstrualblutes waren
dem Mittelalter geläufige Dinge. Den bösen Blick findet man bei
Albertus Magnus (1193-1280)90, bei Konrad von Megenberg (13091374) verursacht er die Pocken91. Eine Viermeisterglosse zur salernitanischen Chirurgie des Meisters Roger Frugardi (2. Hälfte des
12. Jh.), die nach der Mitte des 13. Jahrhunderts in Südfrankreich
entstanden sein soll, rät dem Chirurgen, vor der Trepanation die
Unterhaltung mit menstruierenden Frauen zu vermeiden, weil solche die Wundheilung gefährden92. Volksmedizinische Traditionen
spielen zweifellos in diese Lehren hinein. Ausserdem dürfte die sogenannte «arabische Rezeption», im Verlaufe derer das Abendland
56
die von den Arabern speziell gepflegten Wissenschaften wie Alchimie, Pharmazie, Toxikologie - orientalische Wissenschaften, die zu
wesentlichen Teilen aus Persien, Indien und dem noch ferneren
Osten kommen - so gut wie möglich integrierte, das chemisch-toxikologische, laboratoriumstechnische Verständnis der Menstruation genährt und den Giftcharakter des Menstrualbluts hervorgehoben haben. Der «Fasciculus Medicinae» des Johannes von Ketham, ein
früher medizinischer Druck von 1491, antwortet auf die Frage,
wieso der Blick der Menstruierenden den Spiegel trübe, die giftigen Menstruationsdämpfe stiegen eben in den Kopf und suchten da
einen Ausgang. Deshalb auch verschlimmere sich das Kopfweh der
Menstruierenden durch Tragen eines Schleiers. Dass diese Dämpfe gerade durch die Augen entwichen, hänge mit deren Porosität zusammen, heisst es weiter. Und es wird auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die sich daraus ergibt, dass die Augen damit
auch Eingangspforten für das von Menstruierenden Ausgestrahlte
sind. Wieso sich die giftigen Frauen nicht selbst vergiften? fragt der
Text auch - und antwortet: weil sie sich an das eigene Gift gewöhnt haben93.
War die giftige Frau zu meiden, so war auch das Gift selbst zu
fürchten. Der an sich alte Giftcharakter des Menstrualbluts tritt in
der Renaissance vermehrt hervor. In der Renaissance - die wissenschaftliche Renaissance fällt ins späte 15. und 16. Jahrhundert - akzentuiert sich ganz allgemein das wissenschaftliche Interesse am
Phänomen Gift. Das Bekanntwerden neuer Gifte aus der Neuen
Welt mag dabei seine Rolle gespielt haben, die spektakulären Giftaffären an päpstlichen und weltlichen Höfen - Medici und Borgia eine andere94. Zum allgemeineren Hintergrund des speziellen toxikologischen Interesses der Renaissance gehört wohl deren Antiarabismus, der die Angst vor der orientalischen Giftkunde erhöhte
und wohl zuweilen auf die gesamtenchemisch-pharmazeutischen
Wissenschaften den Schatten der Giftmischerei war95. Ferner
haben ja bekanntlich in der Renaissance, im Zusammenhang mit
Religionswirren und Wertunsicherheiten, die Hexenverfolgungen
ihren grossen Aufschwung genommen. Wie weit auch hier anti57
arabistische Tendenzen hineinspielten, wäre abzuklären. Jedenfalls
bestehen alte Beziehungen zwischen Frau und Giftmischerei; schon
in der klassischen Antike war die Vergiftung ein klassisch weibliches Delikt. Von der Küche zum Hexenkessel haben die Frauen
durch die Jahrhunderte von ihrer zum grossen Teil wohl durch die
Tradition des Frauengeflüsters übermittelten Giftkunde Gebrauch
gemacht, ihrem stummen Zorn Genüge zu tun. So fürchtete man in
der Hexe nicht nur die böse Zauberin und Teufelshörige, sondern
auch die Giftmischerin, um so mehr als Zaubern und Giftmischen
bis ins 17. Jahrhundert hinein fliessend ineinander übergingen und
über weite Strecken identisch waren. Wenn Hieronymus Cardanus
(1501-1576) in seinen berühmten Büchern über die Gifte als Kennzeichen des Giftes die Unbekanntheit seiner Wirkungsweise angibt96, ist «Gift» und «Zauber» sozusagen zum Vornherein nicht differenziert. Cardanos Giftbegriff verschwimmt aber auch mit den
Begriffen der Infektion und der rätselhaften akuten inneren Krankheit bzw. der akuten endogenen Vergiftung - in unserem Zusammenhang denkt man da an die altehrwürdige Selbstvergiftung an
verhaltenem Menstrualblut. Zur Assoziation von Frau und Gift gehört natürlich ausser der Hexe auch die Sexualität. Ob es sich dabei
um die männliche oder die weibliche Sexualität handelt, ist wohl
nicht auszumachen; jedenfalls ist die Literatur, die ja bis vor kurzem so gut wie gänzlich aus männlicher Feder stammte, voll der
mannigfaltigsten Zusammenhänge zwischen Frauen, Hexen, Giften
und sexueller Verführbarkeit der Frau, weiblicher Abhängigkeit
von der eigenen Sexualität, sexuellen Enttäuschungen, Frustrationen, Rachegelüsten und weiblicher Beherrschung der sexuellen
Materie samt Verführungskunst. Der böse Blick, der meist Frauen
eigen ist97, gehört natürlich in diesen Zusammenhang.
All dies gehört zum speziellen Hintergrund des speziellen Interesses der Renaissance am Menstrualblut. Nach Paracelsus (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, 1493-1541) ist das Menstrualblut der «stercus matricis wie der
merda ist stercus stomachi»98 - ein Unflat, «dem kein Gift auf Erden
gleichen mag, schedlicher und strenger»99. Menstrualblut gehört zu
den Ursachen von allerlei Krankheiten - der «Franzosen»100, der
58
Lepra101 und der Pest102, nach Laurentius († 1609) auch der Masern
und der Pocken103. Der Arzt und Botaniker Petrus Andreas Matthiolus (1500-1577) weiss, dass man vom Trinken von Menstrualblut,
speziell demjenigen galliger und zänkischer Frauen, wahnsinnig
werde. Viele böse und giftige Weiber («maleficae veneficaeque
mulieres» haben dazu noch die dämonologische Dimension) verabreichen solches, von Kakodämonen verführt, ihren Gatten oder
anderen Menschen, die sie hassen104. «Sanguis menstruus corrumpit
sanguinem, et generat amorem heroicum», das Menstrualblut verdirbt das Blut und ruft die Liebeskrankheit hervor, schreibt Cardano
in seinen Giftbüchern105. Damit stellt er die Beziehung des Menstrualbluts zum Liebestrank bzw. Liebeszauber (Philtrum) her. Das
Philtrum, ein aktuelles Thema der medizinischen Literatur der Renaissance, ist ein Gift oder Zauber, das Liebe herzustellen vermag,
und zwar Liebe zu einer ganz bestimmten Person. So kann das
Philtrum auch Ursache der unfreiwilligen «Liebeskrankheit» werden, die der Renaissance so wohlbekannt war106. Es pflegt aus sehr
verschiedenen materiellen und magisch-dämonischen Dingen zusammengemischt zu sein; das Menstrualblut aber, so schreibt Birchler, «gehört zu den meist gebrauchten Liebestrank-Ingredienzien»107. In seinem Aspekt als wesentlicher Bestandteil des Philtrums
sieht man das Menstrualblut in geradezu paradigmatischer Weise
das materielle Gift und den immateriellen Zauber in sich vereinigen, wobei der Hexenzauber nahtlos in den Zauber der schönen
Frau übergeht. Die Betrachtung der Frau als ein sozusagen physiologischerweise innerlich vergiftetes, gifthaltiges, auf psychischer
Ebene zänkisches, giftiges («die Giftspritze») Wesen erscheint in
diesem Zusammenhang dann als die andere Seite der Medaille ihrer
Liebenswürdigkeit.
Im 17. und 18. Jahrhundert werden die alten humoralpathologischen und toxikologischen Ideen um das Menstrualblut vermehrt in
chemisch-biochemische Deutungen gefasst. Die iatrochemischen
Autoren des 17. Jahrhunderts lieben es, die Menstruation als Ausdruck fermentativer Vorgänge im Geblüt zu betrachten. Dabei
wird einerseits der Anschluss an die humoralpathologische Tradition hergestellt, andrerseits - fortschrittsgeschichtlich besehen - der
59
Nachklänge der alten Gift- und Säftelehre.
Weg in Richtung des endokrinologischen Gedankens gewiesen.
Heydentryk Overkamp (1651-1693), Arzt in Amsterdam, nimmt an,
dass fermentative Vorgänge in den Graafschen Follikeln (Regnier de
Graaf, 1641-1673) dadurch, dass sie sich auf das gesamte Blut übertragen, die Menstruation verursachten108. Gegen Ende des Jahrhunderts datiert jene Idee vom menstruationserregenden Ferment in
der Frucht vom Baum der Erkenntnis109. Nachdem durch Lavoisiers
Forschungen (Antoine-Laurent Lavoisier, 1743-1794) der chemische
Gedanke in der Medizin neu aktualisiert worden war, kam im frühen 19. Jahrhundert die Auffassung der Menstruation als Akt der
Ausscheidung eines Übermasses an «Kohlenstoff» aus dem - wiederum besonders bedrohten - weiblichen Organismus auf110.
Aber auch die eigentliche Giftigkeit des Menstrualblutes hat fortbestanden, und bis in unser Jahrhundert hinein. Man sprach jetzt
von «Menotoxin». «Man darf wohl annehmen», schreibt Ludwig
Fraenkel (1870-1953) 1924, «dass es diese erwähnten Giftstoffe
[Schwefel, Kalk usw.] sind, deren sich der Organismus entledigen
muss ... Das mit dem Menstrualblut zur Ausscheidung gelangende
Gift, als Menstruationsgift oder Menotoxin bezeichnet, soll... auch
in ... sonstigen Ausscheidungen» vorhanden sein. «Neuerdings hat
sich Schick mit dieser Angelegenheit beschäftigt und behauptet, dass
kaum aufgeblühte Rosen, die eine menstruierende Frau zehn Minuten lang in der Hand ... hielt, nach einigen Stunden zugrunde
gingen»111.
60
III. MENSTRUATION ALS FOLGE
EINER ZIVILISATORISCHEN
FEHLENTWICKLUNG 18. UND FRÜHES 19. JAHRHUNDERT
Das 18. Jahrhundert hat entdeckt, dass die Menstruation Folge eines
Zivilisationsschadens sei. Mit Rousseau (Jean-Jacques Rousseau, 17121778) hat das 18. Jahrhundert, sozusagen als Ausgleich für seinen
Vernunftglauben und Zivilisationsoptimismus, einen gewissen Zivilisationspessimismus gepflegt und in diesem Zusammenhang sich
darauf geeinigt, dass die Menschheit einen wesentlichen Teil ihrer
Leiden ihrer Entfernung von der Natur (daher «zurück zur Na61
tur!») verdanke. Die Menstruation war in diesem Sinne Folge des
allzu-üppigen Lebensstils - zu vieles Herumsitzen, zu vieles Essen,
was vor allem von Frauen nicht durch harte körperliche Arbeit
und Ertüchtigung kompensiert wurde - ferner Folge einer allzu
strengen, unliberalen Sexualerziehung, die wiederum speziell den
Frauen zu Schaden gereichte.
So schreibt Samuel Schaarschmidt (1709-1747), es sei «die Vollblütigkeit bey dem weiblichen Geschlechte die Ursach ihrer monatlichen Reinigung». Eine Vollblütigkeit aber «erfolget, wenn man
mehrere Nahrungs-Mittel zu sich nimmt, als ... nöthig; und wenn
man dabey weniger Bewegung hat, als zu Verzehrung des Uberflüssigen nöthig ist ... Bey Menschen macht die Lüsternheit, und
die Kunstgriffe, so man bey Bereitung derer Speisen zu Reitzung
des Appetits anwendet, ... dass sie insgemein mehr essen, als der
wahre natürliche Hunger erfordert; und die Gemächlichkeit ...
verhindert, dass ... Frauenzimmer sich ... genugsame Bewegung
machen; daher es denn auch kommt, dass bey denen wenigsten ...
die natürlichen Auswürffe so von statten gehen, als sie billig solten.
Keinen dieser Umstände wird man bey denen Thieren gewahr ...
so können sie ja auch nicht vollblütig werden» - deshalb menstruieren sie nicht112. Die Idee, die sexuelle Zurückhaltung, die vor
allem der Frau durch die Gesellschaft auferlegt werde, sei die eigentliche Ursache der Menstruation, kommt im Ausspruch eines
gewissen Heinrich Nudow (geb. 1752) von 1791 zum Ausdruck, welcher sagt: «Im wahren Ideal des Weibes findet kein Monatsfluss
statt»113, und in Lorenz Okens (1779-1851) Erklärung, die Periode
komme zustande infolge der «fortdauernden Aussetzung der Empfängniss». «Sie, ... Product der Eingeschränktheit des Geschlechtstriebes, erbte sich von der Mutter zur Tochter fort, da auch dieser
der Geschlechtsgenuss versagt, und meistens jahrelang versagt
wurde, ungeachtet die Natur des zur vollständigen Ausbildung gediehenen Weibes es forderte. ... Die ersten Generationen des
weiblichen Geschlechts waren sicher von diesem Blutflusse befreit
...»114.
Die Wurzeln der aufklärerischen Auffassungen der Menstruation
als Ausdruck eines Zivilisationsschadens sind zum Teil alt. Schon
62
Soran diskutierte das zu viele Essen und zuwenig Arbeiten der
Frauen als Ursache der Menstruation115. Dass die Menstruation die
Folge des aufrechten Ganges sei, war eine Idee schon der sogenannten Iatrophysiker des 17. Jahrhunderts, welche Lebens- und Krankheitsphänomene mechanisch-physikalisch zu deuten liebten, in
demselben Zug der naturwissenschaftlichen Begründung der medizinischen Wissenschaften, der auch die sogenannte Iatrochemie jener Zeit hervorrief. Die Iatrophysiker leiteten die Menstruation
bald von einer Feuchtigkeitsretention im weiblichen Organismus
infolge der besonders dicken Haut der Frau her, bald von erhöhtem
Druck in den Uterusgefässen infolge von deren speziellem Bau und
einer Blutüberfülle (die Plethora ist ein altes pathogenes Prinzip
der Säftelehre), bald eben von einem übermässigen Druck der
Blutsäule auf die Unterleibsorgane infolge des aufrechten Ganges,
Druck, der speziell die schwachen weiblichen Gefässe zum Bersten
bringe116.
Ein Novum des 18. Jahrhunderts scheint indessen die Idee von
der durch fehlerhafte Erziehung unterdrückten weiblichen Sexualität zu sein. Dies hängt mit der aufklärerischen Hochblüte des liberalen Gedankens zusammen, die sich auch in einem ausgesprochenen, wenn auch noch nicht in breiterem Masse praktizierbaren
sexuellen Liberalismus äusserte. In dieser Sicht ist der sexuelle Verkehr ein Tauschgeschäft zum Vorteil beider und hat die Behinderung der Frau an der Realisierung ihrer Wünsche den Charakter
einer Behinderung der freien Wirtschaft und damit des Vergehens
gegen das höhere Wohl der Gesellschaft.
IV. MENSTRUATION ALS ÄQUIVALENT
VERBRECHERISCHER TATEN DIE FORENSISCHE PSYCHIATRIE
DES FRÜHEREN 19. JAHRHUNDERTS
Auch im Bereich der Rechtspflege zeichnet sich im späteren 18.
und frühen 19. Jahrhundert eine Liberalisierung ab. Namentlich
auch Frauen gegenüber wird das mildere Urteil gepflegt, zum Teil
63
mit forensisch-medizinischen Argumenten. Der Kindermord spielt
bei der Entwicklung dieser Milde eine kristallisationskernartige
Rolle. Bevölkerungspolitische und humanitäre Überlegungen stützen sie. Es wird argumentiert, die weiblichen Schwächen - physisch wie psychisch - seien die Voraussetzung dafür, dass die Frau
ihre gesellschaftliche Rolle als Gattin und Mutter erfüllen könne,
und wenn eine Frau infolge dieser Schwächen straffällig werde, sei
das Urteil deshalb fairerweise zu mildern. Diesem Gedankengang
lag ganz allgemein die aufklärerische Assoziation von Gesundheit,
Kraft und Tugend beziehungsweise Bosheit als Ausdruck eines Leidens zugrunde. In diesem Zusammenhang begann nun auch die
Menstruation forensisch neu zu interessieren. Bis dahin war sie in
der Gerichtsmedizin höchstens als Entschuldigungsgrund im Bezug
auf die eheliche Pflicht und allenfalls auf die Folter vorgekommen.
Jetzt wurde sie als Leiden im Dienst von Familie und Vaterland zur
Basis gewisser Privilegien.
Bei dem Pionier der französischen Gerichtsmedizin und -psychiatrie, Francois Emmanuel Fodéré (1764-1835) figuriert sie im Jahr 7
der Französischen Revolution erst als Hafterleichterungsgrund117. In
der romantischen Frühzeit der deutschen Gerichtspsychiatrie aber
tritt sie in Zusammenhang mit den Wurzeln gewisser Delikte und
gewinnt damit die Züge einer naturalistischen Entschuldigung krimineller Taten.
Zunächst allerdings ist es vor allem die pubertäre Umwälzung,
die berücksichtigt wird. Das Einsetzen der Menstruation in der Pubertät ist nur eines der Zeichen dieser kritischen Zeit - ein anderes
ist das Auftreten des Sexualtriebes. Die leisesten Störungen können
in den Entwicklungsjahren zu den merkwürdigsten Triebentgleisungen führen, namentlich kann eine gestörte Menstruation einen
Trieb zum Brandstiften mit sich bringen. Dies beschäftigte die Autoren - speziell die deutschsprachigen - des früheren 19. Jahrhunderts stark. Tatsächlich scheint die Brandstiftung durch junge Mädchen in jener Zeit speziell in den deutschen Landen ein erhebliches
soziales, juristisches und psychologisches Problem gewesen zu sein,
um so mehr als die Brandstiftung damals zu den am härtesten ge64
ahndeten Delikten - Todesstrafe - gehörte118. Andrerseits scheint
das seinerzeitige Interesse an der Pubertät auch vom romantischen
Interesse an der Metamorphose sich genährt zu haben.
Ernst Plattier (1744-1818), der Schöpfer des in der Praxis, Theorie
und Geschichte der forensischen Psychiatrie so wichtig gewesenen
Begriffs der «amentia occulta», des «versteckten Wahnsinns»
(1797), gibt im zweiten seiner beiden berühmt gewordenen Artikel
über diesen Gegenstand die Geschichte einer Brandstifterin wieder:
«Ein Mädchen auf dem Lande, noch nicht völlig 17 Jahr alt, legt
zweimal in dem Gehöfte ihres Dienstherrn Feuer an ... Dabei war
sie so begierig auf das Feuer, dass sie, als dasselbe allmälich zum
Ausbruche kam ... in eine Art von angenehmer Erwartung gerieth
...» Dieses Mädchen hatte keinerlei Zwist gehabt mit ihrem Dienstherrn noch irgendein «deutliches Zeichen von Wahnsinn verrathen
... Aber ihr körperliches Übelbefinden war ausser allem Zweifel»,
denn sie litt an epileptischen Krämpfen, «und von den Anfällen
dieser Krankheit wurde sie dann um so heftiger heimgesucht, wenn
sie in die Zeit fielen, wo ihre Regeln bevorstanden. Denn dieses
Ankämpfen zweier sich entgegengesetzter Anstrengungen quälte
und peinigte das Mädchen auf bewundernswürdige Weise; dies
war ihr gerade wenige Tage vor dem Anlegen des Feuers begegnet.» Die medizinische Fakultät zu Leipzig nahm Zusammenhänge
an zwischen der Tat dieses Mädchens und ihren Krampfleiden und
Menstruationsverhältnissen und befand, «es stehe ... nicht ... zu behaupten, dass die Inquisitin, ihrer körperlichen Beschaffenheit
nach, zu den Zeiten, als sie Feuer angelegt, den freien Gebrauch ihres Verstandes gehabt habe»119.
Friedrich Benjamin Osiander (1759-1822) hat die Brandstiftungstendenz junger Mädchen mit deren hämatologischer Situation in engste Beziehung gebracht. Junge Mädchen sind von einer übermässigen «Venosität» beherrscht. «In dieser Venosität ist ... eine besondere ... Eigenschaft der Seele in den Entwickelungsjahren des
weiblichen Geschlechts begründet, nemlich die Feuerlust, oder der
Hang Feuer anzulegen120 ... Wahrscheinlich liegt diese Feuerlust,
diese ausserordentliche Lichtgier in der Entweichung des arteriösen
Blutes an einer, und Anhäufung des venösen Blutes an einer andern
65
Stelle, besonders in der Gegend der Augennerven; denn gerade alsdann, wenn bey der Pubertätsentwickelung das Blut überhaupt
dunkler, mit Kohlenstoff übersättigter ist, wie vor jeder Menstruation121, und die Anhäufung des venösen Blutes im Gehirn grösser
ist, ... äussert sich die Begierde nach Feuer, das ist, nach dem Lichtreitz der irritabilitätsarmen Sehwerkzeuge»122. Die Brandstiftung erscheint hier also als Äquivalent der Menstruation, wie diese eingesetzt zur Kompensation eines physischen Ungleichgewichts - analog
dem säftepathologischen Abtropfen. Adolph Henke (1775-1843), der
noch vor Osiander ein Werk «über die Entwicklungen und Entwicklungs-Krankheiten» publiziert hatte, sollte dann zum Schöpfer eines
eigentlichen Brandstiftungstriebes junger Leute, namentlich aber
doch junger Mädchen, werden. Denn das Weib, so schreibt er schon
in dem erwähnten Werk von 1814, werde von den Vorgängen der
Pubertät ungleich mehr betroffen als der Mann, da bei ihm die
Geschlechtssphäre «die ganze Organisation und das innerste Leben beherrscht». Die «pathogenische Wirkung» dieses Entwicklungsprozesses ist daher enorm. «Daraus erklärt sich der ziemlich
allgemein verbreitete Glaube, von dem selbst manche Ärzte sich
nicht frei machen können, dass die Entwicklung der Pubertät eine
nothwendige Krankheit sey, wie man die Menstruation überhaupt
eine gesundheitsgemässe Krankheit des weiblichen Geschlechts genannt hat»123. Die Pubertät ist eine Zeit äusserster Empfindlichkeit
und Krankheitsanfälligkeit, speziell vor der ersten Regel und ganz
besonders bei den geringsten Unregelmässigkeiten derselben. Namentlich treten in dieser Entwicklungsphase «molimina menstruationis», Chlorosis oder Bleichsucht und «Affektionen des Nervensystemes» in Form von Krämpfen oder psychischen Bildern auf24.
1817 aber publiziert Henke, unter Bezugnahme auf Platner und
Osianders frühe Andeutungen, «über Geisteszerrüttung und Hang
zur Brandstiftung als Wirkung unregelmässiger Entwickelung
beim Eintritte der Mannbarkeit»125; 1818, nach Osianders expliziten
Ausführungen, nochmals ähnlich126. Damit wird er zum offiziellen
Stifter der aufsehenerregenden und kontroversen Lehre vom sozusagen physiologischen Brandstiftungstrieb der Jugendlichen127.
Johannes Baptist Friedreich (1796-1862) nimmt die Ideen seiner
66
Vorläufer in sein massgebendes «Handbuch der gerichtlichen Psychologie» von 1835 auf und bringt sie vollends in ein romantisches
Gefüge. Bei ihm ist der Brandstiftungstrieb der jungen Mädchen
die ziemlich natürliche Folge der durch die eintretende Menstruation noch nicht kompensierten weiblichen Venosität, die nach Arteriellem, Hellem, Heissem, Feurigem sich sehnt und die, wenn
diese körperlich-geistige Sehnsucht nicht durch einen Mann gestillt
wird, in Brandstiftung münden kann. Begierde nach Licht und anhaltendes, trübsinniges, starres Ins-Feuer-Blicken sind daher charakteristische Zeichen einer pubertären Störung. Friedreich vergleicht den Feuerhunger junger Mädchen mit den Gelüsten der
Schwangeren - auch diese stehen im umfassenden Zusammenhang
mit einem psychophysischen Zustand, der letztlich der Fortpflanzung dient, auch Diebstähle Schwangerer sind daher allenfalls von
Strafe zu befreien128.
Nicht nur Brandstiftung konnte aber auf Grund der Menstruationsverhältnisse entschuldigt werden. Auch Mord - «auffallend
häufig ... Mord an den eigenen Kindern» - Selbstmord und Diebstahl konnten menstruell bedingt sein. Krafft-Ebing hat die entsprechende Kasuistik - zu einem guten Teil aus der französischen Literatur, nebst eigenen Beobachtungen - sorgfältig zusammengestellt129. Nicht nur die ein- oder aussetzende Menstruation kam
dabei als Entschuldigungsgrund in Frage, sondern auch die ganz reguläre Periode, namentlich als Faktor, der ein bestehendes Gemütsleiden so verstärkte, dass es in ein Verbrechen mündete130. Doch
scheint sich der Kreis der im Zusammenhang mit der Menstruation
als anormal anerkannten Leiden im Lauf des 19. Jahrhunderts stetig
erweitert zu haben - in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sollte
auch die normale Menstruation weitherum als Leidenszustand gelten. «Jeder Menstruationsprocess ist», so schreibt schon 1812 Franz
Carl Naegele (1778-1851), die Brücke von der pubertären Entwicklungskrankheit zur Regel schlagend, «als eine neue Entwicklungsperiode anzusehen, die aber, wie andere Entwicklungen, z. B. das
Zahnen, der Eintritt der Pubertät, von mannigfaltigen krankhaften
Gefühlen und Erscheinungen häufig begleitet wird»131.
67
V. MENSTRUATION ALS ZEICHEN
DER VERFEHLTEN BESTIMMUNG DIE SEXUAL- UND FORTPFLANZUNGSETHIK
DES 19. JAHRHUNDERTS
Wenn im späteren 18. Jahrhundert unter anderem bevölkerungspolitische Überlegungen hinter der Einstufung der Menstruation als
widernatürlicher Vorgang standen, schwingt da wohl wiederum
die Auffassung der Menstruation als Verschüttung von Material,
welches eigentlich der Fortpflanzung zu dienen hätte, mit: Menstruation als ein Analog zum Abort - eine Assoziation, die durch
die Beobachtung, dass Schwangere nicht menstruieren, natürlich
genährt wird. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts tritt die Beziehung
der Menstruation zur Fortpflanzung noch weiter hervor. Mehr und
mehr einigten sich nämlich die Gelehrten, dass das mittlerweile
entdeckte132 weibliche Ei sich allmonatlich zur Zeit der Menstruation vom Ovar löse133. Die aristotelische Tradition, die im Menstrualblut den eigentlichen Zeugungsbeitrag der Frau gesehen
hatte, mag in diese Auffassung hineingespielt haben. Offiziell allerdings hat die aristotelische Sicht der Menstruation seit dem 17. Jahrhundert, welches ein weibliches Ei postulierte und dem 18. Jahrhundert, welches einen dem männlichen ebenbürtigen Zeugungsbeitrag annahm, kaum mehr gegolten. Aber Ideen sterben ja nicht,
weil sie offiziell nicht mehr gelten. Eher pflegen sie sich abzukapseln, oft sich in dem, was man mit kluger Ungenauigkeit als Volksseele bezeichnet, einzunisten und da sozusagen als Sporen, immer
zu neuem Aufkeimen in der Welt der Wissenschaft bereit, fortzuleben. Mit der Lehre, dass Eisprung und Menstruation gleichzeitige,
zusammenhängende Ereignisse seien, war auch die klassische Auffassung, das Konzeptionsoptimum liege in der Zeit der Menstruation, neu rationalisiert. Dieser Auffassung mögen viehzüchterische
Erfahrungen Pate gestanden haben, sie wird aber von Hippokrates134
über Franz Carl Naegele135 und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein
auch von der humanmedizinischen Wissenschaft vertreten.
Im Licht der Lehre vom zeitlichen Zusammenfallen und ursächlichen Zusammenhang von Eisprung und Menstruation nun intensi68
vierte sich der Aspekt der Menstruation als Brunst und nichtausgelebte Schwangerschaft. So schrieb Robert Remak (1815-1865), einer
der hervorragendsten Mikroskopiker seiner Zeit, der sich 1847 an
der Universität Berlin habilitierte, und so der erste jüdische Privatdozent in Preussen wurde, 1839 eine Arbeit (publiziert erst 1843)
«Über Menstruation und Brunst». Bemerkenswerterweise erscheint
die Menstruation in dieser Publikation wiederum, wie schon um
die Wende zum 19. Jahrhundert, als Ausfluss einer pathologischen
weiblichen Sexualität. Nur ist es diesmal nicht die unterdrückte,
sondern die überreizte Sexualität, die da pathogen ist. Remaks Arbeit ist unter dem Titel «Die abnorme Natur des Menstrualblutflusses erläutert» offenbar auch separat gedruckt erschienen136. «Der
Menstrualblutfluss wird hier aus der Physiologie vor das Forum der
Pathologie verwiesen», heisst es da. Die physiologische Menstruation geht ohne Blutung vonstatten. Eine begleitende Blutung ist
pathologisch, bedingt durch die sexuelle Freiheit im Intermenstruum, also ausserhalb der eigentlichen Brunstzeit - «spontane Begierde bei Frauen ist wohl immer ein krankhaftes Zeichen». Sie
lässt sich verhindern durch «Leibesübungen, passende geistige Beschäftigung und Vermeidung aller psychischen und somatischen
geschlechtlichen Aufregungen»137.
Den Aspekt der Menstruation als nichtausgelebte Schwangerschaft hebt demgegenüber Virchow, der Schöpfer der Zellularpathologie und spätere Papst der Medizin seiner Zeit 1848 hervor.
«Seitdem die Physiologen sich dahin geeinigt haben, dass jede
Menstruation mit der Loslösung einer Eizelle und dem Übergehen
derselben in die Geschlechtswege verbunden ist, musste natürlich
der absolute Unterschied zwischen Schwangerschaft und Menstruation fortfallen», schreibt Virchow. «Die Menstruation ist eine
Schwangerschaft im kleinsten Maassstabe ...» Dass eine Schwangerschaft im grösseren Massstabe aber das Gesundere gewesen
wäre, deutet sich im pathologisch-anatomischen Befund an, den
Virchow erhebt: «eine leicht verdickte, succulente, hyperämische
Schleimhaut, vermehrte Absonderung von Schleim (...) und Epithelialzellen mit Beimischung von Blut, so wird jeder pathologische Anatom, dem man nicht vorher von Menstruation geredet
69
hat, einen acuten Katarrh von grosser Intensität diagnosticiren»138.
Eduard Pflüger (1829-1910), auf dessen Lehre von der Menstruation
wir noch zu sprechen kommen werden, nennt die Menstruation
1865 eine «brünstige Congestion nach den Genitalien» und «Inoculationsschnitt der Natur zur Aufimpfung des befruchteten Eies auf
den mütterlichen Organismus» und schreibt: «Man hat sich gleichsam gewöhnt, die Nichtbefruchtung des reifen menschlichen Eies,
und sein Zugrundegehen als eine berechtigte Erscheinung zu betrachten. Wenn wir aber im Sinne der Natur denken, müssen wir
annehmen, dass die Eier, welche zur Reife gediehen, auch zur Entwicklung bestimmt sind ...»139 «Alles ist für die Konzeption bereit»,
schreibt der englische Gynäkologe Robert Barnes (1817-1907) 1873
über den Zeitpunkt der Menstruation. «Tritt das männliche Element hinzu, dann findet es ein für die Befruchtung reifes Ovulum.
Tritt dieses Prinzip aber nicht hinzu, dann welkt das Ei hin und die
Organe treten in Ruhe. Dieser Zyklus ist der Schwangerschaft sehr
ähnlich. Die Menstruation kann ohne Übertreibung einem Abortus
verglichen werden. Sie ist eine verfehlte oder enttäuschte Schwangerschaft»140. Und Wilhelm Loewenthal (1850-1894) fasst es 1884 in
«Eine neue Deutung des Menstruationsprocesses» zusammen: «Genau genommen ist also die weder schwangere noch stillende und
deshalb menstruirende geschlechtsreife Frau nicht das ... Normale,
sondern nur eine durch unsere ... Verhältnisse ... alltäglich gewordene Erscheinung, deren grosse Verbreitung den der Blutung als
solcher anhaftenden pathologischen Charakter wohl zu verdecken,
aber nicht aufzuheben vermag». Die Menstrualblutung ist für ihn
unphysiologisch, eine «Folge ... des Absterbens des menschlichen
Eies, - so hat sie alle Eigenschaften und Wirkungen anderer und
stets pathologischer Blutungen»141.
Diese Auffassungen blieben nicht unwidersprochen. Ein Robert
Möricke (1851-1900) kritisierte sie 1880 methodologisch. Für ihn
sind Virchows Befunde einfach Artefakte. «Jeden Unbefangenen
musste von Anfang an die Ansicht, dass während der Menstruation
die Uterusschleimhaut ... zu Grunde gehe und sich nachher allmählich wieder aufbaue, mit ... Zweifeln erfüllen. Die Menstruation
ist, wie Niemand läugnet, ein physiologischer Vorgang, sie würde
70
ja, wenn sich solche degenerative Processe abspielten, einen ganz
pathologischen Charakter bekommen. ... Der Grund, warum die
früheren Untersucher zu solch eigenthümlichen Resultaten gekommen sind, liegt eben einfach darin, dass sie ihre Präparate nie ganz
frisch untersuchen konnten, die Veränderungen, welche sie sahen
..., waren ... einfache Leichenerscheinungen»142. A. E. Feoktistow aus
Petersburg hingegen kritisiert spezifisch die Implikationen der
Abort-Lehre: Es liesse sich daraus, schreibt er, «folgende praktische
Nutzanwendung deduciren: Jungfrauen, so jung oder so alt sie sein
mögen, wenn sie nur menstruiren, hätten in der Ehe oder in einer
anderweitigen Form geschlechtlichen Umganges das Heilmittel gegen die Krankheit, an der sie laboriren, also gegen die Menstruation zu suchen.» Und ferner: «Es darf nicht unerwähnt bleiben,
dass schon vor Löwenthal A. King (American Journal of Obstetrics, August 1875) dieselbe Idee vertheidigte, indem er sagte, die
Menstruation sei nichts anderes als eine pathologische Blutung, abhängig von der Nichtbefriedigung normaler geschlechtlicher Bedürfnisse, und dass die Frau normaliter nie aus dem Zustande der
Schwangerschaft, der Nachgeburtsperiode und der Lactation kommen dürfe. - Ein angenehmer Zeitvertreib!»143 Zwischen Loewenthal und Feoktistow entspann sich eine damit eingeleitete zeittypische
kleine Kontroverse144, im Laufe derer Feoktistow seinem Partner
nochmals die Ehre absprach, die Menstruationsblutung als erster als
pathologische Blutung bezeichnet zu haben. «Leider ist Loewenthal
mit der Arbeit King’s nicht bekannt ... Aber auch frühere Autoren
vertreten dieselbe Meinung. Einer der frühesten war Robert Remak
und die von ihm citirten Roussel und Oken»145.
Diese explizite Kontroverse um die Krankhaftigkeit der Menstruation bzw. der sich nicht fortpflanzenden Frau muss auf dem
Hintergrund der grossen Kontroverse um die Antikonzeption gesehen werden, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stark
bewegte146, ähnlich den Kontroversen, die 1977 in der Schweiz der
Abstimmung über die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs
vorangingen147. Die Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit der Antikonzeption beziehungsweise der von der Willkür des Menschen,
namentlich der Frau abhängigen menschlichen Vermehrung wurde
71
damals unter Freisetzung grosser Emotionen diskutiert. Ängste vor
Gleichgewichtsstörungen der Bevölkerung, aber auch um die geltenden Werte samt sozialer Ordnung, namentlich auch Angst vor
unkontrollierbaren Entwicklungen auf dem Gebiet der Frauenemanzipation standen hinter jenen Auseinandersetzungen. Auf
diesem Hintergrund besehen war die Frage um Krankhaftigkeit
oder Nicht-Krankhaftigkeit der Menstruation eine medizinische
Form der Frage nach der Bestimmung der Frau beziehungsweise
nach der Legitimität der Bestrebung beider Geschlechter, die
Fortpflanzung in die eigenen Hände zu nehmen und selbst zu gestalten - und damit auch sexuell selbstverantwortlich zu werden.
Die Auffassung der Menstruation als krankhaft brachte diese, so
besehen, wiederum in die Nähe des Sündenmals. Zeichen der
Sünde nicht gegenüber Gott, aber gegenüber der Natur, die die
Frau zur bedingungslosen Fortpflanzung bestimmt hat und gegenüber einer Gesellschaft, die von ihr die Erfüllung dieser Bestimmung erwartet. «Denn das Wesen des Weibes wird nur dann vollendet», schreibt Adolph Henke 1814, «seine Bestimmung, sein Beruf
nur dann erfüllt, wenn es Gattin und Mutter wird»148.
VI. MENSTRUATION ALS ZEICHEN
EINER NERVÖSEN SCHWÄCHE SPÄTERES 19. UND FRÜHERES
20. JAHRHUNDERT
Noch in einem anderen Zusammenhang erschien die Menstruation
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein pathologischer oder
doch abnormer Zustand. Es ergab sich dies aus den Vorstellungen,
die man sich über die Abhängigkeit der Menstruation von der
Ovulation machte. Man hielt sich dabei im allgemeinen an das
von dem obgenannten Physiologen Eduard Pflüger entworfene
Konzept. Pflüger lehnt die vor ihm geläufige These ab, dass «die
emissio ovuli ... die eigentliche directe Ursache der Menstruation
sei, deren regelmässige Periodicität heute noch ebenso unerklärt ist,
wie die gleiche der Eilösung. Das harmonische rhythmische Zusam72
menwirken ... sonst getrennter Organe weist auf eine Intervention
des Nervensystemes hin.» Pflüger geht von der Reflexlehre aus.
Sehr schwache Reize vermögen, wenn sie nur kurz dauern, die ihnen entsprechende motorische Reflexaktion oft nicht auszulösen.
Wenn sie aber anhalten, können sie sich summieren und so zu
periodischen Entladungen führen. Pflüger erinnert hier an das seiner
Zeit geläufige Konzept von der Reflexepilepsie mit periodischer
Entladung. «Periodische Krämpfe nach schwachen aber dauernden
Anlässen, die nicht die epileptische Form anzunehmen brauchen,
sind keine seltnen Erfahrungen im Gebiete der Pathologie. Dieses
Reflexprincip enthält, scheint mir, den Schlüssel zur Erklärung der
rhythmischen Action der weiblichen Genitalien.» Das fortwährende Wachstum von Zellen im Eierstock führt zu einer sehr
schwachen aber kontinuierlichen Reizung der «Ovarialnerven»,
diese summiert sich im «menstrualen Reflexcentrum des Rückenmarkes» und wenn ein kritischer Wert erreicht ist, «erfolgt der
reflectorische Ausschlag als gewaltige Blutcongestion nach den Genitalien», die sowohl den Eisprung als auch die menstruale Blutung
«Sitzbad. Da sich im Becken die wichtigsten Vorgänge abspielen, ist auch die Beeinflussung des unteren Rumpfes durch Wasser von grösster Bedeutung. Das sogenannte Sitzbad
... ist daher eine viel gebräuchliche Badeform geworden.»
73
auslöst. Die Molimina menstrualia, das regelmässige Unwohlbefinden, sind ein anderer Effekt des nervösen Ausnahmezustandes während der Menstruation149.
Mit dieser Lehre nimmt Pflüger die Tendenz seiner Zeit auf, die
Menstruation als Phänomen aus dem Umkreis der Hysterie und der
Nervosität zu betrachten150 - in deren Ätiologie ja Genitalorgane
und Nervensystem ebenfalls in mannigfaltiger Weise verquickt
sind - und verschafft dieser Tendenz ein plausibles neurophysiologisches Rationale. Damit wurde er zur massgebenden Autoriät in
Menstruationssachen und das Nervensystem zum zentralen Träger
des Menstruationsprozesses bis zum Aufkommen der Hormone.
Die Menstruation aber war nun klarer Ausdruck einer chronischen
Reizung des Nervensystems und ein Analog reflexepileptischer und
anderer pathologischer Krampferscheinungen.
Die Reflexepilepsie aber war im 19. Jahrhundert ein wohlbekanntes Modell der Neurosen und Psychosen, die man ja damals
gerne auf Funktionsstörungen in Organen zurückführte151. Reflexneurotische Mechanismen wurden vielfach für die zahlreichen
Symptome der Neurasthenie und für die zahllosen Symptome der
Hysterie verantwortlich gemacht. In beiden Fällen wurde das ge-
«Sitzbad mit nachfolgendem Bauch- und Kreuzguss. Nach einem warmen Sitzbad wirken diese Güsse ... sehr kräftigend.»
74
gebene Leiden dann auf ein Zusammentreffen einer übermässigen
allgemeinen Reizbarkeit des Nervensystems mit speziellen, von bestimmten Organen ausgehenden Reizen zurückgeführt. Im Falle
der Hysterie war es, sofern sie als Reflexneurose interpretiert
wurde, die notorische Schwäche und Reizbarkeit des weiblichen
Nervensystems, die zur Hysterie disponierte und irgendein vom
Genitalsystem, namentlich den Ovarien, ausgehender spezieller
Reiz, was die Attacken auslöste. Die Idee, die Hysterie der Frau
durch Ovarektomie zu behandeln, lag damit nahe152. Auch vom gesunden Ovar gingen hysterogene Reize aus. Wie ja auch das gesunde, d. h. das weibliche Nervensystem an sich zu Hysterie disponierte, da es natürlicherweise zarter, schwächer und weniger robust
gebaut war als das männliche - auch dies ein an sich unliebsamer,
die Frau ständig gefährdender Umstand, der aber im Hinblick auf
die Bestimmung der Frau als Gattin und Mutter wünschenswert
und normal erschien.
So besehen erscheint nun die Menstruation als ein der hysterischen Attacke analoger Zustand, als ein hysterisches Äquivalent,
auch sie Ausdruck der physiologischen Reizbarkeit und Gereiztheit
des weiblichen Nervensystems, auch sie im Hinblick auf die Fortpflanzungspflichten der Frau normal und erwünscht, an sich aber
ein Zustand des Leidens. «Die Menstruation ist ein Zustand, darin
auch das normale Weib ... an der Grenze ist zwischen Gesund- und
Kranksein», schreibt Erwin Stransky noch 1927, «gleichwohl gehört
die Menstruation ... zur Norm ... Weib und Hysterie, das ist eben
überhaupt eine nahe Wahlverwandtschaft ...»153. Viele Frauen des
19. und des früheren 20. Jahrhunderts scheinen ihre Menstruation
auch entsprechend erlebt zu haben - um den Gewinn, dass die Gesellschaft, repräsentiert in ihren Ärzten, ihren Leidenszustand ihrerseits anerkannte und respektierte. Die Molimina menstrualia nehmen in der Soziologie der Frau des 19. Jahrhunderts eine recht
wichtige Stellung ein, es scheint ihnen damals einige Ausdrucks-,
Kanalisierungs- und Ventilfunktion zugekommen zu sein, die ihnen unterdessen abhanden gekommen ist. «Reizbare Schwäche»,
Nervosität bis hin zur Hysterie, Kopfweh, Erbrechen, Verstopfung, Herpeseruptionen und andere Ausschläge, Veränderungen
75
der Sehschärfe, Schwellungen der Nasenschleimhaut154 - Wilhelm
Fliess (1858-1928) prägte den Begriff der «nasalen Dysmenorrhoe»,
womit die Menstruation als Schnupfen dasteht155 - wurden zu Parallelerscheinungen der Menstruation und zeigten an, dass auch
diese Zeichen eines der Krankheit nahen Grundzustandes sei. Kurz,
schreibt 1902 Max Runge (1849-1909), der das ganze teils als Störung vasomotorischer Natur, teils als Reflexneurose deutet, «die
Menstruierende ist ,unwohl‘ das heisst, jedes ... Weib geräth alle 4
Wochen in einen Zustand, welcher eine Abweichung von ihren
normalen körperlichen und geistigen Functionen erkennen lässt» ...
Und dann die Folgerung, die eigentlich Prämisse ist: «So liegt die
geistige und körperliche Abhängigkeit des Weibes von der sexuellen Sphäre klar zu Tage und wir verzeichnen damit einen durchgreifenden Unterschied gegenüber dem männlichen Geschlecht»156.
Holzstich aus «Bilder aus dem modernen Leben», 1890er Jahre.
76
Die sozusagen physiologischen Geistesstörungen der Menstruierenden haben die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders
beschäftigt. Georg Sigismund Eduard Krieger (1816-1870) betont in
seiner (der Gesellschaft für Geburtshülfe zu Berlin zu ihrem 25jährigen Stiftungsfest 1869 gewidmeten) Monographie über die Menstruation, dass Menstruierende nur in den seltensten Fällen keine
Veränderungen ihres Befindens durchmachten. «In den bei weitem
meisten Fällen findet eine ... Erregung des Nervensystems statt ...
Diese nervöse Erregtheit lässt sich in solche Erscheinungen zerlegen, die von dem vasomotorischen oder Gangliennervensystem abzuleiten sind, in solche, die als cerebrale Symptome erscheinen und
in solche, die auf die Spinalnerven zurückgeführt werden müssen»157. Ein Freund Kriegers, Louis Mayer (1829-1890) aus Berlin,
verfasste wenig später «Menstruation im Zusammenhange mit psychischen Störungen», wo er nochmals festhält, dass auch «bei sehr
vielen anscheinend ganz gesunden Individuen» die Menstruation
psychische Reizzustände mit sich bringe. Solche zeigen sich in
«Verstimmung, Verdriesslichkeit, Disposition zum Weinen, Hinbrüten ... Abneigung gegen die Umgebung ... Launen, Heftigkeit,
Jähzorn, Unruhe ... Abschwächung des Denkens und Urtheilens...
Es können auch üble Eigenschaften und Angewohnheiten (...) verstärkt werden oder in diesen Zeiten überhaupt hervorbrechen
...»158. Auf eine allgemeinere Arbeit Mayers bezieht sich Horatio Robinson Storer in seinem Buch «Reflex insanity in women», Boston
1871, welches die Menstruationspsychiatrie wieder in den grösseren
Rahmen der physiologischen Krankheit Frau stellt159.
Im späteren 19. Jahrhundert wurde dieses Interesse an psychischen
Störungen der Menstruierenden offenbar durch ein intensives Interesse an regelmässigen Verläufen und an greifbaren Ursachen der
Neurosen und Psychosen verstärkt160. Die menstruelle Geistesstörung bot in diesem Sinne als ein periodisch von bekannten ovariellen Reizungen her ausgelöstes Reflexleiden auf der Basis einer
wohlbekannten Reizbarkeit und Schwäche des weiblichen Nervensystems ein willkommenes Modell für die Geistesstörung überhaupt. 1878 publiziert Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), einer
77
der massgebendsten Psychiater seiner Zeit, «Untersuchungen über
Irresein zur Zeit der Menstruation» als einen «Beitrag zur Lehre
vom periodischen Irresein». Darin bezeichnet er die menstruellen
Geistesstörungen als «die reinste Form innerhalb der ... Vesania
periodica» und statuiert, «dass der normale Menstruationsvorgang
an und für sich genügen kann, um das abnorm erregbare Gehirn im
Sinn einer acuten Psychose zu beeinflussen». Nachtragsweise diskutiert er die Auffassung der «menstrualen Irreseinsanfälle ... als eine
Art ,psychischer Epilepsie‘»161. Noch im selben Jahr 1878 veröffentlicht Ludwig Kirn (1839-1899) seine Schrift über «Die periodischen
Psychosen», in welche er, sich auf Krafft-Ebings Arbeit beziehend,
die Ovulationspsychosen als Reflexpsychosen auf der Basis eines
abnorm erregbaren Gehirns einbaut162.
Gegen Ende des Jahrhunderts stieg die Periodizität, die Wellenbewegung der gesamten weiblichen Physiologie samt psychischen
Funktionen, in der Lehre von den Menstruationspsychosen vielfach
zum ätiologischen Faktor auf. Die Menstruation selbst war dann
eine Parallelerscheinung der psychiatrischen Phänomene163. Heinrich
Schuele (1840-1916) fand einen «intime(n) Zusammengang der psychischen Krankheitscurve mit der Menstrualwelle»164. In unserem
Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass man seinerzeit
zwischen periodischem Verlauf von Geistesstörungen und
hereditär-degenerativ belastetem Nervensystem - was man oft
auch als «minderwertiges Nervensystem» bezeichnete - innige Zusammenhänge postulierte. Gerade Schuele kennt die Periodizität als
Merkmal hereditär-degenerativer Irreseinsformen. Er ordnet periodisches und zirkuläres Irresein denn auch den «Degenerescenz-Zuständen» zu, wie das erbliche Irresein und das «Irresein aus
schweren Neurosen» (samt Hysterie)165.
In der forensischen Psychiatrie wurden diese neueren Erkenntnisse über die weibliche Schwäche wiederum praktisch angewendet - wiederum vielfach zugunsten einzelner straffällig gewordener
Frauen. Die Medaille der weiblichen Minderwertigkeit hatte ja
wie alle derartigen Medaillen durchaus auch eine Vorderseite. Man
denke nur an die Zuvorkommenheit und grosse Höflichkeit, mit
78
welcher im 19. Jahrhundert gerade den Frauen aus bürgerlichen
Kreisen, unter denen die Nervenschwäche am grausamsten wütete,
behandelt wurden. Auch im einzelnen aber konnte die Annahme
der weiblichen Schwäche als Schutz vor Aggression funktionieren,
im 19. Jahrhundert sogar vor Gericht. Wir berichteten oben von
der exkulpierenden Wirkung der gestörten Menstruation im früheren 19. Jahrhundert - später konnte sogar die reguläre Menstruation entschuldigen. Der k. k. Landesgerichtsarzt und Dozent der
forensischen Psychiatrie Ludwig Schlager (1828-1885) beschliesst
schon 1858 eine Arbeit über «die Bedeutung des Menstrualprocesses ...» mit den Worten: «Unter allen Verhältnissen wird es daher
der Gerichtsarzt bei weiblichen Individuen, bei denen es sich um
die Dispositionsfähigkeit ... oder ... um die Imputationsfähigkeit
strafbarer Handlungen handelt, nicht unterlassen, ... die ... Menstrualfunction ... und deren Rückwirkung auf das psychische Leben
ins Auge zu fassen»166. Um 1900 aber statuiert Krafft-Ebing in seinem
Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie: «Die geistige Integrität des menstruierenden Weibes ist forensisch fraglich.» KrafftEbing, einer der Väter sowohl der forensischen Psychiatrie als auch
der Sexologie, behandelt den «Einfluss der Menstruation auf das
Geistesleben» als Anhang zum Kapitel über «die psychischen Entartungen»167. 1902 widmet er der «Psychosis menstrualis» eine eigene
«klinisch-forensische Studie»168. «Das menstruirende Weib hat Anspruch auf die Milde des Strafrichters, denn es ist ,unwohl‘ ... und
psychisch mehr oder weniger afficirt.» Es handelt sich um Störungen des Gemütslebens und «um daraus resultirende elementare Störungen in der Psyche, die die Zurechnungsfähigkeit allerdings
nicht aufheben, aber immerhin ... als Milderungsgründe ... Berücksichtigung finden müssen. ... Abnorme Reizbarkeit ... bis zu ... pathologischen Affekten ... sind gewöhnliche Erscheinungen. Unverträglichkeit mit dem Gatten, mit dem Gesinde, üble Behandlung der sonst geliebten Kinder bis zu Misshandlungen, Zornexplosionen, Ehrenbeleidigungen, Hausfriedensbruch, Unbotmässigkeit gegen Amtspersonen, Eifersuchtsscenen gegenüber dem Mann,
Bedürfniss nach Alkoholicis ... sind der Alltagserfahrung entlehnte
Vorkommnisse bei unzähligen weiblichen Individuen, die ... in ih79
rem ,Sturm‘ ... wahre Furien und Xantippen, gemieden und gefürchtet sind, intervallär als brave Gattinnen, zärtliche Mütter ...
angenehme Elemente in der Gesellschaft erscheinen können»169.
«Bedenklicher», fährt Krafft-Ebing fort, «wird der Einfluss der
Menses bei dem belasteten und so häufig schon längst nervös und
psychisch nicht mehr normalen Weib. Da regen sich menstrual
wieder Neurosen, wie z. B. Hemicranie, Hysterie, Epilepsie,
Neurasthenie ..., milde, sonst vollkommen beherrschbare krankhafte Gemüthszustände exacerbiren ... und führen zu feindlicher
Reaction gegen die Aussenwelt ... Endlich sind die verschiedenen
Formen des menstrualen Irreseins möglich.» Die Zeit der Menstruation ist die Zeit gehäuften Selbstmords. «Von menstrualen Impulsen zu Mord enthält namentlich die französische Literatur klassische Beispiele.» «Gross ist die Literatur über Brandstiftungen auf
Grund von Zwangsvorstellungen, die menstrual nicht beherrschbar
waren. Schon E. Platner, Osiander, Henke u. a. kannten die Thatsache des häufigen Zusammentreffens von Brandstiftungen bei
weiblichen Individuen in der Zeit der Pubertätsentwicklung mit
der Menstruation, besonders bei gestörter ... Nicht selten sind menstrual unwiderstehliche Antriebe zum Diebstahl ... Eine weitere
Möglichkeit für Verletzungen des Strafgesetzes bilden pathologische Affekte zur Zeit der Menses ... Am 1.12. [18]97 gerieth Frau
G. mit ihrem Mann über eine Kleinigkeit in Streit, sie wurde
schrecklich aufgeregt, warf eine Anzahl Porzellanteller ihrem
Mann nach und verletzte ihn ...» Und Krafft-Ebing beschliesst seine
Studie mit «Thesen für die forensische Beurtheilung von tempore
menstr. zustandegekommenen Delicten», wovon Nummer 1: «Die
geistige Integrität des menstruirenden Weibes ist forensisch fraglich»170.
VII. DIE MENSTRUATION VERLIERT
AN SYMPTOM- UND SYMBOLWERT NACH DEN BEIDEN WELTKRIEGEN
Mit und nach den beiden Weltkriegen hat die Menstruation zusehends an Symbol- und Symptomwert für die weibliche Schwach80
heit verloren. Sie hat auch ganz allgemein an sozialer und kultureller Bedeutung verloren und ist vermehrt zum Spezialistenthema
von beschränkt allgemeinem Interesse geworden.
Die Hintergründe dieses Bedeutungsverlustes sind komplex.
Zum Teil sind sie wissenschaftlicher Art. Mit dem Aufschwung der
Endokrinologie hat das Hormon als Träger genereller Betrachtungen über «die Frau» die Menstruation etwas abgelöst und verdrängt. Überdies hat die Endokrinologie zur Lockerung der Assoziation von Nervensystem und Menstruation beigetragen171 und damit die Beziehung zwischen weiblichem Seelenleben und weiblichen «Tagen» etwas mittelbarer erscheinen lassen, um so mehr als
auch alle operativen Eingriffe am Genitalapparat geistesgestörter
Frauen kaum je die erwarteten Besserungen zeitigten. «Das Naheliegendste scheint zunächst», schreibt Gottfried Ewald (1888-1963)
zwischen den beiden Weltkriegen, «dass irgendein endokriner
Reiz, der mit der Menstruation oder Ovulation verbunden ist, zu
einer zentralnervösen Erregung führt, die die Psychose ins Rollen
bringt. ... Dem widersprechen aber die operativen oder röntgenologischen Kastrationserfolge. Uns selbst lehrte die völlige Erfolglosigkeit von Röntgenkastration, Ovariektomie und schliesslich sogar
Totalexstirpation bei einer klassischen menstruell rezidivierenden
Psychose ..., dass die Dinge keineswegs so einfach endokrinologisch zu lösen sind»72. Insofern die Endokrinologie zur Basis neuer
antikonzeptioneller Techniken wurde, hat sie auch als solche zur
Ent-Aktualisierung der Menstruation beigetragen. Man hat sich an
die Antikonzeption allmählich gewöhnt, die im 19. Jahrhundert an
dieselbe geknüpften Befürchtungen bevölkerungspolitischer, sexualpolitischer, moralischer, ethischer Art haben sich gelegt. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Konzeptionsoptimum
allgemein von der Menstruation auf das Intermenstruum verlegt,
Knaus und Ogino (Hermann Knaus, 1892-1970 und D. Ogino) basierten hierauf ihre antikonzeptionellen Empfehlungen173. Damit verlor sich der Abortcharakter der Menstruation vollends.
Auch die Entwicklung der Psychiatrie hat zur Ent-Aktualisierung der Menstruation beigetragen. «Man hat früher einmal geglaubt», schreibt Ewald, «den Psychosen, die sich im Verlaufe des
81
Generations- und Gestationsgeschäftes des Weibes entwickeln, eine
Sonderstellung einräumen zu sollen ... Das eingehende Studium
der Symptomatologie und des Verlaufes, die Herausstellung der
grossen Krankheitskreise des manisch-melancholischen Irreseins
und der Dementia praecox, das tiefere Eindringen in das Wesen
der reaktiven, psychogenen Psychosen und die Zusammenfassung
aller symptomatischen Psychosen in den exogenen Reaktionsformen hat aber schliesslich zu der Erkenntnis geführt, dass hier doch
wohl eine Überschätzung des ätiologischen Faktors vorlag, dass
man ein propter hoc für das post hoc setzte, und so hat die Betrachtung der Generationspsychosen ... weitgehend mehr historisches
Interesse.» Interessanterweise bespricht Ewald die Generationspsychosen als Anhang zu «Psychosen bei akuten Infektionen, bei Allgemeinleiden und bei Erkrankungen innerer Organe» - wobei er
allerdings betont, «dass man weder die Generations- noch die Gestationsvorgänge als ,Erkrankungen der Genitalorgane‘ bezeichnen
darf ...»174. Auch der Aufschwung der medizinischen Psychologie
und der Psychogenielehre, den die Weltkriege nach sich zogen175,
trug zur Entthronung der Menstruation bei. Manches, was vor diesen Kriegen als körperliche Ursache psychischer Erscheinungen angesprochen worden ist, ist nachdem zum psychogenen Symptom
geworden176. «Einen nicht geringen Prozentsatz von menstruellen
Psychosen», schreibt Ewald 1927, «dürften ... die psychogenen Psychosen stellen.» Ein Jahr später aber statuiert er, «dass man in Umkehr der Verhältnisse die Menstruationsstörungen für das verursachende Moment» mancher Psychosen gehalten habe. «Heute wissen wir, dass die so häufige Amenorrhoe im Verlauf der Psychosen
nur eine körperliche Begleiterscheinung der psychischen Erkrankung ist ...»177. Selbst Hauptmann, der seine «Menstruation und Psyche» (1924) eigentlich den ihm problematisch und unergiebig erscheinenden «psychologisierenden Tendenzen» seiner Zeit entgegenstellt, berücksichtigt den Aspekt der Menstruation als «Erlebnis»178. Insgesamt kann man den Aufschwung der medizinischen
Psychologie nach den Weltkriegen als ein Zeichen eines gewissen
Vertrauens- und Prestigeverlusts der somatisch-naturwissenschaftlich begründeten Medizin betrachten, welcher körpermedizinische
82
Aussagen über die Frau an sich ihrer sozialen Aussagekraft und ihres Symbolwerts und damit die Menstruation ihrer Aktualität etwas beraubte.
Sozialgeschichtlich gesehen ist die mit den beiden Weltkriegen
in breiterem Umfange durchdringende Emanzipation der Frau der
wohl wichtigste Hintergrund des Interesseverlusts der Menstruation. Mit einigem Verzug scheinen die Verhältnisse im Gebiet der
Lehre vom Klimakterium, die mit der Lehre von der Menstruation
natürlich vielfach verquickt ist, ähnlich zu liegen zu kommen.
Auch hier spielen sozialgeschichtliche Faktoren offenbar eine bedeutende Rolle179. Zum Teil ist die Frauenemanzipation eine eigenständige Entwicklung, zum Teil ist sie mit ökonomischen, kulturellen und medizinischen Entwicklungen verquickt. Gerade die Antikonzeption hat sie wahrscheinlich entscheidend vorangetrieben, indem sie die Beziehung zwischen der Frau als solcher und der Fortpflanzung etwas lockerte. Damit verliert, was an der Frau im
Dienst der Fortpflanzung steht, an Bedeutung als pars pro toto und
damit auch die Menstruation an Symbolwert. Zudem ist, was die
Menstruation in unserem Zusammenhange symbolisierte, nämlich
die Krankheitsartigkeit des Frauseins an sich bzw. die körperliche
und geistige Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann, aus
der offiziellen Diskussion in intimere Bereiche zurückgedrängt
worden, vielfach geradezu dem Tabu verfallen und damit natürlich
- für den Augenblick - auch die zugehörige wissenschaftliche Untermauerung einer derartigen Annahme.
Ferner scheint die emanzipatorische Erweiterung des Spektrums
der für die Frau zugelassenen sozialen Tätigkeits- und Ausdrucksformen einerseits zum Abbau der im 19. Jahrhundert offenbar üppig florierenden Ressentiments und Aggressionen vieler Frauen gegenüber ihren Gatten und Familien beigetragen zu haben, so ist es
der Frau ja seit rund 100 Jahren (in Amerika länger, in Deutschland
weniger) auch verstattet, Medizin zu studieren und sich gynäkologisch, psychiatrisch, medizingeschichtlich zu äussern - auch über
die Menstruation, wenn sie derartiges beschäftigt - was ja dann
wiederum seine Rückwirkung auf die offiziellen Lehrmeinungen
haben kann.
83
Im speziellen hat die Menstruationslehre des 19. Jahrhunderts
auch in der forensischen Medizin an Bedeutung verloren. Die Differenzierung und Etablierung der forensischen Psychiatrie, die vermehrte Zulassung psychologischer und soziologischer Argumentationen in der Rechtssprechnung haben auch hier die Menstruation
gewissermassen ihrer Ventilfunktion enthoben. Zudem hat der Gesetzgeber dem Arzt das Instrumentarium der Verteidigung zum
Teil aus der Hand genommen, indem er die medizinischen Voraussetzungen einer Strafmilderung oder Exkulpation in den Gesetzestext aufnahm. Die Menstruation hat er aber als solche nie übernommen.
So nimmt die Menstruation schon in Karl Birnbaums (1878- frühe
1950er Jahre) «Kriminalpsychopathologie» von 1921 nur noch wenig Platz ein. Eher nebenbei erwähnt Birnbaum, auf einer halben
Seite «Affektdelikte aus temporär geschwächter Selbstbeherrschung, impulsive Delikte, wie Warenhausdiebstähle, durch episodisch erhöhte Nachgiebigkeit gegen gefährdende Anreize, triebartige Brandstiftungen und Kindertötungen aus passageren Menstrual- und Pubertätsverstimmungen u. dgl. mehr»180.
Albrecht Langelueddeke schliesst sich mit seinen gerichtspsychiatrischen Ausführungen über die Generationspsychosen noch 1971
Ewalds Meinungen an, unter Betonung allerdings von dessen Zurückhaltung und Skepsis181. Im zweibändigen, 1700 Seiten dicken
«Handbuch der forensischen Psychiatrie» von 1972 bzw. in dessen
fast 30 Seiten langem Index aber figuriert die «Menstruation» nicht
mehr182.
84
HEBAMMEN UND HYMEN (1977)
I. EINLEITUNG UND ZUSAMMENFASSUNG
Sowohl die Hebammen als auch der Hymen haben eine ehrwürdige Vergangenheit. Die Hebammen waren einst, im Mittelalter,
nicht viel anderes als weibliche Ärzte, gynäkologisch-geburtshilfliche Spezialistinnen, die sich weitgehender Autonomie und Hochachtung erfreuten, nicht unähnlich den damaligen Chirurgen, die,
wenn sie auch von der Schulmedizin mehr oder weniger verachtet
waren, doch im Volk und im gesamten Verarztungssystem eine
wichtige Rolle spielten. Besonders auch als Stadthebammen konnten diese Frauen zu hohem Status kommen183 (vgl. S. 16). Diese
Vergangenheit wird um so leichter vergessen, als sie schlecht dokumentiert ist. Hebammen schrieben noch weniger als Chirurgen,
und so wenig ihr Analphabetismus im Mittelalter, das die mündliche Tradition ja sehr pflegte und hochhielt, sie vom Bildungsgut
der eigenen Zeit abschnitt, so sehr hat er sie von der späteren Geschichtsschreibung abgeschnitten.
Der Hymen aber galt im Mittelalter offenbar vielfach als Zeichen der Virginität - die ja während Jahrhunderten ein grosses,
wichtiges Thema gewesen ist, welches über unmittelbar körperliche Fragen weit hinausging. Auch die Geschichte des Hymens liegt
zu grossen Stücken im Dunkeln.
Aristoteles braucht den Namen Hymen indifferent für alle möglichen Membranen, und nur unter vielen anderen membranösen Gebilden erwähnt er auch den Hymen, den wir heute speziell so nennen184. Es ist auffällig, dass «Hymen» auch der Name des Gotts der
Ehe war; er erhebt sich da natürlich die Frage, ob ausserhalb der
Wissenschaft der Name Hymen doch schon in der Antike mit dem,
was wir so nennen, mehr als mit anderen Membranen assoziiert
wurde, oder ob es sich dabei um eine die spätere Entwicklung anregende Homonymie handelt185 - das eine schliesst das andere nicht
aus. Bei den Klassikern der antiken Medizin findet man keine Erwähnung oder Beschreibung des Hymens. Von Soran ist die Aner-
85
kennung einer jungfräulichen Enge der Vagina bei ausdrücklicher
Ablehnung einer Membran überliefert186. Hingegen wird der arabische Gelehrte Avicenna (980-1037) oft als der früheste medizinische
Autor angegeben, der ein Jungfrauenhäutchen beschrieben hat tatsächlich spricht er in seinem Canon von einem aus Ligamenten
und Gefässen bestehenden panniculus, den man bei Jungfrauen
finde187. Immer wieder wird ferner in der medizinischen Literatur
die Frage nach dem Hymen mit dem biblischen Jungfernschaftszeichen der Deflorationsblutung assoziiert (das mit Blut befleckte
Tuch, das nach der Hochzeitsnacht vorgewiesen wird188).
Es scheint, dass die mittelalterliche Wissenschaft ihr Wissen vom
Hymen vor allem aus jüdischer und arabischer Tradition bezog.
Zwar dürfte auch die Tradition des Frauengeflüsters da eine Rolle
gespielt haben, doch ist diese naturgemäss nicht quellenkundig. Historisch spricht für ihr Wirken nur, was wir im folgenden sehen
werden, dass nämlich die frühe neuzeitliche Wissenschaft den Hymen mit den Hebammen recht eng assoziierte. Auf welche Tradition die Bemerkung des Jacopo Berengario da Carpi (1470-1550)189
über den Hymen - ausser auf die Beobachtung - zurückgeht, ist aus
derselben nicht ersichtlich; Andreas Vesalius (1514-1564) zitiert mindestens in der ersten Fassung seiner «Fabrica»190 - die Araber als
Autoritäten in Sachen der Anatomie des Hymens (in der FolioAusgabe von 1555 distanziert er sich von den Arabern zugunsten
eigener Befunde191).
Wenn in der Folgezeit zahlreiche Autoren die Existenz des Hymens negiert haben, liegt es dem Historiker demnach nahe, hierin
einerseits den Ausdruck der realen Probleme zu sehen, denen die
wissenschaftliche Untersuchung des Hymens begegnet sein wird,
andererseits aber auch den Ausdruck des für die Renaissance typischen In-den-Vordergrund-Tretens der klassisch-antiken und der
schriftlichen Tradition (Humanismus, Buchdruck) gegenüber den
arabischen, jüdischen und den hausärztlich-mündlich-wehmütterlichen Traditionsströmen.
In der vorliegenden Arbeit soll aus all den Problemen, die bei
diesen Überlegungen auftauchen, ein kleines Teilproblem herausgegriffen werden: die Geschichte der Beziehung zwischen dem
86
Hymen und den Hebammen, wie sie sich in der medizinischen,
speziell gerichtsmedizinischen Literatur der Neuzeit präsentiert, die
Geschichte also der Beziehung zwischen einem Beruf und einem
anatomischen Detail, zwischen einem Stück Standesgeschichte und
einem Stück Wissenschaftsgeschichte.
Diese Geschichte sei kurz zusammengefasst. Sie lässt sich in drei
Phasen aufteilen. In der ersten Phase (16. Jh.) wurde dem Hymen
sein Wert als Virginitätszeichen, vielfach sogar seine Existenz abgesprochen und dies dann als Argument gegen die Sachkunde der
Hebammen, speziell gegen ihre Kompetenz, in foro über die Virginität auszusagen, verwendet. In einer zweiten Phase hielt der Hymen allmählich wieder Einzug in die medizinische Wissenschaft,
dabei wurde seine Assoziation mit den Hebammen vermieden, was
sich zum Teil in neuen Namengebungen äussert (17. Jh.). In einer
dritten Phase (18. Jh.) wird «Hymen» wieder zur gebräuchlichen
Bezeichnung der nun wieder als Virginitätszeichen anerkannten
Jungfernhaut. Man hätte sagen können, damit sei die Auffassung
der alten Hebammen zur Auffassung der medizinischen Wissenschaft geworden. Die Hebammen waren aber unterdessen sehr
weitgehend heruntergekommen, und so wurde das Bedürfnis nicht
laut, hierauf hinzuweisen. Eine Ausnahme bildet Giovanni Battista
Morgagni, der ja auch historisch hochgebildet war. Aber Morgagni
konnte anhand der Literatur zeigen, dass die Hebammen sich geirrt
hatten.
An der Geschichte der Beziehung zwischen Hebammen und Hymen zeigt sich etwas von der Wechselwirkung, die da zwischen
Wissenschaftlichem und anderem - vom individuellen Erleben und
Streben bis zum organisiert-gesellschaftlichen Phänomen - bestehen kann. Es zeigt sich vielleicht auch etwas von der Schlüsselstellung der Sprache in dieser Wechselwirkung. Die Sprache dient
auch hier nicht allein der Abbildung und Wiedergabe von Dingen,
sondern auch deren Integration in übergeordnete menschliche Situationen; Worte sind ja nicht nur Instrumente der Informationsübertragung, sie sind auch die Information selbst und damit mächtige Werkzeuge der Gestaltung - Gestaltung von wissenschaftlicher
87
Erkenntnis sowohl als von menschlichen Beziehungen. Im Wort
sind menschliches Erleben und menschliches Verhalten gewissermassen in eine Form gegossen.
II. DIE NEGIERUNG DES HYMENS
Wenn man sich zuerst darüber klar zu werden versucht, welches
die Hintergründe der Bestrebungen der neuzeitlichen Mediziner
waren, den Hebammen die Untauglichkeit ihres Virginitätskriteriums «Jungfernhaut» nachzuweisen und sie damit für gerichtsärztliche Tätigkeit zu disqualifizieren, muss man sich vor Augen
halten, welches Paradox es bedeutete, dass die gerichtsmedizinische
Beurteilung der Virginität im Mittelalter in den Händen der
Hebammen lag.
Es war im späteren Mittelalter schon schlimm genug, dass sozusagen die gesamte gynäkologisch-geburtshilfliche Tätigkeit in den
Händen von Frauen lag, denn so sehr diese Tätigkeit von der
Schulmedizin verachtet war, bedeutete sie doch, dass wichtige
Bereiche des täglichen Lebens der Kontrolle der Männer mehr oder
weniger entzogen waren. Dass dies nicht ohne Spannung abging,
spiegelt sich in häufig anzutreffenden Zeichen der männlichen
Angst, Wehmütter vermittelten Antikonzeptiva, Liebesmittel, Abortiva, leisteten Beihilfe zum Kindsmord usw., wobei dann das
Image der Wehmutter in dasjenige der Kupplerin und der Hexe
überzugehen pflegt192.
Mit der Begutachtung der Virginität lag nun ein Tätigkeitsfeld
in Frauenhänden, das den Mann noch ausschliesslicher interessierte
und noch brennender insofern, als es dabei doch häufig um Streitfälle zwischen den Geschlechtern ging. Es ist anzunehmen, dass in
dieser Situation bei den Männern der Wunsch Raum gewann, die
Begutachtung der Virginität selbst zu übernehmen, um so mehr als
sich keineswegs ausschliessen lässt, dass diese Begutachtung, wenn
sie von Frauen vorgenommen wurde, effektiv gelegentlich übermässig stark zugunsten der Geschlechtsgenossin ausfiel.
Ein anderer Grund, weshalb die Gutachtertätigkeit der Hebammen zu Spannungen führte, war wohl der, dass gerichtliche Tätig88
keit im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein ganz besonders
hochgeachtet war. Denn der Jurisprudenz kam im Mittelalter ähnlich hoher Rang zu wie der Theologie, ein höherer jedenfalls als
der Medizin193. So lag mit der Gutachtertätigkeit eine Tätigkeit in
den Händen der Hebammen (wie der Chirurgen), die selbst einem
Mann vom Status des gelehrten Mediziners Ehre machen konnte eine weitere Inkonsistenz, die nicht ohne Spannungen abgehen
konnte. In der Frage der Virginität aber spitzte sich auch diese Situation zu, denn diese Frage wurde - im Gegensatz etwa zur Frage
nach dem Vorhandensein einer Schwangerschaft und anderen
geburtshilflich-gynäkologischen Fragen - praktisch nur in der forensischen Situation gestellt.
Es kann daher nicht wundernehmen, dass die gutachterliche Tätigkeit der Hebammen in Sachen der Virginität eine besonders beliebte Zielscheibe der Ärzte wurde, die sich in der Neuzeit für
gerichtliche Medizin zu interessieren begannen, wobei eben vor allem kritisiert wurde, dass die Hebammen ihre Virginitätsdiagnose
auf die Präsenz des Hymens abstellten. So schreibt etwa der grosse
Paré: «Also begibt sichs auch offtmals ..., dass etwan von dieser
oder jener Weibs Personen Jungfrawschafft disputiret und gefragt
wird: Und zwar so ist von diesen fast schwärlich zu judicieren und
zu antworten. Etliche Matronen und Hebammen geben für, es
haben diejenige, so noch Jungfrawen unnd ungeschwächt seyen, in
dem Halse oder Eingang zu ihrer Gebärmutter ein Häutlin ... dasselbe, sagen sie, werde in dem ersten Beyschlaff zerrissen ... Wie
betrüglich unnd ungewiss aber diese Kenn- unnd Merckzeichen
seyen, wird auss ... Historien unnd Zeugnussen mehr dann genugsam erwiesen. Denn ... das Häutlin belangendt, so ist dasselbig ein
unnatürlich Ding, und wird unter viel tausent jungen Mägdlein
kaum in einem gefunden ...»194 Im Buch «Von dess Menschen Geburt» widmet Paré dem Hymen nochmals ein ganzes Kapitel.
«Zwar die Hebammen rühmen, dass sie auss diesem eine Jungfraw
von einer, so geschwächt und beschlaffen worden, leichtlich unterscheiden können, nach dem es nemlich gantz und unverletzt oder
zerrissen sey, und feilen die Richter oder Oberkeiten, in dem sie ih89
nen allzubald gläuben und meynen, es könne solche ihre Aussag
nicht fehlen, manchmal sehr unbilliche Urtheil. Denn dass diese
freche unnd unverschämpte Weiber von diesem Häutlin nichts gewisses haben können, ist auss diesem gnugsam abzunemen, dieweil
etliche auss ihnen fürgeben, es (dieses Häutlin) beruhe aller eusserst
und in dem ersten Anblick zwischen den Wänden oder Lefftzen
dess Gemächts, etliche in der Mitte dess Halses oder Eingangs in die
Gebärmutter: etliche weitter darinnen, nächst bey dem inwendigern Mundtloch der Gebärmutter ... Und fürwar, so kan man von
einem solchen Ding, so dermassen selten erscheinet, unnd auch wider die Natur ist, meines Erachtens nichts gewisses schliessen ...»195.
Natürlich taucht beim Lesen dieses Textes die Frage nach der
realen Basis einer derartigen Stellungnahme auf. Diese Frage ist
letztlich wahrscheinlich nicht lösbar, weil Erwartungsstruktur und
Erfahrung auch in der Geschichte als eine Einheit gesehen werden
müssen, deren innere Organisation immer höchstens teilweise erschlossen werden kann. Im vorliegenden Falle glaubt man allerdings, die Vermengung von Hymen und Atresie196 und die alte terminologische Verwirrung um das weibliche Genitale durchzuspüren, welche sich aus der Galen’schen Analogie ergab (vgl. S. 14-16).
Ähnlich wie Pari und auf diesen sich stützend äussert sich der Leibchirurg Philipps II. (regierte 1556-1598), Juan Fragoso - auch ihm
ist der Hymen kein aussagekräftiges Virginitätszeichen. Er schreibe
über diese Sache, beschliesst Fragoso sein Kapitel über die Jungfernschaftsbestimmung, damit die Richter den Hebammen nicht immer
Glauben schenkten, wenn diese darüber aussagten, auch, um die
Ärzte und Chirurgen zu unterrichten197.
Giovanni Battista Codronchi (1547-1628), der wohl erste medizinische Autor, der das Thema Gerichtsmedizin einigermassen zusammenfassend behandelte, ist ebenfalls der Meinung, die Virginitätsuntersuchung sollte den Medizinern übertragen werden. Denn die
Hebammen, denen die Rechtsgelehrten die Sache zu überlassen
pflegten, irrten sich wieder und wieder, weil sie - mangels Sachkenntnis - die Virginität nach Kriterien beurteilten, deren erstes,
ein Häutchen, Hymen genannt, nach der Meinung der gewiegtesten Anatomen kaum je vorhanden ist - wenn aber, so wird es oft90
mals von den Heranwachsenden selbst zerstört. Deshalb ist der auf
dem Hymen basierende Schluss auf die Virginität irreführend und
zweifelhaft. Wenn die Sache den Medizinern übertragen wird,
muss daher nach Virginitätszeichen gesucht werden, welche eine
sicherere Entscheidungsbasis abgeben; hierfür biete sich zuerst die
Besichtigung des Urins an, welcher nach der Meinung der gelehrtesten Männer bei Jungfrauen klarer und dünner ist als bei Frauen.
Zweitens gibt es gewisse Virginitätsproben - Codronchi gibt u. a. die
genitale Räucherung an - von welchen die Jungfrau in Nase und
Mund keine Dämpfe und Exhalationen verspürt, die Frau aber
wohl198.
In einem Brief an einen Geistlichen hat sich gegen Ende des
16. Jh. Horatius Augenius (1527-1603) über den Hymen und die Unsicherheit der Virginitätszeichen ausgelassen199. Augenius liebte es,
sich in Briefen mit anderen Gelehrten zu streiten; er hat seine Laufbahn als Professor der Logik und der theoretischen Medizin begonnen (was damals recht körperabgewandte Disziplinen waren), war
später aber in der Praxis tätig. Speziell auch scheint er sich für
gerichtsmedizinische Fragen interessiert zu haben.
Augenius lehnte den Hymen als Virginitätszeichen ab. Für ihn
gibt es keine sichere Unterscheidung zwischen der Jungfrau und
der Frau. Als geschulter Logiker und Argumentator bringt er aber
zunächst die Zweifel zu Papier, die seiner These entgegengehalten
werden könnten. Da ist einmal die Meinung vieler Rechtsgelehrter, die am Hymen nicht zweifeln. Auch das Volk sei der Meinung.
Aristoteles und Avicenna sprechen ebenfalls von dieser Membran. Es
ist auch zu sagen, dass es ja Verschliessungen durch starke Membranen gibt, wieso soll es denn nicht zarte, schwache geben? Ferner
steht die Autorität des Anatomen Berengario da Carpi hinter dem
Hymen200. Und schliesslich ist dieses sichere Virginitätszeichen
durch die Bibel und profane Schriften, auch durch die Autorität
der Kirchenväter bezeugt - und durch die Aussagen der Hebammen. Und warum soll man den Hebammen denn in Sachen ihrer
Kunst misstrauen? Man urteilt sicherer über das eigene Handwerk
als über fremdes.
Dann kommt Augenius aber zu den Argumenten, die gegen den
91
Hymen sprechen. Weder die Erfahrung noch die Vernunft sprechen für die Existenz eines speziellen Jungfernhäutchens. Er berichtet, dass sich Eustachius (Bartolommeo Eustachi, geb. um 1520 bis
1574) und Columbus (Realdo Colombo, 1516-1559) hierüber einmal
gestritten haben, da Colombus an die Existenz des Hymens glaubte.
Sie beschlossen, die Sektion entscheiden zu lassen, und sezierten
zwei Mädchen. Da sie bei keinem einen Hymen fanden, gab sich
Columbus geschlagen. In seiner Anatomie beschreibt er den Hymen
dann als selten und pathologisch, nämlich Coitus-behindernd201.
Auch der Leibarzt Philipps II., Franciscus Vallesius (1524-1592),
versichert in seinem Buch über die heilige Naturkunde202, man
finde an der Jungfrau keine Membran, die die Jungfernschaft hüte,
man finde nur eine starke Enge, die beim ersten Beischlaf zerreisse.
Ähnlich glaubt Johannes Fernelius (1497-1558), es liege bei den
Jungfrauen kein Häutchen vor, wie es die Alten unter dem Namen
Hymen gekannt hätten, sondern bloss eine Art von Verklebung,
die dann zerreisse203. Augenius zieht noch weitere Autoritäten zur
Stützung seiner These herbei, darunter natürlich Paré - und
schliesslich hat Galen selbst den Hymen mit keinem Wort erwähnt.
Dann folgen seine Vernunftgründe. Erstens: Auch wenn der Hymen ein Teil der Jungfrau wäre, so könnte er doch höchstens ein
akzidenteller Teil sein, wie ein Blasenstein, ein sechster Finger oder
eine Geschwulst. Zweitens arbeitet die Natur ja immer optimal. Es
gäbe aber bessere und einfachere Methoden, die Virginität zu
schützen, als so eine Membran. Drittens ist nicht einzusehen, wozu
die Natur den Hymen überhaupt gemacht hätte, da sie ja doch
nichts Unnützes tut. Ein Hymen kann deshalb höchstens entstehen
wie ein Monstrum entsteht, und wie die Würmer im Leib des
Menschen. Und viertens findet man kaum zwei Hebammen, die in
Sachen Hymen einig wären. Die einen sagen dies, die andern das das nimmt ja auch nicht wunder von unwissenden und ungebildeten Weibern in dieser so schweren Frage.
Später spricht Augenius noch ausführlicher von den Hebammen.
Vor Zeiten war eine Hebamme gewissermassen eine Frauenärztin.
Die heutigen Hebammen aber können mit jenen kaum verglichen
werden. Denn sie verstehen nichts von Medizin und können nichts
92
anderes, als das Neugeborene in ihrem Schoss auffangen und seine
Nabelschnur durchschneiden und abbinden. Zu allem anderen sind
sie so geeignet wie der Esel zum Leierspiel. So taugen die Hebammen auch nicht, die Virginität zu beurteilen, wie es das päpstliche
Recht zulässt. Denn Auge und Hand der Hebammen irren oft, sogar durch das päpstliche Recht selbst ist dies bezeugt.
Fortunatus Fidelis (1550-1630), der erste gerichtsmedizinische Systematiker («De relationibus medicorum», Erstausgabe Palermo
1602), hat sich Augenius angeschlossen; er argumentiert wie dieser
gegen den Hymen, zitiert dieselben Autoritäten, und betrachtet
einen allenfalls vorhandenen Hymen als Missbildung. Auch er
wendet sich in demselben Atemzug entschieden gegen die Beurteilung der Virginitätsfrage durch Hebammen, da deren Beobachtungen gewöhnlich unsicher und irreführend seien. Der Tadel, den
Augenius über die Hebammen ausschüttet, nämlich, jede beschriebe
den Hymen wieder anders, trifft bei ihm aber auch die Anatomen.
Vesal204 beschreibe ihn als fleischige, Falloppius205 als nervige Membran, schreibt Fidelis, andere noch anders. Damit schützt er einen
schwachen Punkt von Augenius’ Plädoyer gegen allfällige Angriffe:
Augenius hatte nämlich von Vesal und Falloppius nichts gesagt. Fidelis findet noch andere Argumente, dem Zeugnis dieser beiden grossen Anatomen die Spitze zu brechen: Vesal habe den Hymen zwar
anerkannt, seinen Wert als Virginitätszeichen aber skeptisch beurteilt - einerseits zerreisse er oft nicht so leicht, selbst bei einem Beischlaf, andererseits gebe es die Sitte, dass die Hebammen bei der
Geburt dieses unnütze Gebilde sprengen, wie die Juden die Beschneidung pflegen206. Zudem habe Vesal später einmal, in seinem
Brief über die Chinawurzel (1546), geschrieben, er habe nur einmal ein Mädchen seziert, dabei zwar einen Hymen gefunden, daraus indessen nichts sicheres zu schliessen gewagt207. Des Falloppius
Aussage aber stehe die von anderen Ärzten von ebenso grosser Autorität entgegen. Fidelis traut aber auch den übrigen Virginitätszeichen - Urinproben, Räucherungen, Zeichen des dicken Halses und
der breiten Nasenspitze von Entjungferten - nicht. Alles in allem:
Es gibt keine sicheren Jungfernschaftszeichen, wie auch Augenius
bestätigt habe. Ein Starrkopf wäre also, beschliesst Fidelis seine Lek93
Ausschnitt aus einem Titelblatt zu Fidelis’ «De relationibus ...», auf welchem in solchen
Bildchen die Hauptthemen der seinerzeitigen Gerichtsmedizin dargestellt sind.
tion über die Jungfernschaft, wer gegen so viele berühmte medizinische Autoren aufrecht erhalten wollte, diese Membran finde
sich bei allen Jungfrauen und man könne hieraus ein sicheres Urteil
über die Virginität ableiten208.
Interessant ist ein Einleitungsgedicht zu Fidelis’ Werk aus der
Leipziger Ausgabe von 1674, welches die Frage der Virginität
gleich als erste anführt, während sie im Werke selbst als eine eher
seltene Frage bezeichnet wird. Wieviel Tränen, wieviel Ehrverlust,
heisst es da sinngemäss, wenn die Jungfrauschaft bezweifelt wird!
Die Hebamme kommt dann, berührt die Jungfrau, sucht nach dem
Hymen und urteilt danach - «o falsa matrum signa!» durch welche
kaum zwischen Buhldirne und der Reinheit der Jungfrau unterschieden wird209. Hier erscheint der medizinische Begutachter also
als Erretter der Angeklagten - ein immer wiederkehrendes Motiv
der poetischen Seite des Faches - und gerade das verlangt ihm die
Ablehnung von Hebammen und Hymen ab.
Die Auffassung, es gebe keinen Hymen und die Verwendung
dieser Auffassung als Argument gegen die Gutachtertätigkeit und
gegen die Sachkunde der Hebammen überhaupt, finden sich auch
im weiteren Verlauf des Jahrhunderts. Sie findet sich in Roderico a
Castros (um 1546-1627) «Medicus politicus» von 1614210 und noch
1704 in dem brillanten und einflussreichen Buch des Leipzigers
Johannes Bohn (1640-1718) «De officio medici duplici, clinici nimirum ac forensis»211. Bohn tritt zwar «männlich und gründlich», wie
ihm ein späterer Historiker zuerkennt212, bereits sehr allgemein gegen alle Gutachtertätigkeiten der Hebammen auf, doch sein erstes
94
spezielles Argument ist dabei immer noch die Virginitätsbegutachtung und die Inexistenz von Virginitätszeichen, vor allem des Hymens213. Der Brauch, im Zusammenhang mit der Frage der Virginität auf die Untauglichkeit der Hebammen zu sprechen zu kommen,
hat sich noch länger gehalten, bis weit in die Zeit hinein, in der der
Hymen bereits wieder als Virginitätszeichen anerkannt war - als ob
die alte Assoziation ohne ihr altes Rationale fortbestanden hätte214.
Vielleicht hat auch der Brauch der Hebammen, die Virginitätsbegutachtung für sich zu beanspruchen, und der juristische Brauch,
sie hierfür beizuziehen, hier eine assoziationsverstärkende Rolle gespielt. «Diese Frage wäre sehr lächerlich», scheint jedenfalls Albrecht
von Haller (1708-1777) in seiner gerichtsmedizinischen Vorlesung
von 1751 zur Frage der Gutachtertätigkeit der Hebammen gesagt
zu haben, «wenn die Rechtsgelehrsamkeit nicht für gut gefunden
hätte, ihr das Gepräge des Ernsthaften zu geben»215.
Wenn hier zunächst versucht wurde, diese Frühphase unseres
Themas auf ihre Standes- und sexualpolitischen Hintergründe hin
zu durchleuchten, so heisst das nicht, dass in diesen Hintergründen
die Motive der beschriebenen Entwicklung gefunden sein wollten.
Schon mancher Historiker hat sich auf der Jagd nach Motiven
verirrt; Motive sind Privatsache, auch bei historischen Persönlichkeiten, und der Historiker tut gut daran, mit seinem Verständnis
nicht totalitär zu werden, sondern Diskretion walten zu lassen. Er
muss froh sein, wenn er die Motive im Bereich der eigenen Person
halbwegs zu fassen bekommt. Dass man aber auch für die Vergangenheit versucht, die geschichtemachenden Funktionskreise zu rekonstruieren, in welche die überlieferten Quellen eingebaut waren,
ist wohl legitim - und fruchtbar insofern, als man dabei lernen
kann, auch den eigenen sprachlichen Ausdrucksweisen gegenüber
funktionskritisch zu werden.
95
III. DIE NEUENTDECKUNG
DER JUNGFERNHAUT
In der zweiten Phase unseres Themas löste sich in der gerichtsmedizinischen Literatur der enge Zusammenhang von Hymen und Hebammen - es fällt diese Phase grob mit dem 17. Jahrhundert zusammen. Der Hymen wurde allmählich in seiner Existenz ganz, in
seiner Aussagekraft über die Virginität bedingt, akzeptiert. Die
Hebamme wurde weiter abgelehnt, aber nicht mehr nur als Gutachterin, sondern als Praktikerin überhaupt, wobei anstelle des
Einzelarguments, sie verstünde von ihrem gutachterlichen Kerngebiet, der Virginität, nichts, das Argument trat, sie sei ganz allgemein inkompetent, woraus sich ihre forensische Inkompetenz ganz
von selbst ergab216.
Die Wiedereinführung des Hymens in die Gerichtsmedizin geschah unter dem Druck der anatomischen Befunde. Es war deshalb
nicht der Hymen der Hebammen, der nun doch anerkannt worden
wäre, sondern es war der Hymen der Anatomen (Berengario da
Carpi, Vesal, Falloppius), wie ihn etwa Melchior Sebitz (1578-1674)
1630 in seiner «Disputatio de notis virginitatis» darstellte217. Melchior
Sebitz war der Sohn eines gleichnamigen Stadtarztes im Elsass und
selbst Anatomieprofessor und Stadtarzt in Strassburg. In seiner
Schrift legt er den Streit um den Hymen dar; als Autoritäten, die
dessen Existenz anerkennten, zitiert er die neuzeitlichen Anatomen,
als Gegner vor allem Augenius. Er selbst findet die Ablehnung des
Hymens lächerlich und missbilligt seine Betrachtung als selten und
wider die Natur. Denn diese Membran existiere, er selbst habe sie
oft gefunden und zweifle nicht, dass man sie bei Jungfern meistens
finden könne. Der Hymen sei eine dünne Membran, die ohne weiteres sichtbar werde, wenn man die Schamlippen, ohne Instrument,
etwas spreize. Sie sei bald mondförmig, bald voller und lasse immer den Blasenausgang frei. Mit der Enge der Geburtswege, der
Deflorationsblutung und dem Deflorationsschmerz zusammen
halte er den Hymen für ein wahrscheinliches Virginitätszeichen.
Sebitzens Arbeit ist später zum medizinhistorischen Klassiker geworden218.
96
Seinerzeit aber scheinen andere Formen der Re-integration des
Hymens in die medizinische Wissenschaft eher vorgezogen worden
zu sein. Es sind deren auch viele unterbreitet worden: die Verengung des Vallesius, die Verklebung des Fernel (s. S. 92), die beiden
durch eine Art von Leim aneinanderhaftenden Membranen, welche Laurent Joubert (1529-1582) fand, als er, von Falloppius dazu angeregt, nochmals nach dem schon ins Reich der Fabeln verwiesenen Hymen suchte219.
Mauriceau sah den Hymen wie Pineau, nämlich als: «I.I.I.I. Les caruncules myrthiformes.»
97
Auch des Severinus Pinaeus (Mitte 16. Jh. bis 1619) Formel von
1598 gehört hierher. Pineau schreibt, alles, was über den Hymen
gesagt und geschrieben worden sei, sei müssig und falsch. Es gibt
keine transversale, perforierte Virginitäts-Membran. Aber einen
Hymen gibt es eben doch, und zwar besteht er aus vier Membranen, welche nach abwärts gerichtet sind, und vier dazwischen
befindlichen Carunceln. Eine solche Jungfernhaut ist nun wirklich
bei den Jungfrauen vorhanden, und die Defloration besteht in der
Zerreissung und Auseinandersprengung dieses blumenartigen Gebildes220. (Auch dieses Caruncel-Konzept hat seine Tradition, und
caruncel-artige Gebilde als Virginitätszeichen finden sich schon in
den drei von Joubert wiedergegebenen, die Virginität betreffenden
Berichten von Hebammen221.) Übrigens zeigt die Titelseite einer
Pineau-Ausgabe von 1639 - dies ein anderer Aspekt der poetischen
Seite der Gerichtsmedizin - den Jäger Aktaion, der die jungfräuli98
che Artemis beim Bade belauscht: das Hirschgeweih spriesst bereits
auf seinem Kopf222.
Jean Riolan der Jüngere (1580-1657) hat Pineaus Carunceln verworfen und stattdessen eine Enge des Scheideneingangs gefunden,
welche durch eine Duplikatur des Uterushalses (= Vagina) gebildet werde, und die zur Diagnose der Jungfernschaft beitrage223. Bei
Riolan entwickelt sich also ein jungfernhautartiges Gebilde aus der
alten, von den Medizinern immer anerkannten «Enge» - bei Regnier de Graaf (1641-1673) wird man die «Enge» dann voll zur Jungfernhaut entwickelt finden224. Graafs wichtiges Werk über die
weiblichen Genitalorgane von 1672 enthält nämlich im Kapitel
«Hymen» eine modern anmutende Beschreibung dieser Formation,
doch wird dabei der Name «Hymen» vorsichtig vermieden und
von «vaginae orificii coarctatio» gesprochen. Diese Coarctatio be-
De Graaf sah den Hymen als «jungfräuliche Enge». Legende: «E.E.E. Vaginae orificii
coarctatio, prout eam in virgine 24. annorum invenimus.»
99
greift, schreibt Graaf, alles in sich, was bisher als Hymen, carunculae myrtiformes, jungfräuliche Verschliessung der Scheide beschrieben worden sei - man müsse sie allerdings von der Atresie scharf
unterscheiden. Graafs Werk enthält auch eine Abbildung dieser
Coarctatio - sie lässt sich von einem modernen Hymen nicht unterscheiden. Als Stützen seiner Befunde zieht Graaf Autoritäten wie
Berengario, Vesal, Falloppio herbei, aber auch solche, die wir als Gegner des Hymens kennengelernt haben, wie Vallesius, Fernel - und
eben Riolan: so ist die von den Medizinern immer als Virginitätszeichen anerkannte, nur ihrer Simulierbarkeit wegen skeptisch betrachtete «Enge der Geburtswege»225 zum nominell verworfenen
«Hymen» umfunktioniert.
Dem «Vater der Gerichtsmedizin», Paolo Zacchias (1584-1659),
aber hat Pineaus Version am meisten eingeleuchtet. Wollten die
Rechtsgelehrten wissen, schreibt er, ob eine Jungfernschaft verletzt sei, gäben sie, wo das Urteil der Hebammen kein sicheres sei,
oder diese unter sich uneinig seien, diese Frage an die Ärzte weiter.
Und wenn auch die Menge glaubt, es gebe sichere Virginitätszeichen, namentlich den Hymen, so stimmten doch alle neueren Autoren - Paré, Augenius, Joubert, Codronchi, Fidelis, Vallesius usw. darin überein, dass der Hymen nicht als solches gelten könne. Denn
wenn er überhaupt vorhanden ist, so muss er doch beim Beischlaf
keineswegs zerreissen, namentlich wenn er hoch liegt, hart oder
von der Menstruation etwas aufgeweicht ist. Es bestehe somit im
Bezug auf den Hymen eine grosse Verwirrung. Wenn man unter
dem Hymen aber mit Pinaeus vier durch Membranen verbundene
Carunkeln versteht, welche aussehen wie Myrtenblätter, so ist die
Sache klarer. Dieses Gebilde lässt auch Schlüsse über die Virginität
zu. Und zwar ist auf Farbe, Grösse und Zusammenhalt der Carunkeln zu achten, denn diese sind bei Jungfrauen fetter, roter und
durch vier Membranen verbunden. Diese Zeichen, wenn sie alle
vorhanden sind, lassen nun allerdings doch einen gewissen Wahrscheinlichkeitsschluss auf bestehende Virginität zu226.
Unter dem grossen Einfluss Zacchias’ haben sich die Carunculae
dann in der Gerichtsmedizin sehr lange gehalten. Gaspare a Rejes
(geb. um 1600) nennt es mehr als sicher, dass es keinen Hymen
100
gebe, während er die Existenz eines blumenähnlichen CaruncelGebildes konzediert227, und noch in Michael Albertis (1682-1757)228
und in Hermann Friedrich Teichmeyers (1685-1746) Lehrbuch stehen
die carunculae als Virginitätszeichen. Aber sie stehen da bereits neben dem Hymen229.
Die Hebammen haben von der allmählichen Rehabilitation der
Jungfernhaut nichts gehabt. Ihre Geschichte hat sich von der des
Hymens getrennt, als dessen Wiederaufstieg begann. Nicht durch
die Autorität der Hebammen, sondern durch diejenige der Anatomen ist der Hymen wieder in Kurs gekommen; von den Anatomen, nicht von den Hebammen haben ihn die Gerichtsmediziner
übernommen. So konnte dies auch keinen Einfluss haben auf die
Beziehung der Ärzte zu den unterdessen recht heruntergekommenen Hebammen, die im 18. Jh. dann reif wurden, ihr Wissen in
ärztlich geleiteten Hebammenschulen zu beziehen. Die Rehabilitation des Hymens bedeutete auch darum noch lange keine Rehabilitation der Hebammen, weil die Gerichtsmediziner die Aussagekraft
des Hymens in Bezug auf die Virginität vielfach viel weniger zu
anerkennen geneigt waren als seine Existenz - was zum Teil wohl
durch die Tradition, zum Teil aber gewiss auch durch die realen
Schwierigkeiten der Virginitätsbeurteilung bedingt war. Man sieht
das in der Fallsammlung von Michael Bernhard Valentini (1657-1729)
von 1722230, man liest es, scharf ausgesprochen, bei Johannes Bohn
aus Leipzig in seinem massgebenden gerichtsmedizinischen Werk
von 1704231, auch Alberti232 und Teichmeyer233 betonen sehr, dass es
keine sicheren Virginitätszeichen gebe. Wiewohl gerade Teichmeyer
eigentlich bereits in die dritte Phase unserer Geschichte gehört,
denn er führt den «Hymen» bereits als Jungfernschaftszeichen Nr. 1
auf234.
101
IV. DIE ANERKENNUNG DES HYMENS
Es ist immer eine Portion Willkür bei Periodisierungen und der
Bezeichnung von Autoren als Vorläufer, Väter oder Nachzügler.
In gewissem Sinne leitet Sebitz jene dritte Phase, in welcher die
Jungfernhaut «Hymen» genannt und als Virginitätszeichen anerkannt wird, schon 1630 ein - aber man hat sich seinerzeit nicht auf
seine Lösung des Problems geeinigt. Eine solche Einigung kam vor
allem im 18. Jh., und zwar wahrscheinlich unter dem Einfluss des
Giovanni Battista Morgagni (1682-1771) zustande. Der junge
Morgagni hat am Anfange jenes Jahrhunderts (1706)235 bereits verkündet, der Hymen könne bei Jungfrauen regelmässig gefunden
werden - schon Vesal habe ihn beschrieben - und wer die carunculas myrtiformes als Hymen ansehe, habe entweder keine Jungfrauen seziert oder nicht genau beobachtet, denn die Carunculae
seien nur die Überreste des Hymens, und nur bei Entjungferten zu
sehen. In dieser Sache sei dem gelehrten Riolan236 und Munnickius
(Johannes Munnicks, 1652-1701) zuzustimmen. Tatsächlich findet
man in Munnicks «Anatomia nova» (1699) die Bemerkung, die drei
carunculae myrtiformes - die Zahl der Carunkeln variiert im Laufe
der Geschichte237- seien nichts als die Überreste des infolge des Beischlafs zerrissenen Hymens238. Morgagni hat diese Ansicht später
wiederholt und noch weitere Autoritäten dafür beigebracht239.
Und diese Lösung hat sich dann, wohl auch im Zusammenhang
mit Morgagnis wachsender Autorität, im Laufe des Jahrhunderts
durchgesetzt.
Teichmeyer kannte Morgagnis Ansicht bereits240; sein prominenter
Schwiegersohn Albrecht von Haller aber, der aufgrund von Teichmeyers Lehrbuch gerichtsmedizinische Vorlesungen hielt, hat sie offenbar zur seinen gemacht. Die myrtenförmigen Drüsen, heisst es
in der Übersetzung einer Niederschrift seiner Vorlesungen, «hätte
... der Autor aus der Zal der Zeichen ausstreichen sollen ... diss von
Pinaeus zuerst gelehrte, und durch ihn nach der Hand in so manches
Buch eingeschlichne falsche Zeichen, ist weiter nichts, als ein desto
deutlicheres Merkmal einer verabschiedeten Keuschheit»241. Während Haller weder an der Existenz des Hymens noch an seiner
102
Tauglichkeit als Virginitätszeichen zweifelt. Die Erfahrung widerspreche den Gegnern des Hymens, soll er gesagt haben, «und ich
selbst bewahre ein Hymen von einer Jungfer von 45 Jahren ...»
Und: man könne «sicher im allgemeinen die Gegenwart des Hymens als ein Zeichen der Jungferschaft gelten lassen»242. Diese Ansicht hat sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts dann durchgesetzt, und gegen Ende des Jahrhunderts findet man in Joseph Jakob
Plenks (1738-1807) durchaus unoriginellem Kompendium der
gerichtlichen Medizin (1782) den Zustand des Jungfernhäutchens
ganz einfach als das Hauptkennzeichen der unverletzten beziehungsweise verletzten Jungfrauschaft deklariert243.
Damit konnte sich nun aber doch - und sei es nur des historischen Interesses wegen - die Frage erheben, ob denn die medizinische Wissenschaft nun auf die Virginitätsdiagnostik der alten Hebammen gekommen sei, und ob nun die Hebammen rückwirkend
rehabilitiert werden müssten? Es ist wohl kein barer Zufall, dass
sich gerade Morgagni der Beantwortung dieser Frage angenommen
hat. 1763244 hat er - in seinem und seiner Kollegen Namen, wie es
heisst - ein Gutachten verfasst über die Frage, ob die Beurteilung
der Virginität den Hebammen zu überlassen sei245. Und hier wird
nun nochmals über «Hebammen und Hymen» gesprochen. Die
Zeichen der Jungfernschaft sind unsicher, beginnt der Autor, das
bezeugten die Doktoren von jeher. Wenn aber die Doktoren in
dieser Sache unsicher sind, wieviel weniger werden die Hebammen, die über keine Doktrin und keine Anatomie verfügen, da zuständig sein?
Immerhin gibt es zwei Zeichen, die auf Virginität hinweisen
können: die Enge beim Orificium vaginae und die Membran, die
Hymen genannt wird. Die Enge kann sich spontan oder durch
Krankheit wieder herstellen oder durch die Bosheit der Frauen simuliert werden - nach Michael Alberti können Frauen ihre Vagina
auch durch einen speziellen Muskel so zusammenziehen, dass eine
jungfräuliche Enge resultiert.
Der Hymen kann als Virginitätszeichen ebenfalls täuschen. Doch
zuerst muss gesagt werden, was überhaupt ein Hymen ist und was
nicht. Denn es ist nicht mit den Hebammen zu irren und als Hy103
men zu betrachten, was Paré als widernatürliche Verschliessung
nachgewiesen hat, weshalb auch viele andere Autoren dieses Gebilde als widernatürlich und sehr selten beschrieben haben. Eigentlich hätten die Hebammen, die sich mit ihrer Erfahrung in Jungfernschaftssachen so sehr brüsten, diesen Irrtum am ersten fallenlassen sollen -, doch sie haben im Gegenteil, wie wiederum Paré bezeugt, versichert, sie könnten anhand dieser Membran mit Gewissheit eine Jungfrau von einer Angetasteten unterscheiden. Wenn
aber die Pariser Hebammen, die doch als einigermassen fachkundig
gelten, in diesen Irrtum fallen, wieviel mehr ist von unseren Hebammen zu befürchten. Wie ja auch Schurig (Martin Schurig, 16561733, ein berühmter gynäkologisch-geburtshilflich-embryologischer Kompilator) schreibe, früher seien die Hebammen gelehrte
und fachkundige Frauenärztinnen gewesen, während sie heute nur
noch zum Nabelabschneiden und zum Auffangen des Neugeborenen taugten. Deshalb auch übertrüge ihnen der Magistrat nie mehr
die Besichtigung und Begutachtung von Frauen, die Hebamme
werde lediglich noch als Helferin des Arztes gebraucht.
Wenn wir die Berichte unserer Hebammen lesen, fährt Morgagni
fort, ist es verwunderlich, was da an monströsen und wunderbaren
Dingen steht über ein Jungfernhäutchen, über die Kohärenz der
Teile und was sie sonst alles gefunden haben wollen. Und wenn
man sie dann fragt, was sie meinten, wissen sie entweder nichts
oder etwas ganz falsches zu antworten. Denn sie kennen die Literatur nicht. Sie kennen Pineaus Werk nicht, und wenn sie’s sähen,
würden sie’s nicht verstehen, denn auch er irrt insofern, als er die
Überreste des Hymens, die Carunculae, als Virginitätszeichen betrachtet.
Abgesehen von diesen fälschlicherweise als Hymen bezeichneten
seltenen Missbildungen - gibt es nicht vielleicht doch ein Gebilde,
das zu recht als Hymen bezeichnet wird? Gewiss, nämlich immer
an demselben Ort, im Eingang der Vagina, findet man eine Duplicatur der Scheidenwand, die etwas ringförmig so gelegen ist, dass
ein Foramen freibleibt. Die besten Anatomen haben dieses Gebilde
beschrieben - es folgt auch hier reichliches Autoritätenmaterial.
Wieso aber haben so viele andere hochgelehrte Männer den Hy104
men nicht gefunden? Hierfür hat Morgagni zwei Antworten. Erstens sieht der Hymen nicht bei allen Jungfrauen gleich aus. Zweitens aber suchten diese Autoren ein verschliessendes Gewebe statt
eines ringförmigen, und diese «animi dispositio» war ihrer Forschung ein schweres Hindernis. Nirgends zeigt sich das klarer als
bei Regnerus de Graaf, der den Hymen korrekt abgebildet hat und
dennoch schreibt, er habe ausser einer Verengung des Scheideneingangs keinen Schutz der Virginität gefunden. Wenn aber so geübte
Anatomen den schon vor ihnen beschriebenen Hymen sehen können, ohne ihn infolge einer vorgefassten Meinung als Hymen anzuerkennen, wie sollen dann die Hebammen, die nie eine solche
Beschreibung gelesen haben, ihn erkennen? Deshalb urteilen wir,
schreibt der Autor, es sei den Hebammen kein Vertrauen zu schenken. Und nach einem Exkurs über die Täuschungsmöglichkeiten
bei der Beurteilung des Hymens - er kann sehr wohl intakt einen
Beischlaf überstehen und die Beurteilung ist sehr schwierig - nochmals: Wir Ärzte meinen einstimmig, es sei das Urteil der Hebammen über die Virginität der Frau unsicher.
105
AUS DER MEDIZINGESCHICHTE
DER EINBILDUNGEN (1978)
I. EINBILDUNG, IDEE UND KREATIVITÄT:
PSYCHOGENIE DER ERSCHEINUNG
IM 16./17. JAHRHUNDERT
Wenn man im Brockhaus, Ausgabe 1960, unter «Einbildung» nachschlägt, so findet man diese definiert als «Vorstellung, der keine
Wirklichkeit entspricht». Als zweite Bedeutung steht da noch «der
Dünkel» - auch der dünkelhaften Vorstellung von der eigenen Person entspricht ja keine Wirklichkeit246.
Wenn man nun aber die «Einbildung» im neuesten Brockhaus von
1968 sucht, findet man sie nicht mehr. Hingegen findet man da,
zum Hauptschlagwort aufgerückt, die viel ernster genommene, mit
der Phantasie und schöpferischer Potenz verwandte «Einbildungskraft»247.
Nun, das könnte ein Zufall sein, ein Versehen, ein personeller
Wechsel in der Brockhaus-Redaktion. Es könnte aber auch die Widerspiegelung einer Entwicklung sein, die seit den späteren 60er
Jahren tatsächlich ein ganz neues Ernstnehmen der Einbildungskraft mit sich gebracht hat, ein Ernstnehmen, welches in der Auffassung der Einbildung als «Vorstellung, der keine Wirklichkeit
entspricht» unsicher gemacht hat. Tatsächlich erscheint heute die
Beziehung zwischen Einbildung und Wirklichkeit auch weiteren
Kreisen nicht mehr so einfach wie noch 1960, und keineswegs mehr
einfach die eines gegenseitigen Ausschlusses.
Historisch gesehen kann man dieses neue Ernstnehmen der Kraft
der Einbildung als eine Renaissance bezeichnen - als eine Wiedergeburt alten Gedankenguts in neuer Form. In ähnlicher Weise wie
manche moderne Gelehrte nahmen die Gelehrten der frühen Neuzeit die Einbildung, die Idee, die Phantasie ernst. Sie gestanden den
Einbildungen vielfach einen erheblichen Wirklichkeitscharakter zu
und sprachen dabei respektvoll auch von «Imaginatio». Auch die
Medizin rechnete mit der Realität von Einbildungen.
106
Es sollen nun hier zwei medizinhistorische Entwicklungslinien
verfolgt werden, die jene frühe «Imaginatio» mit der modernen
Einbildung und Einbildungskraft verbinden. Die eine führt - etwas
kurz und etwas grob gesagt - über den Oberbauch, die andere über
die Gebärmutter.
Doch zunächst ein allgemeiner Umriss der Imaginatiolehre des
16. und frühen 17. Jahrhunderts.
1586 ist in Mantua ein Buch bzw. sind «Sechs Bücher über Wundermedizin» herausgekommen. Der Autor dieses Werks war Marcellus Donatus (1538-1603). Im ersten Kapitel des zweiten Buches
behandelt Donatus ziemlich eingehend die wunderbaren Wirkungen der Einbildungskraft248. Die Imaginatio wirkt durch Vermittlung anderer - verdauender, ausscheidender, generativer usw. Kräfte auf den Körper ein. So gähnen wir, wenn wir andere gähnen sehen, und erbrechen, wenn wir Abscheuliches sehen. Eine
Frau gebar ein Mädchen, welches über und über mit Haaren bedeckt war, weil die Mutter während der Schwangerschaft oft das
Bild des St. Johannes ( Johannes der Täufer in Fellkleidung) betrachtet hatte. Einer Wirkung der Einbildungskraft ist es auch zu
verdanken, dass es in schneeigen Gegenden viele weisse Hasen,
weisse Füchse, Bären, Raben, Mäuse, Pfauen gibt. Eine Frau, die
ums Fest der heiligen drei Könige schwanger war, gebar drei
Söhne, deren einer schwarz war wie der Mohrenkönig. Eine
Schwangere, die von ihrem Gatten bedroht wurde, er spalte ihr den
Schädel, gebar später ein Kind mit gespaltenem Schädel, welches
gleich nach der Geburt verblutete. Eine Frau, die einen Wasserkopf
sah, gebar ein wasserköpfiges Kind. In typischer Weise ist die Imaginatio bei der hypochondrischen Melancholie gestört - da folgen
die Geschichten von denen, die glauben, Frösche im Bauch zu
haben, die nicht zu gehen wagen, weil sie glauben, gläserne Füsse
zu haben, die glauben, Wölfe oder Dämonen zu sein oder mit Dämonen Umgang zu haben. Donatus diskutiert die Frage, wie weit
die Imaginatio auf äussere Gegenstände einwirken könne? Er ist da
sehr zurückhaltend. Dass man per imaginationem Regen, Hagel,
Krankheiten von Feinden behebig herstellen könne, lehnt er ab. Es
107
wäre absurd, der Imaginatio unendliche Kräfte zuzuschreiben. Die
Wirkung der Imaginatio setzt eine gewisse Nähe voraus. Donatus
beschäftigt sich recht eingehend mit der Beziehung der Imaginatio
zu den traditionellerweise der Hexerei und dämonischen Einwirkungen zugeschriebenen Phänomenen - er zeigt sich dabei vorsichtig und kritisch. Die Lehre, dass die Wunden einer Leiche in Anwesenheit des Mörders bluten, hält er für falsch.
Die «Einbildung» ist also nicht immer etwas «Eingebildetes» gewesen. Sie war einst eine Kraft von ziemlichem Wirkungsradius
und etwas sehr Reales. Sie war ein philosophisch-naturwissenschaftliches Prinzip von hohen Würden, verwandt mit Begriffen
aus dem Umkreis der Phantasie, der Idee, der Schöpferkraft und
des Gedächtnisses249. Sie war ein physiologisches Prinzip von erheblicher Bedeutung und diente zur Erklärung der verschiedensten, in moderner Sicht heterogensten Phänomene, nicht unähnlich
demjenigen von Sympathie und Antipathie und den bis heute,
wenngleich unter teilweisem Bedeutungswandel fortlebenden
Prinzipien der Kontagien und des Giftes.
Die damalige Medizin war eben genau wie die unsrige eingebettet in das weitere Weltverständnis ihrer Zeit. Man sieht das deutlich in dem Büchlein «De viribus imaginationis» des Löwener Medizinprofessors Thomas Fienus (1567-1631) von 1635. Fienus stellt
die medizinischen Wirkungen der Einbildungskraft (physiologisch,
pathologisch und therapeutisch) ganz in den Rahmen einer umfassenderen Lehre von der Leib-Seele-Beziehung und der Beziehung
des Menschen zu seiner sichtbaren und unsichtbaren Umwelt250.
Eine zentrale Stellung hat die Lehre von den Einbildungen im
medizinischen Werk des Johannes Baptista van Helmont (1577-1644)
inne251. Helmont hat vor seinem Medizinstudium Philosophie und
zahlreiche Wissenschaften studiert. Er ist heute vor allem berühmt
als Entdecker der Kohlensäure und Schöpfer des Begriffs «Gas»; er
hat, von Paracelsus beeinflusst, den chemischen Gesichtspunkt in der
Medizin sehr gepflegt. Unter dem Einfluss von Paracelsus (14931541) und des Philosophen Platon Ideenlehre hat van Helmont auch
seine Lehre vom «Archaeus» entwickelt. Der Archaeus influus ist
108
das oberste physiologische Prinzip im menschlichen Organismus.
Ihm unterstehen die Archaei der einzelnen Organe. Der oberste
Archaeus hat seinen Sitz in Magen und Milz bzw. in der Magengrube. Der Archaeus ist zugleich ein psychisches Prinzip. Krankheit ist nun bei Helmont im wesentlichen ein Zustand, in welchem
der Archaeus, veranlasst durch eine Idea morbosa, die sich ihm eingeprägt hat, die Funktion des Organismus nicht mehr in normaler
Weise regelt. Damit ist Krankheit bei Helmont im wesentlichen eingebildete Krankheit im eigentlichen Sinn des Wortes - aber «Einbildung» bedeutet hier nicht Unwirklichkeit. Sie ist allerdings zunächst immateriell - setzt sich dann aber in materielle Wirklichkeit
um.
Das Bild einer Krankheit kann also ganz realiter zur Ursache
eben dieser Krankheit werden. «So siehet man nun auch manche
Pest», schreibt Helmont, «welche alleine herkommet aus thörichter
Einbildung und Schrecken, ohne dass jemand in angesteckten Orten sey: Und diese ist gantz schnell und gifftig»252 - es handelt sich
dabei um Bilder, die sich dem Magen eingeprägt oder, wie Helmont
sich ausdrückt, «eingesiegelt» haben, um «Eindrücke» im engsten
Sinn des Wortes. Aber auch Blutungen, die Gelbsucht, Epilepsie,
Engbrüstigkeit, Herzzittern, Amenorrhoe, Paralysis können ideogen sein253. «Auf solche Weise kan der Geifer eines wütenden Hundes, der Biss einer Tarantelspinne oder Schlange, wie auch der Saft
von Eisenhütlein (napelli) ... oder Nachtschatten (solani) uns wieder unserm Willen das Bild der Raserey mittheilen»254.
Übrigens setzte van Helmont seine Bilder-Lehre auch zur Rationalisierung der Auffassung ein, dass die Leiche eines Ermordeten in
Gegenwart des Mörders zu bluten beginne. Er führte dieses Phänomen auf das ins Geblüte «eingedruckte Bild der Rache» zurück255.
Dies nur, um festzuhalten, dass die Lehre von den Einbildungen
wohl eine graue Theorie gewesen sein mag, dass sie aber, wie alle
grauen Theorien, durchaus blutige Konsequenzen haben konnte.
Denn auf Mord stand seinerzeit Todesstrafe. «Ob gleich das eingebildete Dinge», sagt van Helmont, «am Anfange nichts anders ist als
ein blosses phantastisches Getichte, so bleib(t) es doch nit so; sintemal die Phantasie eine Siegel-mässige Krafft ist, welche deswegen
109
die Einbildungs-Krafft genennet wird, weil sie von den eingebildeten Dingen Bilder oder Gestalten formieret»256.
An sich konnte jedes Organ als Sitz irgendeines untergeordneten
Archaeus Ort von Imaginationes sein. So konnte das Blut, das
Herz, der Magenmund, bei der Frau auch die Gebärmutter, Sitz
pathogener Einbildungen werden. Ein Hauptsitz blieb aber immer,
mindestens beim Mann, ihrer Beziehung zum obersten Archaeus
wegen, die Milz. «Der Milz», schreibt Helmont, «hat seine stelle
mitten in dem Stamm des Leibes» - zwischen Magen, Herz und
Uterus, «weil er gleichsam die Wurtzel ist des gantzen Leibes.»
Krankheit aber nimmt ihren Anfang oft «von einer gewissen unbändigen Einbildungs-Krafft, so sich unter die Macht des Willens nit
zwingen läst, und ihren Sitz in dem Miltz hat.» Die Milz ist da also
ein Zentrum, «ein Brunn-Quell», sagt Helmont, «so wohl der jenigen Bilder, die formiret werden in der Einbildung des Menschen,
als auch der Bilder des Lebens-Geistes»257. Auch Träume entstehen
in der Milz - und die fleischlichen Begierden, namentlich die des
Mannes258. Bei der Frau kommt als zweiter Brunn-Quell die Gebärmutter hinzu - «woraus ... zu sehen ist, dass in einem Weibs-Bilde
ein zweyfaches Regiment zu finden sey». «Nemlich es ist die Mutter ... gleichsam wie ein ander Miltz.» «Und ist demnach eine
Weibs-Person wol eine elende Creatur, die einer solchen Obrigkeit
unterthänig seyn muss: Denn sie ist erstlich vielen Kranckheiten
unterworffen als ein Mensch; und muss hernach denselben eben
auch abermal unterworffen seyn, von dem Wesen, das aus der
Mutter herkommt. Nemlich sie muss biss auf den heutigen Tag eine
zwiefache Straffe ausstehen, eben als wenn sie sich in Eva doppelt
versündiget hätte»259.
Damit stehen die vom Uterus und die von der Milz ausgehenden
Einbildungs-Krankheiten bei Helmont sozusagen als Modellkrankheiten. Wir wollen diese beiden Modelle nun ins 18. und 19. Jahrhundert verfolgen und sehen, was daraus geworden ist.
110
II. MILZ (OBERBAUCH)
UND HYPOCHONDRIE:
DIE IDEA MORBOSA
WIRD ZUR KRANKHEITSEINBILDUNG
Die von der Milz ausgehende Einbildungskrankheit ist in recht direkter Linie zum Zustand der Krankheitseinbildungen, der Nosophobie, geworden. Der Begriff der Einbildung hat sich dabei allmählich entrealisiert, die «Imaginatio» unserer Väter wurde zur
«Einbildung» des Brockhaus 1960. Helmonts Hypochondrie wurde
zur Hypochondrie modernen Verständnisses. Denn um ein eigentlich «hypochondrisches», nämlich in den Hypochondrien gelegenes
Leiden handelt es sich wirklich bei Helmont («hypo» heisst griechisch «unter», «chondros» «der Knorpel»; «to hypochondrion»:
der weiche Teil des Leibes unter und hinter den Rippenknorpeln,
die Gegend von Magen, Leber - und Milz). Und so sagt Helmont
von den der Milz innewohnenden Bildern: «Daher sie auch etwas
Miltz-süchtiges (hypochondriam) von sich spüren lassen.» Es sind
Bilder, welche oft «solche Zustände gebähren, die ... Zeichen von
einem Miltz-süchtigen Aberwitz, wie auch von allerhand Verwirrung und Zerstörung von sich geben»260. Helmont betrachtete sein
Milz-Einbildungsleiden also als etwas Hypochondrisches - nur dass
er den körperlichen Leiden seiner Hypochonder körperliche Realität zubilligte. Die Imaginatio war für ihr ja nichts Imaginäres.
Im 18. Jahrhundert wurde die Hypochondrie zur überaus weitverbreiteten Volksseuche261. Man nannte sie nun auch «die Milzsucht» oder einfach «die Milz», englisch «the Spleen» (auch der
Spleen ist erst später zum wirklichkeitsfremden Spleen unseres Verständnisses geworden).
Es muss nun aber hier etwas nachgetragen werden. Es waren
nämlich nicht nur krankmachende Bilder in der Milz, es waren
auch - und das war sogar die weit geläufigere Version - krankmachende Säfte, namentlich die schwarze Galle, auf die man die Hypochondrie in alter Tradition zurückzuführen pflegte. Im Rahmen
der Viersäftelehre betrachtete man den Organismus ja als ein En111
semble von Blut, Schleim, gelber Galle und schwarzer Galle.
Krankheit war die Folge eines Ungleichgewichts in dieser Vierheit, einer Dyskrasie, ähnlich wie Krankheit für Helmont die Folge
einer Störung im Ideen-Haushalt war. Interessant ist allerdings, dass
auch im Rahmen der Humoralpathologie die Milz eine besondere
Rolle spielte: sie war nämlich der Ort der Bildung oder mindestens
der Anstauung der schwarzen Galle. Die schwarze Galle aber war
im Rahmen der Viersäftelehre sozusagen der pathogene Saft par
excellence. Sie trug, in einem gewissen Gegensatz zu den drei anderen Säften, sozusagen von Anfang an den Keim zum Pathologischen in sich. Ein Übermass an schwarzer Galle machte die «Melancholie» aus (melas = schwarz; chole = die Galle) - die schwarze
Galle konnte ursprünglich für Verstimmungen, aber auch für
Magen-Darm-Leiden, Krebs und Malaria verantwortlich sein. Bei
Malaria konnte man die von schwarzer Galle aufgeschwollene
Milz ja sogar palpieren und die schwärzlich-gallig verfärbte Haut
sehen.
Die «Hypochondrie» des 18. Jahrhunderts hat in gewissem Sinne
die klassische Melancholie abgelöst. Das 18. Jahrhundert glaubte
nicht mehr so recht an die Viersäftelehre, und es waren Zweifel
daran durchgedrungen, ob es einen schwarzgalligen Saft wirklich
gebe. Man war anatomischer und lokalistischer geworden. So
sprach man nun lieber von der Milz und der «hypochondrischen
Gegend» als von der schwarzen Galle, lieber von «Hypochondrie»
als von «Melancholie». In Form schwarzer oder schwärzlicher
Dünste und Dämpfe allerdings mochte der alte schwarze Saft noch
nachspuken. Solche Dämpfe im Oberbauch verursachten die
berühmten Blähungen der Hypochonder des 18. Jahrhunderts und
ihre Winde, um die sie sich so liebevoll und intensiv kümmerten,
dass man die Hypochondrie bzw. die Milzsucht auch «windige
Melancholey», «Blähsucht», «Windsucht» nannte, in England «vapours», in Frankreich «les vapeurs»262.
Die Hypochondrie des 18. Jahrhunderts konnte die allermannigfaltigsten Symptome haben, nicht anders als die ältere Melancholie
und die Störungen des Milz-Archaeus des Helmont. Wie diese war
sie ursprünglich ein keineswegs harmloses Leiden - es konnten
112
auch Tetanus, schwarzes Erbrechen, Gelbsucht263 dazugehören, und
es gab Autoren, welche die im 18. Jahrhundert so panisch gefürchtete Entvölkerung des Erdballs darauf zurückführten264. Typischerweise gehörten dazu aber auch psychische Störungen, und dies vor
allem dann, wenn die hypochondrischen Gase und Schadstoffe in
den Kopf aufstiegen265. Denn das 18. Jahrhundert hatte die alte Tradition, die Seele mindestens zum Teil im Oberbauch zu lokalisieren
(die mit der Melancholielehre wie mit Helmonts Ideenlehre in enger
Beziehung steht), weitgehend vergessen und stattdessen das Zentralnervensystem bzw. das Gehirn als einzigen Seelenträger gesetzt.
Auch Einbildungen, fixe Ideen, Spleens, Grillen entstanden vorwiegend durch ein derartiges Mit-Leiden des Gehirns - man spricht
ja heute noch davon, dass jemandem etwas «in den Kopf gestiegen»
sei, wenn man ihn als «eingebildet» empfindet.
Einbildungen gehörten allgemein zu den wichtigsten psychischen Erscheinungen der Hypochondrie - man nannte diese daher
auch «Grillenkrankheit». Eine geradezu zentrale Stellung nahmen
Der scharlataneske Doktor von Kalabrien (ca. 17. Jh.) befreit seine Patienten durch chemiatrische Methoden von ihren Einbildungen in Kopf und Bauch: Würmer, Hasen, wissenschaftliche und künstlerische Dinge, allerlei Mücken.
113
speziell die eigentlichen «Krankheitseinbildungen» ein. Damit sind
wir eigentlich wieder bei van Helmonts Assoziation von Milz,
Krankheit, Hypochondrie und Einbildung. Nur dass die hypochondrische Einbildung des 18. Jahrhunderts gegenüber derjenigen
Helmonts gewaltig an Realitätswert eingebüsst hat. Sie ist nicht
mehr die reale Ursache wirklicher körperlicher Veränderungen, sie
ist bestenfalls noch ein unspezifisches Symptom einer körperlichen
Störung von immer mehr verschwindender Bedeutung. So wurde
die Hypochondrie im Laufe des 18. Jahrhunderts zur eigentlichen
«eingebildeten Krankheit» im modernen Sinn. So ordnet Carl von
Linné (1707-1778), Arzt und Pflanzensystematiker, der nicht nur
die Blumen, sondern auch die Krankheiten klassifiziert hat, die Hypochondrie der Klasse 5, morbi mentales, Ordnung 2, morbi imaginarii zu und definiert sie als «imaginatio fati lethalis ex levi
malo»266. Ein anderer Systematiker jener Zeit nannte die Hypochondrie ein Leiden, «wobey der Kranke aus... leichten Übeln, die
er empfindet, sich einbildet, in würklicher Todesgefahr zu seyn»267.
Am Ende des Jahrhunderts findet man als hypochondrisch bezeichnet: die «Einbildung eines gewissen Zustandes des Körpers, in dem
sich der Kranke nicht befindet»268.
Ein gewisser Realitätscharakter blieb der Hypochondrie aber zuerkannt - sonst wäre sie ja nichts gewesen, und vor allem nichts,
womit der Arzt sich beschäftigt hätte. Die Realität, die man ihr zugestand, war entweder die eines Symptoms - das sich von einem
realen körperlichen Leiden ableitet - oder dann eine psychologische Realität. «Die hypochondrische Krankheit eine Einbildung zu
nennen, ist Unwissenheit und Grausamkeit», schreibt 1766 der
englische Naturforscher John Hill (1716-1775). «Es ist eine wirkliche und betrübte Krankheit: eine Verstopfung der Milz, welche
von verdicktem unordentlichem Blute entstehet, und sich oft bis in
die Leber und andere Theile ausbreitet»269. Ulrich Bilguer (17201796) führt die hypochondrische Verrücktheit 1767 auf eine «im
Unterleibe liegende gallichte Materie» zurück, welche «die Werkstatt der Ideen belästiget»270. Und John Gregory (1724-1773) schreibt
über die Hypochonder, die er nun Nervenkranke nennt: «Obgleich die Furcht dieser Patienten gemeiniglich ohne Grund ist, so
114
sind doch ihre Leiden wirklich: ... Ihre Klagen mit Spott oder
Verachtung, als Wirkungen einer zerrütteten Einbildungskraft zu
behandeln, ist ebenso thöricht, als grausam. Diese Klagen entspringen meistentheils aus körperlichen Übeln ... und gesetzt auch, dass
sich die Sache anders verhielte, so bleibt es immer die Pflicht des
Arztes, ... zur Erquickung der Leidenden beyzutragen. Zerrüttungen der Einbildungskraft gehören eben sowohl für den Arzt, als
Gebrechen des Körpers ...»271. Immanuel Kant (1724-1804) unterscheidet «die Grillenkrankheit (hypochondria vaga), welche gar
keinen bestimmten Sitz im Körper hat, ein Geschöpf der Einbildungskraft ist, und daher auch die dichtende heissen könnte» und
die «hypochondria abdominalis», die eine körperliche Grundlage
hat. Die erste ist ebenso ernst zu nehmen wie die zweite - es ist sozusagen ein seelisches Leiden, durch Vernunft nicht zu beheben «ein vernünftiger Mensch statuirt keine solche Hypochondrie»272.
Die Realität, die der Krankheitseinbildung in der Folge zuerkannt wird, ist dann vor allem diese psychologische - man kann
auch sagen, dass sie im 19. und 20. Jahrhundert vor allem darin bestanden habe, dass der Arzt die eingebildeten Kranken aus seiner
Praxis nicht ganz ausgeschlossen habe. Er hat für sie ja auch einen
diagnostischen Terminus - «Hypochondrie» - reserviert. So «gibt»
es die Hypochondrie bis heute: die Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie definiert sie als «abnorme, ängstlich getönte Beziehung zum eigenen Leib: objektiv
unbegründete Befürchtungen, krank zu sein oder zu werden»273.
Aber sie ist gewissermassen das Paradigma eines Sichkrankbefindens, dem keine körperliche Realität entspricht.
III. GEBÄRMUTTER UND HYSTERIE:
DIE EINBILDUNG
BLEIBT AN DER MACHT
Mit den gebärmütterlichen Einbildungskrankheiten, der Hysterie
im weitesten Sinne (hystéra = Gebärmutter), war das anders. Wir
sagten oben, dass Helmont den Uterus gleichsam «ein ander Miltz»
115
genannt hat. Man kann sich aber sogar fragen, wieweit der Uterus
als Sitz von Einbildungen für die Lehre von den Einbildungen
überhaupt Modell gestanden habe. In gewissem Sinne ist der
Uterus ja der Inbegriff eines Organs der Einbildungen. In
traditionell-aristotelischem Sinn ist er physiologischerweise dazu
geschaffen, eine Ein-Bildung, das Bild des Mannes nämlich, zu
empfangen.
In Aristotelischer Tradition wird der Zeugungsakt ja weitgehend
als die Übertragung des Bildes vom Mann auf die Frau verstanden
bzw. als Einwirkung eines an den männlichen Samen gebundenen
«formenden Prinzips» auf das Menstrualblut, die Materie, aus welcher das Kind dann «gebildet» wird. Zeugung schafft daher
Knaben, d. h. Doppel des Vaters (vgl. S. 51)274.
Damit ist das Verständnis der Schwängerung als Ein-Bildung gegeben. Und damit lag es nun nicht so fern, auch eine sozusagen falsche, mutterinterne Zeugung oder Ein-Bildung zuzulassen. So
Von allerlei Einbildungen geprägte wurmartige Kreaturen. Auch im Magen-Darm-Trakt
konnte derartiges entstehen.
116
konnte etwa eine Mole infolge einer «geilen Einbildung, ohne Begattung», entstehen275. Und wenn vollends unpassende Bilder in die
Gebärmutter hineingeraten - kommt es zu hysterischen Einbildungsleiden im engeren Sinne. Der Uterus wird dann Sitz pathogener Bilder - aber nicht «solche Miltz-süchtige verfluchte Bilder»,
schreibt Helmont, «welche einem andern zu schaden gereichen, wie
die Zauberinnen thun: Sondern ihnen selbst sind die Weibs-Bilder
nur schädlich, und sich allein bezaubern, bethören und schwächen
sie damit [das Wort ,Weibsbild‘ kriegt hier eine neue Dimension].
Nemlich in sich pregen sie solche Bilder ein, von denen sie ... getrieben, und zu ... Dingen fortgerissen werden, die sie sonst nicht
verlangen würden, also dass sie über ihrer eignen wider ihren Willen in ihnen entstandenen Unsinnigkeit nicht genug klagen können.» Helmont spricht dann von den Mutter-Krankheiten: die Hysterie entsteht für ihn «mehrentheils aus gewissen Gemüths-Bewegungen, und daraus entstandenen Bildern ...; also dass (nicht anders als wäre ein Wespen-Nest zerstöret worden) dadurch offtmals
... die gantze Person ... zu Grunde gehet».
So sind diese Ein-Bildungs-Leiden eigentlich pathologische
Schwängerungen und Geburten. Die hysterische Schwangerschaft
ist davon nur ein Spezialfall. «Nun kommen ... die MutterKranckheiten nicht her aus einem verdorbenen Samen», schreibt
Helmont, «sondern dieses sind vielmehr ... Früchte, ... die auf die
Bilder ... erfolgen276.
Aber auch die so häufig beobachtete Mutter-Ähnlichkeit von
Kindern konnte man sich mit der Imaginatio erklären, und sogar
besser als Aristoteles, ohne damit gleich einen weiblichen Samen annehmen zu müssen. Starke Mutterähnlichkeit eines Kindes konnte
so darauf hinweisen, dass die Schwangere allzuviel Zeit hoffärtig
vor dem Spiegel verbracht habe.
Wenn aber Kinder statt dem Vater dem Nachbarn oder Hausfreunden glichen, musste das nicht unbedingt bedeuten, dass die
Mutter sich diesen etwa in unzüchtiger Weise zugewendet hätte.
An dieser Implikation der Imaginationslehre waren vor allem immer wieder die Gerichtsmediziner interessiert. Denn diese tendier117
ten sowohl im Interesse der Angeklagten als auch in demjenigen
des Staates immer, im Zweifelsfalle möglichst viele Kinder legitim
zu erklären bzw. die Integrität der Familie zu erhalten. Und da erwies sich die Imaginatio natürlich als ein nützliches gedankliches
Instrument.
So widmet schon Codronchi in seinem «Methodus» von 1597
(vgl. S. 90) ein längeres Kapitel der Frage, ob die Unähnlichkeit
eines Neugeborenen mit seinen Eltern (gemeint ist natürlich der
Vater) einen Ehebruch (natürlich der Mutter) beweisen könne?277.
Dabei diskutiert er die verschiedenen klassisch-antiken Ähnlichkeitstheorien und ihre Schwächen - und die Lehre von der Imaginatio, die den klassischen Autoren nicht geläufig war. Doch
Condronchi gelingt es, sich auch dabei auf die antiken Autoritäten zu
berufen: er deutet eine Stelle der Aristotelischen Problemata etwas
im Sinn der Imaginatiolehre um278 und referiert einen Bericht des
heiligen Hieronymus, wonach Hippokrates eine Frau vom Ehebruchsverdacht befreite, indem er in ihrem Schlafzimmer ein für die
Vater-Unähnlichkeit des Kindes verantwortliches Bildnis nachwies279. Bei Pari (vgl. S. 20), dem andern frühen gerichtsmedizinischen Autor, erscheint Hieronymus’ Kind übrigens als Negerkind
eines weissen Paars, welches seine Schwärze dem Umstand verdankte, dass der Mutter immer das Bild eines Äthiopiers vor Augen
schwebte280. Codronchi argumentiert auch mit der biblischen Stelle,
wo Jakob gesprenkelte Schafe und Böcke züchtete, indem er dort,
wo das Vieh sich begattete, Zweige anbrachte, die er stellenweise
geschält hatte (1. Mos. 30, 37-42). Und er schliesst: Die Kraft des
Gedankens bzw. der Imaginatio ist offenkundig, es können daher
Mütter elternunähnlicher Kinder von übler Nachrede befreit werden.
Die Imaginatio ist im Lauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
wohl in keiner anderen Funktion so intensiv beansprucht worden
wie zur Erklärung eigentümlicher Geburten. Praktische Bedürfnisse mögen hier bestimmend gewesen sein, ideengeschichtlich gesehen darf man nicht vergessen, dass die Imaginatiolehre als solche
zum Teil in der Gebärmutter wurzelt.
118
«Figur einer Jungfrawen, so da gantz harich, und eines Kinds, welches so schwartz, wie
ein Mohr, auss der Eltern Imagination und Einbildung worden sind.» Die haarige Jungfrau verdankt ihr Aussehen dem Umstand, dass ihre Mutter im Augenblick ihrer Empfängnis «das Bildnuss Johannis dess Täuffers, mit seiner Cameishaut angethan, so sie in ihrer Schlaffkammer gegen dem Bette hangen gehabt, allzufleissig angeschawet» hat. Aus
Ambroise Pares «Buch von allerley Missgeburten und Wunderwercken der Natur», Kapitel «Von den Missgeburten, so durch die Krafft und Gewalt der Einbildung ... formieret werden».
In Thomas Fienus’ Werk über die Kraft der Einbildungen spielt
(wie auch bei Donatus) die Einwirkung der Imaginatio auf den Fötus als Paradigma ihrer Einwirkung auf einen fremden Körper eine
hervorragende Rolle. Die Imaginatio bewirkt Aborte, Flecken,
Deformitäten; Schrecken und Gelüste haben dabei eine wichtige
Übermittlungsfunktion. Frauen, die während der Schwangerschaft
119
durch einen Wolf erschreckt werden, gebären wolfsähnliche Kinder, affen-, frosch- und katzenähnlich werden sie nach entsprechenden Begegnungen mit Affen, Fröschen und Katzen281. Die
«Wolfsrachen» und die «Hasenscharten» wurzeln zweifellos historisch in der Imaginationslehre282.
Im Gebiet der Ähnlichkeitslehre und der Missbildungstheorie hat
die Imaginatio im 18. Jahrhundert nicht nur überlebt, sondern sogar
einen neuen Aufschwung genommen. Dieser Aufschwung war
konzeptuell getragen von Georg Ernst Stahls (1660-1734) «Animismus» und dem damit verwandten, teilweise daraus abgeleiteten
«Vitalismus» des 18. Jahrhunderts. Diese Lehren führten Leben, Gesundheit und Krankheit auf ein seelenartiges Prinzip, die Anima,
oder auf die Nerven- und Lebenskraft - die man vorwiegend im
Nervensystem lokalisierte - zurück. Sowohl der Animismus als
auch der Vitalismus erlaubten dem 18. Jahrhundert, eine recht ausgedehnte Psychosomatik aufzubauen - «Es ist der Geist, der sich
den Körper baut», schrieb Schiller unter Stahls Einfluss283.
Von diesen denkerischen Möglichkeiten nun machte die Lehre
von den mütterlichen Einbildungen - in einem gewissen Gegensatz
zur Lehre von den hypochondrischen Einbildungen - recht ausgiebig Gebrauch. Bei den Gerichtsmedizinern des früheren 18. Jahrhunderts wird die Imaginatio sogar zum zentralen Problem im
Rahmen der Frage nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Kindern und Eltern, welche in Legitimitätssachen nach wie vor eine
grosse Rolle spielte. Allerdings sollten Ärzte und Juristen achten,
schreibt Stahls Freund Alberti zwar, dass sie nicht durch betrügerische Frauen und korrupte Verteidiger betrogen werden, dass nicht
Ungerechtigkeit und Bosheit als Effekt der Imaginatio hingehe wenn etwa eine Frau per imaginationem empfangen haben
wolle284. Vielleicht hat er hier jenen Fall von 1637 im Auge, da das
Parlament von Grenoble entschied, es könne eine Frau, die
Noch 1726 konnte Mary Toft mit ihren Hasengeburten die englische Gelehrtenwelt er- ►
schüttern. Mit B. bezeichnet ist Sir Richard Manningham (1690-1759), «der berühmteste
Londoner Geburtshelfer der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts». Er stösst das Sprechband
aus: «Es wölbt sich, es schwillt, es öffnet sich, es kommt!» Blatt des englischen Sittenschilderers und Satirikers William Hogarth (1697-1764).
120
121
träumte, sie verkehre mit ihrem seit vier Jahren abwesenden Mann,
sehr wohl durch diese Imagination geschwängert worden sein. «Ast
crederem potius Parlamenti Praesidem, vel alium Bonum Virum
Rem habuisse cum hac Muliere», kommentiert schon Paulus
Ammann (1634-1691), der Leipziger Kritiker gerichtsmedizinischer
Gutachten285, es steckte wohl eher der Parlamentspräsident oder
sonst ein Mann dahinter. Der andere berühmte Gerichtsmediziner
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Hermann Friedrich Teichmeyer
aus Jena, vertritt die Sache der Imaginatio mit ganz besonderer
Wärme: Wenn posthume Kinder dem Erzeuger mehr zu ähneln
pflegen als andere, so deshalb, weil das Bild des Verstorbenen der
Mutter ständig vor Augen schwebt286.
In Sachen des Kindermords behielt die Imaginatio ebenfalls
einige Bedeutung - hier zeigt sich wieder, wie eingreifende Konsequenzen auch die luftigsten Theorien haben können. Wir sind der
Möglichkeit des Kindermords «per imaginationem» ja schon bei
Donatus begegnet, und der Schweizer Chirurg und Stadtarzt Fabrizius Hildanus (1560-1634) hat Fälle publiziert von Kindern, die,
nachdem ihre Mütter bei Viehschlachtungen dabeigewesen oder
durch Flintenschüsse erschreckt worden waren, wie geschlachtet
oder erschossen zur Welt kamen287. 1714 schreibt ein Daniel Turner
(1667-1740/1) der Imaginatio die Fähigkeit zu, «grosse und blutige
Wunden auf dem Körper der Leibesfrucht zu machen, die die Mutter ... sich vorgestellt hatte»288. Und noch 1779 zieht Wilhelm Gottfried Ploucquet (1744-1814) die Imaginatio als Alternative zum Kindermord in Betracht289 - so einschneidende körperliche Wirkungen
schrieb er der Einbildung im Zusammenhang mit dem Uterus noch
immer zu.
Doch im Lauf des 18. Jahrhunderts drang die naturwissenschaftlich inspirierte Kritik an der Imaginatiolehre allmählich auch in die
Gebärmutter vor. Eine Schrift des August Blondel (1665-1734) von
1727 ist ein Markstein in dieser Entwicklung. Blondel vergleicht den
Glauben an die Imaginatio mit dem Glauben an die Gerechtigkeit
des Gottesurteils - er ist sich der praktischen Implikationen der
122
Imaginationslehre sehr bewusst. Schuld am zähen Leben der Imaginationstheorie ist nach ihm zweierlei: «1. Dass unsere Weltweisen ... nicht vor dienlich erachtet, ... die natürliche Ursachen von
diesen Flecken oder Ungestalten zu erklären ... 2. Da die Alten die
göttliche Rache mit unter die Ursachen der Missgeburten gezehlet,
so kommt es mir sehr glaubwürdig vor, dass dieses einen solchen
erschrecklichen Eindruck in dem Gemüth der Älteren verursachte,
dass man aus Liebe zu dem Nächsten für gut befunden, alle diese
Übel der Einbildung zuzuschreiben ...» Rund 50 Jahre später
schreibt ein Autor diese Übel aus Nächstenliebe nicht mehr der
Einbildung, sondern natürlichen Ursachen zu290. Die Wunden und
Verletzungen Neugeborener, sagt Blondel, seien eher Geburtsunfällen und schlechten Geburtshelfern zuzuschreiben als mütterlichen
Phantasien. Es fällt auf, dass Blondel von Legitimität und Kindsmord nicht speziell spricht - vielleicht hindert ihn eine aufklärerische Philanthropie daran. Blondel argumentiert vorwiegend anatomisch, physiologisch, embryologisch gegen die Imaginationstheorie. Es gibt keine nervösen Verbindungen zwischen Mutter und
Kind, und zudem ist das ganze Kind ja im Samen prädeterminiert.
Andererseits gibt es plausiblere Gründe für Muttermale als die mütterlichen Einbildungen: Anlagefehler, intrauterine Krankheiten,
Entwicklungshemmungen, Vererbung. Ein Wasserkopf zum Beispiel entsteht, wenn das Gehirn im Blasenstadium verbleibt. Rote
Flecken sieht man, wo die Haut noch zu dünn ist. Die Hasenscharte
aber beruht, wie schon William Harvey beobachtete291, auf einer
Entwicklungshemmung, und nicht auf der Begegnung der
Schwangeren mit einem Hasen292.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb die Akademie der
Wissenschaften zu Petersburg die Imaginationsfrage nochmals als
Preisfrage aus. Prämiert wurde ein Befürworter der Imaginationslehre, klassisch wurde aber die Gegenschrift des Johann Georg Roederer (1726-1763)293. Roederer war ein berühmter Göttinger Geburtshelfer. Er war gerichtsmedizinisch interessiert, hat auch einiges zur
forensischen Geburtshilfe beigetragen. Er ist von Albrecht von Haller
(1708-1777), dem Schwiegersohn des Gerichtsmediziners Teichmeyer, nach Göttingen berufen worden und hat später dessen Vorle123
sung über die gerichtliche Medizin übernommen. Auch Haller
selbst, der sich sonst in seiner Vorlesung über weite Strecken darauf
beschränkt hat, seines Schwiegervaters Lehrbuch zu kommentieren
und zu ergänzen, ist in Imaginationssachen gänzlich von diesem abgewichen. Basis seiner Kritik waren wohl vor allem seine Forschungen auf dem Gebiet der Missbildungen294. Auch Johann Ernst
Hebenstreit (1703-1757), Autor des führenden gerichtsmedizinischen
Aus I. E. Hebenstreit: Anthropologia forensis, Leipzig 1753.
124
Lehrbuchs der zweiten Jahrhunderthälfte, lehnt die Imaginationslehre ab. Sein Werk enthält übrigens als einzige Illustrationen vier
Abbildungen von Missgeburten «ex Museo Autoris» - eine davon
zeigt den Schädel eines mit Hasenscharte geborenen Kindes295. 1775
folgte Johann Friedrich Blumenbachs (1752-1840) Arbeit über die
menschlichen Rassen296, nach welcher die Imaginationstheorie in
gewissen, jetzt als typisch betrachteten Fällen, nur mehr «eine
schlechte Ausrede» blieb für Frauen, deren Kinder «Spuren eines
mit einem Asiaten, Africaner u. d. gl. begangenen Ehebruchs» an
sich tragen297.
In Ploucquets zusammenfassendem Werk über die Erbfähigkeit
samt Legitimität (1779) bleibt für die Einbildungskraft kaum mehr
Raum: Rassenverschiedenheiten zwischen Vätern und Kindern erklären sich leichter durch Ehebruch der Mutter, und im übrigen
kann überhaupt «die vermeyntlich erforderliche Ähnlichkeit der
Gestalt mit Vatter oder Mutter ... nichts entscheiden, da ein neugebohren Kind keine bestimmte Physiognomie hat, und Meynung
oder Einbildung hier Ähnlichkeit und Unähnlichkeit nach belieben schaffen oder vertilgen kan»298. Man beachte den Bedeutungswandel des Begriffs der «Einbildung»: dass «Einbildung ... Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ... schaffen» könne, hätte man hundert
Jahre früher durchaus auch sagen können, es hätte nur etwas anderes bedeutet. Derselbe Bedeutungswandel spricht auch aus einem
Zusatz zum Kapitel «Missgeburten» der Hallerschen Vorlesungen
(1782): «Man schrieb in ältern Zeiten die Entstehung solcher Wesen auch auf Rechnung der Einbildungskraft. In den unsern nimmt
man sie aber nur zu Hülfe, um die Misgeburten im Reiche der
Wissenschaften daraus zu erklären»299.
So hat die Einbildung auch hier mit der Zeit an Realitätswert
verloren. Gestalt und Missgestalt von Kindern sind aus dem Bannkreis der hysterischen Phänomene - im weitesten Sinne - hinausgerückt.
Weitgehend erhalten hat sich die Lehre von der Imaginatio hingegen im engeren Umkreis des Hysterie. Im 18. Jahrhundert, einer
Zeit des Liberalismus und des Gleichberechtigungsgedankens auch
125
im Bezug auf die Geschlechter, sah es zwar aus, als ob die Hysterie
ihre Beziehung zu Frau und Uterus verlieren und als ein nervöses
Leiden mit der Hypochondrie identisch werden wollte (vgl. S. 39).
Auch die hysterische Einbildung hätte damit ihre körperliche
Wirklichkeit verloren. Das 19. Jahrhundert aber hat aus Hysterie
und Hypochondrie wieder zweierlei gemacht: Die Hysterie wurde
wieder vermehrt als ein spezifisch weibliches Leiden betrachtet, sei
es in ihrer alten Beziehung zum Uterus, in ihrer moderneren Beziehung zum Ovar (vgl. S. 24-25, 72-78) oder in ihrer modernsten
Beziehung zur spezifischen Zartheit und Schwäche des weiblichen
Nervensystems (vgl. S. 42, 72-80). Die Einbildungen wurden dabei
wieder weitgehend in ihre alten ätiologischen Funktionen eingesetzt. Dies mag einerseits damit zusammenhängen, dass die Frau,
ursprünglich repräsentiert in ihrem Uterus, traditionellerweise ein
Prädilektionsort von realitätswirksamen Einbildungen ist. Andrerseits findet man historisch nicht so selten, dass sich altes Ideengut im
Rahmen der Lehre von der Seele eher konserviert als im Rahmen
der somatischen Medizin, und innerhalb der somatischen Medizin
eher im Rahmen der Frauenheilkunde als in anderen Fächern. So
wird die Hysterielehre im 19. Jahrhundert recht eigentlich zum Reservat der alten Lehre von den krankmachenden Vorstellungen und
Bildern - mit Vorliebe sexuellen Inhalts. Sie wird zum Paradigma
der Lehre von der psychogenen Krankheit. Gegen Ende des Jahrhunderts wird Jean Martin Charcot (1825-1893), der weltbekannte
Neuropathologe, am Beispiel Hysterie eine Psychogenielehre entwerfen - speziell eine Lehre von der ideogenen Entstehung hysterischer (traumatisch-hysterischer) Lähmungen300. Auch für Joseph
Babinski (1857-1932) und Pierre Janet (1859-1947), die beide in der
unmittelbaren Umgebung Charcots arbeiteten, war die Hysterie das
Paradigma eines psychischen, psychogenen Leidens mit körperlichen Symptomen301. In Wien arbeitete Moriz Benedikt (1835-1920)
mit dem Begriff des «Seelen-Binnenlebens», eines psychischen Geheimbereiches, der «Werkstätte der Einbildungskraft». «Unvergleichlich reicher als beim männlichen Geschlechte ist im Allgemeinen das Binnen-Seelenleben beim weiblichen entwickelt. Die
Frau muss in ihrem Existenzkampfe so unvergleichlich mehr von
126
ihren inneren Vorgängen verbergen als der Mann, und diese unentladenen Spannungen sind es, welche die Eigenkrankheit des Weibes - die Hysterie - zum grossen Theile entfesseln»302 - natürlich
war es vor allem ihre sexuelle Phantasie, die die Frau damals verborgen zu halten hatte. Der Wiener Sigmund Freud (1856-1939) hat
sich einerseits bei Charcot inspiriert - er hat dessen berühmte
Dienstags-Vorlesungen über die Hysterie besucht und übersetzt
und dessen psychologische Interpretation der traumatischen Hysterie übernommen und generalisiert. Wie Benedikt haben er und
Joseph Breuer (1842-1925) andrerseits den sexuellen Vorstellungen
(dem sexuellen Trauma) in der Psychogenielehre eine besonders
wichtige Stellung eingeräumt, zunächst im Rahmen einer allgemeinen Hysterielehre, Freud allein später in modifizierter Form im
Rahmen einer allgemeinen Neurosenlehre303. In ihrer ersten «Vorläufigen Mitteilung» «Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene» verweisen Breuer und Freud übrigens auf Benedikts Ideen304.
IV. EINBILDUNGSKRAFT, IDEE
UND KREATIVITÄT: PSYCHOGENIE
DER ERSCHEINUNG IM 20. JAHRHUNDERT
Mit der vor allem nach den beiden Weltkriegen in Gang gekommenen Verallgemeinerung der Neurosenlehre und der Erschütterung des Glaubens, dass die Naturwissenschaft der alleinige
Schlüssel zur Wahrheit und Erlösung sein würden, hat die Idee von
den pathogenen Vorstellungen, überhaupt von der Möglichkeit,
dass sich Ideen und Bilder in körperliche Realität umzusetzen vermöchten, wieder an Boden gewonnen. Nach diesen Kriegen, und
vor allem nach dem zweiten, sprach man wieder allgemeiner von
Bildern, Urbildern oder mindestens «Archetypen», die Verhaltensforschung brachte das «Suchbild» und die «Prägung» wieder in die
Wissenschaft; wir sprechen nicht mehr so sehr von Idealen und
Imaginationes, aber doch von «Leitbildern» und «Images». Wir
treiben «Image-Building»; wir beschäftigen uns mit dem Einfluss
unserer Sprache auf unser Erleben der Welt und mit dem Einfluss
127
unserer Erwartungsstrukturen auf unsere Welt. Die «Phantasie» hat
in den letzten Jahren eine massive Aufwertung erfahren305. Die seit
dem Zweiten Weltkrieg neu in Aufschwung gekommene Psychosomatik liefert speziell der Medizin wieder eine theoretische Basis
für die Annahme des allerweitesten Spektrums von körperlichen
Symptomen und Leiden infolge psychologischer Gegebenheiten.
Mit alledem sind wir, genau besehen, gar nicht so weit von der alten Imaginatiolehre entfernt - die entscheidendste Verschiedenheit
der modernen Ideen von den alten besteht vielleicht darin, dass sie
das persönliche Erleben weniger auszuklammern suchen. Insgesamt
scheint sich im Laufe der 60er Jahre eben tatsächlich etwas an unserem Wirklichkeitsbegriff verändert zu haben.
«Das Suchbild vernichtet das Merkbild», unterschreibt Jakob Johann Baron Uexküll, ein
Vater der Verhaltensforschung, diese Illustration aus seinem «Bilderbuch unsichtbarer
Welten» (1934). «Als ich längere Zeit bei einem Freunde zu Gast war, wurde mir täglich
zum Mittagessen ein irdener Wasserkrug vor meinen Platz gestellt. Eines Tages hatte der
Diener den Tonkrug zerschlagen und mir statt dessen eine Glaskaraffe hingestellt. Als ich
beim Essen nach dem Krug suchte, sah ich die Glaskaraffe nicht. ... Das Suchbild vernichtet das Merkbild.»
128
V. EPILOG
Es fragt sich eben, was Wirklichkeit ist. Im ganzen scheint das
Attribut der «Wirklichkeit» je nach Situation - auch nach historischer Situation - verschiedenen Dingen zuerkannt zu werden.
Vielleicht ist «Wirklichkeit» am ehesten die Art, wie einem die
Dinge erscheinen, hinter welcher die Macht und Autorität steht,
der man sich unterzieht. Man unterzieht sich aber immer am liebsten Autoritäten und Mächten, die einem nützen bzw. an denen
man irgendeinen Anteil zu haben glaubt oder hat. So empfand der
Mann des 19. Jahrhunderts die Ergebnisse und Entwicklungen von
Technik und Naturwissenschaften, die ihm so viel Angenehmes
und Nützliches brachten, als besonders real - Einbildungen blieben
den Frauen überlassen; der von diesen Ergebnissen und Entwicklungen nachgerade ziemlich hilflos bedrohte Mensch des 20. Jahrhunderts zieht es vielfach vor, nur seinem eigenen Erleben Wirklichkeitscharakter beizumessen, Wissenschaft und Technik aber als
Science Fiction zu verstehen. Der Techniker allerdings empfindet
seine Maschinen noch immer als die Wirklichkeit, wie der Sektierer seine Bekehrungserlebnisse. Der Politiker spricht von seinem
schwanken Boden als von der harten Realität. Die somatischen
Mediziner halten die somatischen Krankheiten für die einzig wirklichen, die Psychotherapeuten kämpfen für die Wirklichkeit der
psychischen Leiden. Wenn man aber in sich geht: was hält man
selbst wirklich für real?
129
ANMERKUNGEN
Geschichte der Gynäkologie und Geburtshilfe - Überblick
Erstmals publiziert in: Geschichte der Medizin (Heidelberger Taschenbücher Band 165,
Basistext Medizin). Berlin-Heidelberg-New York 1975, S. 145-162; 2. Aufl. 1977, S. 148165. Separater Abdruck in: Sprechstunde 29, 5 (1975) 7-10.
1 Papyrus Ebers: The Papyrus Ebers. Übers. von B. Ebbell. Kopenhagen: Levin &
Munksgaard 1937, S. 108-113 (XCIII-XCVII, Diseases of women).
2 Hippokrates: Oeuvres completes. Übers, und mit dem griech. Text hrsg. v. E. Littre,
10 Bde., Paris: Baillière 1839-1861, Bd. 8,1853, S. 10-463 (Des maladies des femmes Des femmes stériles, Bücher 1-3).
3 Soranus’ Gynecology. Translated with an introduction by Owsei Temkin. Baltimore:
Johns Hopkins Press 1956.
4 «... Auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben», heisst es unter anderem im «Eid des Hippokrates». Vgl. Hippokrates: Schriften. Übers, und eingef. u.
mit einem Essay hrsg. von H. Diller (Rowohlts Klassiker der Literatur u. Wissenschaft, griech. Literatur). Bd. 4. Hamburg: Rowohlt 1962, S. 7-9.
5 Vgl. etwa Hippokrates (Anm. 2), S. 32-35 (Des maladies des femmes I, 7), S. 266-279
(Des maladies des femmes II, 123-130);
Aretaei Cappadocis Opera omnia, hrsg. v. C. G. Kuehn (Medicorum graecorum opera
Vol. 24). Leipzig: Cnobloch 1828, S. 60-63 (De causis et signis acutorum morborum
lib. 2, cap. 11). Übersetzung: Die auf uns gekommenen Schriften des Kappadocier
Aretäus, übers, v. A. Mann. Halle: C. E. M. Pfeffer 1858, S. 40 (Von den Ursachen und
Kennzeichen akuter Krankheiten, 2. Buch, XI: Von dem hysterischen Erstickungsanfall).
6 Vgl. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker (Rowohlts Klassiker der Literatur u. Wissenschaft). Hamburg: Rowohlt 1957.
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lesky, Erna: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 1950, Nr. 19).
Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Wiesbaden:
F. Steiner Verlag 1950.
7 Vgl. Galen: On the usefulness of the parts of the body - peri chreias morion - De usu
partium. Ins Englische übers, v. M. T. May, 2 Bde, Ithaca, New York: Cornell University Press 1968, Bd. 2, S. 628-638 (Buch 14, 6-7/II, 296-II, 310).
8 Im Rahmen der «arabischen Reception» hat das bis dahin bildungsmässig recht verrohte Abendland in den ersten Jahrhunderten unseres Jahrtausends durch Vermittlung
der mächtig und gebildet gewordenen Araber unter anderem auch manches vergessene eigene antike Gedanken- und Kulturgut neu integriert.
9 Tertullianus, Quintus Septimus Florens: La toilette des femmes (De cultu feminarum).
Kritische Textausgabe u. Übers. v. M. Turcan. Paris: Les éditions du cerf 1971; S. 4245 (I,1,11-20).
10 1. Tim. 2, 11-15: Eine Frau lerne still in aller Unterordnung; / zu lehren aber gestatte
ich einer Frau nicht, auch nicht, sich über den Mann zu erheben, sondern (ich gebiete
130
ihr), sich still zu verhalten. / Denn Adam wurde zuerst geschaffen, darnach Eva. /
Und Adam wurde nicht verführt, das Weib vielmehr wurde verführt und ist in
Übertretung geraten. / Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären ...»
Übersetzung nach der Zürcher Bibel, Zürich: Verlag der Zwingli-Bibel 1955. Die
Geschichte der mythologischen Dimension der Ersterschaffung Adams ist von psychologischer Seite herausgearbeitet worden: Hillman, James: First Adam, then Eve.
Fantasies of female inferiority in changing consciousness. Art International 14 (1970)
30-43.
11 Vgl. Thomas von Aquin: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa.
Übers. v. C. M. Schneider, 12 Bde., Regensburg: G. J. Manz 1886-1892, speziell Bd. 3,
S. 482-487 (Pars l, Kap. 92) u. S. 491-492 (Pars 1, Kap. 93, Art. 4) und die entsprechenden Stellen in der Deutschen Thomas-Ausgabe (Vollständige, ungekürzte
deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica), Bd. 7, München-Heidelberg
F. H. Kehrle 1941, S. 35-47, 58-60. Thomas scheint sich hier vor allem für die dogmatische Begründung der diesseitigen Unterordnung der Frau unter den Mann zu interessieren. Aristoteles ist ihm eine erstrangige naturwissenschaftliche Autorität. Die
Unterordnung ist doppelt: sklavisch nur infolge des Sündenfalles; politisch (so übersetzt Schneider «oeconomica vel civilis» - «häuslich oder bürgerlich» die Dominikaner und Benediktiner Deutschlands und Österreichs unseres Jahrhunderts) von Natur aus - «Es würde nämlich das Gut der Ordnung in der Menge der Menschen gefehlt haben, wenn sich einige nicht durch andere, weisere Menschen hätten leiten lassen.»
12 Salerno war im 11.-13. Jahrhundert, noch vor dem Aufblühen der Universitäten, Sitz
einer hochberühmten medizinischen Schule, die für ihre soziale und wissenschaftliche
Offenheit berühmt geworden ist.
13 Vgl. Lipinska, Melina: Les femmes et le progrès des sciences médicales. Paris: Masson
1930;
Schoenfeld, Walther: Frauen in der abendländischen Heilkunde. Stuttgart: Enke 1947;
Cutter, Irving S. und Viets, Henry R.: A short history of midwifery. Philadelphia-London: Saunders 1964.
14 Siegemundin, Justine, geb. Dittrichin: Die königl. Preussische und Chur-Brandenb.
Hof-Wehe-Mutter, Das ist: Ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und
unrecht-stehenden Gebuhrten. Berlin: Rüdiger 1723, Vorbericht, § 2.
15 Die Universitäten haben regulärerweise bekanntlich über Jahrhunderte im allgemeinen keine Frauen zum Studium zugelassen. Frühe reguläre Möglichkeiten für
Frauen, Medizin zu studieren, gab es im 19. Jahrhundert in Amerika; in Europa
öffnete die Pariser Universität ab 1863, die Zürcher Universität ab 1865 ihre Pforten für Frauen, erst 1908 aber durfte die erste Frau an einer deutschen Universität
studieren.
Vgl. Rohner, Hanny: Die ersten 30 Jahre des medizinischen Frauenstudiums an der
Universität Zürich 1867-1897 (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R.
89). Zürich: Juris 1972;
Lipinska, Melina: Histoire des femmes médecins. Diss., Paris: G. Jacques 1900.
16 Roesslin, Eucharius: Eucharius Roesslins «Rosengarten», gedruckt im Jahre 1513.
Begleit-Text von Gustav Klein (Alte Meister der Medizin und Naturkunde 2). München: C. Kuhn 1910, S. 8.
131
17 Buess, Heinrich: Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Geburtshilfe. In:
Lehrbuch der Geburtshilfe (Hrsg. Th. Koller), S. 1-26. Basel: Karger 1948, S. 11.
18 Vgl. Radciffe, Walter: The secret Instrument (The birth of the midwifery forceps).
London: Heinemann 1947;
Maurkeau, Françis: Observations sur la grossesse et l’accouchement des femmes, et sur
leurs maladies & celles des enfans nouveau-nez. Paris: chez l’Auteur 1695, S. 16-18
(Obs. 26).
19 Stein, Georg Wilhelm: Theoretische Anleitung zur Geburtshülfe, 2 Teile, 6. Aufl. Marburg: In der neuen akademischen Buchhandlung 1800, speziell Bd. 1, S. 289-292 und
Tafeln 11-12; Bd. 2, S. 319-320, 322-323 u. Tafeln 7, 9.
20 Thoms, Herbert: Classical contributions to obstetrics and gynecology. Springfield/Ill.:
Ch. C. Thomas 1935, S. 15-21,120-128;
Fischer, Isidor: Geschichte der Gynäkologie. In: Halhan, Josef und Seite, Ludwig
(Hrsg.): Biologie und Pathologie des Weibes. 8 Bde., Berlin-Wien: Urban &
Schwarzenberg 1924-1929, Bd. 1, 1924, S. VII, 1-202.
Zur Geschichte der Zange vgl. speziell: Das, Kedarnath: Obstetric forceps. Its history
and evolution. Calcutta: The Art Press 1929.
21 Vgl. Fasbender, Heinrich: Geschichte der Geburtshilfe. Jena 1906, Nachdruck Hildesheim: Olms 1964, S. 245-258.
Vgl. auch Fischer-Homberger, Esther: Medizinische Wissenschaft in ihrem Zusammenhang mit ärztlicher Standespolitik. Aus der Geschichte der Chirurgie, der Hebammenkunst und der Apothekerwissenschaft. Schw. Ärzteztg. 57 (1976) 1351-1357, speziell S. 1354-1355.
22 Vgl. Fischer-Homberger, Esther: Geschichte der Medizin (Heidelberger Taschenbücher
Bd. 165, Basistext Medizin). 2. Aufl. Springer-Verlag: Berlin-Heidelberg-New York
1977, S. 61-63.
23 Graaf, Regnerus de: De mulierum organis generationi inservientibus tractatus novus,
demonstrans tarn homines & animalia caetera omnia, quae vivipara dicuntur, haud
minus quam ovipara, ab ovo originem ducere. In: Opera omnia, Amsterdam: Wetstenius 1705, S. 113-326, speziell S. 224-237 (Kap. 12: De testibus muliebribus sive
ovariis).
24 Vgl. Bilikiewicz, Tadeusz: Die Embryologie im Zeitalter des Barock und des Rokoko
(Arbeiten des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig 2).
Leipzig: Thieme 1932.
Needham, Joseph: A history of embryology, 2. Aufl. Cambridge: University Press
1959, S. 205-223.
25 Baer, Karl Ernst von: Über die Bildung des Eies der Säugetiere und des Menschen. Mit
einer biographisch-geschichtlichen Einführung in deutscher Sprache, hrsg. v. B. Ottow, Leipzig: Voss 1927 (Originalausgabe: De ovi mammalium et hominis genesi.
Leipzig: Voss 1827).
26 Virchow, Rudolf: Der puerperale Zustand. Das Weib und die Zelle (1848). In: Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. Frankfurt a. M.: Meidinger
1856, S. 735-779, speziell S. 747. Das volle Zitat lautet: «Das Weib ist eben Weib nur
durch seine Generationsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes
oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Rundung der
Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brü-
132
ste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares
bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum
diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung und Treue - kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme
den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit mit den
groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen
Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem
schiefen Urtheil steht vor uns.»
27 Vgl. Fischer-Homberger (Anm. 22), S. 24, 131-132.
28 Vgl. Denejfe, V.: Le speculum de la matrice ä travers les ages. Anvers: H. Caals 1902.
Zur Geschichte der Uterussonde vgl. den zitierten Autor Thomas, T. Gaillard: Lehrbuch der Frauenkrankheiten. Nach der 2. Aufl. übers. v. M. Jaquet, Berlin:
Hirschwald 1873, S. 47;
Schroeder, Carl: Handbuch der Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane (=
Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, hrsg. v. H. v. Ziemssen, Bd. 10),
Leipzig: F. C. W. Vogel 1874, S. 4.
29 Semmelweis, Ignaz Philipp: Ätiologie, Begriff und Prophylaxis des Kindbettfiebers
(1861). Eingel. v. P. Zweifel (Klassiker der Medizin, hrsg. v. K. Sudhoff, 18) Leipzig:
J. A. Barth 1912.
30 Vgl. Lesky, Erna: Ignaz Philipp Semmelweis und die Wiener medizinische Schule
(Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist.
Klasse, Bd. 245, Abh. 3) Wien: H. Böhlaus 1964.
31 Keys, Thomas E.: The history of surgical anesthesia. New York: Schumann’s 1945.,
S. 32-34;
Thoms (Anm. 20), S. 29-34.
Simpson, James Young: Answer to the religious objections advanced against the employment of anaesthetic agents in midwifery and surgery. Edinburgh: Sutherland &
Knox 1847, zit. n. Index-Catalogue of the library of the Surgeon-General’s office,
Washington 1892.
32 Schachner, August: Ephraim McDowell, «father of ovariotomy» and founder of abdominal surgery. Philadelphia-London: J. B. Lippincott 1921;
Sims, James Marion: Meine Lebensgeschichte. Hrsg. von seinem Sohne H. Marion Sims,
übers. v. L. Weiss, Stuttgart: Enke 1885;
Thoms (Anm. 20), S. 214-218, 235-239.
33 Didier, Robert: Pean. Paris: Maloine 1948.
34 Pundel, J. Paul: Histoire de l’opération césarienne. Etude historique de la césarienne
dans la médecine, I’art et la littérature, les religions et la législation. Brüssel: Presses
académiques europeennes 1969.
35 Vgl. Finch, B. E., und Green, Hugh: Contraception through the ages. London: P.
Owen 1963;
Wood, Clive und Suitters, Beryl: The fight for acceptance. A history of contraception
Aylesbury: MTP Medical and Technical Publishing Co. Ltd. 1970.
Zum Conceptionsoptimum im Intermenstruum vgl. auch Fraenkel, Ludwig: Physiologie der weiblichen Genitalorgane. In: Halban/Seitz (Anm. 20), Bd. 1, 1924, S. 517634, speziell S. 572-577 (Teil II, 5: Das Zeitverhältnis von Ovulation und Menstrua-
133
tion). Es liege da «das Befruchtungsoptimum etwa in der Mitte des Intermenstruum»,
schreibt Fraenkel. Er habe diesbezügliche Resultate 1911 erstmals vorgetragen. «Von
mir allein rührt das jetzt angenommene Zeitgesetz der Ovulation her», und
Knaus, Hermann: Die periodische Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit des Weibes. Der
Weg zur natürlichen Geburtenregelung. Wien: W. Maudrich 1934, besonders Kap. 8
und 9: «Ogino und Knaus» und «Zur Geschichte der periodischen Fruchtbarkeit...»,
S. 131-136.
Hysterie und Misogynie - ein Aspekt der Hysteriegeschichte
Erstmals publiziert in: Gesnerus (Vierteljahrsschrift, hrsg. v. der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften) 26 (1969) 117-127.
Neuabdruck in: Sprechstunde 25, 5 (1975) 7-10.
36 Ackerknecht, Erwin H.: Psychopathology, primitive medicine and primitive culture.
Bull. Hist. Med. 14 (1943) 30-67.
37 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 9, 1861, S. 392-399 (Démocrite à Hippocrate, sur la nature
de l’homme). S. 396-397 die Stelle, welche Littré übersetzt: «la mère des enfants, la
source de vives douleurs, la cause de mille maux, la matrice».
38 Sydenham, Thomas: An epistolary discourse to the learned Doctor William Cole, concerning some Observations of... hysterick diseases. In: The whole works, 8. Aufl.,
London: M. Poulson, S. 266-338, S. 307.
39 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 4, 1844, S. 544-545 (Aphorismus 5, 35 und Littrés Anmerkung zur Übersetzung).
Vgl. auch Veith, Ilza: Hysteria: The history of a disease. Chicago-London: University of Chicago Press 1965, S. 10-11.
40 Platons Timaios oder die Schrift über die Natur. Übers. v. R. Kapferer u. A. Fingerle,
Stuttgart: Hippokrates-Verlag 1952, S. 91,110-111 (90e-92c, 76d-e).
Diese Ausführungen sind auf Widerspruch gestossen. C. Ernst fragt sich, ob man statt
«Tier» nicht «Lebewesen» übersetzen sollte. Dr. H.-R. Schwyzer, Zürich, ein namhafter Kenner der Antike und vor allem Platos, schrieb mir 1975, es werde durch sie
Plato in ein falsches, mindestens sehr einseitiges Licht gestellt. Es sei zuzugestehen,
dass an den beiden zitierten Timaios-Stellen (76d und 90e) die Frauen als minderwertig gegenüber den Männern erscheinen. Aber die erste Stelle (wo Platon von «Weibern und sonstigen Tieren» spricht), sei in der verwendeten Übersetzung falsch verstanden. Die Worte «gynaikes kai talla theria» (γυναῖϰες ϰαὶ τάλλα θηρία) hiessen:
«Weiber und selbst Tiere». Genauso spreche Homer von «Odysseus kai alloi Phaiekes», was nicht heissen könne «Odysseus und die andern Phäaken», sondern nur:
«Odysseus und mit ihm die Phäaken.» Andrerseits gebe es folgende Stellen, die Piaton als Vorkämpfer der Gleichberechtigung der Geschlechter auswiesen: Im 7. Buch
der «Gesetze» verlangt Paton gleiche Ausbildung für Knaben und Mädchen (804e805a), Tanz- und Turnunterricht für beide Geschlechter (813b) und sogar militärische
Ausbildung (813e-814b). Er verurteilt ausdrücklich die Gewohnheit der barbarischen
Thraker, ihre Frauen wie Sklaven zu behandeln (805e). Im 8. Buch der «Gesetze»
spricht er mit grosser Hochachtung von der Frau, wo er die Reinheit der Ehe verlangt (841cff.), und im 11. Buch spricht er von einem paritätisch aus 10 Männern und
10 Frauen zusammengesetzten Scheidungsgericht (929e-930a). Auch der Hinweis auf
134
die verehrungswürdige Gestalt der Diotima im platonischen Symposion genüge, Piaton vom Vorwurf der Misogynie zu befreien (vgl. Sprechstunde 27, 5,1975, S. 2).
Tatsächlich wird vielfach «Weiber und dann auch Tiere» (F. W. Wagner 1841),
«Weiber und selbst Tiere» (F. Susemihl 1856, J. Hegner 1967), «Weiber, und nicht
bloss dies, sondern auch Tiere» (O. Apelt 1922), «women and afterwards ... beasts»
(R. D. Archer-Hind 1888), «women and also ... beasts» (F. M. Cornford 1937) übersetzt. Andererseits allerdings finden sich auch Übersetzungen vom Typus der zitierten: «die Frauen sowie die übrigen Thiere» (H. Müller 1857, ebenso nach F. Schleiermacher und H. Müller W. F. Otto, E. Grassi und G. Plamböck 1959 - vgl. auch die
Ausgabe der wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt von 1972), «Weiber und
die anderen Tiere» (R. Rufener 1974), «des femmes et d’autres animaux» (V. Cousin
1839).
Zu Platons Gleichstellung von Mann und Frau in den «Gesetzen» ist zu bemerken,
dass diese primär staatspolitisch motoviert erscheint (Mobilisierung der Reserven).
Diotima aber war gewiss eine Ausnahme. Die «Ausnahme» ist ja die Regel, wenn
Zugehörige einer diskriminierten Gruppe - falls sie in ihrer allfälligen Untauglichkeit
nicht gegen sich selber sprechen - sozial hoch eingeordnet werden sollen.
41 Aretaeus (Anm. 5).
42 Sprenger, Jakob und Institoris, Heinrich: Malleus Maleficarum / Der Hexenhammer.
Zum ersten Male ins Deutsche übertragen u. eingel. v. J. W. R. Schmidt, 3 Teile, Berlin: H. Barsdorf 1906, Nachdr. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974,
speziell l. Teil, S. 93, 97, 99, 102, 105, 106. Diese Zitate fehlten in der Originalarbeit.
43 Dieser ganze Abschnitt über Hexen, Besessene und deren Beziehung zur Hysterielehre ist neu geschrieben. Anstoss dazu gab Dr. med. Dr. phil. Cécile Ernst mit ihrem
untenzitierten Buch. In der Originalarbeit wurden Hexen und Besessene in einen
Topf geworfen, womit Verf. wohl zum Opfer einer im 19. Jahrhundert geläufigen
Hysterielehre geworden ist. Ich danke Cecile Ernst für ihren Anstoss zur Klärung
und kritische Durchsicht der hier abgedruckten Neufassung.
Ernst, Cecile: Teufelaustreibungen. Die Praxis der katholischen Kirche im 16. und
17. Jahrhundert. Huber: Bern-Stuttgart-Wien 1972, speziell auch S. 23-27, 117, 120124.
44 Vgl. Soldan-Heppe (Wilhelm Gottlieb Soldan und Heinrich Heppe): Geschichte der Hexenprozesse. Neu bearb. u. hrsg. v. M. Bauer, 2 Bde., Hanau/M.: Müller & Kiepenheuer (1911), Bd. 1, S. 275, 385;
Cesbron, Henry: Histoire critique de l’hystérie. Thèse, Paris: Asselin & Houzeau 1909,
S. 122; Ernst, C. (Anm. 43), S. 127-128.
45 Ernst, Klaus: Zeitbedingtes und Zeitloses in der Behandlung seelisch Kranker. Über 7
Protokolle von Exorzismen bei schizophrenieähnlichen Hysterien im 16. Jahrhundert.
Neue Zürcher Zeitung, Sonntag, 31.1.1965, Nr. 399, Blatt 6.
46 Wier, Johan: De praestigiis demonum. Von ihrem Ursprung, underscheid, vermögenheit und rechtmessiger straaff, auch der beleidigten ordentlicher hilff sechs Bücher.
Faksimile der Ausgabe von 1578. Amsterdam: E. J. Bonset 1967, speziell Blatt 149-150
(Buch 5, Kap. 9: Die auffrechte gewisse Kunst Zauberey zuvertreiben).
Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. 2., verbesserte Aufl., Stuttgart: Enke 1967, S. 20-21.
47 James (VI of Scotland and I of England): Daemonologie, in forme of a dialogue. Edin-
135
burgh: Walde-grave 1597, zit. n. Hunter, Richard and Macalpine, Ida: Three hundred
years of Psychiatry, 1535-1860, a history presented in selected English texts. 2. Aufl.,
London: Oxford University Press 1964, S. 47-49.
48 Jorden, Edward: A briefe discourse of a disease called the suffocation of the mother.
Written uppon occasion which hath beene of late taken thereby, to suspect possession
of an evill spirit, or some such like supernaturall power. Wherin is declared that divers strange actions and passions of the body of man, which in the common opinion,
are imputed to the Divell, have their true naturall causes, and do accompanie this
disease, London: Windet 1603, zit. u. kommentiert n. Hunter/Macalpine (Anm. 47),
S. 68-73. Jorden bezieht sich hier zweifellos auf die hippokratische Schrift über die
Epilepsie - vgl. Hippokrates (Anm. 2), Bd. 6, 1849, S. 352-359 (De la maladie sacrée,
I).
49 Sydenham (Anm. 38), S. 302.
50 Whytt, Robert: Beobachtungen über die Natur, Ursachen und Heilung der Krankheiten, die man gemeiniglich Nerven-hypochondrische und hysterische Zufälle nennet.
Übers. aus dem Englischen nach der 2. Aufl., Leipzig: C. Fritsch 1766;
Mandeville, Bernard de: A treatise of the hypochondriack and hysterick diseases. In
three dialogues. 2. Aufl., London: J. Tonson 1730;
Vgl. auch Fischer-Homberger, Esther: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose: Krankheiten und Zustandsbilder. Bern-Stuttgart-Wien: Huber 1970, S. 98-100.
51 Mühe, Ernst: Der Aberglaube. Eine biblische Beleuchtung der finstern Gebiete der
Sympathie, Zauberei, Geisterbeschwörung etc., 2. Aufl. Leipzig: G. Böhme 1886,
S. 32-33, 39, 45.
52 Max Bauer als Bearbeiter von Soldan-Heppe (Anm. 44), Bd. 2, S. 336.
53 Sprenger und Institoris (Anm. 42); Vorwort S. VII.
54 Vgl. Veith (Anm. 39), S. 250;
Ernst, Chile (Anm. 43), S. 8, 34, 120.
55 Vgl. Hiller, Lee Miriam: Towards a definition of hysteria: Concepts in the late nineteenth Century. Thesis (E. H. Ackerknecht) University of Wisconsin (o. D.);
Bruttin, Jean-Marie: Differentes théories sur l’hystérie dans la première moitié du
XIXe siècle (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 66). Zürich: Juris
1969.
Louyer-Villermay, Jean-Baptiste: Hypocondrie. In: Dictionaire des sciences médicales,
Bd. 23, Paris: Panckoucke 1818, S. 107-191.
-: Hysterie. Id., S. 226-272.
Georget, Etienne-Jean: De la physiologie du Systeme nerveux et spécialement du cerveau. Recherches sur les maladies nerveuses en général, et en particulier sur le siége, la
nature et le traitement de l’hystérie, de l’hypochondrie, de l’épilepsie et de l’asthme
convulsif. 2 Bde., Paris: Baillière 1821, speziell Bd. 2, S. 264.
Dubois, E. Frederic: Über das Wesen und die gründliche Heilung der Hypochondrie
und Hysterie. Eine von der Königl. medizin. Gesellschaft zu Bordeaux gekrönte
Preisschrift. Hrsg. u. mit einer Einl. versehen v. K. W. Ideler, Berlin: Hirschwald
1840;
Brachet, Jean-Louis: Über die Hypochondrie. Eine von der Académie Royale de Médecine in Paris gekrönte Preisschrift. Übers. v. G. Krupp, 2 Hefte, Leipzig:
Ch. E. Kollmann 1845-1846, 1. Heft S. 175-179.
136
Landouzy, Marc-Hector. Traité complet de l’hystérie. Ouvrage couronné par l’Académie royale de médecine. Paris-London: Baillière 1846;
Loewenfeld, Leopold: Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie. Wiesbaden: Bergmann 1894.
56 Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. 2.,
umgearb. u. sehr vermehrte Aufl., Stuttgart: Krabbe 1861, S. 184.
57 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Ärzte. 4. Aufl.,
Leipzig: A. Abel 1893, S. 492-493, 500.
58 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 8. Aufl.,
4 Bde., Leipzig: J. A. Barth 1909-1915, S. 1646-1648, 1654 (Bd. 4).
59 Feuchtersieben, Ernst Freiherr von: Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Als Skizze zu
Vorträgen bearbeitet. Wien: C. Gerold 1845, S. 245.
60 Dubois, Paul: Die Psychoneurosen und ihre seelische Behandlung. Übers. v. Ringier,
Vorrede v. Déjerine, 2., durchges. Aufl., Bern: Francke 1910, S. 190-191.
61 Kraepelin (Anm. 58), S. 1656.
62 Auf diesen Autor machte mich seinerzeit Frau Margret Curti aufmerksam.
63 Probst, Ferdinand: Der Fall Otto Weininger (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzel-Darstellungen für Gebildete aller Stände, Heft 31). Wiesbaden: Bergmann 1904;
Forel, August: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München: E. Reinhardt 1905, S. 566567. Auf diesen Text hat mich Prof. E. H. Ackerknecht aufmerksam gemacht.
64 Zweig, Stefan: Europäisches Erbe. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1960, S. 223-226 (Vorbeigehen an einem unauffälligen Menschen - Otto Weininger).
65 Nach Probst (Anm. 63), S. 2.
66 Probst (Anm. 63), S. 8, 15.
Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (Sammlung
zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten,
hrsg. v. K. Alt, III, 3). Halle a. S.: Marhold 1900. 2. Aufl. 1901.
Vgl. auch Möbius, Paul Julius: Geschlecht und Unbescheidenheit. Beurteilung des Buches von O. Weininger «Über Geschlecht und Charakter». 3. Aufl., Halle a. S.: Marhold 1907, S. 7: Moebius glaubt, dass sogar der Titel von Weiningers Buch ein Plagiat sei, indem er selbst gerade zur Zeit von dessen Entstehung im Begriffe war, seine
«Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-Unterschieden» herauszugeben, von denen
einige Titel vom Typ «Geschlecht und ...» trugen. Weininger schreibe, rechnet Möbius nach, «dass er vor der Veröffentlichung seines Buches meine Schrift ,Geschlecht
und Entartung‘ gesehen habe. Auf dem Umschlage dieses Heftes steht fünfmal ,Geschlecht und -‘. Wenn jemand diese meine Titelreihe sieht und dann auch ,Geschlecht
und -‘ wählt, so zeugt das denn doch von Mangel an Zartgefühl.»
67 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. 3. Aufl.,
Wien-Leipzig: W.Braumüller 1904, S. 345-346, 358-362, 381, 388, 394, 407, 418
(1. Aufl. 1903,5. Aufl. 1905, 24. Aufl. 1922, 28. Aufl. 1947).
68 Probst (Anm. 63), S. 38-39.
69 Vgl. Möbius, Geschlecht und Unbescheidenheit (Anm. 66) samt dort zitiertem Text
von S. 7, ferner speziell S. 3: «Der Verfasser trug ungefähr das vor, war ich vorgetragen habe, aber mit ... allerhand unerfreulichen Zusätzen. Der Eindruck, den diese
137
Karrikatur meiner Anschauungen auf mich machte, wurde dadurch nicht verbessert,
dass der Verfasser ungezogen über mich sprach.» Zitat aus Probst (Anm. 63), S. 8.
Krankheit Frau - aus der Geschichte der Menstruation
in ihrem Aspekt als Zeichen eines Fehlers
Erweiterte Fassung eines Vortrags vom März 1974. Bisher unpubliziert.
70 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 8,1853, S. 10-29 (Des maladies des femmes I, 1-4).
71 Id., Bd. 7,1851, S. 492-493 (De la génération. De la nature de l’enfant, XIV).
72 Id., Bd. 8, S. 10-11 (Des maladies des femmes I, 1).
73 Id., Bd. 7, S. 478-489 (De la génération VII-XII).
74 Aristotle: Generation of animals. Griech. Text und englische Übersetzung v.
A. L. Peck. London und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University
Press 1963 (The Loeb classical library, Aristotle XIII), S. 88-111 (Gen. an. I, XIXXX, 726a 29-729a 33).
75 Id., S. 400-403 (Gen. an. IV, III, 767a 36-767b 24).
76 Id., S. 92-95 und 102-103 (Gen. an. I, XIX und XX, 726b 31-727a 2 und 728a 18-25).
Vgl. auch Lesky (Anm. 6), S. 1259 (35).
77 Aristotle: Parts of Animals. Griech. Text und englische Übersetzung v. E. S. Forster.
London und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University Press 1968 (The
Loeb classical library, Aristotle XII), S. 232-239 (Part. an III, IV, 665b 6-666b 1).
78 Aristoteles (Anm. 74), S. 90-91 (Gen. an. I, XIX, 726b 5-14).
Vgl. hierzu Pare, Ambroise: Wund Artzney oder Artzneyspiegell. Aus der lat. Ausg.
v. J. Guillemeau übers. v. P. Uffenbach, Frankfurt a. M.: Jacob Fischer 1635, S. 812
(Buch 23, Von dess Menschen Geburt):
«Gleich wie aber die Weiber dess Geblüts an der Mänge mehr in ihnen haben, also
übertrifft das wenige, mit welchem die Männer begabet sind, jenes mit seiner fürtrefflichen Qualitet unnd Eygenschafft sehr weit: Denn es ist nicht allein viel vollkommener und eygentlicher aussbereitet, sondern hat auch eine viel grössere Mänge
Geister in sich, also dass die Männer, als die da viel hitziger sind, leichtlich alles das,
so sie gemessen unnd essen, in einen guten und heilsamen Safft und die Substantz ihrer Leiber verwandeln, den Uberrest und Unrath aber durch die unvermerckliche
Durchdämpffung ausslassen und vertheilen können: Ist derowegen (also zu reden) ein
einig Quintlein ihres Bluts ... viel besser und kräfftiger, denn zwey Pfund dess Geblüts der Weiber ...»
79 Aristoteles (Anm. 74), S. 102-103 (Gen. an. I, XX, 728a 18-25). Übers. v. Paul Gohlke
(Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. Paderborn: F. Schöningh 1959, S. 5960).
80 Id., S. 400-403 (Gen. an. IV, III, 767b 6-15).
81 Galen (Anm. 7), wo es S. 630 (Buch 14, 6/II, 299) heisst. «Indeed, you ought not to
think that our Creator would purposely make half the whole race imperfect and, as it
were, mutilated, unless there was to be some great advantage in such a mutilation.»
Thomas von Aquin (Anm. 11) - vgl. auch die zugehörige Anmerkung in der Deutschen Thomas-Ausgabe, S. 214: «Trotz der vielfachen Berührungen in den Gedankengängen bei Thomas und den heutigen Biologen bleibt der Irrtum bei Thomas be-
138
stehen: das Weibliche darf biologisch nicht als mas occasionatus [als ein verfehlter
Mann] bezeichnet werden. Damit fallen bei Thomas zwar auch die biologisch unterbauten Beweise für die theologische Folgerung: die soziale Unterordnung der Frau in
der Ehegemeinschaft; nicht aber der Inhalt dieser Folgerung. Denn dieser ist dogmatisch in der Offenbarung fundiert.»
Demgegenüber Heinzelmann, Gertrud: Eingabe an die Hohe Vorbereitende Kommission des II. Vatikanischen Konzils über Wertung und Stellung der Frau in der
römisch-katholischen Kirche. In: Wir schweigen nicht länger! Zürich: InterfeminasVerlag 1965, S. 20-44;
Möbius 1900 (Anm. 66);
Weininger (Anm. 67).
82 Soranus (Anm. 3), S. 23-27 (Buch 1, Kap. 6, 27-29).
83 Übersetzung n. der Zürcher Bibel (Anm. 10).
84 Hildegardis causae et curae. Ed. Paulus Kaiser. Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 102-103
(Lib. 2, Quare menstruum). Übersetzung aus: Der Äbtissin Hildegard von Bingen
Ursachen und Behandlung der Krankheiten (causae et curae). Aus dem Lateinischen
übers. v. H. Schulz. München: Verlag der ärztlichen Rundschau 1933, S. 99-101.
85 Vgl. Diepgen, Paul: Frau und Frauenheilkunde in der Kultur des Mittelalters. Stuttgart: Thieme 1963, S. 142-143.
86 Helmont, Johann Baptista von: Aufgang der Artzney-Kunst. Das ist: Noch nie erhörte
Grund-Lehren von der Natur zu einer neuen Beförderung der Artzney-Sachen.
Deutsche Übersetzung Sulzbach: J. A. Endters Söhne 1683, S. 1230-1231 (Tractatus
LV De vita longa, Vom langen Leben, Kap. 13: Von dem monatlichen Zoll).
87 Müller-Hess, Hans Georg: Die Lehre von der Menstruation vom Beginn der Neuzeit
bis zur Begründung der Zellenlehre (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und
der Naturwissenschaften, Heft 27) Berlin: E. Ebering 1938, S. 37. Bei dem erwähnten
Autor namens Duncan, zitiert bei Jean B. Verduc: Traité de l’usage des parties du corps
humain, Paris 1696, Bd. 1, S. 238, könnte es sich nach Müller-Hess um Daniel Duncan,
1649-1735, aus Montpellier, handeln.
88 Plinius, Cajus Secundus: Des furtrefflichen hochgelehrten alten Philosophi Bücher und
Schafften von der Natur ... Jetzt allererst gantz verstendtlich zusamen gezogen ...
und dem gemeinen Manne zu sonderm Wolgefallen aus dem Latein verteutscht.
Durch M. J. Heyden. Frankfurt/M.: S. Feyerabend u. S. Hütter 1565, S. 25-26 (Buch 7,
Kap. 15 «Von dem weiblichen Blumen»). Das Zitat ist leicht transskribiert wiedergegeben.
Vgl. auch Buch 28, XXIII 77-86; und Diepgen, Paul: Die Frauenheilkunde der Alten
Welt (Handbuch der Gynäkologie, hrsg. v. W. Stoeckel, Bd. 12, 1. Teil), München:
Bergmann 1937.
89 Aristotle: On Dreams. Griech. Text und englische Übersetzung v. W. S. Hett. London
und Cambridge, Mass.: Heinemann und Harvard University Press 1975 (The Loeb
classical library, Aristotle VIII, S. 347-371), S. 356-359 (II 459b-460a).
90 Nach Diepgen (Anm. 85), S. 143.
91 Nach Seligmann, S.: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des
Aberglaubens aller Zeiten und Völker. Bd. 1, Berlin: H. Barsdorf 1910, S. 94.
92 Nach Diepgen (Anm. 85) S. 143.
93 Johannes de Ketham Alemannus: Der Fasciculus medicinae. Facsimile des Venetianer
139
Erstdruckes von 1491. Mit einer historischen Einführung herausgegeben von Karl
Sudhoff (Monumenta medica, hrsg. v. H. E. Sigerist, Bd. 1) Mailand: R. Lier & Co.
1923, S. 18.
Es ist interessant, dass es eine Tradition gibt, die auch die Problematik von der giftigen Frau mit dem Namen des Aristoteles verbindet. Es ist dies die Tradition des Werkes «De secretis secretorum», welches Regeln und Sätze enthält, die Aristoteles seinem
Schüler Alexander soll geschrieben haben. Der Text tauchte im 12. Jahrhundert im
Zuge der arabischen Rezeption im Abendland auf, er hat mit Aristoteles an sich nichts
zu tun, wurde aber zu einem der wichtigsten Träger des Ruhmes dieses Philosophen.
Man findet da die folgende Erzählung: «Alexander, so schreibt Aristoteles, denk an
die Tat der Königin von Indien, wie sie dir unter dem Vorwande der Freundschaft
viele Angebinde und schöne Gaben übersandte. Darunter war auch jenes wunderschöne Mädchen, das von Kindheit auf mit Schlangengift getränkt und genährt worden war, so dass sich seine Natur in die Natur der Schlangen verwandelt hatte. Und
hätte ich sie in jener Stunde nicht aufmerksam beobachtet und durch meine Kunst erkannt, da sie so furchtbar ungescheut und schamlos ihren Blick unablässig an das Antlitz der Menschen heftete, hätte ich nicht daraus geschlossen, dass sie mit einem einzigen Bisse die Menschen töten würde, was sich dir hernach durch eine angestellte
Probe bestätigt hat, so hättest du in der Hitze der Beiwohnung den Tod davon gehabt.» Nach Hertz, Wilhelm: Die Sage vom Giftmädchen. In: Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. F. v. d. Leyen, Stuttgart-Berlin: Cotta 1905, S. 156-277 (erstmals in
den Abhandlungen der bayrischen Akademie der Wissenschaften, philos.-philol.
Klasse XX, 1 (1893), hier vom Autor verbessert), S. 162. Diesen Hinweis verdanke
ich Dr. med. U. B. Birchler.
94 Vgl. Lewin, Louis: Die Gifte in der Weltgeschichte. Berlin: Julius Springer 1920,
S. 288, 299-311, 487-492.
Ein interessantes Detail ist in diesem Zusammenhang, dass Hieronymus Cardanus seine
3 Bücher «De venenis» (enthalten in den Opera, Bd. 7, J. A. Huguetan & M. A. Ravaud: Leyden 1663, S. 275-355), dem Papste widmet.
95 Vgl. Fischer-Homberger, Esther: Medizinische Wissenschaft in ihrem Zusammenhang
mit ärztlicher Standespolitik. Aus der Geschichte der Chirurgie, der Hebammenkunst
und der Apothekerwissenschaft. Schweiz. Ärzteztg. 57 (1976) 1351-1357, bes. S. 1355.
96 Cardanus (Anm. 94) S. 277 (Lib. l, Cap. l) und S. 279 (Lib. l, Cap. 4).
97 Seiigmann (Anm. 91), S. 99.
98 Paracelsus, Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke (Hrsg. v.
K. Sudhoff ). 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische
Schriften, 14 Bde und 1 Registerband, München, Berlin und Einsiedeln: R. Oldenbourg (München-Berlin) O. W. Barth (München) Eberle (Einsiedeln) 1922-1960,
Bd. 1, S. 265 (Das Buch von der Gebärung der empfindlichen Dinge in der Vernunft.
[Von Gebärung des Menschen. Von des Menschen Eigenschaften, Tract. 2, Kap. 8.])
Vgl. auch Bd. 9, S. 197 (Paramiri liber quartus de matrice).
99 Id., Bd. 9, S. 198 (Paramiri liber quartus de matrice).
100 Id., Bd. 6, S. 403-404 (Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der
Franzosen und ihres gleichen, 6. Buch, l. Kap.)
101 Id., Bd. 5, S. 238 (Nachschrift aus dem Kolleg «Der Paragraphen, 14 Bücher» spezieller Pathologie und Therapie, Kap. 2, § 2, de lepra a casu).
140
102 Id., Bd. 14, S. 655-660 (De pestilitate, Tract. 4, Kap. 2). Diese Schrift ist möglicherweise keine echte Paracelsus-Schrift.
103 Laurentius, Andreas: Opera anatomica et medica. Frankfurt 1627, S. 296, zit. n. MüllerHess (Anm. 87), S. 15.
104 Matthiolus, Petrus Andreas: Commentarii in libros sex Pedacii Dioscoridis Anazarbei,
de medica materia. Venedig: V. Valgrisius 1554, S. 672 (Buch 6, Kap. 25).
105 Cardanus (Anm. 94), S. 313 (Buch 2, Kap. l).
106 Birchler, Urs Benno: Der Liebeszauber (Philtrum) und sein Zusammenhang mit der
Liebeskrankheit in der Medizin, besonders des 16.-18. Jahrhunderts (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 110) Juris: Zürich 1975.
107 Id., S. 93. Vgl. auch die entsprechenden Textstellen bzw. Stichwort «Menstrualblut»
im Index.
108 Nach Fischer, Isidor: Menstruation und Ovulation. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der
inneren Sekretion der Ovarien. Wien. Med. Wschr. 13 (1923) 1851-1854.
109 Vgl. Anm. 87.
110 Müller-Hess (Anm. 87), S. 61-62. Vgl. auch S. 23 bzw. Anm.120
111 Fraenkel (Anm. 35), S. 549-550.
112 Schaarschmidt, Samuel: Medicinischer und Chirurgischer Nachrichten Drey Jahrgänge. Mit Vorrede von F. Hoffmann. Berlin: D. A. Gohls 1743, 3. Teil, S. 421-422.
113 Nudow, Heinrich: Aphorismen über die Erkenntniss der Menschennatur im lebenden
gesunden Zustande. Riga 1791, S. 137-140, zit. n. Müller-Hess (Anm. 87), S. 58.
114 Oken, Lorenz: Die Zeugung. Bamberg-Würzburg: J. A. Goebhardt 1805, S. 201-203.
115 Soran (Anm. 3), S. 23-24.
116 Müller-Hess (Anm. 87), S. 24-29 und ff.
117 Fodéré, François-Emmanuel: Les lois eclairees par les sciences physiques; ou traite de
medecine-légale et d’hygiene publique. Bd. 1, Paris: Croullebois & Deterville an 7
(1799), S. 136.
Vgl. aber Belart-Gasser, Peider: Die Stellung der Frau in F. E. Foderes «Traité de
médecine-légale et d’hygiene publique» (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 122) Zürich: Juris 1977.
118 Fischer, Robert: Vortrag über die Geschichte der Brandstiftung, gehalten im Rahmen
einer Vorlesung der Verfasserin über die Geschichte der forensischen Psychiatrie im
SS 1977. Noch unpubliziert.
119 Platner, Ernst: Untersuchungen über einige Hauptcapitel der gerichtlichen ArzneiWissenschaft, durch ... Gutachten der Leipziger medicinischen Facultät erläutert. Aus
dem Latein. übers. u. hrsg. v. C. E. Hedrich, Leipzig: P. G. Kummer 1820, S. 30-36.
120 «Ich habe mich darüber schon an einem andern Orte geäussert», schreibt Osiander
hierzu und verweist auf sein Buch «Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten,
medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben», Hannover:
Brüder Hahn 1813, S. 108, wo die Brandstiftung übrigens als pubertäres Äquivalent
des Selbstmordes steht.
121 «Den Beweis, dass die Anhäufung des venosen Blutes im weiblichen Körper vor der
Menstruation jedesmal Statt finde, die Menstruation selbst in einer Ausleerung sehr
dunkelgefärbten Blutes bestehe,... habe ich ... bereits angeführt...», bemerkt Osiander
hierzu und verweist auf seine «Denkwürdigkeiten» und die Dissertation seines Sohnes
(Göttingen 1808).
141
122 Osiander, Friedrich Benjamin: Über die Entwickelungskrankheiten in den Blüthenjahren des weiblichen Geschlechts. l. Theil, enthaltend die seltenen und wunderbaren
Geistes- und Leibeszufälle in diesem Alter. Göttingen: bey dem Verfasser 1817,
S. 195-197.
123 Henke, Adolph: Über die Entwicklungen und Entwicklungs-Krankheiten des
menschlichen Organismus. Nürnberg: J. L. Schrag 1814, S. 122,124, 141-142.
124 Id., S. 143 ff., 146ff., 162ff.
125 Henke, Adolph: Über Geisteszerrüttung und Hang zur Brandstiftung als Wirkung unregelmässiger Entwickelung beim Eintritte der Mannbarkeit. Jahrbuch der Staatsarzneikunde für das Jahr 1818, hrsg. v. J. H. Kopp, 10. Jahrgang. Frankfurt a. M.:
J. Ch. Hermann 1817, S. 78-133.
126 Henke, Adolph: Über die Wichtigkeit der Entwicklungskrankheiten im Bezug auf die
gerichtliche Medicin. In: Abhandlungen aus dem Gebiete der gerichtlichen Medicin,
Bd. 3, Bamberg: C. F. Kunz 1818, S. 187-238, speziell S. 211-235.
127 Friedreich, Johannes Baptist: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie,
für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger. Leipzig: O. Wigand 1835, S. 408.
Vgl. Flemming, Karl Friedrich: Über die Existenz eines Brandstiftungstriebes, als
krankhaft psychischen Zustandes. Arch. für mediz. Erfahrung (1830) 256-283;
Henke, Adolph: Zur Lehre von dem Zusammenhange der bei Knaben und Mädchen
vorkommenden Feuerlust und Neigung zur Brandstiftung mit den Entwicklungsvorgängen bei dem Eintritte der Mannbarkeit, und Meyn, Andreas Ludwig Adolf: Über
die Unzulässigkeit der Annahme eines Brandstiftungstriebes: als Einleitung zu einer
Reihe ärztlicher Gutachten über den Gemüthszustand und die Zurechnungsfähigkeit
dreier junger Brandstifter, Z. Staatsarzneik., hrsg. v. A. Henke, 14. Ergänzungsheft,
zum 11. Jg. gehörend, Erlangen: Palm & Enke 1831, S. 189-239 und 240-302.
128 Friedreich (Anm. 127), S. 388-436, speziell S. 412-414 und 424.
129 Krafft-Ebing, Richard von: Psychosis menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie.
Stuttgart: Enke 1902, S.7, 94-108.
Zur Brandstiftungskasuistik vgl. nochmals Platner (Anm. 119);
Klug, Fr. (Hrsg.): Auswahl medicinisch-gerichtlicher Gutachten der königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, l. Bd., Berlin: G. Reimer 1828,
S. 85-108, Speziell S. 95-96, 104-105;
Schletter, Hermann Theodor (Hrsg.): J. C. A. Heinroth’s Gerichtsärztliche und PrivatGutachten. Leipzig: Fest’sche Verlagshandlung 1847, S. 55-58 (Brandstiftung), 87-90
(Mord);
Friedreich (Anm. 127), S. 393-436.
130 Vgl. Geschichtlicher Rückblick auf die Lehre von den Menstruationspsychosen.
Krafft-Ebing (Anm. 129) S. 7-8.
Vgl. die klassischen Schriften der französischen Schule: Fodere, Françcois-Emmanuel:
Traite du délire, applique à la médecine, à la morale et ä la legislation. 2 Bde, Paris:
Croullebois 1817, vor allem wohl Bd. 2, S. 67ff. (Du rapport avec le delire, des âges,
des sexes, du mariage ou du célibat...):
Esquirol, Etienne: Des maladies mentales, considérées sous les rapports médical, hygiéique et médico-légal, 2 Bde u. 1 Tafelband, Paris: Baillière 1838, Repr. New York:
Arno Press 1976, Bd. l: S. 31, 69-70, 84, 301, 428; Bd.2: S. 140, 235;
Guislain, Joseph: Abhandlung über die Phrenopathien oder neues System der Seelen-
142
Störungen. Aus dem Französischen übers. v. Wunderlich, Stuttgart u. Leipzig: Rieger
& Co. 1838, S. 281 - s. allerdings auch S. 43 und 190: «Wir müssen indessen mit Georget bemerken, dass die Menstruation zu oft für kritisch bei Seelenstörung gehalten
wurde ...» Auch bei Guislain gehört das Interesse für die Menstruation in den grösseren Zusammenhang des Interesses für das Phänomen der Periodizität überhaupt vgl. Anm. 149, 154, 162.
131 Naegele, Franz Carl: Erfahrungen und Abhandlungen auf dem Gebiethe der Krankheiten des weiblichen Geschlechts. Mannheim: T. Löffler 1812, S. 277-279.
132 Baer( Anm. 25).
133 Vgl. Negrier, Charles: Recherches anatomiques et physiologiques sur les ovaires dans
l’espèce humaine, considérés spécialement sous le rapport de leur influence dans la
menstruation. Paris: Bechet & Labe 1840, speziell S. 15-33 (Kap. 2: Etat anatomique
des ovaires pendant la periode de la fécondité chez la femme): «Négrier und Andere»
werden von Pflüger (Anm. 71), S. 53, zitiert für den Satz, «dass eine spontane Lösung
der Eier aus dem Ovarium auch beim Menschen existire, welche ganz unabhängig
von der Einwirkung des männlichen Geschlechts erfolgt und von der periodischen
Blutung begleitet ist».
134 Hippokrates (Anm. 2), Bd. 8, S. 62-65 (Des maladies des femmes I, 24).
135 Naegele (Anm. 131), S. 280-294. Pflüger (Anm. 139), S. 53 zitiert Naegele dafür, dass er
«eine directe Beziehung der Menstruation zur Brunst der Thiere» herstelle.
136 Remak, Robert: Über Menstruation und Brunst. Neue Zeitschrift für Geburtskunde 13
(1843) 175-233. Nach dem Surgeon General’s Index Catalogue ist diese Arbeit auch
separat erschienen, unter dem Titel «Die abnorme Natur des Menstrualblutflusses erläutert». Berlin: Hirschwald 1842.
137 Id., S. 214, 228, 230.
138 Virchow (Anm. 26), S. 735, 750.
139 Pflüger, Eduard: Über die Bedeutung und Ursache der Menstruation. In: E. Pflüger,
Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn, Berlin 1865, S. 5363, speziell S. 54-58.
140 Barnes, Robert:Lumleian Lectures on the convulsive diseases of women. Brit. med. J. 1
(1873), S. 453, zit. n. Fels, Helene: Beiträge zur Lehre von der Menstruation vom Beginn der Zellenlehre bis zum Beginn der Lehre von der inneren Sekretion. Diss.,
Berlin 1961, S. 13.
141 Loewenthal, Wilhelm: Eine neue Deutung des Menstruationsprocesses. Arch. Gynäk.
24 (1884) 169-261, S. 248-249, 260.
142 Möricke, Robert: Verhalten der Uterusschleimhaut während der Menstruation. Vorläufige Mittheilung. Zbl. Gynäk. 4 (1880) 289-291, S. 290.
143 Feoktistow, A. E.: Einige Worte über die Ursachen und den Zweck des Menstrualprocesses. Arch. Gynäk. 21 (1886) 379-418, S. 396-398.
144 Loewenthal, Wilhelm: Bemerkungen zu E. A. Feoktistow’s «Einige Worte über die
Ursachen und den Zweck des Menstrualprocesses». Arch. Gynäk. 28 (1886) 158160.
Feoktistow, A.: Antwort an Herrn Loewenthal. Arch. Gynäk. 28 (1886) 508-510. Die
Kontroverse hätte sich vielleicht noch weiter gezogen, wenn die Redaktion damit
nicht «die Erwiderungen ... in diesem Archiv geschlossen» erklärt hätte.
145 Feoktistow (Anm. 144), S. 509.
143
146 Wood und Suitters (Anm. 35), S. 130-156;
Finch und Green (Anm. 35), speziell S. 124-135.
147 Vgl. Michel-Alder, Elisabeth: Schlaglichter auf das soziale Hinterland der Abtreibungsfrage. Schweiz. Ärztetg. 58 (1977) 1544-1549.
148 Henke (Anm. 123), S. 139.
149 Pflüger (Anm. 139), S. 60-63. Mit seiner Lehre von der Menstruation gibt Pflüger ein
abgerundetes Beispiel eines biologischen Rückkoppelungssystems. Die irritierende
Periodizität der «Menses» mag den Neurophysiologen dazu angeregt haben, vielleicht auch der Umstand, dass gerade am Beispiel Menstruation schon ältere Autoren,
namentlich des 17. Jahrhunderts, biologische Rückkoppelungsmechanismen konzipiert haben. Dass Pflüger seine Lehre von der Menstruation eher als Beispiel eines biologischen Regelkreises denn als Beitrag zur Gynäkologie entwarf, scheint aus der Gesamtheit seines vorwiegend neurophysiologischen Werks hervorzugehen. 1877 wird
Pflüger seine «Teleologische Mechanik der lebendigen Natur» herausgeben, die ihn
zum Klassiker der Lehre von der biologischen Regelung werden liess (Volker Henn im
Vorwort zur Neuherausgabe dieser Schrift [Grundlagenstudien aus Kybernetik und
Geisteswissenschaft, Beiheft zu Bd. II] Quickborn: Schnelle 1971).
Vgl. auch Simmer, Hans H.: Pflüger’s Nerve Reflex Theory of Menstruation: The
Product of Analogy, Teleology and Neurophysiology. Clio Medica 12 (1977) 57-90.
150 Vgl. etwa Brierre de Boismont, Alexandre: Recherches bibliographiques et cliniques sur
la folie puerpérale précédées d’un aperçu sur les rapports de la menstruation et de l’aliénation mentale. Ann. med.-psychol. 3 (1851) 574-610. Der Artikel enthält praktisch nur den im Titel als «aperçu» bezeichneten Teil. Brierre de Boismont gibt darin offenbar Material aus seinem uns unzugänglichen «Traité de la menstruation» (De
la menstruation, considérée dans ses rapports physiologiques et pathologiques. Paris: Germer-Baillière 1842) «couronné par l’Académie, aujourd’hui complétement
épuisé».
151 Vgl. Temkin, Owsei: The falling sickness. A history of Epilepsy from the Greeks to
the beginnings of modern neurology. 2. Aufl., Baltimore-London: Johns Hopkins
Press 1971, S. 278-291, 351-359.
152 Négrier (Anm. 133), S. 117, schreibt schon 1842, die Hysterie «ne derive pas d’une affection nerveuse de l’uterus ... mais de la distension forcée des enveloppes de l’ovaire,
d’où résulte la compression des nerfs de cet organe, et par suite, toutes les irradiations
douloureuses qui s’étendent aux plexus nerveux de la vie organique et vers le cerveau.»
Vgl. Hegar, Alfred: Die Castration der Frauen. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1878,
S. 87, 94-95;
Charcot, Jean-Martin: Leçons du Mardi à la Salpêtrière. Policliniques, 1887-1888. Notes de Cours de M. M. Blin, Charcot et Colin. Paris: Progres Médical & Delahaye 1887,
S. 63-64, 177-178.
153 Stransky, Erwin: Medizinische Psychologie, Grenzzustände und Neurosen beim
Weibe. In: Halban/Seitz (Anm. 20), Bd. 5, Teil III, 1927, S. 47 (Abschnitt «Das seelisch
normale Weib in der Menstruation»).
154 Fliess, Wilhelm: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen. Leipzig und Wien 1897. Zit. n. Runge, Max: Lehrbuch der Gynäkologie. Berlin: J. Springer 1902, S. 13. Fliess hat sich stark für alles Rhythmische in der Natur in-
144
teressiert, ist so auch zu einem Vater der sogenannten Biorhythmen geworden - auch
hier scheint das Phänomen Menstruation als ideengeschichtlicher Schrittmacher funktioniert zu haben.
155 Fliess, Wilhelm: Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan. 2. Aufl. Halle: Marhold 1910.
156 Runge (Anm. 154), S. 13.
Zum politischen Gehalt solcher und ähnlicher Äusserungen vgl.
Ehrenreich, Barbara und English, Deidre: Zur Krankheit gezwungen. Eine schichtenspezifische Untersuchung der Krankheitsideologie als Instrument zur Unterdrückung
der Frau in 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel USA. Aus dem Englischen. München: Frauenoffensive 1976.
157 Krieger, Eduard: Die Menstruation. Eine gynäkologische Studie. Berlin: Hirschwald
1869, S. 56.
158 Mayer, Louis: Menstruation im Zusammenhange mit psychischen Störungen. (Sitzung
vom 13. Februar 1871). Beitr. Geburtsh. Gynäk. 1 (1872) 111-135, S. 128-129.
159 Storer, Horatio Robinson: The causation, course, and treatment of reflex insanity in women. Boston: Lee and Shepard 1871, Nachdr. New York: Arno Press 1972.
160 Vgl. Fischer-Homberger, Esther: Charcot und die Ätiologie der Neurosen. Gesnerus
(Aarau) 28 (1971) 35-46.
161 Krafft-Ebing, Richard von: Untersuchungen über Irresein zur Zeit der Menstruation.
Ein klinischer Beitrag zur Lehre vom periodischen Irresein. Arch. Psychiat. Nervenkr. 8 (1878) 65-107, S. 65, 98, 106.
162 Kirn, Ludwig: Die periodischen Psychosen. Eine klinische Abhandlung. Stuttgart:
Enke 1878, S. 97-105.
163 Hegar, August: Zur Frage der sogenannten Menstrualpsychosen. Ein Beitrag zur
Lehre der physiologischen Wellenbewegungen beim Weibe. Allg. Z. f. Psychiatrie
und psychisch-gerichtliche Medicin 58 (1901) 357-389, Tafel I.
164 Schuele, Heinrich: Über den Einfluss der sog. «Menstrualwelle» auf den Verlauf psychischer Hirnaffectionen. Allg. Z. Psych. 47 (1891) 1-28, Tafel I, S. 25.
165 Schuele, Heinrich: Handbuch der Geisteskrankheiten (Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie, Bd. 16, 2. Aufl.) Leipzig: F. C. W. Vogel 1880. S. 237, 342-343.
166 Schlager, Ludwig: Die Bedeutung des Menstrualprocesses und seiner Anomalieen für
die Entwickelung und den Verlauf der psychischen Störungen. Allg. Z. Psych. 15
(1858) 457-498, S. 498.
167 Krafft-Ebing, Richard von: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 3., umgearb.
Aufl., 2. Ausgabe, Stuttgart: Enke 1900, S. 330-333.
168 Krafft-Ebing (Anm. 129).
169 Krafft-Ebing zitiert hier Brierre de Boismont (Anm. 150); Mayer (Anm. 158); Storer
(Anm. 159); Schlager (Anm. 166); und Schroeter, R..: Die Menstruation in ihren Beziehungen zu den Psychosen (Verhandlungen psychiatrischer Vereine: 17. ordentliche
Versammlung des psychiatrischen Vereines zu Berlin am l6. Juni 1873). Allg. Z.
Psych. 30 (1874) 551-572.
170 Krafft-Ebing (Anm. 129). S. 93-108.
171 Fischer (Anm. 108), Spalte 1851.
172 Ewald, Gottfried: Die Generationspsychosen des Weibes. Anhang zu: Psychosen bei
akuten Infektionen bei Allgemeinleiden und bei Erkrankung innerer Organe (Hand-
145
buch der Geisteskrankheiten, hrsg. v. O. Bumke, Bd. 7, spezieller Teil III) Berlin: J.
Springer 1928, S. 118-132, Literatur S. 147-150, S. 120.
173 Zum Konzeptionsoptimum vgl. Anm. 35.
174 Ewald (Anm. 172), S. 118.
175 Vgl. Fischer-Homberger (Anm. 22), S. 121-123, 185-187.
176 Vgl. etwa Jahn, Veronika: Die gastrointestinalen Autointoxikationspsychosen des späten 19. Jahrhunderts. (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen, N. R. 111) Zürich: Juris 1975, S. 49-50.
Vgl. auch Fischer-Homberger, Esther: Zur Geschichte des Zusammenhangs zwischen
Seele und Verdauung. Schweiz. med. Wschr. 103 (1973) 1433-1441, speziell S. 14391441.
177 Ewald, Gottfried: Psychische Störungen des Weibes. In: Halban/Seitz (Anm. 20) Bd. 5,
Teil III, 1927, S. 117-162; S. 129.
178 Hauptmann, Alfred: Menstruation und Psyche. (Versuch einer «verständlichen» Inbeziehungsetzung somatischer und psychischer Erscheinungsreihen.) Arch. Psychiat.
Nervenkr. 71 (1924) 1-54, S.1, 48-49.
179 Ernst, Chile: Das Klimakterium: Tatsachen und Meinungen. Tages-Anzeiger (Zürich), Samstag, 8. Okt. 1977, S. 37-38. S. a. Schweizer Frauenblatt 59 (1977) Nr. 11.
180 Birnbaum, Karl: Kriminal-Psychopathologie. Berlin: J. Springer 1921, S. 140.
181 Langelueddeke, Albrecht: Gerichtliche Psychiatrie. 3. Aufl. Berlin: W. de Gruyter 1971,
S. 329-330.
182 Goeppinger, Hans und Witter, Hermann (Hrsg.: Handbuch der forensischen Psychiatrie. 2 Bde., Berlin-Heidelberg-New York: Springer-Verlag 1972.
Hebammen und Hymen
Erstmals publiziert in: Sudhoffs Archiv 61 (1977) 75-94, Prof. E. H. Ackerknecht zum
70. Geburtstag (am 1.6.1976) gewidmet. Neuabdruck in: Schweiz. Ärzteztg. 58 (1977)
1624-1629.
183 Haberling, Elseluise: Beiträge zur Geschichte des Hebammenstandes I. Berlin und
Osterwieck am Harz 1940, zit. n. Diepgen (Anm. 85);
Diepgen (Anm. 85);
Gubalke, Wolfgang: Die Hebamme im Wandel der Zeiten. Ein Beitrag zur Geschichte
des Hebammenwesens. Hannover: E. Staude 1964;
Ackerknecht, Erwin H.: Zur Geschichte der Hebammen. Gesnerus 31 (1974) 181-192.
Vgl. auch die hier noch nicht integrierte Neuerscheinung: Donnison, Jean: Midwives
and medical men. A history of inter-professional rivalries and women’s rights. London: Heinemann 1977.
184 Aristoteles: Opera omnia ed. Academia regia Borussica (I. Bekker), Berlin: G. Reimer
1831-1870, 1 510a 22 (Tiergeschichte, Gamma); vgl. 5 787a 55-788a 57 (Index,
Schlagwort «hymen»).
185 Dictionnaire étymologique de la langue française par A. Dauzat. Paris: Larousse 1938;
Skinner, Henry Alan: The origin of medical terms. Baltimore: Williams & Wilkins
1949.
146
186 Soranus (Anm. 3), S. 15 & I, 16 und 17).
187 Avicenna: Canonum medicinae libri V, translati a M, Gerardo Cremonensi ex arabico in
lat. Venedig: O. Scoti 1505, lib. 3, fen. 21, cap. 1.
1885. Mos. 22, 14-17.
189 Berengario da Carpi, Jacopo: A short introduction to anatomy (isagogae breves). Übers.
u. eingel. v. L. R. Lind [Originalausgabe Venedig 1535]. Chicago: University Press
1959, S. 78. Übrigens gibt Lind als Lebensdaten Berengarios: ca. 1460-1530.
190 Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem. Nachdruck der Ausgabe
von Basel 1543. Brüssel: Culture et civilisation 1964, S. 290* (lib. 3, cap. 9).
191 Vesalius, Andreas: Opera omnia anatomica et chirurgica. Hrsg. v. H. Boerhaave und
B. S. Albinus, Leyden: J. du Vivié & J. & H. Verbeek 1725. S. 333 und 457 (De humani
corporis fabrica, basierend auf der zweiten Folio-Ausgabe von 1555, lib. 3, cap. 9, u.
lib. 5, cap. 15).
192 Der Hexenhammer beschäftigt sich recht eingehend mit diesen «Hexen-Hebammen»,
welche «die Empfängnis im Mutterleibe ... verhindern, auch Fehlgeburten bewirken
und ... die Neugeborenen den Dämonen opfern», «noch grössere Schädigungen antun, indem sie die Kinder entweder töten oder sie den Dämonen weihen» und mit der
gerichtlichen Beurteilung dieser Art von Hexen. Vgl. Sprenger/Institoris (Anm. 42),
1. Teil S. 157-159, 2. Teil S. 135-147, 3. Teil S. 125, 211-212, 216-217. Vgl. auch
Zacchias, Paulus: Quaestiones medico-legales. 3. Aufl., Amsterdam: J. Blaeu 1651,
S. 404 (lib. 6, tit. 1, qu. 12 De obstetricum erroribus § 3);
Bose, Caspar: De obstetricum erroribus a medico clinico pervestigandis / Von Irrthümern der Hebammen. Disputation vom 25.2.1729, Praes.: A. F. Walther. Leipzig:
Breitkopf 1729, S. 60-62 (De erroribus obstetricum malitia commissis);
Forbes, Thomas Rogers: The midwife and the witch. New Haven-London: Yale University Press 1966.
193 Vgl. Rashdall, Hastings: The universities of Europe in the Middle Ages. Hrsg. v.
F. M. Powicke und A. B. Emden, Bd. 2, Oxford: Clarendon Press 1936, S. 209;
Bullough, Vern L.: The development of medicine as a profession. The contribution of
the medieval university to modern medicine. Basel-New York: Karger 1966, S. 7881;
Cobban, A.B.: The medieval universities: their development and organization. London: Methuen 1975, S. 20 und 178.
Ich danke Katharina Wäckerlin-Swiagenin für den Hinweis auf diese Literaturstellen.
194 Paré (Anm. 78), S. 979 (Ein kurtzer und gründlicher Unterricht, wie sich ein jeder
Wund Artzt, so er etwan eines Verwundeten, oder anderer Patienten halben, von
seiner Obrigkeit vorstellt und gefragt wird, zu verhalten habe ...).
195 Ibid., S. 804 (Buch 23, Von dess Menschen Geburt).
196 Diese Vermengung ist schon bei Soran vorgezeichnet: vgl. Soranus (Anm. 3), S. 15
(I,17).
Vgl. auch Fidelis, Fortunatus: De relationibus medicorum libri quatuor, in quibus ea
omnia, quae in forensibus, ac publicis causis, medici referre solent, plenissime traduntur. Hrsg. v. P. Ammann, Leipzig: J. Ch. Tarnovius 1674 (Erstausgabe Palermo 1602),
S. 349. Fidelis beruft sich auf Paré und assoziiert den Hymen mit der «clausura» des
Avicenna.
147
197 Fragoso, Juan: De las declaraciones que han de hazer los Cirujanos, acerca de diversas
enfermedades y muchas maneras de muertes que suceden (Anhang in: Cirurgia universal, 5. Aufl., Alcala 1592, Blatt 286 v.-305 v.), Blatt 295 (Para conocerla virginidad en la Muger).
198 Codronchius, Baptista: Methodus testificandi. In: De vitiis vocis, libri duo, S. 148-232),
Frankfurt: Erben A. Wechelius, Cl.Marvius, I. Aubrius 1597, S. 196-198.
199 Augenius, Horatius: Epistolarum et consultationum medicinalium libri, et de hominis
partu. Venedig 1602, Bd. 2, Blatt 1-6.
200 Der Autor bezieht sich hier auf 3 Commentaria super anatomia Mundini.
201 Columbus, Realdus: Anatomia. Ins Deutsche übers. v. I. A. Schenckius, Frankfurt a. M.:
T. de Bry l609, S. 203.
202 Vallesius, Franciscus: De sacra philosophia sive de iis, quae in libris sacris physice
scripta sunt, et ad philosophiam pertinent. 7. Aufl., Frankfurt: H. Hauenstein 1667,
S. 164-165 (cap. 25).
203 Fernelius, Iohannes: Medicina. Venedig: B. Constantinus 1555, Blatt 27 v. (De partium
corporis humani descriptione, lib. 1, cap. 7).
204 Vesal (Anm. 191), S. 457.
205 Falloppius, Gabriel: Opera omnia. Frankfurt: Erben A. Wechelius 1584, S. 471 (Obs.
anat.).
Falloppios Observationes sind auch in den von Boerhaave und Albinus herausgegebenen Werken des Vesal abgedruckt - samt der späteren den Hymen betreffenden
Entgegnung Vesals an Falloppio. Vgl. Vesal (Anm. 191), S. 750 u. 819 (Gabrielis Falloppii ovservationes anatomicae u. Andreae Vesalii anatomicarum Gabrielis Falloppii observationum examen).
206 Fidelis scheint hier (S. 346 und 351) etwas verzerrt die Vesalschen Ausführungen von
1555 (Anm. 191, S. 457) wiederzugeben.
207 Vesal (Anm. 191), S. 663 (Epistola, rationem modumque propinandi radicis chynae
decocti ... pertractans).
208 Fidelis (Anm. 196), S. 337-352.
209 Ibid., Explicatio tituli Aenei, I.
210 Castro, Rodericus a: Medicus-politicus: sive de officiis medico-politicis tractatus, quatuor distinctus libris: in quibus non solum bonorum medicorum mores ac virtutes
exprimuntur, malorum vero fraudes et imposturae deteguntur: verum etiam pleraque
alia circa novum hoc argumentum utilia atque jucunda exactissime proponuntur.
Hamburg: Frobenius 1614, S. 259-260.
211 Bohnius, Johannes: De officio medici duplici, clinici nimirum ac forensis, hoc est qua
ratione ille se gerere debeat penes infirmos pariter, ac in foro, ut medici eruditi, prudentis ac ingenui nomen utrinque tueatur. Leipzig: J. F. Gleditsch 1704, S. 636-637.
212 Mende, Ludwig Julius Caspar: Kurze Geschichte der gerichtlichen Medizin (Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medizin für Gesetzgeber, Rechtsgelehrte, Ärzte und
Wundärzte, 1. Theil, S. 1-474), Leipzig: Dyk 1819, S. 143.
213 Bohn (Anm. 211), S. 560-575, speziell 565-567.
214 Vgl. etwa Teichmeyerus, Hermann Fridericus: Institutiones medicinae legalis, vel forensis. Jena: F. Bielckius 1723, S. 29-30 (ebenso in der 2. Aufl., Jena: Bielckius 1731,
S. 29-30).
215 Haller, Albrecht von: Vorlesungen über die gerichtliche Arzneiwissenschaft. Aus einer
148
nachgelassenen lateinischen Handschrift übers., 2 Bde., Bern: neue typographische
Gesellschaft 1782-1784, Bd. 1, S. 49.
216 Vgl. etwa Zacchias (Anm. 192), S. 403-405 (lib. 6, tit. 1, qu. 12 De obstetricum erroribus, speziell § 14); vgl. auch die Doktordisputation des Baccalaureus
C. Bose (Anm. 192) mit der bald nachher erschienenen Schrift des Philosophen und
Medicus Caspar Bose: De obstetricum erroribus a medico forensi pervestigandis. Disputation vom 30.9.1729, Resp.: G. M. Bose. Leipzig: Breitkopf 1729.
217 Sebizius, Melchior: Disputatio medica de notis virginitatis. Praes.: M. Sebizius, Resp.:
S. Widemannus. Strassburg: E. Welperus 1630, Thes. 71-74.
218 Morton, Leslie T.: Garrison and Morton’s medical bibliography. 2. Aufl., London:
Grafton 1954. Sebitzens Arbeit ist aber auch in früheren und späteren Auflagen von
Garrisons Bibliographie aufgeführt.
219 Joubert, Laurent: Erreurs populaires au fait de la médecine et régime de santé (1. Aufl.
Bordeaux 1570), zit. n. P. Albareh Trois rapports médico-légaux du XVIe siècle. La
chronique médicale 19 (1912) 549-557; 577-589, S. 580.
220 Pinaeus, Severinus: De virginitatis notis, graviditate et partu. Leyden: F. Hegerus &
Hackius 1639, S. 52-54.
221 Vgl. Albarel (Anm. 219), S. 549-551, 583-584.
222 Pinaeus (Anm. 220), Titel.
223 Riolanus, Johannes: Anthropographia (1. Aufl. Paris 1618), lib.2, cap. 35, zit. n. Graaf
(Anm. 23), S. 152.
224 Graaf (Anm. 23), S. 147-152 u. Tafel 2, S. 132-133.
225 Es ist interessant, dass die Mediziner der schon von Soran beschriebenen jungfräulichen «Enge» die Existenz im Gegensatz zum Hymen nicht abzusprechen pflegten.
Wenn sie ihre Aussagekraft im Bezug auf die Virginität für ebenso zweifelhaft hielten
wie die des Hymens, so taten sie das nicht mit Hinweis auf die Unwissenschaftlichkeit
ihrer Anerkennung, sondern mit Hinweis auf ihre Simulierbarkeit. Schon Codronchi
hat gewusst, dass verschlagene alte Weiber adstringierende Mittel kannten, eine verlorene Jungfernschaft scheinbar wiederherzustellen. Und Roderico a Castro warnt vor
den listigen und in der Kuppelei bewanderten Frauen, den verbrecherischen und giftmischerischen Alten, die da den jungen Weibern verengernde Mittel geben, damit
diese um so unbeschwerter sündigen könnten. Im Bezug auf die Hebammen kam es
damit zu einer gewissen Funktionsteilung der beiden Virginitätszeichen Hymen und
Enge: die Wissenschaft vom Hymen bewies eher die Unwissenheit, die von der Enge
eher die Bosheit und Tücke der Hebammen.
Vgl. Codronchi (Anm. 198), S. 197; Castro (Anm. 210), S. 259-260;
Castro, Rodericus a: De universa muliebrium morborum medicina. Hamburg: Frobenius 1617, 2. Teil: Praxis, S. 515. Im ersten, theoretischen Teil, S. 8-9 tendiert Roderico übrigens dazu, den septumartigen Hymen zugunsten einer Verklebung und
Verengerung der Vaginalwände zu verwerfen.
226 Zacchias (Anm. 192), S. 251-255 (lib. 4, tit. 2 De virginitate, et stupro, qu. 1-2).
227 Reies, Gaspar a: Elysius jucundarum quaestionum campus. Brüssel: F. Vivien 1661,
S. 288 (Qu. 39: An in foeminis virginitas aliquibus signis explorari possit).
228 Alberti, Michael: Systema jurisprudentiae medicae. Halle: Typis & Impensis Orphanotrophei 1725, S. 60-65.
229 Teichmeyer (Anm. 214), S. 22-25 (beide Auflagen).
149
230 Valentini, Michael Bernhardus: Corpus juris medico-legale. Frankfurt: J. A. Jung 1722,
Pandectae, S. 3. Immerhin findet sich in den Novellae, S. 81-84, der Fall 8, in dem
sich der Arzt Joh. Casp. Westphal 1683 auf Grund eines vorhandenen Hymens gegen
die fragliche Vergewaltigung einer 13jährigen durch ihren Stiefvater ausspricht.
231 Bohn (Anm. 211), S. 636-637.
232 Alberti (Anm. 228), S. 60.
233 Teichmeyer (Anm. 214), S. 21-22 (beide Auflagen).
234 Ibid., S. 22-23.
235 Morgagni, Giovanni Battista: Opera omnia. 5 Bde, Padua: ex typographia remondiana
1764, Bd. 1, S. 18-19 (Adversaria anatomica I, 29).
236 Der Autor zitiert hier Riolans Anthropographia (Anm. 223), lib. 2, cap. 35.
237 Drei Karunkeln sind es offenbar auch in den von Joubert wiedergegebenen Virginitätsgutachten von Hebammen gewesen. Nach Albarel (Anm. 219), S. 551 und 583.
238 Munnicks, Joannes: Anatomia nova. Leyden: J. Tenet 1699, S. 77.
239 Morgagni (Anm. 235), Bd. 1, S. 124 (Adversaria anatomica IV, 23).
240 Teichmeyer (Anm. 214), S. 22.
241 Haller (Anm. 215), S. 44-45.
242 Ibid., S. 42.
243 Plenk, Joseph Jakob: Anfangsgründe der gerichtlichen Arztneywissenschaft und
Wundarztneykunst. Aus dem Lat. übers. v. F. A. Wasserberg, Wien: R. Gräffer 1782,
S. 152 und 154.
244 Neapel 1763, n. Nemec,Jaroslav: International bibliography of the history of legal medicine (DHEW Publication No. [NIH] 73-535), Washington: U. S. Government
Printing Office 1974.
245 Morgagni (Anm. 235), Bd. 5, S. 37-43 (Responsum medico-legale circa obstetricum judicium de mulieris virginitate).
Aus der Medizingeschichte der Einbildungen
1977, bisher unpubliziert.
246 Der neue Brockhaus: Allbuch in fünf Bänden, 3. Aufl., 2. Bd., Wiesbaden: Brockhaus
1960.
247 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. 5, Wiesbaden: Brockhaus 1968.
248 Donatus, Marcellus: De medica historia mirabili. Libri sex nunc primum in lucem
editi. Venedig: F. Valgrisius 1588, Blatt 30-43.
249 Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, historisch-quellenmässig bearbeitet von
R. Eisler, 3 Bde., 4. Aufl., Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1927-1930 («Einbildungskraft»
und «Phantasie»). Vgl. auch Juhasz, Joseph B.: Greek theories of imagination. J. Hist.
Behav. Sci. 7 (1971) 39-58.
250 Fienus, Thomas: De viribus imaginationis tractatus. Ed. postrema Leyden: Elsevir
1635.
251 Helmont( Anm. 86).
252 Ibid., S. 632.
253 Ibid., S. 993-994.
254 Ibid., S. 959.
150
255 Ibid., S. 1033. «Nemlich in dem Geblüt ist auch nach dem Tode eine gewisse Empfindung und Erkennung des gegenwärtigen Mörders; ja es hat dasselbige seine Rache,
die weil es auch seine Einbildung hat.»
256 Ibid., S. 961-962.
257 Ibid., S. 961 und 992.
258 Vgl. Bartholin, Thomas: Neu-verbesserte Künstliche Zerlegung dess Menschlichen
Leibes. Nürnberg: J. Hoffmann 1677. S. 178-179.
259 Helmont (Anm. 86), S. 992, 994, 995.
260 Ibid., S. 992.
261 Vgl. Fischer-Homberger (Anm. 50).
262 Ibid., S. 50-51.
263 Vgl. Whytt (Anm. 50), S. 169-248.
264 So bezeichnet Bilguer die Hypochondrie als mögliche Ursache der so gefürchteten
Entvölkerung: Bilguer, Johann Ulrich: Nachrichten an das Publicum in Absicht der
Hypochondrie oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Ärzte als
vielmehr für das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und
Folgen betreffende medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, dass
die Hypochondrie heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und dass sie eine
Ursache der Entvölkerung abgeben kann. Kopenhagen: J. G. Rothe 1767.
265 Vgl. Bartholin (Anm. 258), S. 362-363: Es hat im Zwerchfell «gantz kleine Löcher;
diese seynd die Schweiss-Löchlein, durch welche die Dämpffe von unten aufsteigen
...», ferner gibt es da grössere Löcher: «Durch diese ... dringen ingleichen von unten
her aufwerts die dicke Dämpffe ...»
266 Zit. aus Cullen, William: Kurzer Inbegriff der medizinischen Nosologie: oder systematische Eintheilung der Krankheiten von Cullen, Linné, Sauvages, Vogel und Sagar. Nach der 3. Ausgabe, 2 Bde, Leipzig: C. Fritsch 1786, Bd. 2, S. 99.
267 Ibid., S. 65.
268 Die Definition stammt von J. B. Erhard (1766-1827), zit. n. Fischer-Homberger
(Anm. 50), S. 73.
269 Hill, John: Praktische Abhandlung über die Natur und Cur der Krankheit, welche
man die Milzkrankheit oder die Hypochondrie nennet. Übers. aus dem Englischen,
Bremen: G. L. Förster 1767 (Engl. Ausgabe London 1766), S. 3-4.
270 Bilguer (Anm. 264), S. 359.
271 Gregory, John: Vorlesungen über die Pflichten und Eigenschaften eines Arztes. Übers.
aus dem Englischen, Leipzig: C. Fritsch 1778, S. 30.
272 Kant, Immanuel: Von der Macht des Gemüths, durch den blossen Vorsatz seiner
krankhaften Gefühle Meister zu sein. Hrsg. u. mit Anm. versehen v. Ch. W. Hufeland,
11. Aufl., Leipzig: C. Geibel 1859, S. 34-35.
273 Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMP) (Hrsg.):
Das AMP-System. Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde. Zusammengestellt u. redigiert v. Ch. Scharfetter, Stand Jan. 1971, Berlin-Heidelberg-New York:
Springer 1971, S. 48. In der 2. Aufl., Stand April 1972, 1972, S. 49, ist hier präzisiert:
die gegebene Definition bezieht sich auf die nicht wahnhafte Hypochondrie. Bei der
wahnhaften Hypochondrie besteht «wahnhafte Gewissheit von einer Krankheit.»
274 Aristoteles (Anm. 74), S. 402-403 (Gen. an. IV, III, 767b 16-23). Übersetzung v.
Gohlke (Anm. 79), S. 180-181: «Wenn nämlich die samenhafte Ausscheidung im Mo-
151
natsfluss wohl zu verarbeiten ist, wird die vom männlichen Samen ausgehende Bewegung eine Gestalt nach dem eigenen Bilde hervorbringen. Samenflüssigkeit bedeutet
ja nichts anderes als die Wachstumsbewegung der einzelnen Glieder, und diese ist
von der sie einleitenden Bewegung nicht verschieden ... Setzt sie sich also durch, so
wird sie ein Männchen hervorbringen ... und zwar eines, das dem Vater gleicht...»
275 Plenk (Anm. 243), S. 149 (§ 41). Für diese Ansicht wird schon Avicenna (980-1037) zitiert, nach welchem eine Mole infolge eines geträumten Coitus entstehen könne. Man
findet sie auch bei Johannes Bohn: Circulus anatomico-physiologicus, seu oeconomia
corporis animalis. Leipzig: J. F. Gleditsch 1686, S. 19.
276 Helmont (Anm. 86), S. 992 und 994.
277 Codronchi (Anm. 198), S. 148-232 (Kap. 17, S. 217-225).
278 Probl. X, 10.
279 Quaestiones in Genesim in: Opus Epistolarum ..., hrsg. v. Erasmus, 3. Teil, f. 70b. Zit.
n. Jean Ceard, Note 64 zu Ambroise Pari, Des monstres et prodiges, edition critique,
Genf: Droz 1971, S. 165.
280 Paté (Anm. 78), S. 840 (24. Buch Von allerley Missgeburten und Wunderwercken der
Natur).
281 Fienus (Anm. 250), S. 254-277, S. 318-328.
282 Vgl. Fidelis (Anm. 196), S. 492 (Sect. de monstris).
283 Wallensteins Tod. Vgl. Stahl, G. E.: Über den mannigfaltigen Einfluss von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper (Halle 1695) (etc.). Übers. u. eingel. v.
B. J. Gottlieb. Sudhoffs Klassiker der Medizin 36, Leipzig: J. A. Barth 1961.
284 Alberti (Anm. 228), S. 172-173.
285 Ammann, Paulus: Medicina critica; sive decisoria, centuria casuum medicinalium in
Concilio Facult. Med. Lips. antehac resolutorum. Erfurt: J. B. Ohler 1670, 235-236.
286 Teichmeyer (Anm. 214), S. 45 (beide Auflagen).
287 Fabriz, Wilhelm: Chirurgische Beobachtungen und Curen. Aus dem Lateinischen mit
Anmerkungen von F. A. Weiz, 3 Bde., Flensburg-Leipzig: Korten 1780-1783,
3. Cent., Obs. 55; 6. Cent., Obs. 65.
288 Turner, Daniel: Abhandlung von den Krankheiten der Haut. Aus dem Englischen
übers., Altenburg: Richter 1766 (Engl. Ausg. erstmals London 1714), S. 291.
289 Ploucquet, Wilhelm Gottfried: Abhandlung über die gewaltsame(n) Todesarten. Tübingen: Berger (1779), S. 135-136.
290 Rickmann, Christian: Von der Unwahrheit des Versehens und der Hervorbringung der
Muttermahle durch die Einbildungskraft. Jena: Ch. F. Gollner 1770.
291 Harvey, William: Anatomical exercises on the generation of animals (erste lat. Ausgabe London 1651) in: The Works. Aus dem Lat. übers. von R. Willis. London: Sydenham Society 1847, S. 425, 487-488 (Ex. 56, 69).
292 Blondel, Jacob August: Erste Abhandlung über die Einbildungskraft der schwangern
Weiber in ihre Leibesfrucht. In: Drey ... Abhandlungen, Von der Einbildungskraft
der Schwangern Weiber ... Strassburg: A. König 1756. Blondels Werk ist erstmals unter dem Titel «The strength of the imagination of pregnant women examinde, and
the opinion, that marks and deformities are from them, demonstrated to be a vulgar
error» 1727 in London herausgekommen. 1729 erschien bereits die zweite Auflage, es
folgten Übersetzungen ins Französische und Holländische und die obige ins Deutsche.
152
293 Roederer, Johann Georg: De vi imaginationis in foetum negata, quando gravidae mens
a caussa quacunque violentiore commovetur: publici iuris facta ab Academia Imperiali Scientiarum Petropolitana A. 1756. In: Opuscula medica, Göttingen: V. Bossiegelius 1763, S. 105-128. Diese Schrift ist 1758, zusammen mit Carl Christian Krauses
preisgekrönter «Abhandlung von den Muttermälern», in Leipzig erstmals herausgekommen (nach Rickmann, Anm. 290, S. 9-10).
294 Haller (Anm. 215), Bd. 1, S. 84-85.
Vgl. Lundsgaard-Hansen-von Fischer, Susanna: Verzeichnis der gedruckten Schriften Albrecht von Hallers (Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, hrsg. v. E. Hintzsche u. W. Ritz, Nr. 18), Bern: Huber 1959, Nrn. 3, 4,
121, 122, 123, 150, 151, 170, 171, 194, 195, 196, 197, 276, 277, 278.
295 Hebenstreit, Johann Ernst: Anthropologia forensis sistens medici circa rempublicam
causasque dicendas officium. Leipzig: sumtibus haeredum Lankisioanorum 1753, S. 68, Tafel II, Fig.1.
296 Blumenbach, Johann Friedrich: De generis humani varietate nativa. Göttingen: A. Vandenhoeck 1776. Mit dieser Dissertation promovierte Blumenbach 1775 zum Doktor
der Medizin; 1776 wurde er bereits Professor.
297 Haller (Anm. 215), Bd. 1, S. 85. Diese Anmerkung stammt offenbar vom Übersetzer
der Hallerschen Vorlesungen, einem Herrn Weber aus Heilbronn.
298 Ploucquet, Wilhelm Gottfried: Über die physische(n) Erfordernisse der Erbfähigkeit der
Kinder. Tübingen: J. F. Heerbrandt 1779, S. 121.
299 Haller (Anm. 215), Bd. 1, S. 199. Das Zitat stammt aus einer «Nachlese» zum Kapitel
«Von den Misgeburten», von der es im Inhaltsverzeichnis heisst, sie sei «vorzüglich
aus dem grössern Hallerischen Werke von den Misgeburten, wie auch aus Teichmeyer, Ploucquet, Hebenstreit, Mayer und Klinkoph» zusammengestellt.
Vgl. auch Birchler, Urs Benno: Magie und Gerichtsmediziner im 16.-18. Jahrhundert.
Noch unpubliziert.
300 Charcot, Jean Martin: Leçons sur les maladies du Système nerveux faites à la Salpêtrière.
Recueullies et publiées par MM. Babinski, etc., Bd. 3, Paris: Progrès médical, A. Delahaye et E. Lecrosnie 1887, S. 335-336, 355. Ders.: Poliklinische Vorträge (Leçons du
mardi), Bd. 1, Schuljahr 1887/88, übers. v. S. Freud, Leipzig-Wien: F. Deuticke 1892,
S. 99-100. Vgl. Fischer-Homberger, Esther: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern-Stuttgart-Wien: Huber 1975, S. 105-112.
301 Vgl. Ellenberger, Henri F.: The discovery of the unconscious. The history and evolution of dynamic psychiatry. New York: Basic Books Inc. 1970, speziell S. 375, 785786.
302 Benedikt, Moriz: Second life. Das Seelen-Binnenleben des gesunden und kranken
Menschen. Vortrag für den Internationalen Medicinischen Congress in Rom 1894. SA
aus der Wiener Klinik, Wien und Leipzig 1894, S. 5-7 (Original in Wiener Klinik 20
[1894] 127-138). Vgl. Ellenberger (Anm. 301), S. 46, 301, 486, 536.
303 Vgl. Anm. 300 und Fischer-Homberger (Anm. 300), S. 77-80.
304 Breuer, Joseph und Freud, Sigmund: Über den psychischen Mechanismus hysterischer
Phänomene (vorläufige Mitteilung). Neurolog. Centralblatt 12 (1893) S. 4-10, 43-47.
305 Vgl. etwa Saner, Hans: Über die Zerstörung der kindlichen Phantasie durch die Erwachsenen - Der Kindermord zu Bethlehem. Basler Magazin Nr. 1, 7.1.1978.
306 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. 5, Wiesbaden: Brockhaus 1968.
153
HERKUNFT DER ILLUSTRATIONEN
Frontispiz: Musée d’Anvers, toile, 109x132 cm.
Seite 15: Vesal (Anm. 190), S. 381 (27. Tafel des 5. Buchs). Diese Abbildung wird in der
klassischen Sekundärliteratur gewöhnlich um ihr unterstes Viertel beschnitten reproduziert, so bei Weindler, Fritz: Geschichte der gynäkologisch-anatomischen Abbildung, Dresden: Zahn & Jaensch 1908, S. 125 und Fischer (Anm. 20), S. 101, sogar
Speert, Harold: Iconographia Gyniatrica, a pictorial history of gynecology and obstetrics, Philadelphia: F. A. Davis 1973, S. 12.
Seiten 18 und 19: Rueff, Jakob: Hebammen Buch. Frankfurt a. M.: S. Feyerabendt 1580,
Frontispiz und Titel.
Seite 22: Siegemundin (Anm. 14), Frontispiz.
Seite 23: Mauriceau (Anm. 18), Frontispiz.
Seite 24: Graaf (Anm. 23), S. 236-237, Taf. 16. S. 237 (Exhibet Testiculum seu Ovarium
Mulieris cum annexo Tubarum extremo).
Seite 25: Hartsoekers Zeichnung eines menschlichen Spermatozoons, nach Needham
(Anm. 24),S. 206.
Seite 26: Thomas (Anm. 28), S. 46.
Seite 27: Schroeder (Anm. 28), S. 15.
Seite 29: Wellcome Museum. Aus: Walker, Kenneth: The story of medicine. New York:
Oxford University Press 1955, S. 213, Tafel opp. S. 160.
Seite 30: Thomas (Anm. 28), S. 582-583, Fig. 216 S. 594.
Seite 36: Hexenverbrennung in Derneburg, 1555, Deutscher Flugblattholzschnitt, Gallerie Moritzburg, Halle. Nach Vogt, Helmut: Das Bild des Kranken. Die Darstellung
äusserer Veränderungen durch innere Leiden und ihrer Heilmassnahmen von der Renaissance bis in unsere Zeit. München: J. F. Lehmann 1969, S. 319.
Seite 37: Titelblatt zu Ernst (Anm. 43), die Vorlage soll aus der Bildersammlung des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich stammen.
Seiten 40 und 41: Richer, Paul: Etudes cliniques sur la grande hysterie ou hystéro-épilepsie. 2. Aufl., Paris: O. Doin (1883), PL III Fig. 2 (opp. S. 68) und Pl. VI (opp. S. 194).
Seite 43: Beilage zu: Möbius, Paul Julius: Geschlecht und Kopfgrösse (= Beiträge zur
Lehre von den Geschlechts-Unterschieden, Heft 5), Halle: C. Marhold 1903.
Seite 46: Möbius (wie vorige Abb.), S. 17.
Seiten 60 und 61: Inserate, vermutlich zwischen 1930 und 1940. Aus der «Kurpfuscherei»Sammlung des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich.
Seiten 73 und 74: Fischer-Dünckelmann, Anna: Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches
Nachschlagebuch. Million-Jubiläums-Ausgabe, München-Wien: Süddeutsches und
Österreichisches Verlags-Institut 1913, S. 817-819, Fig. 436 S. 817, Fig. 437 S. 818.
Seite 76: Bilder aus dem modernen Leben von A. Conadam, M. Flashar, E. Harburger,
Rene Reinicke, H. Schlittgen u. A. München: Braun & Schneider (o. D.), S. 76. Die
Überschrift zu dem Blatt lautet: «Bedenkliche Beruhigung», der Text: «Commerzienräthin: ,Ach, Herr Doctor, ich bin ganz betrübt, dass ich Sie noch so spät herbemüht
habe. Ihre Frau Gemahlin war gewiss recht ungehalten, dass sie allein zu Hause bleiben
musste?‘ Arzt: ,O, ganz im Gegentheil, gnädige Frau! Die kauft sich dafür einen neuen
Hut!‘»
154
Seite 94: Fidelis (Anm. 196), Ausschnitt aus dem Titelkupfer.
Seite 97: Mauriceau (Anm. 18), S. 20-21, Tafel 5 opp. S. 20.
Seite 98: Pinaeus (Anm. 220), Frontispiz.
Seite 99: Graaf (Anm. 23), S. 132-133, Tab. 2 S. 133 (Repraesentat Pudendum Muliebre).
Seite 105: Joannes Baptista Morgagnus natus Forolivii die 25 Februarii anno 1682 in Patavino Gymnasio e Primaria Sede Anatomen adhuc docebat anno 1762. Frontispiz zu
Morgagni, Jo. Baptista: De sedibus, et causis morborum per anatomen indagatis, Bd. 1,
2. Aufl., Padua 1765.
Seite 113: Holländer, Eugen: Die Karikatur und Satire in der Medizin. Stuttgart: Enke
1905, S. 128.
Seite 116: Paré (Anm. 78), S. 642 und 643 (Von etlichen ungehewren Thieren und dergleichen wunderbaren Figuren, welche etwan unnatürlicher Weise in dess Menschen Leib
erwachsen. In: Buch von den Urschlechten).
Seite 119: Paré: (Anm. 78), S. 840.
Seite 121: Holländer (wie Abb. S. 113), S. 202-206, Fig. 161 S. 203. Das Blatt stammt aus
dem Jahre 1726. Zitat über Manningham aus: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, 3. Aufl., Bd. 4, München-Berlin: Urban &
Schwarzenberg 1962.
Seite 124: Hebenstreit (Anm. 295), Tafel II opp. S. 8.
Seite 128: Uexküll, Jakob Johann, Baron und Kriszat, G.: Streifzüge durch die Umwelten
von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin: J. Springer
1934, S. 78-79, Abb. 42 S. 79.
Seite 129: England, 1960er Jahre.
155
REGISTER
(Die Schlagworte stehen auch für ihre modifizierten
und zusammengesetzten Formen)
Abort, 12, 17, 31, 68, 70, 71, 81, 88, 119
Ackerknecht, 32
Adam, s. a. Eva, 35, Abb. S. 19, 55
Ägypten, 11, 31
Ärztin, weiblicher Doktor, 17, 85, 104
- Frauenärztin, Spezialistin, 17, 85, 104
- Medizinstudium, 83
Alberti, 101, 103, 120
Albertus Magnus, 56
Alexandria, 12, 14
Amerika, 29, Abb. S. 30, 83
Amman, 122
Anästhesie, 28, Abb. S. 29, 29
- Gefühllosigkeit, 34, 36, 41
Anatomie, Abb. S. 15, 21, Abb. S. 24,
86, 87
90-93, 96, 101-105
Andry, 23
Antike, 11-16, 34, 49-53, 56, 58, 85
Antikonzeption, 12, 17, 31, 71, 81, 83, 88
Antisepsis, 28, 29
Araber, 16, 56-58, 86
Archaeus, 108-110, 112
Aretaeus, 34, 35
Aristoteles, 14, 51, 52, 56, 68, 85, 91,
116-118
Arzt, Mediziner, Medizin, s. a. Ärztin,
22, 23, 32, 40, 44, 75, Abb. S. 76, 88-92,
100, 101, 104, 105, 120, Abb. S. 121
- Gynäkologe, Geburtshelfer, 20, 22
Abb. S. 23, 24, 27, 28, Abb. S. 121
Aufklärung, 21, 22, 38, 62-64, 123
Augenius, 91-93, 96, 100
Avicenna, 86, 91
Babinski, 126
Baer, 26
Barnes, 70
Benedikt, 126, 127
Berengario da Carpi, 86, 91, 96, 100
Bernheim, 40
156
Besessenheit, 35, 36, Abb. S. 37, 38, 40
Bevölkerungspolitik, 31, 64, 68, 72, 81
Bilguer, 114
Birchler, 59
Birnbaum, 84
Blick, Augen, 56-58, 66, 76
Blondel, 122, 123
Blumenbach, 125
Blut, s. a. Menstruation, 17, 49, 51-54,
58-60, Abb. S. 60 u. 61, 63, 65, 69, 70,
86, 96, 108-110, 112
Bohn, 94, 101
Boivin, 20
Bosheit, Böses, 34, 35, 37, 38, 42, 53-60,
64, 103
Bourgeois, Boursier, 20
Brandstiftung, 64-67, 80, 84
Breuer, 127
Calmeil, 40
Cardanus, 58, 59
Carunculae myrtiformes, Abb. S. 97,
98-102, 104
Chamberlen, 21
Charcot, 40, 41, Abb. S. 40 u. 41, 126, 127
Chirurgie, 11, 13, 17, 30, 36, 85, 88, 90
Codronchi, 90, 91,100, 118
Colombo, 92
Curette, 31
Dämon, 34-37, Abb. S. 36 u. 37, 38, 39,
Abb. S. 41, 59, 107, 108
Degeneration, 78
Demokrit, 33
Diepgen, 55
Donatus, 107, 108, 119, 122
Dubois, 44
Ei, Ovum, 24-26, Abb. S. 24, 68-70,
72, 73, 78, 81
Eierstock, Ovar, 12, 14, 24-27,
Abb. S. 24, 29, 30, Abb. S. 30, 68, 72, 73,
75, 77, 81, 126
Einbildungen, Imaginatio, 106-129
Emanzipation, 20, 31, 39, 45, 72, 83
Embryologie, 24, 123
- Epigenese, 25
- Präformation, 25
Endokrinologie, Hormone, 30, 31, 60,
74, 81
Epilepsie, 34, 40, 65, 73, 74, 78, 80
Ernst, 36
Eustachi, 92
Eva, s. a. Adam, 16, 17, Abb. S. 19, 35, 54,
55, 110
Ewald, 81, 82, 84
Fabrizius, 122
Falloppius, 93, 96, 97, 100
Feoktistow, 71
Fernelius, 92, 97, 100
Fidelis, 93, 94, Abb. S.94, 100
Fienus, 108, 119
Fliess, 76
Fodéré, 64
Fortpflanzung, 31, 54, 67, 68, 72, 83
- Sterilität, 12
Fraenkel, 60
Fragoso, 90
Frankreich, 17, 20
Freud, 127
Friedreich, 66, 67
Funktionskritik, 95
Galenos von Pergamon, 14, Abb. S. 15,
16, 90, 92
Geburt, 12, 13, 16, Abb. S. 18
Geburtshilfe, 11-31, 85, 88, 89, 120,
Abb. S. 121, 123
Gerichtsmedizin, 88, 90, 91, 96, 98, 100,
101, 103, 117, 120, 122-124, Abb. S. 124
- Forensische Psychiatrie, 63-67, 79, 84
- Gutachten, 88, 89, 94, 95, 104
Gift, 53-61, Abb. S. 60 u. 61, 108, 109
Graaf, 24, Abb. S. 24, 26, 60, 99 Abb. S. 99,
100, 105
Gregory, 114
Gynäkologie, Frauenheilkunde, 11-31, 83,
85, 88, 89, 126
Haller, 95, 102, 123-125
Harvey, 123
Hase, Hasenscharte, 107, Abb. S. 113,
120, Abb. S. 121, 123, Abb. S. 124, 125
Hauptmann, 82
Hebamme, 11, 13, 16, 17, Abb. S. 18 u.
19, 20, 21, Abb. S. 22, 23, 85-105
Hebenstreit, 124, Abb. S. 124
Helmont, 26, 55, 108-115, 117
Henke, 66, 72, 80
Herz, Gefässe, 13, 51, 54, 63, 86, 109, 110
Hexe, 11, 17, 34-36, Abb. S. 36, 38-42,
45, 47, 57-59, 108
- Hexenhammer, 35, 39, 40, 42
Hieronymus, 118, Abb. S. 119
Hildegard von hingen, 54, 55
Hill, 114
Hippokrates, Hippokratische Schriften,
11, 12, 16, 33, 38, 49, 50, 68, 118,
Abb. S. 119
Hormon s. Endokrinologie
Hunter, 21
Hymen, 85-105
Hypochondrie, 39, 107, 111-115, 120, 126
Hysterie, 13, 32-48, 74, 75, 78, 80, 115-127
Iatrochemie, Iatrophysik, 55, 59, 62, 63
Ich, 30, 47
Infektion, Kontagion, 58, 108
Institoris, 35, 36
James I, 38
Janet, 126
Johannes von Ketham, 57
Jorden, 38, 41
Joubert, 97, 98, 100
Juden, 38, 44, 45, 47, 48, 69, 86
Jurisprudenz s. Recht
Kälte s. Wärme
Kaiserschnitt, 30
Kant, 115
157
Kind, 11, 13, 16, 22, 23, 34, 44, 50, 51, 67,
79, 107, 116-118, Abb. S. 119, 120, 122,
123, 125
- Ähnlichkeit, 117, 118, Abb. S. 119,
120, 122, 125
- Kindsmord, Kindstötung, 17, 64, 84, 88
122, 123
- Pädiatrie, 11, 24
King, 71
Kirche, 16, 29, 91
Kirn, 78
Klein, 28
Knaus, 31,81
Konrad von Megenberg, 56
Konstitution, 49-51
Konzeption, Empfängnis, s. a.
Antikonzeption, 70, 119
- Konzeptionsoptimum, 31, 68, 81
Kopf, Haupt, 13, 34, 42, Abb. S. 43, 54
57, 113, Abb. S. 113
- Kopfweh, Hemicranie, 57, 75, 80
Kraepelin, 42, 44, 47
Krafft-Ebing, 67, 77-80
Krampf, 13, 36, Abb. S. 40, 41, 49, 65, 66, 73
Krankheit, 12, 33-35, 38, 39, 42, 49-84,
109, 114, 115, 117, 127
- Diagnose, 27, 32, 34, 48
- Therapie, 12, 50
Krieger, 77
Lachapelle, 20
Laënnec, 27
Langelueddeke, 84
Laurentius, 59
Lavoisier, 60
Leeuwenhoek, 25
Legitimität, 120, 125
Levret, 21
Liberalismus, 63, 125
Liebestrank s. Zauber, Liebeszauber
Linné, 114
Loewenthal, 70, 71
Lüge, Simulation, 42, 47, 100, 103
Mac Dowell, 29, Abb. S. 30
Mann, 11, 14, 16, 22, 30, 33, 35, 42,
158
Abb. S. 43, 44, 45, 47, 50, 52, 54, 66, 67,
76, 79, 80, 88, 110, 116, 127
Matthiolus, 59
Mauriceau, 20, 21, Abb. S. 23, Abb. S. 97
Mayer, 77
Menotoxin, 60
Menstruation, 12, 17, 31, 49-84, 116
- Amenorrhoe, 109
Milz, 110-115, 117
Minderwertigkeit s. Wert
Missgeburt, Missbildung, 14, 52, 104, 119,
123-125, Abb. S. 124
Mittelalter, 16-19, 53-60, 85, 86, 88, 89
Möbius, 42, Abb. S. 43, 45, Abb. S. 46, 48
Möricke, 70
Molimina menstrualia, Molimina
menstruationis, 66, 74, 75
Morgagni, 87, 102-105, Abb. S. 105
Müller-Hess, 55
Munnicks, 102
Naegele, 67, 68
Natur, 12, 44, 47, 52, 53, 55, 61, 62, 72,
90, 92, 96
Nerven, s. a. Schwäche, nervöse, 42,
Abb. S.60, 66, 73-75, 77, 78, 81, 126
- Reflex, 73, 74, 76-78
Neurosen, s. a. Hysterie, 74, 76-78, 127
- Neurasthenie, 74, 80
Neuzeit, 20-31, 88, 89
Norm, s. a. Natur, 12, 31, 50, 69-71, 75, 80
Nudow, 62
Ogino, 31, 81
Oken, 62, 71
Osiander, 65, 66, 80
Ovar s. Eierstock
Overkamp, 60
Ovum s. Ei
Paracelsus, 58, 108
Paré, 20, 89, 90, 92, 100, 104, Abb. S. 116,
118, 119, Abb. S. 119
Péan, 30
Periodizität, 77, 78
Pflüger, 70, 72-74
Phantasie, 106, 109, 123, 127, 128
Philtrum s. Zauber, Liebeszauber
Pinaeus, 98-100, Abb. S. 97 u. 98, 102, 104
Plattier, 65, 66, 80
Platon, 14, 33, 34, 42, 108
Plenk, 103
Plinius, 56
Ploucquet, 122, 125
Psyche, Seele, 14, 44, 48, 51, 63-68, 74, 77,
78, 81-84, 106-110, 112, 120, 126-128
Pubertät, 64-67, 80
Realität, Wirklichkeit, 106, 108, 109, 111,
114, 115, 126-129
Récamier, 27, 31
Recht, Jurisprudenz, s. a. Gerichtsmedizin,
79, 89, 90, 95, 120
Rejes, 100
Remak, 69, 71
Renaissance, 53-60, 86
Riolan, 99, 100, 102
Roderico a Castro, 94
Roederer, 123
Roesslin, 20
Roger Frugardi, 56
Romantik, 65, 67
Rousseau, 61
Roussel, 71
Runge, 76
Säfte, Humoralpathologie, 12, 49, 50, 54,
59, 66, 111, 112
Salerno, 17
Samen, 12, 14, 16, 25, Abb. S. 25, 50-54,
116, 117, 123
- weiblicher, 12, 16, 50
Schaarschmidt, 62
Schlager, 79
Schuele, 78
Schuld s. Sünde
Schurig, 104
Schwachsinn, 42, Abb. S. 43, 45,
Abb. S. 46, 48
Schwäche, Schwachheit, 35, 44, 49, 52, 54,
55, 64, 72-81, 126
- nervöse, 72-80
- reizbare, 75
Schwangerschaft, Schwängerung, 12, 13,
31, 67-71, 89, 107, 116, 117, 119, 122
- Gelüste, 67, 119
Sebitz, 96, 102
Semmelweis, 28
Sexualität, Geschlechtstrieb, 31, 35, 45, 47,
52, 55, 58, 62-64, 68-72, 76, 79, 95,
126, 127
Siegemundin, 20, Abb. S. 22
Simpson, 29, Abb. S. 29
Sims, Abb. S. 26, 29
Smellie, 21
Soldan-Heppe, 40
Soranus von Ephesus, 11-13, 52, 63, 85
Speculum, Abb. S. 26, 27
Sprenger, 35, 36
Stahl, 120
Sterilität s. Fortpflanzung
Stein, 21
Storer, 77
Strafe, Sühne, 16, 33, 34, 54, 55, 66, 110
Stransky, 75
Strindberg, 45
Sünde, Schuld, Schande, 17, Abb. S. 19,
35, 47, 53-55, 72, 110
Sydenham, 33, 39
Teichmeyer, 101, 102, 122, 123
Tertullian, 16
Teufel, 16, 36, 39
Thomas von Aquin, 16
Tod, Mortalität, 13, 16, Abb. S. 19, 35, 49
Toft, 120, Abb. S. 121
Toxikologie s. Gift
Trotula, 17
Turner, 122
Uexküll, 128
Unreinheit, Reinigung, 12, 50, 53-55
Uterus, Gebärmutter, 12-14, Abb. S. 15,
26-28, 33, 34, 38, 50, 53, 89, 90, 107,
110, 115-127
Uterushals, Cervix, 16, 50, 90, 99
Uterussonde, 27, Abb. S. 27, 28
159
Vagina, Scheide, 16, 86, 99, 103-105
- Enge, 86, 92, 96, 97, 99, Abb. S. 99,
100, 103, 105
- Verschliessung, Atresie, 90, 100, 105
Valentini, 101
Vallesius, 92, 97, 100
Verbrechen, Delikt, 58, 63-67, 80
- Diebstahl, 67, 80
- Mord, Selbstmord, 67, 80
Vesalius, Abb. S. 15, 86, 93, 96, 100, 102
Virchow, 26, 69, 70
Virginität, s. a. Carunculae myrtiformes,
85-105
- Defloration, 86, 96, 98
- Zeichen, s. a. Vagina, Enge, 87, 90, 91,
93, 95, 96, 98, 100-104
Volksmedizin, 56, Abb. S. 60 u. 61, 85
160
Wärme, Kälte, 14, 49-53
Weininger, 45-48
Weltkriege, 80-84, 127, 128
Wert, Minderwertigkeit, 14, 17, 20, 42,
44, 45, 51, 52, 78, 83
Wier, 38
Wochenbett, Kindbett, Laktation, 12, 13,
28, 71
Zacchias, 100
Zange, 27
Zauber, 56, 58, 59, 117
- Liebeszauber, Liebestrank, 59, 88
Zeugung, s. a. Samen, 14, 50, 51, 68
Zivilisation, 61-63
Zweig, 43
Zu diesem Buch
«Krankheit Frau» enthält verschiedene Arbeiten zur
Medizingeschichte der Frau aus den Jahren 1969-1978, zwei davon
sind hier erstmals publiziert. Einem allgemein Überblick folgen
die Einzelabhandlungen über die Diagnose «Hysterie» in ihrer
Doppelfunktion als Schandmal und als Schutzmarke für die unbeliebte
Frau («Hysterie und Misogynie»); über die Geschichte der Lehren
von der Menstruation in ihrem Aspekt als blutiges Zeichen der
mangelnden Perfektheit der Frau («Krankheit Frau»); über den
sozialen Abstieg der Hebammen, die im Mittelalter vielfach recht
stolze, unabhängige Ärztinnen waren, in seinem Zusammenhang
mit den wissenschaftlichen Ansichten der Anatomen über die
Jungfernhaut («Hebammen und Hymen»); schliesslich über die
historisch recht engen Verquickungen der Lehren von Uterus.
Schwängerung, Infektion, Idee und Einbildung, die heute, in der Zeit
der Wiederentdeckung der Phantasie, recht aktuell sind («Aus der
Medizingeschichte der Einbildungen»);
Gemeinsam ist den Arbeiten die Aufmerksamkeit auf die Interaktion
von medizinischer Lehre und Praxis und sozialer Situation der Frau
beziehungsweise Aufmerksamkeit auf die wissenschafts-, standes- und
sexualpolitischen Funktionskreise, die dabei wirksam werden können.
Interssenten
Medizinhistoriker - Psychiater - (Medizinsoziologen)
Frauenärzte - (Historiker) - Ärztinnen und andere Frauen
(oder aber: Praktiker)
Kliniken - Institute - Bibliotheken
Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien
ISBN 3-456-80688-4
Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau
Zur Geschichte der Einbildungen
Mit zahlreichen Abbildungen
Sammlung
Luchterhand
Sammlung Luchterhand
Esther Fischer-Homberger
Krankheit Frau
Zur Geschichte der Einbildung
Luchterhand
Literaturverlag
Die zweite Auflage wurde ergänzt durch den Beitrag
»Wie männlich ist die Wissenschaft? Wie männlich ist die
Wissenschaftlerin?«, zuerst erschienen in: Rundbrief - Verein
feministische Wissenschaft Schweiz, November 1986.
Sammlung Luchterhand, Februar 1984
2. Auflage Mai 1988
Lektorat: Klaus Roehler
Umschlagabbildung: Jakob Rueff,
Hebammen Buch, Frankfurt a. M. 1580
© 1984 für die Seiten 7-9, 92-121, 153-160
by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Darmstadt
© 1979 für die Seiten 10-91, 122-144
by Verlag Hans Huber , Bern
(früher erschienen im
Hermann Lucherhand Verlag GmbH & Co KG,
Darmstadt und Neuwied,
ISBN 3-472-61498-6)
Gesamtherstellung bei der
Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH, Darmstadt
ISBN 3-630-61498-1
Herr und Weib
Zur Geschichte der Beziehung
zwischen ordnendem Geist
und anderen Impulsen
Im 19. und früheren 20. Jahrhundert grassierte eine Krankheit,
wie sie vor- und nachher nie grassiert hat: die Krankheit
»weibliches Geschlecht«; dies in Europa so heftig wie in Amerika,
wo Mary Putnam Jacobi (1842-1906) 1876/86 in ihrem Buch
über die Menstruation schrieb: »The sex itself seems to be
regarded as a pathological fact.« Gerade etwa in den Menstruationslehren dieser Zeit wird der Krankheitscharakter des normalen Frau-Seins offensichtlich (vgl. S. 58-66). Aber auch in der
tendenziellen Pathologisierung der Schwangerschaft, der Geburt, des Wochenbetts im 19. Jahrhundert lässt sich die Pathologisierung der normalen Frau erkennen, ebenso in der allgemeinen Tendenz, die Frau insgesamt in ihrer anerkannten körperlichen und geistigen Schwäche als ein Mängelwesen dem vollkommeneren Mann gegenüberzustellen. Es wird dabei in der Literatur - und wir bewegen uns hier auf der Ebene der Literatur kaum je explizit von der »Krankheit« Frau (oder »Krankheit«
weibliches Geschlecht) gesprochen. Denn diese Krankheit ist
ganz wesentlich naturgewollt und normal. Die Frau muss notwendig an ihrem Geschlecht leiden, menstruieren, schwanger
werden, gebären, kindartig, unintellektuell, emotioneil sein,
sonst wäre sie keine Frau mehr und würde ihrer natürlichen
Bestimmung als Gattin und Mutter nicht genügen können. So
hat schon Aristoteles zugestanden, dass die Kreatur Frau gerade
in ihrer Unvollkommenheit nötig sei für die Erhaltung der
Menschheit (vgl. S. 36-38); so schreibt der Neurologe Paul Julius
Möbius (1853-1907) um 1900 über den »physiologischen« (d. h.
normalerweise vorliegenden) Schwachsinn des Weibes.
Krank ist die Frau also nur im Vergleich mit dem Manne; in ihrer
92
Beziehung zum Mann aber, als ein Teil von ihm, als Gattin und
Mutter seiner Kinder, ist sie gesund. Entsprechend kommt eine
Genesung von der Krankheit »weibliches Geschlecht« für sie
nicht in Frage - oder nur unter Verlust dessen, was sie ausmacht
(eine starke und intelligente Frau ist keine normale oder sogar
überhaupt keine Frau mehr).
Angesichts der Tatsache, dass es wesentlich Männer gewesen
sind, die dieses Bild von der Frau entworfen haben, könnte man
auch sagen: Der Mann verlangt von der Frau, was er an sich
selbst als krankhaft abzulehnen tendiert.
Das weibliche Geschlecht also als das kranke Geschlecht-wobei
»Geschlecht« zugleich die Gruppe bezeichnet und die Geschlechtlichkeit, welche diese Gruppe ausmacht. Vielfach wird
die Frau ja einfach das »Geschlecht« genannt, das schwache, das
zarte »Geschlecht«, »the sex«, »le sexe« auf französisch. Tatsächlich ist sie für den Mann, insofern sie nicht Mensch ist wie er
selbst, wesentlich durch ihr Geschlecht von ihm verschieden das »andere«, das »zweite Geschlecht«. Und wenn er ihr nun so
zwiespältig gegenübersteht und von ihr einfordert, was er an sich
selbst ablehnt: könnte sich im Bild von der Krankheit am
Geschlecht nicht auch das nicht eingestandene Leiden der Autoren und ihrer Zeit an eigenem Geschlecht, Geschlechtlichkeit,
Emotionalität, Körperlichkeit überhaupt spiegeln?
Es stellt sich also die Frage nach sexuellen Determinanten,
sexualgeschichtlichen
Hintergründen
des
wissenschaftlichen
Konzeptes von der Krankheit »weibliches Geschlecht«. Dass es
ausser diesen Hintergründen andere gibt - wirtschaftliche, politische, militärische, religiöse und so weiter-, welche alle untereinander in Beziehung stehen, ist selbstverständlich. Aber hier soll
nach den sexuellen gefragt werden, wobei »Sexualität« nicht
lediglich für den gewissermassen isolierten »Trieb« steht, sondern auch für die zugehörige Emotionalität und Leiblichkeit.
Über sexuelle Determinanten von historischen Erscheinungen
und Entwicklungen - auch wissenschaftlichen - ist bisher wenig
bekannt. Die Sozialgeschichte interessiert sich zwar für die
nicht-ereignishaften, im Alltag ständig wirksamen Faktoren und
93
müsste deshalb der Sexualität grösste Aufmerksamkeit schenken;
trotzdem hat sie bisher mehr andere Determinanten historischer
Entwicklungen, vor allem die ökonomischen, herausgearbeitet.
Dies teils in Fortsetzung ihrer historisch-materialistischen Tradition, teils in Einlösung ihres Anspruchs, auch historische
Aussagen auf messbare, objektive, jederzeit und persönlichkeitsunabhängig nachprüfbare Daten zu gründen.
Tatsächlich sind ökonomische Daten relativ leicht fassbar und
quantifizierbar. An die Sexualität früherer Zeiten und ihre
Geschichtswirksamkeit indessen ist so kaum heranzukommen als ob der objektivierende Blick da immer wieder abglitte. Nicht
nur, dass die Quellen selten und ungenau von Sexuellem sprechen: noch entscheidender ist, dass selbst da, wo über Sexualität
gesprochen wird, diese gewöhnlich vom übrigen Lebenszusammenhang isoliert wird - als ob da keine Zusammenhänge bestünden, als ob ausser Künstlern nie jemand in Wechselwirkung mit
seinem Sexualleben Karriere oder ein wissenschaftliches Konzept gemacht oder eben nicht gemacht hätte.
Dies entspricht der allgemeinen Tendenz unserer westlichneuzeitlichen Kultur, sexuelle Dinge vom übrigen Kulturzusammenhang abzuspalten. Im Bereich der Geschichtsschreibung hat
sich lange etwas Ähnliches abgespielt: lange ist die Geschichte
der Sexualität neben der gewissermassen konventionellen Geschichte hergelaufen, als ob beides miteinander kaum etwas zu
tun hätte. Und die Abspaltung war diskriminierend: die »BettGeschichten« fürstlicher Häupter lieferten Stoff für historische
Romane, die gehobenen Historiker interessierten sich für sie nur
begrenzt. Am ehesten noch wurde in der Geschichte der Kunst
eine Geschichtswirksamkeit der Sexualität anerkannt - wie eben
dem künstlerischen Schaffen Spontaneität, Emotionalität und
Körperlichkeit konstitutiv zugestanden wird.
In jüngerer Zeit wird die Geschichte der Sexualität nun zwar von
vielen Historikern seriös bearbeitet und auch in ihren Zusammenhang mit der Geschichte anderer Lebensbereiche gestellt.
Noch immer aber weiss man bedeutend mehr über den Einfluss
aller möglicher historischer Faktoren auf die Sexualität als über
94
den Einfluss der Sexualität auf historische Entwicklungen. Und
noch immer wird die Geschichte der Sexualität, der Frau, der
Familie tendenziell kleingeschrieben und an den Rand gerückt,
und sei es nur dadurch, dass sie als Spezialgebiet deklariert oder
Frauen überlassen wird.
In unserem Falle, bei unserem Suchen nach den Wurzeln des
Konzeptes von der »Krankheit Frau« im Bereich des Sexuellen
kommen weitere Schwierigkeiten hinzu. Denn in gewissem
Sinne dient ja das Reden über die Schwäche und Minderwertigkeit der Frau gerade der Verdeckung und Verleugnung solcher
Wurzeln. Die Erhellung der Leiden weiblicher Existenz scheint
die Ausblendung jeglicher Problematik der männlichen Sexualität geradezu zu bezwecken. Alle Leiden an der eigenen Geschlechtlichkeit sind mit der Projektion auf die Frau gewissermassen ins Objektive abgeschoben. Man könnte wohl sagen, dass es
eine »Krankheit weibliches Geschlecht« gar nicht gäbe, wenn
ihre Entdecker sich über die Verwurzelung dieses Leidens in
ihrer eigenen Beziehung zu Frauen und eigener Sexualität klar
gewesen wären.
Wir können daher, wenn wir eine solche Verwurzelung aufzeigen wollen, kaum auf direkte Belege hoffen, auf erotische
Autobiographien all derer etwa, welche die Pathologisierung der
Frau im 19. Jahrhundert festgeschrieben haben, oder auf direkte
Hinweise in den vorhandenen Quellen - nicht in beweiskräftiger
Quantität jedenfalls. Vielmehr müssen wir, wenn wir an unserem Vorhaben festhalten wollen, indirekt von den vorliegenden
Konzepten auf sexuelle Hintergründe schliessen in der Annahme, dass da eine wechselseitige Beziehung bestehe, in der Annahme, dass man auf Grund eigenen Erlebens bis zu einem gewissen
Grade vom einen auf das andere schliessen kann, und in der
Überzeugung, dass persönliches Erfahren von Quellen legitime
und gelegentlich sogar einzige Basis von geschichtlichen Rekonstruktionen sein kann. Und ausdrücklich sei festgehalten, dass es
sich dabei nicht um Subjektivismus oder Relativismus handelt,
sondern um eine Erweiterung des historiographischen Gesichtsfeldes auf die Situation des Historikers selbst, die damit zum
95
zulässigen, oft sogar unabdingbaren Forschungsinstrument auch Forschungsmotiv und -gegenstand - wird.
Die Frau samt dem Leiden an ihrem Geschlecht wird also im
Folgenden als eine sozusagen veräusserlichte Form des sexuellen
Prinzips und des entsprechenden Leidens im Manne und medizinischen Autor selbst zu untersuchen sein: die Beziehung zwischen den Geschlechtern als eine soziale Realisierung der Beziehung, wie sie das 19. Jahrhundert erlebte zwischen organisierendem Geist, Intelligenz, Wille etc. einerseits, Sexualität, Körperlichkeit, Gefühlswelt, Spontaneität andererseits.
In diesem Sinne möchte ich zuerst einiges über die Stellung des
»Geistigen« in seiner Verbindung mit dem Männlichen im
19. Jahrhundert sagen, vor allem auf die sexualgeschichtliche
Dimension dieses »Geistigen« hinweisen.
Tatsächlich scheint es, als hätte der Geist im 19. Jahrhundert
soziale Funktionen, die ursprünglich der Sexualität oblegen
haben. »Potenz« im Sinne von »Macht«, »Leistungsfähigkeit«,
ursprünglich sehr weitgehend an sexuelle Potenz gebunden,
scheint sich im Laufe der späteren Neuzeit zunehmend an
geistig-intellektuelle Leistung zu binden. Über Jahrhunderte,
sogar wohl Jahrtausende, ist menschliche Verfügungsgewalt und
Freiheit unter anderem an Zeugungskraft, materialisiert in Samen, gebunden gewesen. Damit war der Mann zum vornherein
privilegiert, da die Frau als samenlos oder doch samenarm und
gewissermassen impotent galt. Kraft seiner Zeugungsfähigkeit
schaffte sich der Mann seine Familie, die erste, entscheidende
Erweiterung seines Verfügungsbereiches; bis heute tragen vielerorts Gattin und Kinder seinen Namen. Die Kinder garantieren,
falls sie Knaben sind, dem Manne auch die mindestens virtuelle
Verfügung über die Zukunft, die Unsterblichkeit.
So zeugt der Mann in antik-aristotelischer Tradition, die bis weit
in die Neuzeit hinein wirksam geblieben ist, im Idealfall Knaben,
die ihm selbst bis zur Identität ähnlich sind (vgl. S. 21 u. 36).
Noch in der Gerichtsmedizin des 16. und frühen 17. Jahrhunderts
wird die Heiratsfähigkeit des Mannes an seiner sexuellen Potenz
96
gemessen; praktisch einziger - medizinischer - Scheidungsgrund
für eine Frau ist entsprechend die Impotenz des Mannes. Heiraten hiess auch »eine Frau heimführen«. Manche heiraten nur,
schreibt der Gerichtsmediziner Fortunatus Fidelis 1602, um
Kinder - pueri - zu bekommen, die dann ihren (d. h. der Väter)
Ruhm und Namen in die Zukunft forttragen (pueri sind damit
wiederum im Idealfalle Knaben). Dabei bedeutete Familiengründung damals sozial sehr viel mehr als später. In Zeiten der
agrarischen Produktionsweise war sie wichtigste Basis der sozialen Integration, Überlebensgemeinschaft und Element der Gesellschaft. Auch in unmittelbarerer Weise war die soziale Reife
eines Mannes an seine sexuelle Potenz gebunden: nicht zufällig
deutet das Wort »testieren« auf die »testes«, »zeugen« auf das
generative »zeugen«; es müsste hier die Rechtsgeschichte weiter
befragt werden.
Dieses Muster tritt im 17. und 18. Jahrhundert allmählich
gegenüber einem neuen Muster zurück, im Rahmen dessen vor
allem der Geist dazu dient, seinem Inhaber die Welt zu erschliessen. Im 19. Jahrhundert wird sexuelle Potenz noch verlangt
werden können, wenn es um die Gründung einer Familie geht;
die Übernahme höherer sozialer Funktionen aber ist nicht mehr
an sexuelle Potenz gebunden. Und die Familie ist in weit
geringerem Masse Basis übergeordneter sozialer Kompetenzen.
Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts steigt innerhalb des
Organismus vielmehr das Nervensystem allmählich zum übergeordneten und dominanten, organisierenden System auf. Im
19. Jahrhundert etabliert sich schliesslich fest das Gehirn als
höchstes der Organe innerhalb des Körpers.
Nun ist es das Funktionieren dieses Körperteils, das die gesellschaftliche Position eines Menschen begründet oder doch rationalisiert: organisierende Vernunft, Wille, Intelligenz, Geist,
geistige Schöpferkraft, geistige Überlegenheit im Kampf ums
Dasein. Die Vernunft, schreibt Johann Christian Heinroth
(1773-1843) 1825 in seinem »System der psychisch-gerichtlichen
Medicin«, mache das Wesen des Menschen aus, aus seiner
Vernunft seien Wissenschaft, Kunst, die Entstehung der Staaten
97
abzuleiten, die Vernunft sei daher Voraussetzung aller Rechtsund Pflichtfähigkeit. Wie der Staat andererseits eine geist- und
vernunftdurchwirkte höhere Einheit ist, »so folgt, dass [. . .] die
Gesammtkraft des Staats der Intelligenz untergeordnet [. . .]
seyn müsse«.
Dieser Aufstieg des Geistes gegenüber dem Samen, geistiger
Potenz gegenüber sexueller Potenz, findet etwa in demselben
Zeitraum statt, in welchem der weibliche Zeugungsbeitrag, das
weibliche Ei, definitiv beschrieben und anerkannt wird (17. bis
frühes 19. Jahrhundert; vgl. S. 137 f.) - als ob die Anerkennung
eines dem männlichen ebenbürtigen Zeugungsbeitrags erst möglich geworden wäre mit der Entwertung der sozialen Bedeutung
dieses Beitrags, als ob andererseits diese Anerkennung eine
Verschiebung der sozial bedeutsamen Geschlechtsunterschiede
auf das Gebiet des Geistes bedingt hätte. Denn die Verschiebung
der sozial relevanten Potenz vom Sexuellen auf Geistiges bringt
keineswegs eine soziale Gleichberechtigung der Frau mit dem
Manne mit sich - wiewohl gerade das 18. Jahrhundert, die Zeit
des Überganges, dergleichen folgerichtigerweise erwogen hat.
Gerade das 19. Jahrhundert zeichnet sich aus durch sehr klare,
fast überklare Vorstellungen von den geistigen Geschlechtsunterschieden und dem entscheidenden Mangel der Frau an geistiger Potenz.
Dabei scheint dem Diskurs über Geistiges sehr oft das sexuelle
Modell zugrunde zu liegen. War der Mann bis dahin kraft seines
»schöpferischen Safts« (Albrecht von Haller) ein voller Mensch
gewesen, so ist er es nun kraft seines schöpferischen Geistes. Am
Anfang unseres Jahrhunderts wird der Trivialphilosoph Otto
Weininger (1880-1903) schreiben, »dass Genialität an die Männlichkeit geknüpft ist, dass sie eine ideale, potenzierte Männlichkeit vorstellt«. Es ist, als ob dem Manne im 19. Jahrhundert der
Samen buchstäblich in den Kopf gestiegen wäre. Geistige Aktivität, Fruchtbarkeit, Intelligenz, Unternehmergeist, Genie, Erfindertum, Entdeckertum charakterisieren nun den rechten Mann.
Mit Ideen, Forschungsergebnissen, Erfindungen und Geld
schwängert er seine Bezugsgruppe, wenn er sehr potent ist, die
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Den markanten, inhaltsreichen, vielfältig geformten Häuptern von
Männern wie Staatsminister v. Gerber, Professor Wunderlich oder
Bogumil Dawison stellt der Neurologe Paul Julius Möbius 1903 eine
Stichprobe von Weiberköpfen gegenüber. »Man ist Mann oder man ist
Weib, je nachdem ob man wer ist oder nicht«, schreibt sein Bewunderer,
der Philosoph Otto Weininger, in demselben Jahre 1903. Bei Heinroth
ist dies schon 1825 angelegt: »Nur wiefern das menschliche Selbst ein
Repräsentant der Vernunft ist, [. . .] Kraft welcher er Intelligenz ist, ist der
Mensch Person. Intelligenz und Persönlichkeit ist Eines und Dasselbe.
Wiefern sich aber das menschliche Selbst von der Vernunft lossagt oder
ihrer in minderem Umfange teilhaftig ist, wäre hier wohl anzufügen, ist
er nicht [. . .] persönliches, sondern blos selbstisches Wesen. Wie die
Persönlichkeit unser höchstes Gut ist [. . .], so ist die Selbstigkeit unser
grösstes Übel.«
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ganze Welt; das Aufbauen seiner Familie geht nebenher. Hilfskräfte und Schüler sind seine eigentlichen Söhne. Nie hat man so
selbstverständlich von »Vätern« von Entwicklungen, Betrieben,
Schulen, Erfindungen, Gesetzen etc. gesprochen wie in dieser
Zeit. Im Kampf ums Dasein setzt er seine Potenz auch gegen
andere - Rivalen - ein.
Fliessend geht seine schöpferische Potenz in zerstörerische über:
militärische Erektionen und Ejakulationen bezeichnen einen
Höhepunkt seiner Männlichkeit. Denn der Krieg ist der »Vater«
allen Fortschritts. »Kriegstüchtig sei der Mann und gebärtüchtig
das Weib«, heisst es in dem sehr verbreiteten Lehrbuch der
Gynäkologie von Max Runge.
Auch die Frau begehrt den Mann anscheinend in seiner Geistigkeit. »Das Weib wird in der Wahl des Lebensgefährten viel mehr
durch geistige als durch körperliche Vorzüge bestimmt«,
schreibt Krafft-Ebing in seiner »Psychopathia sexualis« (1886).
»Deshalb sehnt sich auch normaler Weise das junge Mädchen
nach einem [. . .] unternehmenden, geistig ihr überlegenen
Manne«, folgert der sehr namhafte Psychiater August Forel
(1848-1931) in seinem in zahllosen Auflagen erschienenen und in
viele Sprachen übersetzten Buch »Die sexuelle Frage«. Die
Libido der Frauen werde durch geistige Überlegenheit mehr
erregt als durch Schönheit. Und Otto Weininger fügt hinzu, es
könne junge Mädchen »befremden, ja sexuell abstossen [. . .],
wenn der Mann [. . .], was sie sagen, [. . .] nicht gleich besser
sagt als sie«, weil die Frau »es eben als Kriterium der Männlichkeit fühlt, dass der Mann ihr auch geistig überlegen sei«. Für
Weininger ist Geistigkeit ein männliches Geschlechtsmerkmal.
Auch für die geschlechtliche Zuchtwahl war im Falle des Menschenmannes die Intelligenz entscheidender als die rohe Physis.
Cesare Lombroso (1836-1909) und sein Schwiegersohn Guglielmo Ferrero leiten in ihrem gemeinsamen Werk über »das Weib
als Verbrecherin und Prostituirte« (italienisches Original 1893)
die höhere Intelligenz des Mannes daraus ab, dass der Mann seine
Rivalen eben wesentlich durch geistige Mittel aus dem Felde
schlage.
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Das Stereotyp von der weiblichen Un-Intelligenz, Rezeptivität,
Passivität und Emotionalität trägt entsprechend ebenfalls deutlich sexuelle Züge. Möbius spricht von der »geistigen Sterilität
des Weibes« - der »physiologische Schwachsinn des Weibes«
also als Neuauflage der aristotelischen weiblichen Zeugungsunfähigkeit.
In eigentümlicher Weise wird die sexuelle Dimension der weiblichen Geistlosigkeit und Passivität in der Lehre des 19. Jahrhunderts von der Hypnose und Suggestion deutlich. Die notorische
Suggestibilität der Frau erscheint hier als Nachfolgerin ihrer
alten generativen Rezeptivität. »Ihr Maximum scheint die weibliche Intelligenz [. . .] in der [. . .] Assimilation der Ideen
Anderer zu erreichen [. . .], die Frau eignet sich mehr zur
Verbreiterin als zur Schöpferin neuer Ideen«, schreiben Lombroso/Ferrero.
Kein Wunder, dass der Begriff der Suggestibilität im 19. und
frühen 20. Jahrhundert ein Kernstück der Hysterielehre wird
und damit ein Herd der »Krankheit weibliches Geschlecht«.
»Die Veränderbarkeit durch fremde Vorstellungen wird auch als
Suggestibilität bezeichnet. Eine sorgfältigere Analyse ergibt, dass
namentlich gefühlsbetonte Vorstellungen oder Erinnerungsbilder bei der Hysterie eine abnorm gesteigerte Wirksamkeit
haben«, schreibt Theodor Ziehen (1862-1950) 1909. Carl Ludwig Schleich (1859-1922) nennt die Hysterie eine »Schöpfung
aus Idee«, eine »Perversion der Phantasietätigkeit«, »Phantasiasis«, sämtliche Erscheinungen der Hysterie erklären sich für ihn
aus »der Macht des Gedankens, Körperliches zu schaffen« - zu
zeugen, hätte er auch schreiben können (»Gedankenmacht und
Hysterie«, 1920).
Die Beziehung zwischen Hypnoselehre und Sexualität durchzieht das 19. Jahrhundert: die Hypnose wurde häufig und
typischerweise von Männern an Frauen ausgeübt. Manche Kritiker wiesen im Laufe des 19. Jahrhunderts warnend auf die
entsprechenden Gefahren und Missbräuche hin. Gegen Ende des
Jahrhunderts hingegen assoziierte sich die Lehre von der Hypnose offiziell mit derjenigen von der Hysterie und wurde damit
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zu einem wichtigen Kanal, durch den die Sexualität aus ihrem
19.-Jahrhundert-Schattendasein schliesslich wieder in das gesellschaftliche Bewusstsein einfliessen sollte. »Wie soll der Mann das
Weib behandeln?« fragt Weininger. »Wenn er es zu behandeln
hat, wie es behandelt werden will, dann muss er es koitieren,
denn es will koitiert werden, schlagen, denn es will geschlagen
werden, hypnotisieren, denn es will hypnotisiert werden.«
So steht im 19. Jahrhundert Geistiges vielfach für Sexuelles.
Möbius geht 1900 so weit, die eigentliche Verschiedenheit der
Geschlechter überhaupt in den geistigen Fähigkeiten zu suchen.
»M [Mann] lebt bewusst, W [Weib] lebt unbewusst«, schreibt sein
Bewunderer Weininger. »W empfängt ihr Bewusstsein von M:
Die Funktion, das Unbewusste bewusst zu machen, ist die
sexuelle Funktion des typischen Mannes gegenüber dem typischen Weibe.« »Sie schämt sich nicht, rezeptiv zu sein: im
Gegenteil, sie fühlt sich nur glücklich, wenn sie es sein kann,
verlangt vom Manne, dass er sie, auch geistig, zu rezipieren
zwinge« - bis zu dem Punkte, wo sie überhaupt nur noch ein
Geschöpf seiner Geistigkeit ist, eine Kreatur seiner krankmachenden Konzepte gewissermassen, ein Symptom seiner Hysterie.
»Auch die [. . .] überaus seltenen Dichterinnen [. . .] wuchern
mit den Münzen, die Männer geprägt haben«, stellt Möbius fest,
womit er nebenbei noch auf die geistige und sexuelle Dimension
der Ökonomie, die Samenartigkeit des Geldes hinweist. Man
könnte vielleicht kühn sagen, der Wandel der männlichen Potenz
vom Sexuellen zum Geistigen entspreche dem Übergang von der
agrarischen Produktionsweise zur industriellen. Denn nicht
länger besteht die wesentliche Aktivität darin, die Überlebensmittel fortzupflanzen; vielmehr treten jetzt vermitteitere, organisatorische Tätigkeiten in den Vordergrund - für den Mann.
Die Frau bleibt demgegenüber dem Bäuerisch-Reproduktiven
verhaftet; dies macht auch die Enge ihrer Geistigkeit aus.
← Hypnose, Postkarte
103
Die Phantasie des Mannes, schreibt Schleich 1920, beinhalte
vornehmlich seine Stellung in Staat und Öffentlichkeit, Heldenhaftigkeit, Eis und Pole, Grenze der Atmosphäre, Trieb nach
vorwärts in Kunst und Wissenschaft, Fortentwicklung, Unsterblichkeit seines Namens, Führerschaft, Sehnsucht, Höhe
»und die Gemeinschaft der Männerphantasie hat ja der Erde
beinahe eine elektrische Hirnorganisation durch Apparate und
Bewegungsträger aufgezwungen durch Schaffung von städtischen Gehirnzentralen und eines telegraphischen Netzes von
Signalen, welche in jedem Stücke ein Riesenabbild der Nervenorganisation unseres eigenen Gehirntastapparates ist. Im Gegensatz hierzu geht die Phantasie der Frau von Natur auf Erhaltung
ihrer hohen Begehrbarkeit, im letzten Sinne auf die Möglichkeit
der Mutterschaft aus«.
Das 19. Jahrhundert also als die Zeit einer »Sexualisierung des
Geistes«: wie sollte es erstaunen, dass der wissenschaftliche
Ausfluss dieses Geistes dahin lautet, dass die Frau ärztlichmedizinischer Zuwendung und Hilfe unbedingt bedürfe?
Wie erlebt nun dieser Geist die eigentliche, nicht-geistige,
sozusagen niedrige, unverfeinerte Sexualität? Wie steht der
Mann, der sich mit dieser Geistigkeit identifiziert, der Frau als
der Verkörperung der Sexualität gegenüber?
Offensichtlich muss die Sexualität wo immer möglich dem Geiste
untergeordnet, offensichtlich muss die Frau als deren Projektionsfeld vom Manne kontrolliert und be»herr«scht und in ihrer
Rebellionstendenz behandelt werden. Passivität ist ihre erste
Pflicht, wiewohl sie ihre Mangelhaftigkeit ausmacht. »La femme
sent plus qu’elle ne pense, [. . .] l’homme pense plus qu’il ne
sent; [. . .] De ce fait découle presque entièrement toutes les
conséquences relatives au caractère de l’homme et de la femme;
[. . .] empire de Tun, [. . .] soumission de l’autre«, schreibt
Etienne-Jean Georget (1795-1828) schon 1821 (»De laphysiologie du système nerveux«). Die Frau bezieht ihre Daseinsberechtigung aus ihrer Rolle als Helferin des Mannes und Produktionsmittel zur Herstellung der Familie - Zelle des Staatskörpers. Als
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Gattin, Tochter, Angestellte oder Muse unterstützt sie den
Mann bei seinen höheren Funktionen. »Wie nützlich das Weib
auch sein kann«, schreibt Lombroso im Vorwort zu seinem
Buch, »das habe ich bei der Vorbereitung dieses Buches durch
die Mitarbeiterschaft einer Reihe ausgezeichneter Frauen erfahren. [. . .] Und am meisten beweist Du es mir, meine geliebte
Gina [Lombrosos Tochter und seines Mitarbeiters Ferrero Gattin] - das letzte und einzige Band, das mich an das Leben fesselt,
die kräftigste und fruchtbarste Mitarbeiterin und Beseelerin aller
meiner Arbeit.«
Namentlich als Mutter ist die in der Frau verkörperte Sexualität
in den Dienst der Fortpflanzung, der Familie und letztlich des
(nach Heinroth geist- und intelligenzbestimmten) Staates gestellt, dem Staate gewissermassen einverleibt. Die Frau verkörpert für die höhere gesellschaftliche Einheit die Gebär-Mutter,
so wie das Staatsoberhaupt den Kopf verkörpert, wie am individuellen Organismus andererseits die Gebärmutter oft einfach
»Mutter« genannt wird. Die Mutterschaft ist letztes Ziel jeden
Frauenlebens, »denn das Wesen des Weibes wird nur dann
vollendet«, schreibt Adolph Henke 1814, »seine Bestimmung,
sein Beruf nur dann erfüllt, wenn es Gattin und Mutter wird«.
Und die Frau setzt alles dran, Mutter zu werden. Nach Möbius
ist die an sich schwachsinnige Frau in jungen Jahren sogar geistund intelligenzfähig, nur um an den Mann zu kommen. »Der
Geist der Jungfrau ist erregt, feurig, scharf. Dadurch wird
einerseits ihre Kraft, anzuziehen, gesteigert, andererseits wird
sie befähigt, bei der geschlechtlichen Auswahl activ zu sein, im
Liebesspiele und Liebeskampfe dem Gegner ebenbürtig zu sein.
Die ganze Bedeutung des weiblichen Lebens hängt davon ab, dass
das Mädchen den rechten Mann erhalte; auf diesen Moment, als
den Höhepunkt des Lebens, sind alle Kräfte gerichtet und alle
Geistesfähigkeiten werden auf das eine Ziel concentrirt.« Denn
»das Weib soll Mutter sein; um es aber zu werden, muss sie erst
einen Mann haben, der die Sorge für sie und die Kinder auf sich
nimmt«.
Entsprechend nimmt die weibliche Sexualität im Normalfalle die
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Form des Kinderwunsches an. »Wenn der Anblick eines bestimmten Mannes in einem jungen Mädchen sehnsüchtige Sympathiegefühle erregt«, schreibt Auguste Forel in seiner »Sexuellen Frage«, »nehmen sie die Form der Begierde nach Kindererzeugung durch eben diesen Mann, nach ›sich demselben (oft
sklavisch) hingeben‹, nach [. . .] einer Stütze für das Leben an.
Es ist [. . .] eine Sehnsucht, nach Familiengründung und Mutterglück, nach [. . .] Befriedigung einer im ganzen Körper verallgemeinerten Sinnlichkeit, die sich [. . .] nicht besonders auf die
Sexualorgane konzentriert oder nach Begattung verlangt.« Denn
die eigentliche Liebe des Weibes ist die höhere, die Mutterliebe.
»Vor der Mutterliebe«, schreibt Krafft-Ebing, »schwindet die
Sinnlichkeit.«
Wenn man nun fragt, ob Sexualität hier in Mutterliebe verwandelt bzw. domestiziert werde oder einfach verschwunden sei, ob
Liebe mit Sexualität überhaupt etwas zu tun habe oder nicht, so
muss die Antwort paradox ausfallen: beides ist der Fall. Und das
Bild von der Frau als verkörperte Sexualität im Dienste höherer
Werte, welches ja das Anforderungsprofil an die gesunde,
normale, akzeptierte Frau darstellt, enthält dieses Paradox
auch. Denn letztlich schliessen sich ein Leben für die Sexualität
und ein Leben für Mann, Familie und Staat gegenseitig aus, auch
wenn sich beide im Leben der Mutter, in der geistigen Liebe
zwanglos vereinen zu lassen scheinen. Wenn man dies sieht,
versteht man etwas von dem Druck, der die Frau des 19. und
eines grossen Teils des 20. Jahrhunderts in die Mutterschaft
zwang, etwas von dem Zusammenhang zwischen paradoxen
Anforderungen und sozialer Diskrimination und etwas von der
Schwierigkeit dieser Zeit, mit Sexualität und mit Frauen umzugehen.
Tatsächlich war die Logik solcher Konzepte nur dank der
Tatsache gewährleistet, dass die Begriffe »Liebe« und »Sexualität« ganz unklar und ihre Beziehung zueinander ungeklärt
blieben - eine konfliktschwangere Tatsache allerdings. Und
diese Konfliktschwangerschaft wurde nun elegant dem weiblichen Teil der Menschheit zugeschoben. Die Frau wurde bald so,
106
bald anders definiert, bald als diejenige, deren Liebe nur durch
die Instinkte diktiert sei, diejenige, die nichts als Sexualität sei,
und diejenige, zu deren Normalität es gehöre, dass sie kaum über
Libido sexualis verfüge: »Es gibt ausserordentlich normale und
tüchtige Frauen, die zeitlebens sexuell ganz kalt bleiben«,
schreibt Forel. Krafft-Ebing findet eine komplexere Formel: ist
das Weib »geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein
sinnliches Verlangen ein geringes. Wäre dem nicht so, so müsste
die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar
sein«. Das einzige, was nicht in Frage stand, war, dass Frauen in
jedem Falle in erster Linie von ihrer sexuellen Situation her
verstanden werden müssten.
Dieser typischen Haltung gegenüber der Frau entspricht die
Haltung gegenüber der männlichen Sexualität. Die Beziehung
zwischen Liebe und Sexualität ist wiederum variabel. So oder so
aber ist Sexualität ein untergeordneter, eingegrenzter und zu be»herr«sehender Bereich individuell-menschlichen beziehungsweise männlichen Daseins - genau wie das Element weibliches
Geschlecht innerhalb von Gesellschaft und Familie. Jedermann
ist sich hierüber einig. »Für den Mann ist die Liebe fast stets nur
Episode«, schreibt Krafft-Ebing, »er hat daneben viele und
wichtige Interessen; für das Weib hingegen ist sie der Hauptinhalt des Lebens.«
Zu diesem Konzept passt der Befund, dass sich die erogenen
Zonen bei der Frau angeblich über den ganzen Körper ausdehnen, beim Manne aber eng begrenzt sind (»W ist nichts als
Sexualität«, fasst Otto Weiniger zusammen, »M ist sexuell und
noch etwas darüber.« »Der Mann kann« sogar, schreibt Forel,
»die höhere Liebe vom Sexualtrieb so trennen, dass bei ihm in
dieser Beziehung zwei total verschieden fühlende Individuen im
gleichen Gehirn vorhanden sind; ein Mann kann sogar der
liebevollste Gatte sein und daneben seine Sinnlichkeit mit feilen
Dirnen befriedigen. Beim Weibe ist eine solche Trennung [. . .]
unnatürlich«.
Denn wesentlich ist der Mann geistig und fähig, seine Sexualität
kraft seines Geistes selbst zu ordnen, zu führen, zu handhaben,
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auszugrenzen. Für den Berliner Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper (1796-1864) unterscheidet sich der Geschlechtstrieb
von den anderen Trieben dadurch, »dass er beim gesunden
Menschen nicht sich bis zur Unbezwinglichkeit steigert«, denn
er ist nicht Selbsterhaltungstrieb, sondern Gattungserhaltungstrieb. »Freilich ist es praktisch eine missliche Sache, eine unwiderstehliche Stärke des Geschlechtstriebes zuzulassen«, schreibt
später Albert Moll (1862-1939). Vielmehr kann vom Manne
verlangt und erwartet werden, dass er seine Sinnlichkeit zu
höherem Zwecke produktiv einsetzt, genau wie männlicher
Geist »die Frau« gesellschaftlich nutzt. Die Sexualität wird damit
niedriger, sinnlicher »Trieb«, Triebkraft, energetische Basis von
Höherem, Sublimem, Sublimiertem, wie das Feuer dem
19. Jahrhundert vorwiegend in seiner in die Dampfmaschine und
Lokomotive gebannten, technisch beherrschten Form bedeutsam war. Man kann sich fragen, wieweit das psychologische
Sublimationskonzept tatsächlich in der Technik des 19. Jahrhunderts wurzle. »Jedenfalls bildet das Geschlechtsleben den
gewaltigsten Factor im individuellen und socialen Dasein, den
mächtigsten Impuls zur Bethätigung der Kräfte, zur Erwerbung
von Besitz, zur Gründung eines häuslichen Heerdes«, schreibt
Krafft-Ebing.
Wie aber »das sexuale Leben die Quelle der höchsten Tugenden
werden kann«, fährt er fort, »so liegt in seiner sinnlichen Macht
die Gefahr, dass es zur mächtigen Leidenschaft ausarte. [. . .] Als
entfesselte Leidenschaft gleicht die Liebe einem Vulkan, der alles
versengt, verzehrt, einem Abgrund, der Alles verschlingt-Ehre,
Vermögen, Gesundheit«. Dasselbe gilt, die Frau als Projektionsfeld dieser vulkanischen Kräfte und Abgründe betreffend, zwischenmenschlich und gesellschaftlich: wo auf sozialer Ebene die
Sinnlichkeit überhandnimmt, »entsteht [. . .] die Gefahr für die
Gesellschaft, dass Maitressen [. . .] den Staat regieren und dieser
zu Grunde geht. [. . .] Es ist ein Zug feiner psychologischer
← Die sekundären Geschlechtsmerkmale
109
Kenntniss des Menschen, dass die katholische Kirche ihre Priester
zur Keuschheit (Cölibat) verpflichtet«.
Dahinter steht die Angst vor der eigenen Sinnlichkeit, Angst vor
der Frau als Zerstörerin von höherer Geistigkeit und höherem
sozialem Gebilde. Die Frau erscheint als Vampir, der dem
Manne die höheren Lebenskräfte aus dem Leibe saugt, wie er
sich durch Onanie selbst um dieselben bringt, als Gefäss von
Trieben, welche, entfesselt, geeignet sind, Mann und Männerstaat zu zerstören. Lombroso und Ferrero nennen das normale
Weib ein halbkriminaloides Wesen: »Frauen sind grosse Kinder;
ihre bösen Triebe sind zahlreicher und mannigfaltiger als beim
Manne, nur bleiben sie fast immer latent; wenn sie aber einmal
aufgereizt und geweckt werden, so ist natürlich das Resultat
um so schlimmer.« Und: »Das normale Weib besitzt viele Charakterzüge, durch die es sich [. . .] dem Verbrecher nähert.«
»Wäre das Weib nicht körperlich und geistig schwach, wäre es
nicht in der Regel durch die Umstände unschädlich gemacht, so
wäre es höchst gefährlich. In den Zeiten politischer Unsicherheit hat man mit Schrecken die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Weiber kennengelernt, ebenso an den Weibern, die unglücklicherweise zur Herrschaft gekommen sind«, schreibt Möbius; der sächsische Ministerialdirektor Dr. Erich Wulffen wird
noch 1925 die Frau eine »geborene Sexualverbrecherin«
nennen.
Dieses System voneinander gegenseitig bedingenden Konzepten
und Ängsten ist zweifellos mit der Pathologisierung der Frau im
19. Jahrhundert eng verquickt. Untergründig hat diese Pathologisierung die Bedeutung eines medizinisch-wissenschaftlichen
Bannzaubers gegen die Systemgefährdung durch das auf die Frau
projizierte sexuelle Prinzip. Die Ähnlichkeit zwischen dem
Manne, der seine Sexualität nicht hinreichend zu kontrollieren
imstande ist, und der »normalen« Frau ist unverkennbar - die
Ähnlichkeit also der »Krankheit weiblichen Geschlechts« und
der Krankheit des unbe»herr«schten Mannes.
So entspricht die Frau in ihrem natürlichen Hang zum Verbrechen den einzelnen unglücklichen »geborenen Sexualverbre110
chern« unter den Männern, wobei angeborenes Verbrechertum
im Sinne Lombrosos ebensosehr Krankheit ist wie Laster. So
entspricht die Frau in ihrer natürlichen Mangelhaftigkeit auch
dem Homosexuellen, dem Onanisten und dem Manne, dessen
Nervensystem durch sexuelle Ausschweifungen geschwächt ist.
Nicht selten werden solche Männer als effeminiert, verweib- und
verweichlicht beschrieben, als ob die »Krankheit Frau« sie
tatsächlich befallen hätte.
»Das normale Verhalten des Kindes ist bei dem Erwachsenen
pathologisch, das des Weibes bei dem Manne, das des Negers bei
dem Europäer«, schreibt Möbius und stellt fest, dass man bei
geistig niedrig stehenden Männern den weiblichen ähnliche
hirnanatomische Verhältnisse finde.
Ein weibliches Gehirn vermuten manche auch im Schädel des
Perversen, des Homosexuellen. Indem der Homosexuelle »bis
zur Hysterik launisch, neidisch, feige, kleinlich, rachsüchtig und
aufwallend ist, vereinigt er in sich alle Mängel des Weibes«,
schreibt Benjamin Tarnowsky (1837-1906). Auch in der starken
Bestimmtheit durch seine Sexualität gleicht der Homosexuelle
dem Weibe. Ähnlich wie im Stereotyp »Frau« bzw. »weibliches
Geschlecht« nimmt im Stereotyp »Homosexueller« bzw. »drittes Geschlecht« das Merkmal Sexualität eine absolut übergeordnete Stellung ein, während der normale Mann des 19. Jahrhunderts sich doch immer in erster Linie als Mensch identifiziert, der
unter anderem über eine Sexualität verfügt. Dass dieser normale
Mann im Homosexuellen wie in der Frau seinen möglichen
Sexualpartner bzw. wiederum seine eigenen sexuellen Möglichkeiten pathologisiert, braucht wohl kaum gesagt zu werden.
Interessant ist wiederum, dass das, was beim Manne als krankhaft
gilt, die homosexuelle Neigung nämlich, bei der Frau wenig
auffiel. »Eigentümlich für das weibliche Empfinden ist auch die
Tatsache«, schreibt Forel, »dass eine pathologische Erscheinung,
die bei Männern ungemein scharf absticht, beim Weibe viel
weniger vom normalen Empfinden abgegrenzt ist; ich meine die
auf das gleiche Geschlecht gerichtete Libido.«
Auch der sexuell exzessive Mann und der männliche Onanist
111
ziehen sich individuell und leichtfertig Leiden zu, denen die Frau
allgemein und unvermeidlicherweise unterworfen ist. Die Analogie von Menstruation und männlicher Samenausschüttung ist
alt und wichtig. Der weibliche periodische Blutverlust wird der
episodischen Samenausschüttung des Mannes analog gesetzt um so mehr als die Menstruation ja auch im 19. Jahrhundert die
Zeit der Empfängnis, nach Karl Ernst von Baers Entdeckung des
weiblichen Eis, die Zeit des Eisprungs ist. Die Menstruation hat
Brunst-Charakter. Die monatliche nervöse Krise der Frau,
welche nach der massgebenden Menstruationstheorie Eduard
Pflügers alle möglichen nervösen Erscheinungen und Krämpfe
bis hin zur hysterischen Attacke auslöst, genital aber Eisprung
und Blutung, hat Orgasmuscharakter. Nur dass dieses Ereignis
nicht mit Lust verbunden ist und vor allem, dass sie unvermeidlich, automatisch, regelmässig ist, während der gesunde und
normale Mann über seinen Stoff- und nervösen Kräftehaushalt
selbst bestimmt. »Nichts schwächt den Organismus in so hohem
Grade«, schreibt der Psychiater und Psychotherapeut Paul
Dubois (1848-1918), »wie die häufige Wiederholung jener nervösen Krisis.« Onanie zehre, so schreibt er, das nervöse Kapital
des Mannes auf. Das nervöse »Kapital«: Samen - Geld - Geist,
all das also, was der Mann der Frau voraus hat. Und wiederum
schaden andererseits Onanie und sexuelle Exzesse, die bei
Frauen allerdings Zeichen einer Abweichung sind, diesen weniger als den Männern.
Durch sexuelle Exzesse und übermässige Verausgabung nervöser
Kräfte kann der Mann auch für Geisteskrankheiten anfällig
werden; die Frau ist es von vornherein. »In Wirklichkeit«,
schreibt der massgebende Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926)
1896, »dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass das Weib mit seiner
zarteren Veranlagung, mit der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens
weniger Widerstandsfähigkeit gegen die körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins besitzt, als der Mann. Allein die
Bedeutung dieser Veranlagung für die wirkliche Häufigkeit
psychischer Erkrankungen wird ausgeglichen durch die verhält112
nismässig geschützte Stellung, die das Weib dem unvergleichlich
mehr gefährdeten Manne gegenüber einnimmt. Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt, treffen in
erster Linie und vorwiegend den Mann [. . .] Ferner ist vor allem
auf die Wirkung der Ausschweifungen [. . .] hinzuweisen, Gefahren, denen ganz vorzugsweise der Mann . . . ausgesetzt ist.«
Ähnlich Krafft-Ebing: Menstruation, Schwangerschaft, Wochenbett, Rückbildung und allgemeine Disposition, Ursachen
weiblichen Irreseins, werden beim Manne »reichlich aufgewogen [. . .] durch Überanstrengung im Kampf ums Dasein [. . .],
durch Trunksucht, durch sexuelle Excesse, die angreifender für
den Mann sind als für das Weib. [. . .] Muss das Weib allein den
Kampf ums Dasein bestehen - so manche Wittwe - dann erliegt
sie leichter und rascher als der Mann«.
Ein Kernstück der »Krankheit weibliches Geschlecht« ist die
Hysterie. Und gerade weil sie Kernstück war, führte ihr objektives Studium zu so unbefriedigenden Resultaten, dass sie schliesslich zum Kristallisationskern neuer Denkweisen über Frau und
Sexualität wurde.
Die Hysterie, auch »amplification de la mentalité féminine«
genannt, entspricht, wie Emil Kraepelin sagt, einer »natürlichen
Entwicklungsrichtung« der Frau. Das heisst, es ist eigentlich jede
Frau hysterisch. Der Gynäkologe Wilhelm Liepmann (geb.
1878) nennt die Hysterie ein »Vergrösserungsglas«, durch welches die physiologische Verwundbarkeit und Schwäche der Frau
besonders gut zu erkennen sei (»Psychologie der Frau«, 1920).
Ein Vergrösserungsglas ist sie indessen, nachträglich gesehen,
auch für die Vitalität der Frauen damals. Denn die hysterische
Frau entspricht sogar den widersprüchlichsten Ansprüchen, die
an sie gestellt werden. Die Hysterie ist das weibliche Leiden,
welches Sexualität zugleich ausdrückt und versteckt, in welchem
Keuschheit und Begierde erfinderisch vereinigt sind. Deshalb
vielleicht wurde die Hysterie zugleich als sehr weibliches und
sehr unweibliches Leiden betrachtet, als natürlicher Zug der
Frau und zugleich als Stigma derer, die ihre natürliche Bestim113
mung verweigerten: der Frauen, deren Sexualität nicht in Mutterliebe aufging, der Prostituierten, der Nymphomanen, Lombrosos Krimineller, aber auch erfolgreicher Schauspielerinnen,
Tänzerinnen, Künstlerinnen und der Emanzipierten, die auf
Kosten ihrer Weiblichkeit zu denken angefangen hatten. Tatsächlich werden die Hysterikerinnen immer wieder als intelligent beschrieben.
So diente das Hysteriekonzept dem Ausdruck und zugleich der
Verstärkung der männlichen Ambivalenz gegenüber Frauen und
Sexualität: ein Angelpunkt der Pathologisierung des weiblichen
Geschlechts. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch ein Vergrösserungsglas für die Art und Weise, in welcher die Wissenschaft
des klassischen 19. Jahrhunderts mit sexuellen Fragen umging.
Charakteristisch dabei ist, dass das in der Literatur am meisten
hervorgehobene Merkmal der Hysterie ihre objektive Ungreifbarkeit ist. Die Hysterie scheint sich dem klinischen Blick ihrer
Zeit konsequent zu entziehen. Kein einziges Symptom konnte
für sie als eindeutig bezeichnend nachgewiesen werden, nicht
einmal eine umschriebene Symptomengruppe. Im Gegenteil, die
Hysterie war typischerweise wechselhaft und ihre Symptome
unendlich vielfältig. Keine Ursache war sichergestellt, nicht
einmal ihr Krankheitscharakter stand fest. Carl Ludwig Schleich
nannte die Hysterie die »Krankheit ohne Ursache«, »eigentlich
gar keine Krankheit«, den Wechselbalg von Leid und Lüge, eine
Gauklerin. Jean Martin Charcot hat sie als »grande simulatrice«
bezeichnet.
»Die Hysterie ist das Schmerzenskind der Nervenpathologie«,
leitet Otto Binswanger (1852-1929) sein dickes Buch zum
Thema (Wien 1904) ein, »weil alle Bemühungen, welche seit
Jahrhunderten auf die Erkennung und begriffliche Würdigung
der hierher gehörigen Krankheitserscheinungen verwandt worden sind, zu keiner auch nur einigermassen befriedigenden und
den Widerstreit der Meinungen ausgleichenden Lösung geführt
haben. Die Unklarheit und Unsicherheit der Begriffsbestimmung hat dazu geführt, dass nicht bloss im Laufe der vergangenen
Zeiten die widersprechendsten Anschauungen
[. . .] gelehrt
114
wurden, sondern dass auch heute noch keine Verständigung
[. . .] erzielt worden ist.« »Die Hysterie bleibt die rätselvolle
Sphinx«, leitet Siegfried Placzec sein Buch über »das Geschlechtsleben der Hysterischen« (1919) ein.
Die Frau des 19. Jahrhunderts in ihrer Hysterie irritiert den
objektivierenden Blick ihres männlichen Partners und Arztes,
führt ihn gewissermassen ad absurdum, indem sie sich objektiv
vor allem dadurch charakterisieren lässt, dass sie vexierbildartig,
irrlichtartig täuscht, lügt, manipuliert. Die notorische Lügenhaftigkeit der Frau ist in der Hysterie bis zum Unglaublichen
verstärkt. Wenn die normale Frau mit Worten und Masken lügt,
so lügt die Hysterika mit ihrem ganzen Körper: während die
normale Frau sich der Lüge bedient, bedient sich in der Hysterie
die Lüge der Frau. Irgendeine Einbildung oder Idee, woher auch
immer stammend, kann sich in der Hysterie in greifbare Körperlichkeit umsetzen.
»Phantasiasis« solle man sie nennen, schlägt Schleich vor. »Es
wäre überflüssig, nachzuweisen, wie die Verlogenheit zur Gewohnheit, ja [. . .] zu einer physiologischen Eigenthümlichkeit
des Weibes geworden ist«, schreiben Lombroso (und sein
Schwiegersohn), und tatsächlich kann er seitenweise Sprich-,
Dichter- und Philosophenwörter zum Beleg der natürlichen
Lügenhaftigkeit der Frau beibringen. Er unterstellt eine bewusste
und eine instinktive Verlogenheit der Frauen: »Die Unwahrhaftigkeit ist so sehr ein organischer Bestandteil des weiblichen
Charakters geworden, dass ein Weib niemals ganz aufrichtig sein
kann.« Und die Hysterie, wird Weininger schreiben, ist nur »die
organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes«.
Überdies stellt er den Zusammenhang zwischen diesem Hang
der Frau zur Lüge und ihrer notorischen Passivität, Empfänglichkeit, Suggestibilität und totalen Sexualität heraus. »Es ist die
allgemeine Passivität der weiblichen Natur, welche die Frauen
am Ende auch die männlichen Wertungen [. . .] acceptieren und
übernehmen lässt. [. . .] Nichts hindert also, dass die männliche
negative Wertung der Sexualität die positive weibliche vollständig im Bewusstsein des Weibes überdecke.« So kommt es zu der
115
verlogenen Anerkennung der Sittlichkeit durch die Frau, welche
doch »universale Sexualität« verkörpert - »so tief sitzt die Lüge,
die organische, [. . .] die ontologische Verlogenheit des
Weibes«.
Immer und immer wieder dient die weibliche Lüge letztlich der
Verleugnung der Sexualität. »Als die Menstruation anfing, ein
Gegenstand des Widerwillens für die Männer zu werden«,
schreibt Lombroso, »musste das Weib sie zu verheimlichen
suchen, und auch heute noch ist dies Verbergen eine der ersten
Lügen, die man sie lehrt; man erzieht sie dazu, ihren Zustand
unter Vortäuschung anderer Leiden zu verstecken. Mit anderen
Worten heisst das, man zwingt sie dazu, jeden Monat zwei bis
drei Tage fortgesetzt zu lügen, was eine periodische Übung in
der Simulation bedeutet. Nichts ist während der Periode der
Menstruation häufiger, als die mit Bosheit und Tücke verbundene Lüge. [. . .] In dieser Zeit ist Jede Weib par excellence, die
Reizung ihrer Genitalorgane erregt alle die Gefühle, die, vereint,
die Liebe des Weibes bilden; unter anderem wird dann auch
[. . .] der Hang zur Lüge« stärker. »Die Pflichten der Mutterschaft«, fährt er fort, »sind ebenfalls ein Moment, das die Frau
zur Lüge zwingt, denn die ganze Kindererziehung besteht aus
einer Reihe mehr oder weniger geschickter Lügen, die theils dazu
bestimmt sind, die sexuellen Beziehungen [. . .] zu verhüllen,
theils [. . .], das Kind [. . .] auf die Wege des Rechten zu
lenken.«
Weibliche Lügenhaftigkeit geht demnach auch fliessend in weibliche Schamhaftigkeit und selbstverleugnende Keuschheit über.
Und wie diese ermöglichte sie es der Frau, den paradoxen
Anforderungen zu genügen, welche eine männlich dominierte
Gesellschaft an sie stellte, namentlich der Aufgabe, alle im
Zusammenhang mit Sexuellem auftauchenden Widersprüche zu
lösen.
Kein Wunder also, dass die »rätselvolle Sphinx« Hysterie zur
Schrittmacherin neuer gedanklicher Ansätze in der Medizin
wurde, Schrittmacherin psychologischer und soziologischer Ansätze zunächst. Denn medizinisch-biologisch war an sie offen116
Oedipus im Begriffe,
das Rätsel der Sphinx zu lösen
sichtlich nicht heranzukommen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts drang dann allmählich die Auffassung durch, dass die
Lügenhaftigkeit der Frauen in sexuellen Dingen nicht so sehr
oder doch nicht nur mit den Eigentümlichkeiten des weiblichen
Nervensystems und der weiblichen Konstitution zusammenhing. »Es ist wahr, dass das Weib von ihren Liebesgefühlen nichts
verrathen darf«, schreibt Lombroso. »Wie vieles übrigens verbergen wir selber nicht vor Frauen und Kindern, besonders in
bezug auf das Geschlechtsleben, worüber sie dann auf die eine
oder andere Weise die Wahrheit erfahren! Wenn sie so sehen, wie
um sie her beständig gelogen wird, dann gewöhnen sie sich
schliesslich auch an die Lüge.« Das Weib »darf ihren Erotismus
117
nur erraten lassen. Jede plumpe [. . .] Herausforderung ihrerseits verfehlt ihren Zweck; sie pflegt Männer abzustossen«,
schreibt Forel. »Sie darf aus ihrer passiven Rolle selbst dann nicht
sichtbar heraustreten, wenn sie von der grössten erotischen
Sehnsucht geplagt wird.«
Dass die weibliche Hysterie in dieser Situation wurzelt, wurde
allmählich klarer. Krafft-Ebing weiss von der Pflicht, die der
Frau von der Gesellschaft bzw. eben vom Manne auferlegt ist,
ihr Sexualleben geheimzuhalten, vor dem Mann und sogar vor
sich selbst. Moriz Benedikt leitet 1894 »die Eigenkrankheit des
Weibes - die Hysterie« direkt von den daraus entstehenden
Spannungen her (vgl. S. 31).
Auch für Sigmund Freud wird der verdrängte sexuelle Affekt die
Ursache der Hysterie. Auf diese Weise wandelt sich das moralische Urteil über die Lügenhaftigkeit zur Theorie von der Verdrängung und der Abwehr verbotener Impulse. Freud tat aber
noch mehr: er holte die Sexualität aus dem Ghetto der wissenschaftlichen Objektivität heraus, in das sie sogar die seinerzeitige
Sexologie verbannt hatte. Freud hat die Lehre von der weiblichen
Hysterie zur Neurosenlehre überhaupt erweitert; nun konnten
auch normale heterosexuelle Männer an ihrer Sexualität leiden.
Eugen Bleuler (1857-1939) würdigte diese Leistung der Psychoanalyse, als er schrieb, es sei aus der von Männern betriebenen
Wissenschaft die Sexualität verdrängt worden, und dies habe
einen Objektivitätsverlust mit sich gebracht. Die Frauenheilkunde kenne zwar die Sexualität, aber nur bei Frauen. »Damit
schützt sie sich sehr energisch vor der Verallgemeinerung, dass
auch die eigene Hälfte der Menschheit mit einem Geschlechtstriebe behaftet sei. Die Neurologie und Psychiatrie anerkennt
den Geschlechtstrieb f. . .] bei den ›Anderen‹, verbittet sich aber
den Gedanken an die eigene. In diese weise Beschränkung hat
Freud Unsicherheit zu bringen versucht; er [. . .] behauptet,
jedermann, alt und jung, gesund und krank, Laie und Arzt leide
an Geschlechtstrieb.«
Mit diesem Konzept hat Freud eine wichtige Voraussetzung für
die spätere Einsicht geschaffen, dass die »Krankheit weibliches
118
Geschlecht« etwas mit der männlichen Sexualität zu tun haben
könnte. Er selbst hat diesen Weg noch kaum beschritten. »Das
Mädchen erlebt«, schreibt er noch 1938 in seinem »Abriss der
Psychoanalyse«, »nach vergeblichem Versuch, es dem Knaben
gleichzutun, die Erkenntnis ihres Penismangels oder besser ihrer
Klitorisminderwertigkeit mit dauernden Folgen für die Charakterentwicklung.« So bleibt Freud angesichts der »Krankheit
Frau« der objektive, mitleidig hilflose Helfer des 19. Jahrhunderts, wiewohl er gewusst hat, dass das Rätsel der Sphinx nicht
durch einen guten Diagnostiker, sondern durch Ödipus gelöst
worden ist, der sich gerade im Zusammenhang mit dieser Lösung
so tief in sein eigenes Schicksal verstrickt hat, dass er darob seinen
klinischen Blick um seiner Introspektion willen verloren hat.
Freud hat viele Rätsel gelöst, aber es lag ihm fern, die Krankheit
weibliches Geschlecht, die »Clitorisminderwertigkeit« bzw. den
»Penismangel« als ein Symptom männlicher Sexualkonflikte zu
sehen. James Hillman spricht in ähnlichem Zusammenhang
(»Essay on Pan«) von einer Psychopathologie, die sich der
Cartesischen Täuschung hingebe, dass ihre Arbeit und ihre
Psychologie nichts miteinander zu tun hätten. Mithilfe der
Subjekt-Objekt-Trennung könnten sich die Forscher, so
schreibt er, »schützen, durch ihre Untersuchungen etwas über
sich selbst und nicht nur über ihren Wissensstoff zu erfahren«.
Man könnte sagen, Weininger in Wien sei in dieser Hinsicht
weiter gegangen als Freud. Weininger nennt die Frau, das Weib
»eine Funktion von M«, »eine Funktion, die er setzen, die er
aufheben kann«, »sein Dasein ist an den Phallus geknüpft«. »Als
der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib«, schreibt er auch.
»Denn das Weib ist nur die Schuld und nur durch die Schuld des
Mannes. [. . .] Was die Frau [. . .] durch ihr blosses Dasein,
durch ihr ganzes Wesen, ewig unbewusst auswirkt, das ist nur ein
Hang im Manne, sein zweiter, unausrottbarer, sein niederer
Hang.« »Er ist die Objektivation der männlichen Sexualität, die
verkörperte
Geschlechtlichkeit,
seine
Fleisch
gewordene
Schuld.« Weininger schliesst sich der Bisexualitätstheorie seiner
Zeit an, der Mensch ist für ihn wesentlich doppelgeschlechtlich,
119
»Mann« und »Weib« repräsentieren in diesem Sinne die abstrakten Prinzipien dieser Verbindung.
Gewiss gehört dieses Konzept zum Hintergrund von Weiningers
Idee, Weib sei eine Funktion des Mannes. Trotzdem ist dieser
Satz nicht umkehrbar. Die Frau bleibt das Nicht-Ich, das zweite,
das niedrige Prinzip, Schuld und Krankheit. »Das Weib [scheint]
gleich unendlich wie der Mann«, schreibt er, »das Nichts [W] so
ewig wie das Sein; aber diese Ewigkeit ist nur die Ewigkeit der
Schuld« - »die Ewigkeit der Krankheit« hätte er als Arzt
vielleicht gesagt. Denn wiewohl er über Sexualität spricht und
einen sexuellen beziehungsweise weiblichen Anteil in sich selbst
anerkennt, und wiewohl er realisiert, dass die Beziehung zwischen den Geschlechtern mit seiner inneren Situation zu tun hat,
behält er doch die alte Assoziation von hohem Wert, Verstand/
Geist und Ich bei. Ähnlich erkennt Schleich die Mann-FrauDichotomie als eine Widerspiegelung innerer Verhältnisse, ohne
Der Held ist im Begriffe, sich einer vom Feind gesendeten Attrappe zu
entledigen: einer Frau, die sich im entscheidenden Augenblick in einen
vernichtenden Polypen verwandelt hat.
120
indessen die traditionelle Ordnung in Frage zu stellen. Hysterie
habe mit Frauen nichts zu tun, schreibt er 1920, sei keine
Ungezogenheit junger und alternder Mädchen, sondern »eine
Ausschweifung der Phantasie, ein Gewaltstreich derselben, ein
Einbruch in die Fluren und Heimstätten friedlicher Zellager,
[. . .] eine Orgie der Phantasie«. Und als Therapie empfiehlt er
»systematische Übungen am Mechanismus der Phantasieorgane«.
Und heute? Die alten Muster sind vielfach umgewertet, hinterfragt, reflektiert, kritisiert und sogar überholt worden. Dort
freilich, wo ein Umdenken soziale, wirtschaftliche und politische Interessen in Frage stellt, fasst es nicht so leicht Wurzeln,
provoziert es sogar Verhärtungen, Vertiefungen, Verwissenschaftlichungen und Zynifikation der alten gedanklichen Gewohnheiten. Viele fürchten daher heute nicht so sehr den
Staatsstreich der Phantasie als vielmehr die Verkrebsung der
ehemals geordneten und friedlichen Zellager unserer vom Bereich des Emotionellen abgespaltenen Vernunft und Geistigkeit.
Aber es gibt auch Hoffnung auf differenzierende Kontakte.
Für Marie-Luise Könneker, 1982
121
Wie männlich ist die Wissenschaft?
Wie männlich ist die
Wissenschaftlerin?
So männlich jedenfalls, dass ich, als ich innerhalb der institutionalisierten Wissenschaft (welche ich hier vor allem unter »der«
Wissenschaft verstehe) vom Status PD (Privatdozentin) zur
Professur aufrückte, im Herzen unserer Gesellschaft, in den
Computern nämlich, zum Manne wurde.
Ab dato fand ich mich auf einem grossen Teil der Post, welche
mir Wirtschaft, Industrie und sogar fernere Universitäten zusandten, als Herrn imaginiert. Amnesty International, eine
Institution, die mich bis dahin als Frau notiert hatte, glaubte
offenbar, sich bis dahin in meinem Geschlecht getäuscht zu
haben. Meiner Gattin gedachten allerlei Banken und Unternehmen, indem sie mich anregten, ihr mal Pelze oder Perlen zu
schenken - wissend, dass Professorengattinnen bei der notorischen Zerstreut- und anderer Abwesenheit ihrer Lebensgefährten besonders trostbedürftig sind, Professoren aber mehr Geld
als Zeit zur Verfügung haben. Ich konnte den Briefen, die an
mich ergingen, auch entnehmen, dass ich für erheblich-verdienend, aber des Umgangs mit Geld wenig kundig gehalten wurde,
denn es wurden mir oft die seltsamsten Anlagen und Beteiligungen, an Diamantenminen und Hochseeschiffahrtsgesellschaften,
auch überseeisches Land angeboten.
Umgekehrt wurde ich rasch zur Frau, als ich die Universität grundlos, wie es manchen schien - verliess. »Nur eine Frau kann
sich sowas leisten!« rief wütend ein an sich befreundeter Institutsdirektor aus, der mich bis dahin liebenswürdig und väterlich
gefördert hatte. So ist das wohl tatsächlich. Er hat mit Blick auf
mein feministisches Engagement auch gesagt, ich würde damit
den Frauen keinen Dienst tun, man sehe nun nur einmal mehr,
dass Frauen unberechenbar seien und das Zeug einfach hin145
schmissen, wenn es ihnen nicht mehr passe. Aber das ist mir nun
ja wirklich kein Anliegen, dass auch die Frauen noch berechenbar
werden. Es war nicht Gelegenheit, mit diesem Kollegen ausführlicher zu reden. Er war zur Zeit dieses Gesprächs so sehr in einer
neuen Stufe universitären bzw. wissenschaftspolitischen Aufstiegs begriffen, dass mir eine Bildsequenz von Wilhelm Busch
einfällt, wo ein Räuber nachts in eine Mühle eindringen wollte,
ihn aber deren Mahlwerk so am Rockzipfel erwischte, dass er
papierartig auf eine Walze aufgerollt wurde. Einem ausführlichen Dialog stand vielleicht auch entgegen, dass mein Austritt aus
der Universität ja doch meine akademische Gesprächswürdigkeit, meinen akademischen Anlagewert gewissermassen, herabsetzte. Tatsächlich trug meine Rückverwandlung in eine Frau
durch Rücktritt unverkennbare Züge einer Degradierung, ja
eines Falles. Nachdem eine Zeitung im Rahmen einer Serie »Ausund Umsteiger« einiges veröffentlicht hatte, was meinen Schritt
etwas beleuchtete, hat mein Doktor- und Habilitationsvater
mich schmerzlicherweise wissen lassen, dass er nicht mehr mit
mir verkehren wolle. »Du hast die Schande öffentlich gemacht«,
kommentierte eine Kennerin der Geschichte der Schwangerschaft im 19. Jahrhundert.
Ein Berufskollege hat auf jenen Artikel im Namen des »einfachen
Bürgers« einen Leserbrief verfasst, der es deutlich macht, dass ich
einen Rückschritt in die Weiblichkeit getan hatte. »Kann und
darf denn ein Professor, eines blossen Unbehagens wegen, seine
... wissenschaftlichen Vereine so mir nichts dir nichts im Stiche
lassen? Gibt es an der Universität keine bindenden moralischen
Pflichten . . .?« Und etwas später: »Ein fettes ›Ruhegehalt‹ wird
der Ex-Professorin nach ihrer Fahnenflucht. . . kaum winken.«
Als Akademiesoldat also wäre ich Mann, als Ex (da täuscht er
sich übrigens, der Titel bleibt mir erhalten) macht er mich zum
Weibe.
Wie weit aber habe ich mich durch meinen Rücktritt auch für
mein eigenes Gefühl von männlichen Stereotypen befreit? Wie
weit habe ich selbst von der Männlichkeit meines Amts Gebrauch gemacht, wie weit als etablierte Wissenschaftlerin meine
146
männlichen Anteile gelebt? Wobei ich gleich sagen möchte, dass
ich die Worte »männlich« und »weiblich« überhaupt nur historisch, soziologisch und linguistisch verstehen und gebrauchen
kann. Unsere Rollenteilung und Geschlechtsstereotypisierung
ist ja so etwas wie ein Kernverhängnis mit der Folge, dass beide,
Männer und Frauen, halbiert herumlaufen. Ich meine auch, dass
die Dominanz, welche dem Merkmal Geschlecht unter allen
möglichen Merkmalen, gewöhnlich unreflektiert, zuerkannt
wird - im Deutschen auch die armen Bäume, Wolken und Steine
beherrschend - mindestens hinterfragt werden muss. Für manche
Indianersprachen z. B. sind Unterscheidungen zwischen »leblos« und »lebend« oder »von Menschen nicht berührt« und »von
Menschen berührt« konstituierender als »männlich« und »weiblich«.
Wie weit also habe auch ich mir als Frau der Wissenschaft deren
herkömmliche Männlichkeit angezogen, wie weit meine männlichen Traditionen in meine Wissenschaftlichkeit gekleidet? Angezogen: ja natürlich, zunächst den Status, welchen beharrliche
wissenschaftliche Tätigkeit mit sich bringt. So etwas wie Achselpolster und Verdienstorden, unsichtbar natürlich, da Wissenschaftler mit ihrem Rang nicht protzen und solches einer Frau
vollends schlecht anstünde, trotzdem spürbar im Reflex des mir
begegnenden Verhaltens. Noch jetzt panzere ich mich zuweilen
mit dem Titel, wenn ich mich mit blossem Namen nicht in den
Kampf getraue.
Auch das Geld machte mich in gewisser Hinsicht zum Manne,
Geld als historisch gewordenes Samenäquivalent, weithin sichtbarer Ausfluss sozialer Potenz. Lange Zeit war ich es, die das
regelmässige und hauptsächliche Familieneinkommen nach Hause brachte. Dabei ist mir auch der und jener typische Männerfrust begegnet, so wie: Ich arbeite den ganzen Tag, und wenn ich
nach Hause komme, ist noch nicht mal das Essen fertig; oder: Ich
verdiene sauer, und die geben es lustig aus. Und in Restaurants
habe nicht selten ich bezahlt.
Aber das sind ja noch wenig wissenschaftsspezifische und eigentlich nie so ganz meine Sachen gewesen.
147
Schon mehr identifiziert habe ich mich mit dem männlichwissenschaftlichen Stereotyp der Zerstreutheit. Von diesem habe
ich oft und in den verschiedensten Lebenslagen Gebrauch gemacht.
Im Institut, wenn ich mal wieder die Pein hatte, meinen Mitarbeiterinnen irgendwelche Arbeit anzuhängen, die ich aber doch
nicht selber machen wollte; in Gesellschaften, wenn mir zu eng
wurde, und im Angesicht von Beamten zur Entschuldigung
meiner allgemeinen Defizienz. Dieser Flor der Wissenschaftlichkeit fehlt mir denn auch heute sehr. Es beweist nun nicht mehr
meine Gelehrtheit, wenn ich Milch überlaufen und Eingekauftes
im Laden liegenlasse, allzu vieles vergesse und im Leben überhaupt versage, sondern nur meine weibliche Konzentrationsschwäche und fortschreitende Hausfrauenverblödung.
Ich habe auch Eigenes traditionell männlich gestaltet und zweifellos wurde ich dadurch für den Aufstieg im Wissenschaftsbetrieb geeignet.
Als dritte Tochter meiner Eltern in Kriegszeiten geboren, hätte
natürlich auch ich ein Junge sein sollen, und habe mich also
bemüht, diesem Wunsche zu genügen. Zudem fand ich, indem
ich mich weniger für Nähen, Frisuren und Stricken und mehr für
Klettern, Handwerk, Schiessen und Wissen aller Art interessierte, eine soziale Nische, die meine beiden Schwestern noch nicht
mit grösserer Kompetenz besetzt hielten. Meine wissenschaftliche Tätigkeit begann zuoberst auf unserem gestuften Kachelofen, wo sich eine stuhl-und-schreibtischartige Formation befand. Dort zeichnete ich, da ich noch nicht schreiben konnte,
tagelang alles, was ich kannte, auf rund ausgeschnittene bunte
Papierchen, um es als mein Universum in meinem Zimmer
aufzustapeln. So wuchs ich eigentlich zufrieden auf. Mit den
Jahren allerdings zeigte es sich auch an mir, dass ich als Mädchen
doch die meisten von meinen Fertigkeiten und Interessen nicht
weiter pflegen konnte. Das Schiessen verbot mir meine Mutter,
sobald sie davon erfuhr, vom Leben auf den Bäumen wendete ich
mich im späteren Gymnasium von selbst ab, als Schreinerin blieb
ich Autodidaktin und musste stricken, während Buben aus
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unserer Klasse Hobeln und Schraubenversenken lernten. Die
Liebe zum Lernen und Wissen hat am besten überlebt, unter
meinen Interessen erschienen die intellektuellen am gesellschaftsfähigsten und am wenigsten einer Abweichung verdächtig. Als meinen Eltern in meinem 13. Jahr endlich doch noch ein
Stammhalter geboren wurde, war dadurch meine Position in der
Familie empfindlich geschwächt. Da habe ich meine Vergeistigung vehement vorangetrieben und meine Abneigung gegen
traditionell-weibliche Beschäftigungen verstärkt. Ich wollte
wohl sicherstellen, dass man mich auch künftig akzeptiere wie
bisher, zudem half mir abstrahierendes Denken, mich von
meinem Gefühl der Entthronten zu distanzieren, ja mich über
dieses hinauszuschwingen. Ich glaube, es war in jener Zeit, dass
meine Intellektualität sinnenabgewandt und etwas überheblich
wurde - sie sollte ja Schmerzen abwehren.
Als sich später Fragen der Berufswahl und der beruflichen
Identität stellten, habe ich mich natürlich viel mehr an meinem
juristischen Vater, zwei Medizineronkeln und dem Vater meiner
Primarschulfreundin, der Zoologieprofessor war, orientiert als
an meiner Mutter, welche ihr Germanistikstudium abgebrochen
hat, um Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Wie weit ich
fortgeführt habe, was sie angefangen hat, ist eine andere Frage.
Auch durch Lektüre fühlte ich mich »Männern, die den Tod
besiegten« und »Grossen Ärzten« damals näher als etwa Eve
Curies »Madame Curie«, von der ich viele Jahre lang nur den
Buchrücken kannte.
Lange sollten kurzes Haar und lange Hosen (Möbius: »Langes
Haar, kurzer Verstand«) meine Loyalität und meinen Wunsch
bekunden, in der männlich-wissenschaftlichen Berufswelt mitzuspielen.
Und wirklich gefiel mir diese Welt auch: die Pflicht und Freiheit
nachzudenken, die angebotenen Werkstätten und Werkzeuge,
der konzentrierte und begrenzte, abstrahierende und dabei
spielerische Umgang mit Fragen, die mich angingen und interessierten. So stieg ich schliesslich in eine akademische Karriere ein.
Die Grenzen, welche akademischer Freiheit gesetzt sind, waren
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so ungefähr meine eigenen, so dass sie mir eher Schutz als Enge
bedeuteten. Wenn ich etwa an der Medizingeschichte der weiblichen Minderwertigkeit arbeitete, war ich ganz froh um die vier
Wände meines Büros und um die akademische Pflicht, von
meiner eigenen Person abzusehen. Haben Männer die Schwäche
und Verletzlichkeit, die sie an sich selbst nicht akzeptieren
konnten, lange als »Krankheit Frau« auf das »Andere Geschlecht« projiziert und abgeschoben, so habe ich meine
»Krankheit Frau« mindestens als Geschichts-Wissenschaftlerin
ins Reich der Vergangenheit verbannt und ihre aktuellen Erscheinungen methodisch zu Resten der Prähistorie verarbeitet.
Ein Glück, dass die Universität die kaltfedrige, objektivierende
Distanznahme honoriert; mit-leidender hätte ich es einfach nicht
geschafft. Dass ich dabei eigene Schwäche und Empfindlichkeit
auf traditionell-männliche Weise abgespalten und anästhesiert
habe, war wohl der Preis, in der gegebenen Situation aber auch
die Voraussetzung für meine Forschungen.
Was aber zunächst geschützter Freiraum gewesen war, wurde
mir allmählich eng und bedrohlich. Einmal von aussen - Sitzungen nahmen zu, das Sitzen wurde mir überhaupt zu viel,
Mitgliedschaften nisteten sich ein, einige Repräsentationspflichten waren schlichtweg unvermeidlich, das Institut wuchs, obwohl ich es bewusst klein hielt. Ferner die widersprüchlichen
Anforderungen - der doublebind des Systems -: kreativ und
doch berechenbar, offen und doch innerhalb bestimmter Grenzen und so weiter; und dann zusätzlich, falls mann Frau ist: die
Erwartungsschere, welche verlangt, dass frau ihren Mann stehe
und dabei doch »ganz-Frau-bleibe«. Zudem wollen und können
Frauen im allgemeinen von den vom System offerierten Kompensationen für das, was ihnen zugemutet wird, weniger Gebrauch machen als Männer. Mir ging es jedenfalls so. Das
kritische Mehr an Zumutungen, was mir als Frau begegnete, und
das Weniger an konventionellen Kompensationen haben bei mir
den Leidensdruck auf einen Punkt bringen helfen, wo Änderungen möglich werden. Irgendwann wird die Angst, zum Opfer
aller angebotenen Sicherheiten zu werden, grösser als die Angst,
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seine Pensionsberechtigung zu verlieren. Zudem gibt es eine
weibliche Tradition der Veränderung.
Eng wurde mir aber auch in der Enge der universitär-wissenschaftlichen Rationalität, die ich gerade bei der Arbeit an Frauen/
Männer-Themen und gerade dort, wo es zentral wird, als nicht
hinreichend erlebt habe. So wollte ich zum Beispiel dem offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Pathologisierung der
Frau und der Beziehung von deren männlichen Autoren zur
eigenen Körperlichkeit, Emotionalität und Sexualität nachgehen. Gerade da haben aber die geläufigen historiographischen
Methoden weitgehend versagt. Weil halt gerade der objektivistische Gedanke, Frausein sei überhaupt ein krankheitsartiger
Zustand, der Verdunkelung dieses Zusammenhangs sowohl
seine Entstehung verdankt als auch ihr dient. Auf der Bielefelder
Tagung »Wie männlich ist die Wissenschaft?« haben viele Wissenschaftlerinnen ihrerseits berichtet: dass es kaum möglich sei,
mit den Methoden ihrer jeweiligen Wissenschaft die männliche
Prägung derselben nachzuweisen. Frau müsse da zu anderen
Gesichtspunkten und Denkweisen greifen. Wobei es den Geruch
der Unwissenschaftlichkeit, wie er etwa der Psychoanalyse oder
gar der Selbsterfahrung anhaftet, sorgsam zu vermeiden galt.
(Für den bei Suhrkamp erschienenen gleichnamigen Sammelband, hrsg. v. Karin Hausen und Helga Nowotny, ist dieser
Beitrag ursprünglich geschrieben, dann aber - gerade aus solcherlei Gründen - nicht aufgenommen worden.) Wenn Männlichkeit mit konfliktausschliessender Logik, emotionsfreier Rationalität und Willensbestimmtheit zu tun hat, sind die Wissenschaften, von denen hier die Rede ist, jedenfalls so männlich, dass
sie den Blick auf die psychischen Hintergründe ihrer Entstehung
weitgehend verstellen oder als unwissenschaftlich abtun. Psychotherapeutisch gesagt: sie dienen dem Widerstand gegen die
Einsicht ins eigene Unterbewusste effizienter als die meisten von
Frauen gepflegten Widerstandsformen - zudem sind sie gesellschaftlich angesehener und ausgezeichnet honoriert. Und da sie
vorwiegend von Männern betrieben werden, verbergen sie vorwiegend die Schattenbereiche männlicher Bewusstheit, wozu ja
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speziell das sogenannte »Weibliche«, das denn auch immer
wieder mit dem »Unterbewussten« assoziiert wird, gehört. Darum können gerade die hervorragendsten militärischen Ergebnisse unserer Forschung so schamlos phallisch aussehen - sie
glauben ihre Form ausschliesslich aerodynamischen und technischen Notwendigkeiten zu verdanken - und darum sind sie so
grundsätzlich destruktiv. Dank dieser Unbewusstheit kann
männliche Wissenschaftlichkeit soviel Leiden, Schwäche, Problematik, damit aber auch soviel Lebendiges, auf andere, Frauen
zum Beispiel, oder Patientinnen, andere Kulturen, Bäume,
Tiere, Kinder projizieren und abschieben.
Das ist wohl die härteste Grenze der institutionalisierten Wissenschaft: diejenige zu den tieferen, vom Persönlichen nicht loslösbaren Schichten. Überschreitungen dieser Grenze werden denn
auch als schwere Tabubrüche mit Ausstossung geahndet. Von der
Aufrechterhaltung dieser auf Abspaltung beruhenden Grenze
hängt die Macht unserer Wissenschaften ab - Macht: die vom
Persönlichen abgehobene, trotzdem durch einzelne handhabbare Verfügungsgewalt über andere. Ist aber Wissen Macht, vor
allem: muss es Macht sein? Darf es? Welche Bereiche suchen
manche durch Macht zu erschliessen, vergeblich natürlich, da
doch Macht immer nur noch mehr Macht - und Ohnmacht schafft?
Es gibt wohl manche, die - mit Jandl zu sprechen - Missen wit
Wacht vermechseln.
1985
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Herkunft der Illustrationen
S. 99 Ausschnitte aus der Abbildung in der Ausgabe von 1979, S. 43.
S. 102 »Jugend«-Postkarte von Ferdinand Freiherr von Reznicek (1868-1909).
S. 108 Kahn, Fritz: Das Leben des Menschen. Eine volkstümliche Anatomie,
Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen, Bd. 5.
Stuttgart: Kosmos Gesellschaft der Naturfreunde 1931.
S. 117 Signet der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse.
S. 120 Moebius: L’homme est-it bon? Paris: Les Humanoïdes Associés 1977.