Gina Ruck-Pauquèt: Der kleine Zoowärter und das Äffchen Im Zoo haben alle Tiere ihr eigenes Gehege. Und damit sie in ihrer Wohnung nicht gestört werden, ist sie mit Gitterstäben eingezäunt. Immer wenn der kleine Zoowärter ein bisschen Zeit übrig hat, putzt er die Gitterstäbe, bis sie blitzen. »Jemand war in meinem Gehege«, beschwerte sich da der Schakal eines Tages. »Er hat meinen 5 schönen, alten Knochen ausgegraben! »Das ist nicht möglich«, sagte der kleine Zoowärter. »Ich habe die Tür fest abgeschlossen.« Aber es dauerte nicht lange, da beklagte sich auch der Löwe. »Jemand war bei mir drin«, brummte er. »Er hat mich an der Mähne gezupft, während ich schlief.« »Hm«, machte der kleine Zoowärter, und er konnte es nicht glauben. 10 »Hilfe!« schrie in diesem Augenblick das Zebra. »Hier raschelt einer im Heu!« Und als der kleine Zoowärter nachschaute, fand er ein winziges Äffchen. »Wie kommst du hierher?« fragte er verwundert. »Durch die Gitterstäbe«, sagte das Äffchen. »Ich bin so dünn, dass ich überall durchkomme.« Da brachte der kleine Zoowärter das Äffchen wieder nach Hause. »Hier bleibst du jetzt«, befahl er. 15 Und das Äffchen sagte: »Ja.« Aber es dachte nicht daran, sein Wort zu halten. Schon am nächsten Tag schlüpfte es wieder hinaus. Es hängte sich dem Elefanten an den Schwanz, bewarf das Nilpferd mit Steinen und beleidigte den Papagei. »Sperr das Äffchen ein!« verlangten die Tiere vom kleinen Zoowärter. 20 Der kleine Zoowärter aber lächelte nur, und er brachte dem Äffchen eine dreifache Portion Nüsse und Obst. »Guten Appetit!« sagte er. Und das Äffchen fraß alles auf. Das konnten die Tiere nicht verstehen. Aber weil sie den kleinen Zoowärter sehr liebhatten, schwiegen sie. 25 Das Äffchen schlüpfte aber alle Tage durch die Gitterstäbe hinaus. Es scheuchte die Enten, nahm dem Seehund seinen Ball fort, und dem alten Flamingo riß es die allerschönste aus. »Leg das Äffchen an die Kette!« forderten die Tiere. Doch der kleine Zoowärter lächelte bloß, und er fütterte das Äffchen mit den feinsten Früchten. So kam es, dass das Äffchen immer dicker wurde, und immer frecher wurde es auch. Es sprang dem Wildpferd 30 auf den Rücken, und einmal kletterte es sogar der Giraffe an ihrem Giraffenhals empor. Da wurden die Tiere böse, und sogar der Löwe brüllte den ganzen Tag. Dabei ist der Löwe eigentlich ziemlich faul. »Pst«, lächelte der kleine Zoowärter, und er legte den Finger an die Lippen. »Wartet ab.« Und er fütterte das übermütige Äffchen weiter mit allerhand Leckereien. Und mit der Zeit wurde das Äffchen so dick, dass es nicht mehr durch die Gitterstäbe schlüpfen konnte. So blieb es brav zu Hause, 35 und am Ende ist noch ein anständiger Affe aus ihm geworden. Die Tiere aber bewunderten den kleinen Zoowärter sehr wegen seiner Klugheit, und er war ordentlich stolz. Textlinguistik-Materialien 2014 - 14 Julia Franck: Streuselschnecke (2005) Der Anruf kam, als ich vierzehn war. Ich wohnte seit einem Jahr nicht mehr bei meiner Mutter und meinen Schwestern, sondern bei Freunden in Berlin. Eine fremde Stimme meldete sich, der Mann nannte seinen Namen, sagte mir, er lebe in Berlin, und fragte, ob ich ihn kennen lernen wolle. Ich 5 zögerte, ich war mir nicht sicher. Zwar hatte ich schon viel über solche Treffen gehört und mir oft vorgestellt, wie so etwas wäre, aber als es soweit war, empfand ich eher Unbehagen. Wir verabredeten uns. Er trug Jeans, Jacke und Hose. Ich hatte mich geschminkt. Er führte mich ins Café Richter am Hindemithplatz und wir gingen ins Kino, ein Film von Rohmer. Unsympathisch war er nicht, eher schüchtern. Er nahm mich mit ins Restaurant und stellte mich seinen Freunden vor. Ein 10 feines, ironisches Lächeln zog er zwischen sich und die anderen Menschen. Ich ahnte, was das Lächeln verriet. Einige Male durfte ich ihn bei seiner Arbeit besuchen. Er schrieb Drehbücher und führte Regie bei Filmen. Ich fragte mich, ob er mir Geld geben würde, wenn wir uns treffen, aber er gab mir keins, und ich traute mich nicht, danach zu fragen. Schlimm war das nicht, schließlich kannte ich ihn kaum, was sollte ich da schon verlangen? Außerdem konnte ich für mich selbst sor- 15 gen, ich ging zur Schule und putzen und arbeitete als Kindermädchen. Bald würde ich alt genug sein, um als Kellnerin zu arbeiten, und vielleicht würde ja auch noch eines Tages etwas Richtiges aus mir. Zwei Jahre später, der Mann und ich waren uns immer noch etwas fremd, sagte er mir, er sei krank. Er starb ein Jahr lang, ich besuchte ihn im Krankenhaus und fragte, was er sich wünsche. Er sagte mir, er habe Angst vor dem Tod und wolle es so schnell wie möglich hinter sich 20 bringen. Er fragte mich, ob ich ihm Morphium besorgen könne. Ich dachte nach, ich hatte einige Freunde, die Drogen nahmen, aber keinen, der sich mit Morphium auskannte. Auch war ich mir nicht sicher, ob die im Krankenhaus herausfinden wollten und würden, woher es kam. Ich vergaß seine Bitte. Manchmal brachte ich ihm Blumen. Er fragte nach dem Morphium, und ich fragte ihn, ob er sich Kuchen wünsche, schließlich wusste ich, wie gerne er Torte aß. Er sagte, die einfachen 25 Dinge seien ihm jetzt die liebsten, er wolle nur Streuselschnecken, nichts sonst. Ich ging nach Hause und buk Streuselschnecken, zwei Bleche voll. Sie waren noch warm, als ich sie ins Krankenhaus brachte. Er sagte, er hätte gerne mit mir gelebt, es zumindest gern versucht, er habe immer gedacht, dafür sei noch Zeit, eines Tages, aber jetzt sei es zu spät. Kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag war er tot. Meine kleine Schwester kam nach Berlin, wir gingen gemeinsam 30 zur Beerdigung. Meine Mutter kam nicht. Ich nehme an, sie war mit anderem beschäftigt, außerdem hatte sie meinen Vater zu wenig gekannt und nicht geliebt. Textlinguistik-Materialien 2014 - 15 Der populäre Irrtum: Frucht der falschen Erkenntnis Einen Adamsapfel gibt es. Aber keine Stelle in der Bibel, die von einem Apfel und Eva erzählt Die landläufige Überzeugung, Eva hätte ihren Partner mit rotbackigem Kernobst verführt, 5 gründet sich vor allem auf Sakralbilder. Sie stellen seit langer Zeit Eva mit einem Apfel dar, zum Beispiel in einem berühmten zweiteiligen Gemälde von Albrecht Dürer aus dem Jahre 1507. In der Bibel jedoch steht nichts von einem Apfel: Bei der Schilderung des Sündenfalls im Paradies (Mose 1.3) ist nur allgemein von einer Frucht die Rede. Allerdings: Zufällig ist die Entscheidung für den Apfel nicht. Denn das lateinische Wort für 10 diese Frucht lautet malum - wie das Adjektiv malum, böse. Der Apfel ist also ein Sinnbild für das Böse. Außerdem lag der Garten Eden, so schildert es das Buch der Bücher, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, im Gebiet des heutigen Irak. Ziemlich genau aus dieser Gegend, aus Armenien und Iran, gelangte auch das Kernobst vor 6000 Jahren bis ins Stammland Israels. 15 Dort wachsen übrigens mittlerweile so viele Äpfel, dass der jüdische Staat die überschüssigen Früchte neuerdings sogar an Syrien, seinen Erzfeind, liefert. http://www.geo.de/GEO/kultur/geschichte/65334.html Textlinguistik-Materialien 2014 - 16 Thomas Hürlimann: Der Filialleiter (1992) Als der Filialleiter des Supermarktes auf dem Fernsehschirm seine Frau erblickte, erschrak er zu Tode. Nein, er täuschte sich nicht – das erste Programm zeigte Maria-Lisa, seine eigene Frau. Im schicken Blauen sass sie in einer grösseren Runde, und gerade jetzt, da der Filialleiter seinen 5 Schock überwunden glaubte, wurde Maria-Lisa von der Moderatorin gefragt, was sie für ihren Ehemann empfinde. «Nichts», sagte Maria-Lisa. «Maria-Lisa!», entfuhr es dem Filialleiter, und mit zittriger Hand suchte er den Unterarm seiner Frau. Wie jeden Abend sassen sie nebeneinander vor dem Fernseher, und beide hatten ihre Füs- 10 se in rote Plastikeimerchen gestellt, in ein lauwarmes Kamillenbad – das stundenlange Stehen im Supermarkt machte ihnen zu schaffen. Die Bildschirm-Maria-Lisa lächelte. Dann erklärte sie, über den Hass, ehrlich gesagt, sei sie schon hinaus. Der Filialleiter hielt immer noch Maria-Lisas Arm. Er schnaufte, krallte seine Finger in ihr Fleisch 15 und stierte in den Kasten. Hier, fand er, war sie flacher als im Leben. Sie hatte ihr Was-darfs-dennsein-Gesicht aufgesetzt und bemerkte leise, aber dezidiert: «Mein Willy ekelt mich an.» Und das in Grossaufnahme! Nun sprach eine blonde Schönheit über die Gefahren der Affektverkümmerung und der Filialleiter, dem es endlich gelang, die Augen vom Apparat zu lösen, versuchte seine Umgebung unauffällig 20 zu überprüfen. Jedes Ding war an seinem Platz. In der Ecke stand der Gummibaum, an der Wand tickte die Kuckucksuhr, und neben ihm sass die Frau, mit der er verheiratet war. Kein Spuk – Wirklichkeit! Maria-Lisa war auf dem Bildschirm, und gleichzeitig griff sie zur Thermosflasche, um in die beiden Plastikeimer heisses Wasser nachzugiessen. Sein Fussbad erfüllte Willy auch an diesem Abend mit Behagen. Dann rief er sich in Erinnerung, 25 was ablief. Ungeheuerlich! Auf dem Schirm wurde das emotionale Defizit eines Ehemanns behandelt, und dieser Ehemann war er selbst, der Filialleiter Willy P.! Er griff zum Glas und hatte Mühe, das Bier zu schlucken. Hinter seinem Rücken war Maria-Lisa zu den Fernsehleuten gegangen. Warum? Willy hatte keine Ahnung. Willy wusste nur das eine: Vor seinen Augen wurde sein Supermarkt zerstört. 30 Maria-Lisa reichte ihm das Frotteetuch, aber der Filialleiter stieg noch nicht aus dem Eimer. Er hielt das Tuch in der Hand, und so stand er nun, nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet, minutenlang im Kamillenbad – ein totes Paar Füsse, im Supermarkt plattgelatscht. «Das Wasser wird kalt», sagte Maria-Lisa. Der Filialleiter rieb sich die Füsse trocken, dann gab er Maria-Lisa das Tuch. Als die Spätausgabe 35 der Tagesschau begann, sassen sie wieder auf dem Kanapee. Maria-Lisa und der Filialleiter, Seite an Seite, er trank sein Bier und sie knabberte Salzstangen. Textlinguistik-Materialien 2014 - 17
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