Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015

Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015
Lukas 6, 36 - 42; Pfarrerin Karin Lefèvre
Liebe Gemeinde,
heute geht es um Barmherzigkeit – doch wird dieses Wort heutzutage nur noch selten im Mund
geführt – es sei denn, wir erklären die Bilder am Restaurant des Dialog Hotels und sagen: da sind
die sieben Werke der Barmherzigkeit abgebildet, nämlich, Hungrige speisen, Durstige tränken,
Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene befreien und Tote bestatten.
Das ist da nämlich dargestellt und zu diesen klassischen leiblichen Werken der Barmherzigkeit gibt
es ja auch die schönen Lesezeichen unseres Diakonie Werkes.
Doch wer weiß schon, dass es neben den leiblichen Werken der Barmherzigkeit auch die geistigen
Werke der Barmherzigkeit gibt, nämlich: Unwissende lehren, Zweifelnden raten, Irrende zurechtweisen, Trauernde trösten, Unrecht ertragen, Beleidigungen verzeihen, für Lebende und Tote beten.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich bis zum Letzten Dienstag die geistigen Werke der
Barmherzigkeit auch noch nicht als solche gekannt habe. Dabei gehen sie auf den Heiligen
Chrysostomos zurück, der im vierten Jahrhundert lebte und wirkte und der festgestellt hat, dass es
nicht nur leibliche Armut und Gefangenschaft gibt, sondern ebenso auch geistige Armut und geistige Gefangenschaft. Doch ist es in diesem Bereich viel schwerer sich zu engagieren. Nicht nur, weil
die Betroffenen das selbst oft gar nicht merken: nicht jede/r der oder die irrt, spürt dies schmerzhaft und möchte zurecht gewiesen werden? Und wer hält es schon für eine gute Sache, Beleidigungen zu verzeihen?
Und nicht zuletzt ein wirklich großes Problem: das Verhältnis von Barmherzigkeit zu Gerechtigkeit.
Um ein kurzes Beispiel zu geben: kurz vor Schuljahresende möchten meine Schüler wissen, was sie
im Zeugnis für eine Note in „Reli“ bekommen. Machen wir ein kleines Gedankenexperiment! Stellen
wir uns einmal in unserer Fantasie folgende Situation vor. Ich sage: „Anne, du stehst auf 1,4. Das
heißt du bekommst die 1. – Thomas, du stehst auf 2,6. Damit muss ich dir leider eine 3 geben.
Schade, dass du im zweiten Halbjahr so nachgelassen hast. Mache es nächstes Jahr besser. – Wolfgang, du stehst auf 4,55. Das ist eigentlich die fünf. Aber weil du, wie ich gesehen habe, in Latein
auch eine 5 bekommst, gebe ich dir die 4, damit du nicht die Klasse wiederholen musst! Lassen wir
bei dir mal Gnade vor Recht ergehen.“ Wolfgang schaut überrascht. Doch sofort meldet sich
Thomas: „Das ist ungerecht. Dann will ich auch die bessere Note. Der Wolfgang hat sich ja nicht
einmal angestrengt und eh Null Bock gehabt!“
So ist das: das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit führt oft zu Problemen. Vor allem,
wenn andere die Nutznießer der Barmherzigkeit sind und nicht wir. Und so wundert es mich nicht:
Wo immer ich etwas darüber nachgelesen habe, nahm die Gerechtigkeit mehr als drei Viertel des
Raumes ein. Für die Barmherzigkeit musste der Rest reichen.
Kommen wir noch einmal auf die geistigen Werke der Barmherzigkeit zu sprechen, um die es ja bei
Jesus hier auch geht. Also, Irrende zurechtweisen, das kann ich mir ja noch ganz gut vorstellen,
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dass könnte oberflächlich betrachtet sogar Spaß machen, aber wenn es darum geht Unrecht zu
ertragen, dann wünschte ich, das würde nicht zu den Werken der Barmherzigkeit gehören. Ja, die
Werke der Barmherzigkeit haben es in sich. Das Dumme, dass wirklich Dumme ist nur, dass sich
Barmherzigkeit nicht befehlen lässt! Genauso wenig wie Liebe, oder sogar noch weniger.
Wer sozusagen auf Befehl Liebe übt oder Barmherzigkeit zeigt, ist weder liebevoll noch barmherzig, sondern das, was Jesus wenig schmeichelhaft an anderer Stelle ein „getünchtes Grab“ genannt
hat. Dann ist das bestenfalls nur oberflächlich, aber darum ist darunter alles verrottet und stinkt,
weil es nicht echt ist und nicht von Herzen kommt.
Es hilft alles nichts, wir werden unseren heutigen Abschnitt aus dem Lukasevangelium nur dann
recht verstehen können, wenn wir ihn im größeren Zusammenhang anschauen und – was viel
schwerer ist – wenn wir bereit sind einigen schwierigen und schmerzhaften Tatsachen Gesicht zu
schauen.
Es beginnt damit, dass Jesus von den maßgebenden Führern seiner Religion beschimpft wird, weil
er gegen alle Traditionen, Regeln und sogar Gesetze handelnd einen Mann am Sabbat heilt. Ja, es
stimmt, dass Jesus als frommer Jude am Sabbat keine Arbeit tun darf – er hat ja die sechs Arbeitstage der Woche über genug Zeit dazu. Und Jesu Gegenfrage: „Darf man einem Menschen das Leben retten oder muss man ihn umkommen lassen?”, ist ja wirklich weit hergeholt, weil es um eine
gelähmte Hand geht, die wohl schon seit vielen Jahren gelähmt ist. Das hätte, rein rechtlich und
logisch betrachtet, noch ein paar Stunden bis zum nächsten Werktag Zeit gehabt.
Doch es scheint, als würde Barmherzigkeit ganz anderen Regeln gehorchen. Leider sind diese Regeln nur schwer zu durchschauen und sie bringen denen, die barmherzig sind, auch noch jede
Menge Ärger ein. O-Ton Jesus: „Ihr dürft euch freuen, wenn euch die Leute hassen, wenn sie euch
aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen, euch beschimpfen und verleumden, weil ihr euch zum Menschensohn bekennt.“ Wir würden heute sagen: weil wir Jesu nachfolgen und nach seinem Beispiel
handeln.
Dies ist wohl die größte Herausforderung: Barmherzigkeit funktioniert nicht auf Befehl, sondern
nur, wenn sie von innen heraus da ist – und dann bringt sie einem auch noch eine Menge Nachteile! Das ist wirklich alles andere als gute Werbung für echte herzliche Barmherzigkeit. „Wer kann
denn dann überhaupt gerettet werden?“, haben an anderer Stelle die Jünger einmal fassungslos
gefragt und Jesus hat geantwortet: „Ihr habt recht. Das ist eigentlich unmöglich. Das ist eigentlich
ein Wunder. Das ist eigentlich nur möglich, wenn Gott eingreift und alles nötige (selbst) tut.“
Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist. (6,36)
Barmherzigkeit ist eine Qualität Gottes. Und es ist kein Zufall, dass in der Sprache Jesu nicht das
Wort ‚Herz‘ das Zentrum von Barmherzigkeit ist, sondern die ‚Gebärmutter‘. (rachamin von rächäm)
Wer ein Kind neun Monate im eigenen Leib wachsen lässt, bekommt eine sehr enge Beziehung zu
diesem Kind und wird es im Normalfall, um ein schönes Bild zu gebrauchen, später wie eine Löwenmutter verteidigen und in Schutz nehmen.
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Wir alle sind Gottes Kinder. Und in Steigerung zu einer menschlichen Mutter hat Gott uns sogar
schon lange vor unserer Zeugung gekannt und in seinem Herzen getragen. Und so hat Gott auch
eine besondere Liebe zu uns, eine Liebe, die so groß ist, dass er alles nicht Menschen-, sondern
Gottesmögliche dafür getan hat, um uns zu helfen. Jesus ist Gottes Antwort auf unsere Not, unsere Unbarmherzigkeit, unsere Verlorenheit.
Doch wie lautet das Gegenargument, dass wir alle kennen und das fast alle von uns, wenn nicht
auf den Lippen, so doch im Kopf haben? „Wenn wir das wörtlich nehmen, was Jesus da sagt, nämlich im Namen der Barmherzigkeit Regeln und Gesetze brechen, werden wir verachtet beschimpft
und zu Außenseitern werden. Wenn wir unsere Feinde lieben und ihnen Gutes tun, wenn wir für
die beten, die uns schlecht behandeln und verfluchen, wenn wir anderen, die uns einen Teil unseres
Besitzes nehmen, den Rest auch noch geben – und genau das zählt Jesus wortwörtlich auf, werden
wir dann nicht zu einer armseligen Lachnummer?
Wie kann Jesus da behaupten: „Nein, dann werdet ihr zu Kindern des Höchsten.“ (6,35)?
Doch dann folgt bei Jesus ein einziger kurzer Satz, der alles in ein anderes Licht rückt. Jesus sagt:
„Kein Blinder kann einen Blinden führen, sonst fallen beide in die Grube!“
Dies, liebe Gemeinde, glaube ich, wird uns gerade weltweit Augen geführt, nämlich dass die Blindheit der Blindenführer Millionen Menschen in die Grube, in den Tod führt. Menschen voller Hass
diktieren das Geschehen. Schlag wird mit Gegenschlag beantwortet, Hass mit Hass und zurück
bleiben zerstörte Städte und Menschen, die auf elenden Booten unter Lebensgefahr über das offene Meer ihr Heil in der Flucht suchen. Und Ost und West rüsten wieder auf, auch atomar.
Und da hat Jesus den unerhörten Mut zu sagen: Fang bei dir selber an! Zieh zuerst den Splitter
aus dem eigenen Auge! D.h. soviel wie: verurteile andere nicht, sondern mache dir klar, dass Hass,
Gemeinheit und Unbarmherzigkeit auch in dir stecken.
Doch wenn du im Kleinen bei dir anfängst, dann kannst du auch bei anderen etwas bewirken. Wagen wir es, das zu glauben?
Unser heutiger Predigtabschnitt ist wahrlich eine echte Zu-Mutung. Ja, wir brauchen Mut; wir
brauchen Mut, um einem Gott zu vertrauen, der uns so etwas zumutet. Ohne Jesus und sein Beispiel würde ich nie den Mut finden, mich überhaupt auf solche Gedanken einzulassen, geschweige
denn dafür offen zu werden, dass Gott mich in eine solche Richtung hin bewegen kann. Was
macht mich barmherziger und mutiger? Das Wissen, dass es in den vergangenen Jahrzehnten Menschen gegeben hat die diesen Weg der Barmherzigkeit gegangen sind, Menschen wie Dietrich Bonhoeffer oder Martin Luther King oder auch Mahatma Gandhi. Macht mich das mutig genug? Nur
dann, wenn etwas hinzu kommt, nämlich das Wissen, wirklich geliebt zu werden. Gott ist die Liebe
und in dieser Liebe barmherziger als ich es mir vorstellen kann – wenn ich dies wirklich glaube,
werde ich bestimmt auch mutiger. Das wünsche ich uns allen. Amen
Pfarrerin Karin Lefèvre, Diakonie Neuendettelsau
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