Wartezeit Eine Geschichte über Geduld, Vertrauen, Liebe und andere nicht ganz alltägliche Sachen. Ich warte. Übe mich in Geduld. Ein Schmetterling, der als erster über eine Wiese fliegt. Er wartet, bis seine Freunde und Artgenossen sich ebenfalls aus ihrem Kokon gewühlt haben und gemeinsam mit ihm über die Wiese fliegen. Inzwischen fliegt der Schmetterling alleine. Es gibt Tage, an denen er es so richtig geniesst. Die Freiheit, die Weite, die grosse Auswahl an bunten Blumen, alle für ihn alleine. Niemand stört ihn. Er kann tun und lassen, was er will. Die Wiese gehört ihm! Ihm ganz alleine! Welch tolles Gefühl! Doch dieses Gefühl ist nur von kurzer Dauer. Dann wird er wieder daran erinnert, dass er sein Glück ja mit niemandem teilen kann. Weit und breit sind keine anderen Schmetterlinge in Sicht. Ist geteilte Freude nicht doppelte Freude? Und geteiltes Leid nicht halbes Leid? Der Schmetterling erinnert sich, in seiner Raupenzeit diese weisen Worte einmal gehört zu haben. Doch damals hat er diese Worte nicht richtig verstanden, denn er war ja umgeben von lauter anderen Raupen, mit denen er sich täglich ins Gehege kam auf der Suche nach der besten Nahrung. „Offensichtlich war ich darin erfolgreich“, spricht der Schmetterling zu sich selbst, „sonst wäre aus mir nicht so schnell ein Schmetterling geworden. Oder ich habe viel mehr Kraft und Energie als die anderen Schmetterlinge eingesetzt, um mich so rasch wie möglich von der Raupe in einen Schmetterling zu verwandeln. Ich verspürte einfach diesen unfassbar, unerklärlich grossen Drang zu fliegen. Je früher, desto besser. Toll! Aber was hat mir dieser Einsatz gebracht? Alleine über diese grosse Wiese fliegen zu können? Mein Glück mit niemandem teilen zu können, der mir am Herzen liegt? War dies all die Mühe wert?“ „Vertraue“, hört er plötzlich eine Stimme flüstern, aber niemand ist zu sehen. Traurig wischt er sich eine Träne aus den Augen, da ertönt die Stimme abermals: „Vertraue. Blick nicht zurück, nur vorwärts.“ Der Schmetterling seufzt tief, nickt und dreht eine neue, einsame Runde über seine Wiese. Diesmal nimmt er jedoch die schönen Blumen wahr, die ihm zulächeln und ihn einladen, sich auf ihnen niederzulassen. Bis zu diesem Tage hatte er diese Pracht gar nicht richtig wahrgenommen, war einfach an ihnen vorbeigeflogen. Heute nimmt er sich aber Zeit, hält an und lässt sich auf einer lächelnden Sonnenblume nieder – seine Lieblingsblume. Still und aufmerksam hört sie ihm zu, wie er ihr seufzend sein Leid klagt, währenddessen die Sonne seine Flügel angenehm wärmt. „Ein guter Tag“, endet der Schmetterling seine Klagen. „Ja, heute ist ein guter Tag. Ich habe einen neuen Freund gefunden. Ich danke dir, meine liebe Sonnenblume.“ Die Sonnenblume nickt wohlwollend zum Abschied und der Schmetterling fliegt weiter. Leichter als zuvor, aber immer noch mit einer leisen Wehmut im Herzen. „Wo sind die anderen? Warum dauert das so lange? Warum kann ich ihnen nicht helfen, sich schneller in einen Schmetterling zu verwandeln?“, fragt er sich und schreit ein verzweifeltes „Warum?“ in den Wind. „Die Suche nach dem Warum bringt dich nicht weiter. Nur das Wie hilft dir“, erhält er abermals Antwort von der weisen Stimme. „Wie?“, fragt der Schmetterling gedehnt und überlegt angestrengt. „Viele Fragen beginnen mit einem Wie, zum Beispiel: Wie weiter? Wie reagiere ich? Wie mache ich das Beste aus meiner jetzigen Situation? Dies sind alles Fragen, deren Antworten – sind sie einmal gefunden – Arbeit bedeuten. Arbeit an mir selbst. Das tönt anstrengend“, seufzt der Schmetterling. „Aber du wolltest doch helfen“, antwortet die Stimme leise und eindringlich. „Ja, klar will ich helfen. Wie aber kann ich den anderen helfen, wenn ich nur an mir selbst arbeite? Das leuchtet mir nicht ein.“ „Leuchten ist das richtige Stichwort. Du musst leuchten!“, gibt ihm die Stimme zur Antwort. „Ich? Leuchten? Ich bin ein Schmetterling, kein Leuchtturm“, antwortet der Schmetterling verwirrt. „Indem du voran gehst bzw. fliegst und die anderen Schmetterlinge dazu inspirierst, sich aus ihrem Kokon zu schälen“, erklärt ihm die Stimme. „Aber wie kann das bloss funktionieren?“, fragt der Schmetterling argwöhnisch. „Sie sind ja alle in ihrem Kokon gefangen, im Dunkeln, verspüren Angst und wagen sich nicht heraus. Sie wissen nicht, wo sich der Ausgang befindet und welcher Weg wohl der für sie richtige ist.“ „Indem du fliegst“, insistiert die weise Stimme. „Nur fliegen?“, fragt der Schmetterling ungläubig. „Du meinst, ich fliege einfach weiterhin über meine Wiese und helfe damit den anderen? Sie sehen mich ja gar nicht.“ „Aber sie spüren dich, spüren dein Herz höher schlagen, wenn du freudig deine Kapriolen in der Luft schlägst, dich vom Wind tragen lässt, das Leben umarmst, auch wenn gerade unzählige Regentropfen auf dich niederprasseln. Deine kräftigen Flügelschläge lassen ihren Kokon vibrieren, wenn du an ihnen vorbeisegelst. Da draussen gibt es Leben!, fährt es den eingeschlossenen Schmetterlingen dann durch den Kopf. Und es muss ein Leben sein, das lebenswert ist! Diese Lebensfreude“, fährt die weise Stimme fort, „und dein unerschütterlicher Lebensmut sind ansteckend. Sie durchdringen auch den dicksten Kokon und geben den eingeschlossenen Schmetterlingen Mut, weiterzumachen, sich durch die Dunkelheit zu kämpfen und sich mit aller Kraft dem Ausgang zuzuwenden. Je höher du fliegst und je lauter du singst, desto mehr Schmetterlinge können dich hören. Das ist deine Aufgabe. Deine Art, ein Leuchtturm zu sein.“ „Mmmhh“, antwortet der Schmetterling nachdenklich. „Und was ist, wenn ich mein ganzes restliches Leben über meine Wiese fliege und kein anderer Schmetterling sich aus seinem Kokon wagt?“ „Garantien gibt es nicht im Leben. Für nichts und niemanden“, flüstert ihm die Stimme ins Ohr und fügt hinzu: „Vertraue. Vertraue einfach und höre auf Dein Herz. Es kennt die Antwort.“ Dem Schmetterling läuft ein Schauer über den Rücken. Er spürt, dass ihm die Stimme gerade etwas sehr Wichtiges übermittelt hat. Er schliesst seine Augen, atmet tief ein und aus, entspannt sich. Tränen rinnen über seine Wangen. Er hört sein Herz! Und was es ihm sagt, erfüllt ihn mit Freude und Zuversicht. Ich öffne meine Augen und schliesse meinen Laptop. Mit einem Lächeln betrachte ich den schönen Strauss meiner Lieblingsrosen – ein unerwartetes Geschenk einer Kollegin – und eine herzliche Karte – ein unerwarteter Brief meiner Mutter. Sie waren heute meine Sonnenblumen, auf denen ich mich niederlassen und ausruhen konnte. Morgen fliege ich weiter über meine Wiese. Mit neuem Vertrauen und der Gewissheit, dass die Liebe siegen wird. Das Herz siegt immer. © Claudine Birbaum / 2013
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