Berührugsloses Werfen Während dem diesjährigen Sommerlehrgang in Vichy mit Sensei Gérard Blaize hatte ich die besondere Aufgabe, Gérard für das Aikido Journal zum Thema „berührungsloses Werfen“ zu befragen. Ich konnte ihn zum Thema interviewen und wurde von ihm auch ohne Berührung geworfen. Im vorliegenden Text werde ich Gérard zu Wort kommen lassen und von meinen eigenen Erlebnissen berichten. Ich wollte von Gérard wissen, wie das berührungslose Werfen funktioniert. Zuerst sagte er, dass man damit keine Fortschritte im Aikido erzielen könne. Fortschritte ergäben sich durch das Üben der Techniken. Allerdings sei der Zustand, der für das berührungslose Werfen nötig ist, auch der Zustand indem man sein sollte, um eine Aikido-Technik auszuführen. Was die Funktionsweise des berührungslosen Werfens anbelange, könne er nur für sich selbst sprechen. Das heisst, erklären, wie er es mache. Wenn er jemanden werfen wolle, funktioniere es nicht. Man müsse sich von der Idee, es erfolgreich machen zu wollen, befreien. Das sei das Schwierigste. Denn es gehe um einen Zustand. Der Körper müsse sanft und entspannt werden, damit es auch die Gesten sein können. Wenn also der Körper völlig entspannt, kein Wille vorhanden und die Brust offen und gelöst ist, dann kann etwas geschehen, das die Person zum Fallen bringt. Möglicherweise gebe es auch andere Techniken. Gérard erwähnt in diesem Zusammenhang die Experten für das berührungslose Werfen, Hiroyuki Aoki, den Gründer des Shintaido, Kozo Nishino Sensei und Nobuyuki Watanabe Sensei. Man könne auch auf brutale Art jemanden werfen, ohne ihn zu berühren. Doch er, Gérard, habe die oben beschriebene Art gewählt, weil man im Aikido die Menschen führen müsse. Dies gehe nicht mit Brutalität. Ich erlebe das Gespräch mit Gérard als sehr erfrischend. Es findet um die Mittagszeit am Ufer eines Flusses im Schatten einer Trauerweide statt. Seine Antworten gefallen mir. Es sei gut, dass die Leute der Realität des berührungslosen Werfens gegenüber kritisch eingestellt sind, sogar zweifeln sei richtig. Es zu verleugnen, wäre aber ein Fehler. Für Gérard selbst hat das Thema viele Fragen aufgeworfen. Solche Vorführungen zeigen, dass etwas geschieht, das man nicht mittels rationalem Denken verstehen kann. Gleichzeitig solle man diesem Phänomen nicht zu viel Bedeutung schenken, sich aber Fragen stellen. So möchte ich von Gérard wissen, was es dem Aikidoka bringt, wenn er sich diese Fragen stellt. „Es kann ihn dazu bringen, sich dem Gründer des Aikido zu näheren!“ Aktuell sei dieses Interesse aber klein. Die Phänomene und Erfahrungen um das berührungslose Werfen werfen Fragen auf. O Sensei sei der Schlüssel! Das Wichtigste sei, sich für O Sensei zu interessieren; er habe das Aikido erschaffen – nicht wir. Für den Aikidoka sollte es selbstverständlich sein, sich für den Gründer – also für den Ursprung des Aikido zu interessieren. Dank Hikitsuchi Sensei, der sich stets auf O Sensei bezogen hat, habe sich Gérard für O Sensei zu interessieren begonnen. „Dies hat mir geholfen und war wegweisend“, sagt Gérard. „Wie hat O Sensei die Wellen in seinen Bewegungen erzeugt?“, fragte sich Gérard. Er wollte verstehen und auch anwenden können, was O Sensei sagte. Auf dem Weg zum Aikido von O Sensei tauchten immer wieder neue Fragen auf. Gérard studiert die Videoaufnahmen und die Texte von O Sensei. Dank dem Unterricht von Hikitsuchi Sensei lernte Gérard Kototama. Er erfuhr den Zusammenhang der KototamaVibrationen, die die Aikido-Techniken entstehen lassen. Für Gérard ist es ein Zusammenspiel verschiedener Ebenen: die Arbeit auf den Tatami, die Videos von O Sensei, die Erklärungen von Hikitsuchi Sensei, regelmässiges Qigong, Seitai und auch das Training im Ko-Budo. Gérards Hauptbotschaft ist: „Sich für O Sensei zu interessieren, ist eine gute Sache.“ Häufig habe ich von Gérard gehört, dass die Aikido-Techniken nicht das Ziel seien, sondern Wege, um uns zum Zustand von O Sensei zu führen. Ich spreche Gérard nun darauf an. Ja, die Techniken von O Sensei seinen nicht das Ziel. Sie seien gemacht, um den Zustand von O Sensei (Satori) zu finden. „O Sensei erklärte, wie er trainierte. Er definierte sein Aikido und berichtete von den Erfahrungen, die den Zustand hervorbrachten, dank dem er sein Aikido entwickeln konnte. Wir haben das Glück, dass uns nun sehr wertvolle Quellen wie Filme und Texte von O Sensei zur Verfügung stehen.“ Ich komme auf das berührungslose Werfen zurück und frage Gérard: „Welche Energie brauchst du, um die Leute zu werfen, ohne sie zu berühren?“ „Gar keine Energie. Völliges Entspannen. Vollkommenes Loslassen auf körperlicher und mentaler Ebene. Eine Leere in der Brust.“ Dies sei der Schlüssel. Man sieht es auf dem ersten Foto, auf dem Alexis Coqueran, ein weiterer Aikidoka und ich zusammen geworfen werden. Ich empfand es als überraschend und angenehm. Was geschah, war für mich nicht einfach zu verstehen. Im Augenblick des Geschehens war es, als ob ich von einer Welle mitgenommen würde. Gérard erklärt, dass es auch möglich sei, mittels der Energie des Bauches zu werfen. Dies ist auf dem Bild zu sehen, wo ich alleine mit Gérard abgebildet bin. Diese Art des berührungslosen Werfens empfand ich als weniger sanft. Es war, als ob ein starker Windstoss mich umgeblasen hätte. Gérard führt weiter aus, dem berührungslosen Werfen sei nicht zu viel Wichtigkeit beizumessen. Auch solle man es nicht zu häufig praktizieren. Es bestehe die Gefahr, dass sich beim Uke eine Art Reflex ergibt, durch den er automatisch fällt, beim Tori seinerseits ein Wille zum Erfolg, der es verunmöglicht. Als Gérard es das erste Mal testete, war er überrascht. Die Erfahrung sei interessant, doch nicht das Ziel. Die Sanftheit in der Brust sei das Entscheidende, sie müsse sich auch in den Aikido-Techniken manifestieren. Dann könne man erleben, dass die Techniken den Partner führen. Gérard bezieht sich nun direkt auf O Sensei: „Dadurch, dass man die Technik als Erster beginnt, führt man den Partner und zieht ihn an. Dies ist das Geheimnis des Aikido.“ „Wie hast du gelernt, ohne körperlichen Kontakt zu werfen?“, frage ich Gérard. „Von Hikitsuchi Michio Sensei. Er hat es mit mir gemacht. So bekam mein Körper die Erfahrung vermittelt. Es ist keine Technik. Am Anfang habe ich nichts verstanden. Doch mit dem Training wurde es klarer. Auch als ich begann, die Vibrationen des Kototama zu gebrauchen.“ Gérard wurde vor über zwanzig Jahren zusammen mit seinem Lehrer Hikituschi Sensei in der Fernsehsendung „Les chants de l'invisible“ (auf youtoube zu sehen) präsentiert. Ebenfalls wird die Arbeit von Aoki Sensei in der Sendung vorgestellt. Gérard zeigte bereits damals das berührungslose Werfen. Es machte ihm Freude, es nun mit Alexis und mir für das Aikido Journal wieder zu zeigen. „Der Zustand, der es ermöglicht, auf Distanz zu werfen, ist wichtig. In diesem Zustand soll man die Techniken des Aikido ausführen.“ Es gehe um die Erfahrung. O Sensei sagte: „Das wahre Budo ist das Training, die Ausbildung der Anziehungskraft (inryoku)“. Doch was heisst es, angesaugt zu werden? Verfügt man nicht über diese Erfahrung, ist es schwierig. Dank Hikitsuchi Sensei, mit dem Gérard dies erleben konnte, und den Erklärungen, die er von ihm erhielt, konnte er es nun auch mich Alexis und mich erleben lassen. Ich bin Gérard sehr dankbar für diese Erfahrung und freue mich, hier im Aikido Journal darüber zu berichten. Es wäre schön, wenn viele Aikidoka sich dem Gründer des Aikido nähern würden. Urs Keller
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