1000 Gründe, sich nicht zu verlieben

Leseprobe aus:
Hortense Ullrich
1000 Gründe, sich nicht zu
verlieben
(S. 9-15)
© 2003 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek. Alle Rechte vorbehalten.
1. Kapitel, in dem Sanny
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beschließt, sich zu
verlieben
«Ach, und was ist, wenn er dich gar nicht toll findet?»,
gab Liz zu bedenken.
Ich schaute sie groß an. «Wen kümmert’s?! Jetzt geht
es erst mal darum, dass ich mich verliebe! Da können
wir uns nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten.»
«Ehrlich gesagt, Sanny, verstehe ich immer noch
nicht, wieso du dich nicht verlieben kannst.»
Ich verdrehte die Augen. «Ach Liz, das hab ich dir
schon hundertmal gesagt: Es liegt an meinem Bruder!»
Mein Versagen in puncto Verlieben lag ganz eindeutig daran, dass ich einen gleichaltrigen Bruder habe.
Einen Zwillingsbruder. Einen nervigen, hirnlosen Zwillingsbruder. Wer mit so einem Typen wie meinem Bruder Konstantin aufwächst, verliert einfach den Glauben
an die gesamte Männerwelt und an die Liebe.
Ich bin dreizehn und war noch nie verliebt. Das
konnte nur an ihm liegen. Alle anderen in meiner
Klasse sind seit drei Jahren ständig in irgendwen verliebt.
Auch Konny war dauernd verliebt. Er verliebt sich
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in alles, was sich bewegt, lange Haare hat und sich
nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann. Dass er
dabei zwei Tage lang auch mal einem langhaarigen
Jungen nachstellte, brachte ihn nicht weiter aus dem
Konzept. «Ups», meinte er bloß, als ich ihn darauf aufmerksam machte, «also von hinten sah der echt niedlich aus.»
Ich seufzte.
Liz schaute mich zweifelnd an: «Und du bist sicher,
dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist?»
«Ganz sicher!», nickte ich. «Ich bin im richtigen Alter und will jetzt endlich wissen, wie das ist!»
«Na gut», sagte Liz, «dann machen wir weiter.» Sie
beugte sich wieder über unser Schulfoto.
«Was ist mit dem?», fragte ich und deutete auf einen
Typen aus der zehnten Klasse. Er sah ganz süß aus.
«Sanny! Der ist zu alt für dich.»
«Das ist egal, ich will ihn ja nicht heiraten, ich will
mich bloß verlieben.»
«Aber du kannst dich doch nicht aufgrund eines Fotos in jemanden verlieben!»
«Woher willst du das denn wissen?»
«Weil es bei dir mit den Filmstars auch nicht geklappt hat. Jeder Anfänger verliebt sich erst mal in
einen Filmstar. Oder einen Musiker. Bloß du nicht.»
«Das liegt aber nur daran, dass ich das potenzielle
Opfer nicht kennen lernen kann. Wir gehen jetzt die
Jungs aus unserer Schule durch», entschied ich ener10
gisch, «ich wähle einen aus, und morgen suchen wir
ihn auf dem Schulhof, und ich verliebe mich in ihn.»
«Okay. Aber dann lass uns die aus der Achten anschauen.»
Ich war einverstanden. Außerdem war da einer, der
ganz nett aussah. Obwohl das eigentlich egal war – war
ja nur ein Experiment.
Ich tippte auf den Jungen auf dem Schulfoto, Liz betrachtete ihn und meinte: «Gute Wahl! In den sind die
Mädchen reihenweise verknallt.»
«Sehr gut, dann kann es ja nicht so schwer sein, sich
in ihn zu verlieben.»
Liz nickte. «Wenn du es je schaffst, dann bei ihm!»
Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: «Wenn es
mit ihm nicht klappt, dann kannst du die Sache ein für
alle Mal aufgeben.»
«Okay, abgemacht. Der oder keiner! Weißt du, wie
er heißt?»
«Rob.»
«Cooler Name. Das ist schon mal wichtig. Stell dir
vor, ich müsste sagen: ‹Klaus-Dieter holt mich heute
Mittag ab.› Oder: ‹Karl-Friedrich und ich gehen heute
ins Kino.›»
Liz lachte. «Also eigentlich heißt er Robert, aber er
wird Rob genannt. Klingt besser, oder?»
Ich nickte. «Allerdings!»
Liz klappte das Jahrbuch unserer Schule zu. «Hoffentlich funktioniert’s.»
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«Das wird schon, keine Sorge», beruhigte ich sie.
«Ist Konny in seinem Zimmer?», fragte sie unvermittelt – und völlig unnötig, denn von nebenan dröhnte die Musik so laut durch meine Zimmerwand, dass
sich die Tapeten im Rhythmus hoben und senkten.
«Ja», nickte ich und verdrehte die Augen.
«Gut. Er hat nämlich noch mein Matheheft, ich will
es zurück.»
«Was macht er mit deinem Matheheft?»
«Er hat behauptet, er müsse was nachtragen»,
winkte Liz ab.
Liz wollte gerade aufstehen, da wurde die Tür zu
meinem Zimmer aufgerissen.
«Hey, Streberin», grölte Konny, «erklär mir doch
mal kurz . . .» Er brach ab, als er Liz sah.
«Liz!», rief er und setzte sein James-Bond-Gesicht
auf. Das war seine neueste Masche. «Du Schönste aller
Frauen, was sehen meine entzückten Augen!»
Ich machte eine Geste, als müsste ich mich gleich
übergeben.
Konny brachte das nicht aus dem Konzept. «Eigentlich wollte ich meine Schwester, das Superhirn, was Mathematisches fragen. Aber wenn ich dich sehe, vergesse
ich jedes Matheproblem. Kommst du mit zu mir?», flirtete er Liz an.
«War gerade auf dem Weg», meinte Liz kurz angebunden. «Ich hab nämlich auch ein kleines Matheproblem . . .»
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«Immer doch, jederzeit, frag mich», strahlte Konny.
«Klar, mein Bruder und Mathematik – zwei fremde
Galaxien treffen aufeinander!», warf ich ein.
Konny ignorierte mich, zog Liz vom Stuhl hoch und
schaute ihr tief in die Augen.
Liz schüttelte den Kopf: «Ich will bloß mein Matheheft zurück, Konny.»
«Jeder Wunsch von dir ist mir Befehl», meinte
Konny völlig unbeeindruckt.
Liz zappelte ungeduldig: «Mein Matheheft!»
«Deine Augen funkeln wie Sterne am Nachthimmel.» Konny war nicht zu bremsen.
Liz wandte sich genervt von ihm ab und ging zur
Tür. «Dann hol ich es mir selbst.»
Konny sprintete hinter ihr her. «Du hast Recht. Lass
uns gehen, Sanny erträgt es nicht, so viel Glück und
Harmonie zu sehen, davon kriegt sie Pickel.»
«Raus hier!» Ich warf ihm ein Kissen an den Kopf.
Liz verdrehte die Augen. «Der ist wirklich nicht zu
ertragen.»
Liz hatte null Interesse an meinem Bruder, aber er
übersah diese Tatsache großzügig.
Als die beiden draußen waren, schwor ich mir: So
wie Konny würde ich mich nie im Leben benehmen,
nicht einmal, wenn ich verliebt wäre. Ich würde das mit
kühlem Kopf und Würde angehen.
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Ich grübelte. Würde es mir je gelingen, mich richtig zu
verlieben? Hatte ich für mein Vorhaben den richtigen
Jungen ausgewählt?
Ich konnte nicht bis morgen auf eine Antwort warten. Pixi und Dixi mussten mir helfen. Die beiden sind
meine Orakelfische.
Ich hatte Pixi und Dixi schon seit vielen Jahren, und
unsere Wahrsagemethode folgte einem ausgeklügelten
System: Ich stellte ihnen eine Frage und streute dabei
Futter ins Wasser. Wenn sie fraßen, hieß es ‹Ja›, wenn
nicht, war das ein eindeutiges ‹Nein›.
Die Ja-nein-Futtermethode war die einfachste
Form der Prophezeiung. Und sie ging blitzschnell.
Nachteil war, dass es nur die Antworten ‹Ja› oder
‹Nein› gab.
Bei komplizierteren Sachverhalten musste man die
Objektmethode anwenden. Dazu hielt ich einen
Gegenstand ins Aquarium, der das fragliche Objekt
darstellte. Dann musste man beobachten, was geschah.
Und das konnte dauern. Deshalb war diese Methode
nicht für Notfälle geeignet.
Ich ging zu meinem Aquarium, nahm etwas Fischfutter und streute es ins Wasser. Die entscheidende
Frage war: «Hab ich mit Rob die richtige Wahl getroffen?» Pixi und Dixi waren nirgends zu sehen. Ich
klopfte an die Scheibe. «Hey, ihr Schlafmützen, ich hab
euch was gefragt!»
Pixi und Dixi sausten erschreckt nach oben.
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«Hey, was ist, hier ist Futter!» Ich steckte den Finger
ins Wasser und rührte ein wenig herum.
Pixi und Dixi verzogen sich wieder. Wahrscheinlich
war es kein guter Moment, eine Frage zu stellen. Ich
musste es später noch einmal versuchen.