Sachverhalt Fall 1

Peter Knorr
Richter am Verwaltungsgericht
Verwaltungsgerichtliche Praxis
Veranstaltungsreihe des Verwaltungsgerichts Freiburg
1. Besprechungsfall
29.02.2016
"Walpurgisnacht im Kiez"
(Polizeirecht, allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht, Verwaltungsprozessrecht)
Sachverhalt:
Seit etwa zehn Jahren wird aus Anlass des 1.-Mai-Feiertags in einem „Kiez“ genannten
Stadtteil der baden-württembergischen Großstadt (Stadtkreis) K vom 30. April auf den
1. Mai auf den öffentlichen Straßen ein Straßenfest „Walpurgisnacht im Kiez“ veranstaltet.
Dieses Fest hat inzwischen wegen der ausgelassenen Stimmung in der Party- und linksalternativen Szene Kultstatus erreicht. Es gibt keinen offiziellen Veranstalter, vielmehr wird
das Fest geprägt durch spontane private Initiativen einzelner Gruppen, die im Lauf des
30. April Stände und Bühnen für Imbiss, Getränkeausschank und Musikdarbietungen aufbauen. Für die Durchführung dieses Festes ist niemandem jemals eine Erlaubnis erteilt
worden. In den letzten Jahren kam es in den frühen Morgenstunden zunehmend zu Ruhestörungen und Ausschreitungen unter Teilen der Festbesucher, die den Kiez während der
Dauer des von ihnen als „autonomes Straßenfest“ bezeichneten Festes als staatsfreien
Raum für sich reklamieren, gerade auch gegenüber der Polizei. U. a. hatte es sich eingebürgert, gegen Morgen offene Feuer auf den Fahrbahnen der öffentlichen Straßen zu entzünden. Polizisten, die dagegen einschreiten wollten, wurden mit Steinen und Bierflaschen
beworfen und von teils vermummten Personen mit Androhung von Gewalt aufgefordert,
die „Freie Republik Kiez“ zu verlassen. Die Anwohner des Kiez sind von den Auswüchsen
des Festes, das sich ihrem Einfluss entzogen hat, zunehmend genervt und sie wandten
sich zu Beginn des Jahres 2015 an den Oberbürgermeister von K mit der Bitte, das Fest
zu verhindern oder zumindest die mit ihm verbundenen Lärm- und sonstigen Beeinträchtigungen zu unterbinden.
Am 27.04.2015 erließ das Ordnungsamt der Stadt K „An alle Personen, die in der Zeit vom
30.04.2015 bis zum 02.05.2015 im Bereich der …-Straßen (hier werden alle Straßen im
Kiez genannt) Veranstaltungen durchführen oder an ihnen teilnehmen wollen“ folgende
„Allgemeinverfügung“:
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„1. Veranstaltungen auf öffentlichen Straßen und auf Privatgelände mit Auswirkung in den
öffentlichen Raum werden im Bereich der im Adressfeld gen. Straßen untersagt. Das
gilt insbesondere für Musikdarbietungen (live und aus Musikanlagen), für den Ausschank alkoholischer Getränke, die Nutzung des öffentlichen Straßengeländes durch
Sperrung und Aufbauten (Bühnen, Verkaufs- und Informationsstände, Biertischgarnituren und andere Möblierungen) und Straßenspiele (Jonglage, Feuerschlucker usw.).
2. In dem im Adressfeld genannten örtlichen Geltungsbereich dieser Verfügung ist es auf
den öffentlich zugänglichen Flächen bis zum Ende der Veranstaltung, längstens bis
zum Ablauf des 02.05.2013, verboten, Gläser und Glasbehältnisse mitzuführen.
Das Ordnungsamt der Stadt K ordnete die sofortige Vollziehung dieser „Allgemeinverfügung“ an. Die Verfügung wurde an alle Bewohner der betroffenen Straßen (durch Einwurf
in den Briefkasten) verteilt. Außerdem wurde sie im Amtsblatt und in der örtlichen Presse
bekannt gegeben. Die Stadt K stützte die Entscheidungen auf die §§ 1, 3 PolG und sie begründete sie schriftlich u. a. mit der gestörten Nachtruhe der Anwohner, den Verunreinigungen und Beschädigungen des öffentlichen Straßenraums vor allem auch durch Glassplitter, den damit einhergehenden Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs und den gewalttätigen Ausschreitungen. Außerdem gebe es keinen verantwortlichen Ansprechpartner auf Seiten der Festveranstalter, es sei auch niemandem jemals eine irgendwie geartete Erlaubnis zur Durchführung des Festes erteilt worden.
Gegen diese Allgemeinverfügung haben A, B, C und D am 29.04.2015 Widerspruch und,
nachdem über diese Widersprüche auch nach Wochen noch nicht entschieden wurde, am
01.07.2015 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben.
A wendet sich ausdrücklich nur gegen die in Nr. 1. des Bescheids vom 27.04.2015 getroffene Entscheidung und er begründet seine Klage wie folgt: Er habe als Einwohner von K
immer mit Freude an der „Walpurgisnacht im Kiez“ teilgenommen und wolle dies auch
künftig tun. Außerdem stelle die Feier in der Nacht zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, eine
Versammlung mit politischem Charakter dar, in der ein autonomes, staatsfreies Leben gefordert und praktiziert werde und die nahtlos in die 1. Mai-Kundgebungen übergehe.
Auch B wendet sich nur gegen die in Nr. 1. im Bescheid vom 27.04.2015 getroffene Entscheidung und trägt vor: Er betreibe seit Jahren vom Nachmittag des 30.04. bis zum
Abend des 01.05. einen Stand auf der Kreuzung der in der Allgemeinverfügung bezeichne-
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ten X- und Y-Straßen, an dem er Getränke und Würstchen verkaufe, verschiedene Spiele
für Eltern und Kinder anbiete und Musik aus Lautsprechern spiele. Er meint, da er diesen
Stand schon seit ca. zehn Jahren betreibe, genieße er ein gewisses Vertrauen in den Fortbestand des Festes. Im Übrigen meint auch er - wie A -, dass die „Walpurgisnacht im Kiez“
eine Versammlung im Sinne von Art. 8 GG sei, die von der Polizei nicht verboten werden
dürfe.
C wiederum hält die „Allgemeinverfügung“ insgesamt für nicht weitgehend genug und deshalb für rechtswidrig. Er meint: Die für das Fest verantwortlichen Gruppen liefen sich üblicherweise schon mehrere Tage vor dem 30.04 warm und sorgten auch in den Tagen vor
dem 30.04 und nach dem 02.05. für erhebliche Unruhe im Gebiet.
D hingegen wehrt sich nur gegen die unter Nr. 2. getroffene Verfügung des „Glasverbots“,
weil sie als im Kiez wohnende Mutter mehrerer kleiner Kinder oftmals kurzfristig Milch und
andere Lebensmittel in Glasbehältern transportieren müsse und nicht genau wisse, wann
ihr das nach der erlassenen Verfügung verboten sei.
Wie wird das Verwaltungsgericht über die Klagen von A, B, C und D entscheiden?