Strichmännchen «Du siehst wunderschön aus.» Lächelnd drehte sie sich zu ihm um, wobei sich einige dunkelbraune Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur lösten. «Und du siehst wunderschick aus.» Er lachte. «Du mit deinen Wortkreationen…» Schelmisch grinsend kam sie näher. «Magst du das etwa nicht?» «Ich liebe es, und das weisst du auch.» Sie stand nun ganz nah vor ihm. «Und was liebst du noch?», flüsterte sie. «Dich», sagte er, zog sie zu sich heran und küsste sie auf ihre ungeschminkten Lippen. Als er zehn Minuten später vor Dutzenden Anwesenden «Ja» zu ihr sagte, wusste er, das das die richtige Frau für ihn war. Diese Frau, die da in einem weissen Vintage-Seidenkleid und Blumen aller Farben in den Haaren stand, war für ihn bestimmt. Diese Frau, die gerade wie er das Studium beendet hatte, die jede vorbeistreunende Katze streicheln musste, die so oft als möglich Schmuck mit Türkisen trug und die einige Leute jeweils mit ihrer direkten Art verschreckte, diese Frau würde mit ihm sein ganzes Leben verbringen. Und er konnte sein Glück nicht fassen. Hastig drehte er den Schlüssel im Schloss um und schob die Wohnungstüre auf. Er hatte heute beim Einkaufen erst an der Kasse bemerkt, dass er sein Portemonnaie daheim vergessen hatte, und hatte nochmals zurückgehen müssen. Zudem hatte er einiges zu erledigen, bevor ihre kleine Tochter aus dem Kindergarten heimkäme und sie zusammen essen würden. Wie immer legte er seinen eher spärlich bestückten Schlüsselbund in die schwere Glasschale in der Garderobe, in dem bereits ein Türkisarmband seiner Frau lag. Er rückte es ein bisschen zurecht, sodass es genau rund um den Schlüsselbund lag. Er zog die Schuhe aus, hängte seinen Mantel auf, den er bereits seit seiner Studentenzeit besass, ging in die Küche und deckte den Tisch für drei. Dann ging er ins in fröhlichem Gelb gestrichene Schlafzimmer, stand eine Zeitlang vor ihrem gemeinsamen Kleiderschrank und bewunderte die kleinen Stapel Blusen, Pullover und Hosen, die auf der Seite seiner Frau lagen. Sachte strich er über den feinen Stoff. Er liebte ihre Kleidung, die sie jeweils am liebsten gleich in all ihren Lieblingsfarben – Weiss, Hellgrün und Blau – kaufte. In der Nacht trug sie allerdings bevorzugt seine Hemden, in denen sie immer unglaublich süss aussah. Er ging ins Bad und räumte das Spiegelschränkchen auf. Eine alte, verklebte Zahnpastatube ersetzte er durch eine neue und ihre Parfums sortierte er nach der Farbe des Flakons. Als er damit fertig war, hielt er jedoch inne und räumte sie anschliessend schnell wieder genauso um, wie sie zuvor gewesen waren. Dann schloss er den Spiegelschrank ein bisschen zu ruckartig, sodass er es innen leicht klirren hören konnte. Er lief in die Küche und begann wie so oft mit einem der fünf Gerichte, die er perfekt beherrschte – Spaghetti Carbonara mit gekochten Karotten und Erbsen – und als kurz darauf seine Tochter heimkam, schöpfte er gerade die Portionen auf die drei Teller. «Hallo Papa!», rief sie und schloss die Tür hinter sich. «Hallo! Wir können schon essen.» «Ich komme!» Sie brachte ihren Delfinrucksack in ihr Zimmer und kam dann zu ihrem Vater in die Küche. «Papa, ich brauche eine neue Jacke», sagte sie und sah zu ihm hinauf. «Die mit den Einhörnern ist mir an den Ärmeln zu kurz geworden.» «Okay… ich gehe morgen mit dir in die Stadt», sagte er zerstreut und fragte dann, von welchem Laden sie denn ihre Kleider habe. «Ich weiss nicht, Mama hat die Läden immer ausgesucht», sagte sie kleinlaut. Er seufzte leicht, versuchte dann aber zu lächeln. «Na, dann schauen wir morgen. Jetzt essen wir erstmal.» Sie setzten sich an den Küchentisch, auf dem inzwischen für alle drei ein gefüllter Teller stand. «Papa, wieso hast du für Mama auch getischt?», fragte sie. «Mama kann doch gar nicht mehr essen.» Er sah seine fünfjährige Tochter an. «Ach weisst du, das, das ist für … Laura!» «Aber Laura ist doch eine Puppe, Papa. Puppen können nicht essen.» «Ja … siehst du, es ist wichtig, die Puppen ernstzunehmen. Vielleicht möchte sie ja, dass für sie auch getischt wird, obwohl sie nicht essen kann.» «Ach so. Ja, Laura hat sicher nichts dagegen.» Und sie lächelte. Zu zweit assen sie zu Ende. Es wurde dieses Jahr schnell kalt. Die Novemberluft roch bereits nach Schnee und unter der Woche waren immer weniger Leute in der kleinen Stadt unterwegs. Die Strassen waren fast menschenleer gewesen, als er an diesem Donnerstagnachmittag wegen ein paar speziellen Zutaten im Feinkostgeschäft gewesen war. Auf dem Heimweg hatte er gefroren, da er weder Handschuhe noch Mütze dabeigehabt hatte. Am Abend hatte er dann versucht, mit den Zutaten ein neues Gericht nach Rezept zu kochen. Es war nur halb gelungen, da er das Salz vergessen hatte, seine Tochter hatte es jedoch trotzdem sehr gemocht. Nach dem Essen stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Als sie zurückkam, hielt sie ein Blatt Papier in ihren Händen. «Schau Papa, das ist für dich. Das habe ich heute im Kindergarten gemalt.» Auf der Zeichnung war ungefähr in der Mitte ein dicker schwarzer, etwas wackeliger EddingBalken gezeichnet. Links davon waren drei Strichmännchen zu sehen, zwei grössere und ein kleineres. Sie hielten sich an ihren Strichhänden, das kleinere in der Mitte, und hatten alle ein breites Lachen im Gesicht. Das Strichmännchen ganz links hatte kurze Haare, die wie Gras von seinem Kopf abstanden, das in der Mitte und das rechts hatten lange Haare. Er schluckte leer und überlegte, wieso seine Tochter im Kindergarten überhaupt Edding benutzen durfte. Auf der rechten Seite waren zwei lachende Strichmännchen. Das eine hatte wieder Grashaare, aber nun ein viel schmaleres Lachen im Gesicht als vorher. Das zweite hatte lange Haare und statt einem Strich als Bauch ein grosses unregelmässiges Oval, in welchem ein weiteres Strichmännchen gezeichnet war. «Wirklich schön hast du das gemacht. Bin das hier ich?» fragte er, und er deutete auf das grashaarige Strichmännchen auf der rechten Seite der Zeichnung. «Ja, hier sind ich und du und Mama, und hier sind du und ich.» «Ach, dieses grosse da bist auch du? Und wer ist das in dir drin?» «Mama natürlich!» Perplex starrte er auf das Strichmännchen, das ihn darstellte und das keinen ovalen Bauch mit einem anderen Strichmännchen drin hatte. Er schaute seine Tochter an und nickte. Natürlich. Er räusperte sich, stand auf und hängte die Zeichnung an den Kühlschrank, dann räumten sie zusammen den Tisch ab. Weihnachten rückte nun immer näher und die Schaufenster der Geschäfte in dem kleinen verschneiten Dorf waren bereits üppig geschmückt. Als seine Tochter heimkam, Hallo sagte und er sie ansah, merkte er zum ersten Mal, dass sie begonnen hatte, sich morgens selbst eine Frisur zu machen. Er staunte und beschloss, ihr gleich morgen neue Haarklemmen zu kaufen. Er hatte heute ein gut gelungenes Ratatouille nach Rezept gemacht. Seine Tochter würde es bestimmt lieben. Er hatte für zwei gedeckt.
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