ENGINEERING Funktionale Sicherheit und Betriebsbewährtheit werfen Fragen auf Aktuelles Thema im VDW-Arbeitskreis 3 „Sicherheitstechnik für die spanende Bearbeitung“ ist die in der Überarbeitung befindliche Normensituation, insbesondere bei den Typ-CNormen. Die Bedeutung von Sicherheitsfunktionen gemäß ISO 13849 wird in den unterschiedlichen Technologien noch nicht einheitlich gesehen. Das Spektrum reicht erstens von einer möglichst detaillierten Beschreibung der jeweiligen Sensoren über die Signalführung hin zum sicheren Zustand am dazugehörigen Aktor beim Fräsen. Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums steht zweitens eine pauschale Betrachtung auf Komponentenebene ohne Vereinzelung beim Schleifen. Der Arbeitskreis 3 hat 2015 bei insgesamt fünf Treffen wichtige Fach- und Querschnittsthemen für Konstrukteure diskutiert. Darunter fiel etwa die Bedeutung der Risikobeurteilung als zentrales Element der CE-Kennzeichnung von Maschinen. Sie wurde aus verschiedenen Perspektiven am „Vergleichsmaßstab“ eines Späneförderers beleuchtet. Funktionale Sicherheit ist ein heiß diskutiertes Thema. Überdies akquirierte der Arbeitskreis 3 (AK 3) Forschungspartner, mit deren Hilfe über Felddatenuntersuchungen an der Universität Stuttgart die sicherheitstechnische Betriebsbewährtheit von Drehmaschinen empirisch nachgewiesen werden konnte. 2015 stellte sich erneut heraus, dass normkonform gebaute und bestimmungsgemäß betriebene und gewartete Werkzeugmaschinen deutscher Herkunft sich durch eine langjährige Betriebsbewährtheit auszeichnen. Als besonderer Gewinn wird es im AK 3 angesehen, dass ein technisch versierter Rechtsanwalt für die gesetzlichen Belange der Betriebsbewährtheit als Partner gewonnen werden konnte. Mit ihm zusammen wird der METAV-Techno- 25 logietag am 23. Februar 2016 veranstaltet. Zudem ist auf der EMO Hannover 2017 eine weitere Veranstaltung zum Thema geplant. AK 3 bündelt Fragen zur strittigen ISO 13849 Ein bekanntes Manko der ISO 13849 ist, dass sie ein unlogisches numerisches Risikomodell enthält. Die Einzelanalysen von Steuerungsketten können bisher nicht plausibel zu einem Gesamtrisiko aufsummiert werden. Relevant wird dies, wenn es beispielsweise darum geht, einen Abgleich mit Soll-Werten für die Zuverlässigkeit auf Basis von empirischen Felddaten zu ermöglichen. Dass die Probabilistik hier den betroffenen Konstrukteuren die Antwort schuldig bleibt, frustriert, da sie gerade hier gewissenhaft mit einem zahlenmäßig zu definierenden Grenzrisiko im Kontext der Betriebsbewährtheit für die bestimmungsgemäße Verwendung einer Maschine umgehen sollen. Daher rühren auch die obigen Unterschiede bei der Typ-C-Normung. Das Thema wird deshalb im AK 3 gebündelt. Zwei praktische Fragen bleiben bis Ende 2015 weiterhin spannend: 1. W o gibt es Handlungsbedarf im konstruktiven und/oder betrieblichen Bereich? 2. W ie können normative Sicherheitsanforderungen erfüllt werden und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen – vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Risiken im globalen Wettbewerb – erhalten bleiben? Die jährlich stattfindende „European Safety and Reliability Conference“ (Esrel) bot im September 2015 ein internationales Forum zur Präsentation und Diskussion der VDW-Vorschläge. Wie in den beiden Jahren zuvor deckten sich die Inhalte der Züricher Konferenz in vielen Punkten mit den Themen im VDW. Darauf aufbauend fand ein Austausch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern statt. Hierüber konnten Vorgehensweisen für Werkzeugmaschinen zu den genannten Themen entwickelt und innerhalb der Fachwelt schrittweise weiter abgestimmt werden. Das ist eine notwendige Ergänzung zu der laufenden Normungsarbeit, da diese sich erstaunlicherweise nicht mit der Lehrmeinung zu probabilistischen Themen auseinandersetzt, sondern die „Herkules-Aufgabe“ der Probabilistik aus eigener Kraft zu bewältigen versucht. Als Folge dieser Beschränkung sind viele Normungsexperten immer noch ratlos, wie eine plausible Verbindung von probabilistischer Theorie und empirischen Befunden auf dem Hintergrund einer Betriebsbewährtheit erreicht werden kann. Die Mitarbeiter im AK 3 sind dabei deutlich weiter. VDW BRANCHENREPORT / Dezember 2015 26 ENGINEERING Jähes Ende des Projektes ISO/IEC 17305 Wie schwierig die Normungsarbeit an dieser Stelle ist, zeigt der herbe Rückschlag bei der Abstimmung des VDW mit dem VDMA-Fachverband Elektrische Automation und dem Normenausschuss Maschinenbau (NAM), durch die u. a. die ISO 13849 eingeführt wurde. Denn die Zusammenführung der Parallelnormen ISO 13849 und IEC 62061 hat die für 2015 gesetzten Ziele verfehlt. Grund hierfür ist, dass das Normenprojekt ISO/IEC 17305 (Merging) auf Drängen der US-amerikanischen Delegation vorerst gestoppt wurde. Die deutsche Delegation, die durch den Arbeitsschutz dominiert wird, hat diesem Drängen mit Betonung einer „Rückwärtskompatibilität“ leider beigepflichtet, obwohl u. a. der VDW und besonders die Firmen Siemens und Alstom widersprochen haben. Offenbar sind hier praxisgerechte Verbesserungen und ein plausibles Risikomodell, wofür VDW, Siemens und Alstom sich sehr engagiert haben, nicht opportun. Entsprechend ungewiss ist, ob eine Koordinierungsgruppe ISO/TC 199 und IEC/TC 44 sich auf eine Wiederaufnahme der Zusammenführung der Parallelnormen einigen wird. Denn die Vertreter einer Rückwärtskompatibilität haben ihr Ziel zunächst erreicht, und sie sahen bisher keinen Handlungsbedarf. Der Eindruck der Ablehnung verstärkt sich, da bei TC-199-Resolutionen überhaupt nicht mehr von den Beschlüssen des EU-Symposiums im Jahr 2010 die Rede ist. Ebenso wird nicht auf den Handlungsbedarf eingegangen, der sich aus den weltweiten Abfragen des Jahres 2011 im Kontext des Normenprojektes ISO/IEC 17305 ergeben hat. Dort stand der Klärungsbedarf zu einem plausiblen Risikomodell an allererster Stelle, was in den TC-199-Beschlüssen mit Verweis auf die ISO 12100 demonstrativ ignoriert wird. Die Kontroversen zur Funktionalen Sicherheit sind innerhalb des VDMA zwischen einzelnen Fachverbänden offenbar so gravierend, dass eine Klärung von zentraler Stelle von großer Bedeutung ist. Zunächst soll zum Jahresbeginn 2016 eine vollständige Überarbeitung der ISO 13849 begonnen werden. Einige Verbesserungsvorschläge dazu lassen sich aus dem relativ weit entwickelten Arbeitspapier ISO/IEC 17305 WD 4 entnehmen. Ob jedoch der Spagat zwischen plausiblen und praxisgerechten Verbesserungen und der Beibehaltung einer Rückwärtskompatibilität gerade bei der ISO 13849 gelingt, ist aktuell ungewiss. Denn in der TC-199-Sitzung wurde in Resolution 253 auch beschlossen, die ISO 12100 nicht zu überarbeiten. Dies ist unverständlich, weil damit trotz aller Fortschritte bei der Probabilistik im Maschinenbau ein qualitatives Risikomodell in der übergeordneten Norm ISO VDW BRANCHENREPORT / Dezember 2015 12100 manifestiert wurde. Der Hauptklärungsbedarf aus den bereits genannten Abfragen bleibt also auf lange Zeit bestehen! Es mangelt an der Definition für den Begriff Wahrscheinlichkeit Wie verwirrend die Situation zum Jahresende 2015 leider immer noch ist, zeigt die fehlende Definition des Schlüsselbegriffes „Wahrscheinlichkeit“. Die Maschinenrichtlinie 42/2006/EG zum Beispiel verwendet den Begriff zweimal, ohne ihn zu definieren. Im Leitfaden zur Maschinenrichtlinie wird der Begriff sogar neunmal benutzt. Auch ohne Definition. Ebenso wird er in der ISO 12100 21-mal ohne Erklärung verwendet, die den Anschluss zur wissenschaftlichen Lehrmeinung herstellen würde. Noch nicht einmal in der ISO 13849 wird eine plausible Definition gegeben, obwohl der Begriff Wahrscheinlichkeit darin der Schlüsselbegriff ist und 27-mal Verwendung findet. Allerdings nicht als dimensionslose Größe, sondern als gemittelte Dichtefunktion mit der Einheit [pro Stunde]. Es kommt hinzu, dass das jüngst angenommene „Brückendokument“ ISO/TR 22100 den Begriff Risiko 81-mal anzieht, ohne ihn plausibel mit dem Begriff der „Wahrscheinlichkeit eines Schadens“ in Relation zu bringen. Dies ist eine Lücke, da ein „tolerierbares Risiko” (das 10-mal in der ISO/TR 22100 verwendet wird) nur durch eine tolerierbare Wahrscheinlichkeit bzw. auftretende relative Häufigkeit eines möglichen Schadens definiert werden kann. Eine Lösung der genannten Verständnisprobleme bringt der TR nicht, denn letztlich landet der Leser dieses TR auch wieder beim Anhang A der ISO 13849 mit dem Entscheidungsbaum. Ist das etwa mit „Rückwärtskompatibilität“ gemeint? Es ist somit nicht verblüffend, dass die fehlenden Definitionen weiterhin beträchtliche Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten bei allen interessierten Kreisen verursachen. Besonders auffällig ist dies im Dialog mit Betreibern, den Kunden der VDW-Mitgliedsfirmen. Frustrierend ist es deshalb, dass eine Mehrheit der TC-199-Experten in den genannten Resolutionen darauf besteht, die Probleme nicht zu lösen, da eine „Rückwärtskompatibilität“ in den Normen ISO 13849 und IEC 62061 gewahrt werden müsse. Die unfassbare Begründung ihrer Position ist: Die Anwender der Normen sollen nicht verunsichert werden! VDW widerlegt absurde Argumentation In dem Esrel-Papier 2015 des VDW wird eine solch absurde Argumentation widerlegt: Wie könnte man denn mehr verunsichern als durch die Kombination von logisch begründetem und präzisem Quantifizierungsmodell für ENGINEERING Steuerungsketten (Ist-Modell) und einem völlig ungenauen Soll-Modell, das wiederum einen unlogischen Risikoansatz beinhaltet und zur „Worst Case“-Seite hin teilweise unerreichbare Zielwerte abschätzt? Denn im Ist-Modell werden Wahrscheinlichkeitswerte im Bereich von 10-8 bis 10-4 [pro Stunde] ermittelt, die in einem Soll-Modell mit dimensionslosen Wahrscheinlichkeiten im Bereich von 10-1 verglichen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass das Soll-Modell logische Skalierungsfehler von Wahrscheinlichkeiten im Bereich von 10-2 bis 10-1 hat, wie vom VDW wiederholt aufgezeigt wurde. Seit August 2004 ist das Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) eine Erklärung für diese Regulierungswillkür aus St. Augustin schuldig geblieben. Stattdessen wird es weit verbreitet, z. B. in der Software Sistema. Diese Verunsicherung ist ein konkretes Hindernis, wenn professionell arbeitende Konstrukteure probabilistische Methoden nutzbringend umsetzen wollen. Dass dafür im AK 3 ein ausdrückliches Interesse besteht, wurde durch verschiedene Veröffentlichungen des VDW und einzelner Mitgliedsfirmen mehrfach deutlich. Die Frustration über die unprofessionelle Bevormundung im TC 199 ist im VDW hoch. Auch die Vertrauensverluste durch dessen jüngste Beschlüsse sind erheblich, insbesondere was die Interessenvertretung über den VDMA und die Neutralität des DIN angeht (bzgl. Ausgewogenheit aller interessierten Kreise). Denn die VDW-Vorschläge zur Betriebsbewährtheit wurden in den zuständigen Gremien (seit 2004) leider auch im Jahr 2015 weiterhin abgelehnt, sowohl im VDMA/NAM als auch im DIN. Dies ist verwunderlich, stellen sie doch eine Form von „Rückwärtskompatibilität“ in der Konstruktionspraxis und einen praktischen Einstieg in die Probabilistik dar. Unverständlich ist auch, dass vom TC 199 ignoriert wird, dass vom VDW im Esrel-Papier 2015 eine wahrscheinlichkeits theoretische Darstellung zu der faszinierenden Vision „Null Risiko“ vorliegt, die mit dem abnehmenden Trend in den Unfallzahlen an Werkzeugmaschinen logisch verbunden wurde (mit den Borel-Cantelli Lemmata). Damit ist auch eine empirisch gestützte Priorisierung des Handlungsbedarfes auf Basis von Wahrscheinlichkeitswerten möglich, um die jährlich wiederkehrenden Unfallhäufigkeiten gezielt zu reduzieren. Geht es denn nicht eigentlich im TC 199 um „Safety of Machinery“? Jedenfalls ist durch dessen jüngste Beschlüsse nicht zu erkennen, wie die Unfallhäufigkeiten durch priorisierte Nachbesserungen der Arbeitssicherheit reduziert würden. Der Status quo wird beibehalten – das bedeutet jährlich wiederkehrende Unfallopfer! 27 Funktionale Sicherheit wird oft zum Spielball der Interessen Man kann sich nicht des Eindruckes erwehren, dass es bei der Funktionalen Sicherheit mehr um politische Eitelkeiten (im TC 199) und wirtschaftliche Rivalitäten (im VDMA und DIN) als um vernünftige Inhalte für eine Verbesserung der Sicherheit geht. Auch die Ignoranz einzelner Personen, deren Mandatierung nicht immer glaubwürdig ist, spielt vermutlich eine beträchtliche Rolle. Folglich steht der Sinn einer Mitarbeit des VDW an der vollständigen Revision der ISO 13849 derzeit sehr in Frage, auch da in den vergangenen drei Jahren keiner der Normungsexperten aus dem TC 199 bei den Esrel-Symposien als Zuhörer anzutreffen war. Woher soll da ein verbessertes Verständnis aufkommen? Bestimmt nicht von einer Rückwärtskompatibilität mit einer auf lange Zeit manifestierten qualitativen ISO 12100. Verblüffend ist es deshalb, dass im jüngsten NAM-Erfa vom 11. November 2015 hierzu nur der VDW widersprochen hat. Andere Fachverbände haben offenbar kein Problem damit. Dies ist aber nicht authentisch, zumal die Werkzeugmaschinen weniger Unfallzahlen als der Durchschnitt verursachen. Andere Fachverbände müssten demnach eigentlich noch mehr Probleme haben. Das Augenmerk, das die spezifischen Belange einer probabilistischen sicheren Konstruktion von Werkzeugmaschinen betrifft, liegt also weiterhin auf der Entwicklung von Branchenstandards mithilfe der Konstruktionsexperten im AK 3. Dazu besteht ein enger Kontakt mit den Fachausschüssen der Berufsgenossenschaft Holz und Metall, um praxisgerechte Inhalte für die Typ-C-Normen abzustimmen. Außerdem ist die Kontinuität bei der Zusammenarbeit mit kompetenten Partnern an den Universitäten wichtig. Zum Jahresbeginn 2016 beauftragt der VDW deshalb zwei Studien in Berlin und Stuttgart, um sich mit dem langfristigen Thema der Probabilistik für eine AiF-Beantragung zu qualifizieren. Im Vordergrund steht die Hoffnung, dass sich junge Wissenschaftler den zuvor genannten Herausforderungen stellen werden. Ansprechpartner im VDW Heinrich Mödden Tel. 069 756081-13 [email protected] VDW BRANCHENREPORT / Dezember 2015
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