depressionen erkennen und behandeln

VIKTOR FRANKL ZENTRUM WIEN | Zentrum für Sinn- und Existenzfragen
HANDOUT zu
„DEPRESSIONEN ERKENNEN UND BEHANDELN“
Vortrag von O.Univ.Prof. Dr.h.c.mult. Dr.med. Siegfried Kasper
Einleitung
Um die Seele eines psychisch kranken Menschen zu verstehen, ist es wichtig, dass man sich
ein Leitbild vor Augen hält, dass im Englischen so griffig ausgedrückt werden kann durch: „mind
meets brain”, übersetzt „die Seele trifft sich im Gehirn”. Dies bedeutet, dass seelische
Vorgänge, die man dem nicht-stoffgebundenen “Bereich” zuordnet unter einem
neurobiologischem Aspekt durch Vorgänge im Gehirn charakterisiert sind. Auch wenn sich die
neue psychiatrische Forschung vorwiegend durch Ergebnisse der „Neuroscience” darstellt,
sollte nicht auf die Kenntnisse der Psychiatrie und Psychotherapie, die sich insbesondere auch
in Wien in den vergangenen 100 Jahren weltweit führend aufgebaut haben, vergessen werden.
Anders gesehen dürfen wir jedoch nicht bei der Kenntnis der Psychiatrie und Psychotherapie
unter Missachtung der Ergebnisse der Neurowissenschaften zurückbleiben. Mit dem
vorliegenden Beitrag soll auf das Zusammenspiel dieser Aspekte am Beispiel depressiver
Erkrankungen näher eingegangen werden.
Was ist eine Depression?
Der Begriff Depression ist so in unseren Sprachgebrauch übergegangen, dass wir ihn allzu
beliebig verwenden. Als depressiv wird oft jemand bezeichnet, der an niedergedrückter
Stimmung leidet. Der Übergang zwischen „normaler“ Niedergeschlagenheit, die jeder von Zeit
zu Zeit hat, und einer echten Depression ist zwar fließend. Tatsächlich handelt es sich aber bei
der Depression um eine ernst zu nehmende Erkrankung, deren wichtigstes Merkmal die
seelische Niedergeschlagenheit ist. Es muss allerdings kein äußerer auslösender Grund für das
Seelentief vorhanden sein – genau dieser Umstand macht es für das Umfeld des Betroffenen
auch so schwer, dessen inneres Leiden nachvollziehen zu können. Fälschlicherweise wird
Depression oft als Persönlichkeitszug gesehen, den Betroffene eben hinnehmen müssen. Zum
Glück sind wir jedoch heute in der Lage, Depressionen sehr gut behandeln zu können.
Die Diagnose einer Depression wird heute weltweit anhand einheitlicher, nachvollziehbarer, und
in Manualen nachlesbarer Kriterien gestellt, wobei sowohl der depressiven Verstimmung, als
auch der Antriebsstörung und der Hoffnungslosigkeit eine große Bedeutung zugemessen wird
(Kasper et al., 2003). Wichtig ist jedoch dabei, dass dieser Zustand mindestens 14 Tage
andauert, was bei den meisten depressiv Erkrankten, bevor sie einen Arzt aufsuchen, einen
Zeitraum von mindestens ein paar Monaten bedeutet.
Worin unterscheiden sich Verstimmung und Depression?
Jeder von uns hat schon Phasen der Niedergeschlagenheit, Verzagtheit, Freudlosigkeit oder
inneren Erschöpfung erlebt. Verstimmung und Trauer sind ganz normale Reaktionen der
Psyche auf gewisse Ereignisse: eine private Enttäuschung, einen beruflichen Misserfolg, eine
Trennung oder den Verlust eines geliebten Menschen.
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Das Stimmungstief ist meist eng mit einem belastenden Ereignis verbunden; sobald der
Schmerz oder die Belastung nachlässt, hellt sich die Stimmung nach einer gewissen Zeit wieder
auf. Diese vorübergehenden Stimmungstiefs, die umgangssprachlich oft mit den Begriffen
„deprimierend“, „depressiv“ oder „Depression“ versehen werden, müssen von der Depression
im medizinischen Sinn unterschieden werden.
Obwohl der Übergang von einer normalen Verstimmung zu einer krankhaften depressiven
Episode von den meisten Menschen als fließend empfunden wird, kann der erfahrene Arzt eine
klare Unterscheidung treffen. Depressionen im medizinischen Sinn stellen eine ernst zu
nehmende Erkrankung dar, die einer Behandlung bedarf – und die sich meist auch gut
behandeln lässt.
Wie macht sich eine Depression bemerkbar?
Im Vordergrund stehen die gedrückte Stimmungslage, die Interessen- und Freudlosigkeit sowie
ein Mangel an Antrieb. Häufig ziehen sich diese psychischen Symptome bei Depressiven über
einen sehr langen Zeitraum hin. Charakteristisch ist auch, dass die Niedergeschlagenheit oft
„ohne Grund“ auftritt, und an Depression Erkrankte sich nicht aufheitern lassen. Depressive
berichten über Gefühle der Angst und Hoffnungslosigkeit, manche auch über das ständige
Bedürfnis, zu weinen. Vielfach wird ein Zustand der Gefühllosigkeit bzw. der inneren Leere
beschrieben. Bei manchen Betroffenen kann es hingeben zu ängstlicher Anspannung und
Unruhe kommen.
Menschen, die an einer Depression leiden, glauben oft, in irgendeiner Weise selbst für die
Ursache der Erkrankung verantwortlich zu sein – die Krankheit wird demnach als Folge
persönlichen Versagens angesehen. Zudem werden die Betroffenen häufig von starken
Schuldgefühlen geplagt und leiden an mangelndem Selbstwertgefühl. Auch machen sich
vielfach Konzentrationsstörungen bemerkbar. Betroffene klagen etwa über Gedächtnislücken
und nachlassendes Denkvermögen. Sprechen und Denken können sich verlangsamt zeigen,
inhaltlich können wiederkehrende Gedanken über Tod und Suizid im Vordergrund stehen. Bei
manchen Erkrankten kommt es zu einem Schuld-, Verarmungs- oder Krankheitswahn.
Charakteristisch für eine Depression sind Veränderungen des Biorhythmus: Es kommt zu
Schlafstörungen, typischerweise in Form von frühzeitigen Erwachen, das von Grübeln gefolgt
ist. Auch die Stimmung ist tageszeitlichen Schwankungen unterworfen. So sind depressive
Symptome zu Tagesbeginn am stärksten ausgeprägt, gegen Nachmittag kommt es meist zu
einer Aufhellung.
Darüber hinaus kann es zu einer Minderung des Appetits und der sexuellen Lust kommen. Aber
auch körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Herzklopfen, Druck auf der
Brust, Verstopfung oder Völlegefühl können durch eine Depression ausgelöst oder verstärkt
werden.
Die genaue Erkenntnis depressiver Erkrankungen ist insofern von Bedeutung, da
epidemiologische Studien gezeigt haben, dass die Depression in Zukunft die am häufigsten
gestellte Diagnose, nicht nur in der Psychiatrie, sein wird, sondern auch die daraus
resultierenden psychosozialen Behinderungen vergleichbar mit kardiovaskulären Erkrankungen
sein werden. Weltweit sind depressive Erkrankungen die häufigste Ursache für
Erwerbsunfähigkeit und weiterhin auch die Hauptursache für Suizide. Untersuchungen in
Hausarztpraxen haben z.B. ergeben, dass 12-15% der Patienten, die eine Hausarztpraxis
aufsuchen, an einer Depression unterschiedlichen Schweregrades erkrankt sind.
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Leider wird nur ein geringer Prozentsatz der Patienten, die an einer depressiven Erkrankung
leiden mit einer adäquaten und zeitgerechten antidepressiven Therapie behandelt.
Depression ist eine Erkrankung, die mit seelischer Niedergeschlagenheit sowie
körperlichen und psychischen Störungen einhergeht.
Merkmale einer Depression:
•
Antriebslosigkeit
•
Innere Unruhe und Schlafstörungen
•
Fehlende Lebensfreude
•
Innere Leere und Traurigkeit
•
Vermindertes Selbstwertgefühl
•
Schwindendes Interesse
•
Konzentrationsschwäche
•
Unentschlossenheit
•
Schuldgefühle, Selbstanklagen
•
Suizidgedanken
Mit modernen Antidepressiva sind Depressionen sehr gut behandelbar.
Therapie der Depression - Wie werden Depressionen behandelt?
In der Therapie der Depression steht ein breites Spektrum an Medikamenten und
Psychotherapien zur Verfügung (Bauer et al., 2007; Kasper et al., 2002; Kasper et al., 2007).
Die neueren Antidepressiva, die so genannten SSRI (Selektive Serotonin-ReuptakeInhibitoren), werden heute in der Therapie bevorzugt eingesetzt und wirken sehr gut. Der bei
Depressionen im Gehirn stark verminderte Nervenbotenstoff Serotonin wird durch die
Medikamente wieder auf ein normales Niveau gebracht. Die Kombination der medikamentösen
Behandlung mit Antidepressiva und Psychotherapie hat sich als besonders wirksam erwiesen.
Auf die verschiedenen Psychotherapieformen wird wegen deren Komplexität in dieser Arbeit
nicht eingegangen und auf die verfügbare Literatur verwiesen (Kasper et al., 2002)
Schlussbemerkung
Depressionen zählen gemeinsam mit kardiovaskulären Erkrankungen zu den häufigsten
Erkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation weist darauf hin, dass aufgrund von
epidemiologischen Studien die Depression in Zukunft die am häufigsten gestellte Diagnose sein
wird. Depressive Erkrankungen stellen daher ein großes Gesundheitsproblem der Gesellschaft
dar und epidemiologische Untersuchungen haben ergeben, dass die Zahl der depressiv
Erkrankten in Zukunft zunehmen wird. Die Veränderung der Lebensumstände und dabei der
Zerfall der Nuklearfamilien und die zunehmende „Informationsvergiftung“, d.h. zunehmende, auf
uns einströmende Anforderungen, die schneller, effizienter und auch „entmenschlichter“ zu
gestalten sind, werden dafür verantwortlich gemacht. Erfreulicherweise wurden in den
vergangenen 20 Jahren große Fortschritte sowohl in der Diagnostik als auch der Therapie und
dem Verständnis depressiver Erkrankungen gemacht.
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Die Entwicklung der modernen Psychopharmaka, die eine effektive Therapie
nebenwirkungsarm ermöglichen zusammen mit spezifischen Psychotherapieformen einen
praxisnahen Umgang. Es würde mich freuen, wenn diese Darstellung der Depression den
Ausspruch von Nestroy: „Was nicht sein darf, ist nicht“, zumindest relativieren würde und
dadurch den seelisch Kranken, die an einer Depression leiden, einen medizinischen Zugang –
wie er z.B. bei kardiovaskulären Erkrankungen bereits besteht – bewirken könnte.
Psychiatrisches und psychotherapeutisches Credo von Viktor E. Frankl
Psychiatrisches Credo
„Die geistige Person ist störbar, aber nicht zerstörbar, auch wenn wir mit ihr nicht kommunizieren
können. Nie kann der ganze Mensch zerbrechen. Das Eigentliche - die Geistbegabung des
Menschen - kann nicht erkranken, nicht zerbrechen. Sie ist immer heil und intakt.“
„Wenn es nicht so wäre, dass die geistige Person auch noch hinter der Verbarrikadierung durch
die Psychose vorhanden wäre, wenn auch noch so sehr zu expressiver und instrumentaler
Ohnmacht verurteilt, wenn es also nicht so wäre, dass die geistige Person vom
Psychophysischen her wohl störbar ist aber nicht zerstörbar, dann stünde es nicht dafür,
Psychiater zu sein. Denn wenn die geistige Person nicht ausgespart bliebe von all dem
psychophysischen Verfall, wenn sie vielmehr selber dasjenige wäre, was da affiziert ist, für wen
sollten wir denn dann noch Arzt sein? Seelenarzt zu sein, kann uns nur dann dafürstehen,
solange wir es sein dürfen nicht für den psycho- physischen Organismus, sondern für die geistige
Person, die gleichsam darauf wartet, dass sie vom psychophysischen Handikap durch uns befreit
werde.“ (Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch)
Psychotherapeutisches Credo
„Nun aber muss ich noch mein zweites Credo sprechen: Gäbe es nicht den fakultativen
psychonoetischen Antagonismus, gäbe es somit nicht eine Möglichkeit, die geistige Person der
Psychose als psychophysischer Krankheit gegenübertreten zu lassen, so wären wir niemals
imstande, eine Psychotherapie bei Psychosen durchzuführen; denn nur soweit wir mit jenem
fakultativen Antagonismus rechnen dürfen, nur soweit können wir auch auf Erfolg rechnen. Mit
anderen Worten: überhaupt nur dann, wenn das erste Credo auf Wahrheit beruht, steht es dafür,
Seelenarzt zu sein, und überhaupt nur dann, wenn das zweite Credo Gültigkeit besitzt, bin ich
imstande, Seelenarzt zu sein.
Die geistige Person befindet sich wesentlich jenseits aller psychophysischen Morbidität und
Mortalität; wäre dem nicht so, so möchte ich nicht Psychiater sein: es wäre sinnlos. Und die
geistige Person ist wesentlich dasjenige, was sich aller psychophysischen Morbidität
entgegenzustemmen vermag, und wäre dem nicht so, so könnte ich nicht Psychiater sein: es
wäre nutzlos.“ (Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch)
O.Univ.Prof. Dr.h.c.mult. Dr.med. Siegfried Kasper,
Ordinarius für Psychiatrie und Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Medizinischen Universität Wien. Er ist Träger des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die
Republik Österreich sowie zahlreicher weiterer nationaler und internationaler Auszeichnungen. U.a. Autor
von mehr als 250 Büchern bzw. Buchbeiträgen sowie einschlägigen Lehr- bzw. Handbüchern in
deutscher und englischer Sprache in verschiedenen Bereichen der Psychiatrie.
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