Letzte Leerung Von Peter Grasemann Stephan stand da

Letzte Leerung
Von Peter Grasemann
Stephan stand da und starrte ins Leere. Seine rechte Hand hob sich zur
linken Brusttasche der Jacke. Zeige- und Mittelfinger griffen routiniert in
den Spalt, um die Marlboro-Packung herauszufischen. Doch von der
Schachtel keine Spur. Nach einem kurzen Verharren verschwand die
ganze Hand in der Tasche. Nichts, nicht einmal das Feuerzeug.
In der rechten auch nichts. Zumindest keine Zigaretten. Taschentücher.
Es hätte ihn auch sehr gewundert. Die Zigaretten steckte er immer in die
linke Tasche. Und die Taschentücher in die rechte.
Als er letztes Jahr mit dieser Outdoor-Jacke nach Hause gekommen war
und sie seiner Frau präsentiert hatte – winddicht, wasserfest,
atmungsaktiv und äußerst strapazierfähig – hatte Eva seine Präsentation
amüsiert verfolgt. Seit ihrer gemeinsamen Studienzeit hatte er nichts mehr
unternommen, was eine solch robuste und vor allem viel zu teure Jacke
gerechtfertigt hätte. Ins Büro fuhr er immer mit dem Auto, in den Urlaub
fuhren sie immer in die Sonne. Aber das war ihm bei dieser Jacke völlig
egal gewesen, genauso wie der Preis.
Wenn er mittags keine Lust auf die Kantine und die immer gleichen
Mittagsplaudereien hatte, dann holte er sich eine Bratwurst am Kiosk
gegenüber und schlenderte durch die Straßen. Eigentlich gab es im
Nordviertel außer anderen Bürogebäuden und zahlreichen Parkplätzen
nicht viel zu sehen. Aber in einer Seitenstraße hatte er durch Zufall einen
Outdoorladen entdeckt. Dort vertrieb er sich ab und zu die Mittagpause
damit, die Reihen und Regale zu durchstöbern, fasziniert von den vielen
Dingen, die im Alltag keinen Wert hatten, Achterhaken, Sägeketten,
Moskitonetze.
Oft unterhielt er sich dann auch mit dem Besitzer, Gunnar, einem
geselligen Mittvierziger mit wettergegerbtem Gesicht, der unzählige
Anekdoten von seinen verschiedenen Reisen auf Lager hatte. Da dieser
seinen Hauptumsatz mit dem Internetverkauf machte, war er außerdem
über jeden echten Kunden in seinem Laden hoch erfreut.
Es war ein Impulskauf gewesen. Im vergangenen Herbst hatte Stephan
die Jacke am Ständer für die Neuheiten hängen sehen und sie sofort
begeistert angezogen – er brauchte ohnehin eine neue Übergangsjacke.
Gunnar hatte ihm sogar einen ordentlichen Rabatt gegeben. Bei
Gelegenheit müsste er mal wieder dort vorbeischauen.
Nach einigen Frotzeleien hatte sogar Eva zugeben müssen, dass die
Jacke ihm gut stand. Außerdem waren die zahlreichen Taschen innen und
außen äußerst praktisch. Stephan mochte es, alles Mögliche, ohne groß
nachzudenken, in seine Jacke stopfen zu können und alles Notwendige
jederzeit griffbereit zu haben. Seinen Handtaschenersatz hatte Eva sie oft
genannt, wenn er wieder einmal darin herumwühlte.
Wo waren die verdammten Zigaretten?
Systematisch arbeitete Stephan sich nun durch die vielen Taschen und
Fächer, öffnete innen und außen Reißverschlüsse, Klettverschlüsse und
Druckknöpfe. Zwei oder drei verknickte Werbeflyer für Parteien oder
Partys kamen zum Vorschein. Letzten Samstag hatte er mit Eva und Julia
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einen Bummel durch die völlig überfüllte Einkaufsmeile gemacht. Alle paar
Meter hatten sich ihnen dabei lustlose Leute in den Weg gestellt und ihnen
Zettel in die Hand gedrückt.
Julia fand es eigentlich höchst uncool, zusammen mit ihren Eltern auf
Shoppingtour zu gehen, doch da er an diesem Tag alles bezahlte, hatte
sich seine Tochter mit dem üblichen Gemaule zurückgehalten, genauso
wie er mit Kommentaren zu ihrer Kleiderwahl. Mittags waren sie mit
zahlreichen Tüten beladen noch bei ihrem Lieblingsitaliener Essen
gewesen. Eva hatte ganz gegen ihre Gewohnheiten auch einen
Lambrusco bestellt und sie hatten viel geredet und gelacht. Ein schöner
Tag.
In einer anderen Tasche fand er das Fläschchen mit Enteisungsspray,
jetzt im Frühjahr wohl nicht mehr nötig. Die Karte eines Lieferdienstes, ein
Kugelschreiber, ein Streichholzbriefchen mit dem Logo seiner
Stammkneipe. Eine halbe Packung Kaugummi.
Er stopfte alles wahllos zurück.
Dann klopfte er seine Hosentaschen ab, obwohl er die Zigaretten dort nie
verstaute, genauso wenig wie sein Portemonnaie – zu unbequem beim
Sitzen.
Zwei körperwarme Salbeibonbons, sowie das Papier von drei weiteren. In
den letzten Tagen hatte er immer wieder so ein unangenehmes Kratzen
im Hals gehabt. Stephan stopfte auch das in eine Jackentasche. Echt
erstaunlich, wie viel man da hineinbekam.
Und dann war da noch sein Haustürschlüssel.
Die Zigaretten hatte er wohl vorhin am gewohnten Platz im Arbeitszimmer,
rechts neben dem PC-Monitor, auf seinem Schreibtisch liegen lassen,
direkt neben dem Mobiltelefon, der Geldbörse und seinem Autoschlüssel.
„Ich bringe nur schnell die Post zum Kasten!“ hatte er vom Flur aus Eva in
der Küche zugerufen, während er sich gerade die Jacke zuknöpfte.
Langsam setzte sich draußen zwar der Frühling durch, doch abends
konnte es noch kühl werden.
Von oben aus Julias Zimmer war das unmelodische Gewummer zu hören
gewesen, das seine Tochter für Musik hielt. Statt einer Antwort war aus
der Küche nur das geschäftige Klackern des Hackmessers auf dem
Holzbrett gekommen. Es war Abendbrotzeit, Eva hatte ihren einmaligen
Chicoréesalat gemacht. Stephan hatte noch einen Augenblick gewartet
und dann die Tür hinter sich zugezogen.
Draußen war es tatsächlich etwas kälter, doch ganz angenehm. Er war mit
vier Schritten durch den Vorgarten mit dem weißen Staketenzaun
gegangen. Das Tor hatte nicht richtig hinter ihm schließen wollen. Wieder
und wieder war es aufgesprungen. Immer dann, wenn man es eilig hatte!
Verärgert hatte er solange an dem widerspenstigen Riegel herumgedrückt,
bis die Pforte endlich zu geblieben war. Das Schloss müsste er bei
Gelegenheit auswechseln, hatte er noch gedacht, dann war er schnell
weitergegangen. Montags bis freitags war die letzte Leerung des
Briefkastens um 17.45 Uhr. Er hatte nur noch wenige Minuten Zeit gehabt.
Da er keine Zigaretten hatte spielte er mit dem Haustürschlüssel herum,
seine Hände brauchten Beschäftigung. Die Glocke der nahen St.Sylvester-Kirche begann gerade zu schlagen. Einmal, zweimal, dreimal,
viermal, fünfmal, sechsmal.
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Heute hatte er die Post endlich loswerden wollen. Seit Tagen hatte er sich
damit herumgeärgert und den Stapel auf seinem Schreibtisch von links
nach rechts verschoben. Versicherungskram, Rechnungen, die Zusage zu
einer Hochzeitsfeier – Jörg, ein alter Schulfreund von ihm, hatte mit Lisa
auch die Richtige gefunden – und die Kündigung eines Probeabos für eine
Zeitschrift, die fristgerecht abgeschickt werden musste. Ein weiteres
halbes Jahr dafür zu zahlen, dass er sie ungelesen in den Papiermüll warf,
das musste nicht sein.
Also hatte er sich heute nach der Arbeit direkt an den Schreibtisch gesetzt,
das Abo gekündigt und auch alles andere ausgefüllt, beantwortet,
unterschrieben und frankiert. Befriedigt hatte er seinen aufgeräumten
Schreibtisch angeguckt und war dann nach unten gegangen.
Der letzte Schlag der Kirchenglocke verklang. Stephan klopfte noch
einmal auf die linke Brusttasche, nur um sicher zu gehen. Sie war und
blieb leer.
War wahrscheinlich auch besser so. Eva hatte immer wieder versucht ihm
das Rauchen abzugewöhnen.
Eine leichte Abendbrise wehte ihm durchs Gesicht und trug die Andeutung
von Frühling mit sich. Die Sonne verschwand langsam hinter den Tannen
der Krombergs. Aus den anderen Häusern in der Nachbarschaft konnte er
die typischen Abendgeräusche hören, Stimmengemurmel und
Geschirrgeklapper. Irgendwo bellte ein Hund im Garten und in einem
anderen spielten Kinder mit einem Ball.
Beim Abendessen rutschte seine Tochter für gewöhnlich unruhig auf ihrem
Stuhl hin- und her. Ihr Freund verbrachte gerade ein Auslandsjahr in den
USA. Die beiden telefonierten fast täglich. Aber erst abends. Das hatte er
nach der letzten Telefonrechnung durchgesetzt.
Der Briefkasten stand nur zwei Straßen entfernt. Direkt neben dem kleinen
Bäckerladen, wo er Samstagsmorgens Brötchen und den neuesten
Klatsch und Tratsch aus der Siedlung fürs Frühstück holte.
Nach dem Abendessen hatte Stephan eigentlich noch ein paar
abschließende Dinge für die Präsentation im Büro morgen vorbereiten
wollen, wäre vielleicht noch eine kurze Runde Joggen gegangen, um
danach mit Eva den restlichen Abend vor dem Fernseher zu verbringen.
Er hatte es gerade noch rechtzeitig zum Briefkasten geschafft. Die Post
hatte er just in dem Moment eingesteckt, als der gelbe Wagen pünktlich
zur Abholung um die Ecke gebogen kam.
Im Weggehen hatte er dem Postboten noch dabei zugesehen wie er den
Kasten aufgeschlossen, mit geübtem Griff den Postsack herausgezogen
und den Inhalt in einen großen Kübel geschüttet hatte. Genauso schnell,
wie er gekommen war, war der Wagen dann auch wieder verschwunden.
Langsam war Stephan weitergeschlendert. Bis zum Abendessen hatte er
noch ein paar Minuten Zeit. Gegessen wurde immer um Sechs. Also hatte
er nicht den direkten Weg genommen, sondern war ein Stückchen weiter
Richtung Hauptstraße gegangen. Dort hatte er Bert und Ulrike getroffen,
gute Freunde von ihnen, die gerade ihren Labrador Gassi führten.
Sie hatten über dies und das geplaudert und schon einmal unverbindlich
einen Spieleabend fürs kommende Wochenende vereinbart, der Hund
hatte unruhig an der Leine gezogen. Ein Blick auf die Uhr hatte auch
Stephan gezeigt, dass er weitermusste.
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Statt die Runde zu vollende war er umgedreht und auf dem kürzesten
Weg nach Hause gegangen. Sein Magen hatte zu knurren begonnen.
Vielleicht würde er doch mehr als nur den Salat essen, die Präsentation
fertigstellen, auf das Joggen ausnahmsweise verzichten und sich nachher
mit Eva auf der Couch ein Feierabendbier teilen, hatte er noch überlegt,
während er in den Hölderlinweg eingebogen war. Dann würde er halt
übermorgen eine längere Runde drehen.
Jetzt hatte er keinen Hunger mehr. Stattdessen stand er da. Immer noch
so starr wie vor einer Minute, als er hier angekommen war. Auf den glatt
gepflasterten Steinen des Gehwegs. Direkt vor dem Hölderlingweg 7,
seinem Grundstück, dort, wo die kaputte Pforte gewesen war.
Links davon stand die Nummer 5, das rot geklinkerte Haus der Familie
Meier, rechts die Nummer 9, das der Familie Klartow mit den hässlichen
blauen Dachziegeln. Alles, wie es sein sollte.
Aber da, wo noch vor einer Viertelstunde seine Pforte nicht hatte
schließen wollen, war nun nichts mehr. Sein Vorgarten, den Eva mit soviel
Liebe angelegt hatte, verschwunden.
Seine Garage mit dem Kombi und den Mülltonnen - weg. Das Haus mit
den zwei Etagen und dem Dachboden, den acht Zimmern, der großen
Küche, den zwei Bädern und Keller und dem Garten mit der großen
Terrasse – weg. Seine Familie, seine Frau und seine Tochter, die am
Abendessentisch auf ihn warten müssten – weg.
Stattdessen tat sich eine Grube vor ihm. Er starrte wieder hinab in die
Tiefe – die schwarze Erde starrte zurück.
Direkt vor seinen Füßen ging es zweieinhalb Meter senkrecht in die Tiefe.
Akkurat, wie mit einem riesigen scharfen Spaten abgestochen war alles
verschwunden, was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte. Geblieben
war ein 584 Quadratmeter großes rechteckiges Loch.
Er hatte freien Blick bis in den Garten der Engberts. Sie hatte offenbar in
der vergangenen Woche ihre Buchsbaumhecke zurückgestutzt. Das hatte
er gar nicht mitbekommen.
Er wedelte gedankenverloren mit dem Haustürschlüssel herum, nahm ihn
mal in die eine, mal in die andere Hand.
Stephan blickte sich um. Überall sonst in der Straße war es ein
gewöhnlicher Mittwochabend. Aus dem Haus der Meiers konnte er die
Titelmelodie einer Seifenoper dringen hören. Rechts, bei Klartows gab es
mal wieder Pommes Frites, das konnte er riechen.
Er schaute wieder in das Nichts, das vor einer Viertelstunde noch sein
Zuhause war.
Der Spieleabend mit Bert und Ulrike musste wohl ausfallen.
Direkt vor seinen Füßen löste sich ein Klumpen Erde aus der Wand. Mit
einem matschigen Geräusch schlug er auf dem Grund auf.
Stephan schaute hinauf in den Himmel. Falls es heute noch regnen sollte,
dann würde das Loch binnen Minuten ein einziges Schlammfeld werden.
Er überlegte er, was er nun tun müsste.
Er blickte auf den Haustürschlüssel in seiner Hand.
Er überlegte, was er tun sollte.
Sein Daumen fuhr prüfend über die Zacken des Schlüsselbartes.
Metallisch, zackig, auf, ab, auf, ab, auf, ab. Ende.
Er überlegte, was er tun könnte.
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Er schaute noch einmal auf den Schlüssel in seiner Hand, der keine
Haustür mehr öffnen würde.
Dann warf er ihn in einem sanften Bogen in die Mitte der Grube.
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