Liebe Besucher der Homepage des Arbeitskreises Dorfgeschichte Obermeiser! Wir freuen uns über Ihr Interesse an unserer Homepage. Der Arbeitskreis hat vor einigen Monaten den Grundstein für ein neues Buchprojekt gelegt. Nach den bisher erarbeiteten Themen haben wir uns nun vorgenommen, der Geschichte der “Hochwasser, Schadfeuer und anderer Unglücksfälle in der Gemeinde Obermeiser“ auf den Grund zu gehen. Das Buch soll im Herbst 2016 erscheinen und optisch den gleichen Umfang und die gleiche Ausstattung wie unsere bisherigen Werke erhalten. Bei den Arbeiten für das Projekt sind wir auf Mithilfe, insbesondere der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger angewiesen. In diesem Zusammenhang sind wir dankbar für jeden Hinweis und jedes Bild, dass uns leihweise zum Thema überlassen wird. Im kommenden Winter werden wir daher auch einen Fragebogen bzw. einen Flyer im Ort verteilen. Darin bitten wir Sie, uns aus Ihren eigenen Erlebnissen zu den genannten Themenbereichen zu berichten. Wir werden z.B. fragen, wie Sie das Hochwasser 1965 oder 1984 erlebt haben oder ob Sie Beobachtungen bei den Feuern im Dorf oder den schweren Verkehrsunfällen auf der Bundesstraße 7 gemacht haben. Haben Sie vielleicht Aufnahmen von diesen Ereignissen in Ihrem Album? Um Ihnen einen Vorgeschmack auf das neue Buch zu geben, möchten wir Sie mit einem Text über den Absturz eines britischen Bombers an der Gemarkungsgrenze Obermeiser/Westuffeln im Jahre 1943 vertraut machen. Am 22. Oktober war der Jahrestag des schweren Luftangriffs auf die Stadt Kassel. Was würde für eine angemessene Würdigung dieses schicksalshaften Tages besser geeignet sein, als eine genaue Beschreibung der Ereignisse, die in ihrer Tragweite auch Auswirkungen bis in das Dorf Obermeiser hinein entwickelt haben. Ganz besonders feut sich der Arbeitskreis Dorfgeschichte über das Engagement von Herrn Reinhard Saalfeld, der als Freier Mitarbeiter zu uns gestossen ist und eine umfangreiche Berichterstattung zum Flugzeugabsturz gefertigt hat. Reinhard Saalfeld, Jahrgang 1950, ist in Obermeiser aufgewachsen und lebt als Architekt seit Jahren in Finnland. Er teilt mit den anderen Mitgliedern des Arbeitskreises die Liebe zu seinem Heimatdorf und das Bestreben, geschichtlich interessante Themen zu erforschen, aufzubereiten und für die Zukunft und für künftige Generationen zu erhalten. Wir danken für dieses Engagement und laden Sie, liebe Leser, dazu ein, den nachfolgenden Bericht aufmerksam zu studieren. Obermeiser, im Januar 2016 Für den Arbeitskreis Dorfgeschichte: Holger Neumeyer Seite | 1 1943 Bomberabsturz am Oppermannsberg Eine Dokumentation des tragischen Schicksals von Anna und David, stellvertretend für die ungezählten Toten dieseits und jenseits des Ärmelkanals. Die Ereignisse in den letzten Oktobertagen des Kriegsjahres 1943 als vom Himmel Eisen auf unsere Heimat regnete. Eine Beschreibung aus der Sicht des Architekten Reinhard Saalfeld, Jahrgang 1950, aus dem Dorf Obermeiser zwischen Warme und Nebelbeeke, wohnhaft in Finnland. Schon als kleiner Junge spitzte ich die Ohren, wenn von älteren Spielkameraden oder in geselliger Runde von Erwachsenen der Absturz eines “Bombers" am Huckenberg die Rede war. Jahrzehnte vergingen und das geheimnisvolle Ereignis geriet in Vergessenheit. Fern der Heimat Obermeiser machte ich plötzlich eine zufällige Entdeckung, die die Geschichte wieder an die Oberfläche spülte. Bei einem meiner virtuellen Spaziergänge in der Gemarkung am Computer erkannte ich eine auffällige Veränderung der Farbgebung des Ackerlandes unterhalb des Oppermannsberges und meine eingefrorene Neugierde war wieder aufgetaut. Ich wollte mehr wissen, möglichst alles. Die Interessengemeinschaft "Arbeitskreis Dorfgeschichte Obermeiser" bot sich dazu als passende Plattform für meine Nachforschungen an. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- TRÄNEN AUS EISEN - Riders on the storm Ein Krieg mit nie dagewesener Härte, Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Kompromisslosigkeit kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück. Der 22. Oktober 1943 ist für Anna Hold aus Obermeiser und David Gareth Rees aus Wales der letzte Tag in ihrem kurzen Leben. David Rees, Sohn von Tudor und Elizabeth Rees, kommt 1924 zur Welt In seiner Familie und im Freundeskreis wird er liebevoll "Dewi" genannt. Er stammt aus dem Vorort Pensarn der Stadt Carmathan, Süd-Wales. Die Stadt mit 20.000 Einwohnern liegt 44 km von Swansea, der heutigen Partnerstadt von Mannheim, entfernt. Ab 1940 ist die Stadt an der Küste mit Metallverarbeitung und Schiffbau Ziel deutscher Luftangriffe, bei der insgesamt 387 Menschen sterben. Im Februar 1941 wird das Stadtzentrum durch den "Three Night Blitz" völlig zerstört, der Hafen und Industrieanlagen bleiben jedoch unbehelligt. Kopierschutz David Rees 1924 – 1943 kurz vor der Besteigung des Bombers am 22.10.1943. Anna Hold sollte am 26. Mai 1923 als 2. Tochter der Eheleute Heinrich Kopierschutz Kopierschutz Anna Hold 1923 - 1943 Seite | 2 Wilhelm Hold und Friederike, geb. Schwarz, in Obermeiser, geboren werden. Es treten Komplikationen auf. Deshalb hält ihre Mutter das neugeborene Mädchen nach einem Kaiserschnitt in einem Kasseler Krankenhaus in den Armen. Ihre ältere Schwester Marie, geb. 1921, heiratet später den Zimmermann Walter Friedrich, Vater von Wolfgang und Erika. Das Fachwerkhaus auf der "Rische", nahe an der Tränke und Waschplatz des Warmebaches plaziert, liegt am Rande des Dorfes. Kopierschutz Das 2-geschossige Gebäude Nr. 44 im typischen Kätner-Stil ist rechtsseitig eingebaut und lässt linker Hand den Blick frei in Richtung der bewaldeten Anhöhe des Rammelsberges. Über Wiesen und Felder geht hier die Dorfstrasse von der Wiege des Dorfes, dem Meierhof hinter der Kirche, in den jetzt überwachsenen historischen Burgpfad zur Schartenburg über. Deshalb auch die alte Bezeichnung "Haus am Burgpfad". Anna Hold wird 1930 in die Schule an der Holländischen Strasse aufgenommen. Ihr Lehrer Karl August Kurz ist mit Sabine Elisabeth, geb. Zuschlag, verheiratet. Seine Tochter Grete wird das traurige Schicksal von Anna tag- und ortsgleich teilen. Nach ihrer 8-jährigen Schulzeit erlernt Anna 1931 den Beruf der Hauswirtschafterin. Sie ist bei der Bäckerei Wahrenholz (Kassel, Sack 4) in Stellung. In diesem Gebäude in einer kleinen Sackgasse vom Steinweg abbiegend und in Tuchfühlung mit dem Friedrichsplatz wohnt sie ebenfalls. Anna ist mit 20 Jahren noch ledig und besucht gern ihre Eltern in ihrem 22 km entfernten Heimatdorf mit seinen gut 500 Einwohnern. Kassel liegt mit 216.000 Einwohnern zu dieser Zeit geographisch im Herzen Deutschlands. Das Haus am Burgpfad in den 1940er Jahren. Nicht wenige Gäste schwärmen von einer der schönsten Städte Europas. Die vom mittelalterlichen Baugefüge mit einzigartigen mehrgeschossigen Fachwerkhäusern und vielen Bauobjekten des Barocks und der Renaissance geprägte Stadt ist 1943 zudem ein wichtiger Baustein der NS – Rüstungsindustrie mit einem grossen Einzugsbereich bis weit in das Hinterland hinein. Kopierschutz Das Eckhaus Sack 4 / Steinweg entspringt der Baukunst der Renaissance. Das massive Erdgeschoss trägt 2 Obergeschosse in Fachwerkbauweise, die später verputzt werden. Nachkommen des Kasseler Komponisten Johan Heugel (1510 - 1585) werden 1605 als Eigentümer benannt. Er bewohnt das Haus zunächst mit seiner Familie. Es wird vermutet, dass J. Heugel in Kassel vorher als Baumeister tätig war und das Haus von ihm stammt. Die Gebrüder Grimm ziehen 1785 nach Kassel und werden hier von ihrer Tante während ihrer Schulzeit untergebracht. Die Bäckerei Wahrenholz im Kasseler Stadtteil Mitte. Seite | 3 Kopierschutz Schulbild um das Jahr 1934. Kassel liegt im Schnittzentrum kleinerer Nachbarstädte mit ungleich geringerem Rüstungspotential. Erfurt/Gewehre, Fulda/Kugellager und Gummiwerke, Paderborn/Militärpräsens und Verwaltung und Hildesheim/Boschteile für Panzermotoren sind ebenso im Focus der alliierten Kriegsführung. Für die Stadt zu Füssen des Herkules ist jedoch höchste Priorität eingeräumt. Hier arbeiten zunehmend auch Frauen, Kriegsversehrte und Zwangsarbeiter in den Fabrikanlagen u.a. der Fieseler Werke, Henschel, Junkers und Wegmann. Der Eisenbahnknotenpunkt zur schnellen Belieferung der Frontabschnitte mit Lokomotiven, Waggons, Panzern, Flugzeugen ist von enormer strategischer Bedeutung. Kopierschutz Das 2. Schulhaus von Obermeiser in den 1940er Jahren. Seite | 4 Das Kriegsgeschehen berührt noch nicht massiv den öffentlichen Alltag der nordhessischen Bevölkerung. Erst Mitte 1942 mit den ersten empfindlichen Luftangriffen auf Hamburg schreitet der Tod unaufhaltsam ins Landesinnere. Luftschutzübungen, Abwehrvorkehrungen und gezielte Propaganda der Gauleitung wiegen die Einwohner in gespannter vermeintlicher Sicherheit. Auch in dem kleinen Ort Obermeiser werden sog. Volksgasmasken für den Notfall im Bürgermeisteramt, das auch 1943 den Kindergarten beherbergt, gelagert. Von ca. 93 Stck. sind 2/3 für Frauen und 1/3 für Kinder markiert. Die Niederlage in Stalingrad und die zunehmende Anzahl der Sterbenachrichten gefallener Soldaten in der Tagespresse lassen bei vielen Bürgern die ärgsten Befürchtungen aufkeimen. Kopierschutz Volksgasmaske für den Zivilschutz. Nachdem Mittel der herkömmlichen Kriegsführung nicht die angestrebte Wirkung erreichen, um die NSDiktatur zur bedingungslosen Kapitulation zu zwingen und als Reaktion auf deutsche Luftangriffe gegen London oder Coventry wird auf Betreiben der Britischen Kriegsführung die Anwendung der "Moral-BombingStrategie" beschlossen. Das sieht im kriegstechnischen Sinn die Flächenbombadierung von dichtbesiedeltem Gebiet vor. Rote, grüne und weisse Leuchtmarkierungen, sogen. "Christbäume" werden mit der Vorhut durch die PFF "Pathfinder Force" abgesetzt. Danach kommen Luftminen zum Einsatz, die durch ihre Druckwellen grosse Öffnungen in Dächer und Wände freilegen. Dann folgen Sprengbomben, die Gebäude zum Einsturz bringen und Bunker sowie Luftschutzkeller verschütten. Brandbomben entfachen einen bewusst kalkulierten Feuersturn, der alles zerstört, was er mit seiner todlichen Energie umschliesst. Ziel ist, die Moral der Zivilbevölkerung zu brechen. Die Crew der 166. Squadron der RAF "Royal Airforce" wird in der Vorbereitungsphase zum Einsatz gegen Kassel dementsprechend eingewiesen. Die Bomberbesatzungen rekrutieren sich ausnahmslos aus Freiwilligen, die sich ihrer Mission bewusst sind. Die No.166 "Schwere Bomber Staffel" der RAF wird im Januar 1943 neu formiert. Die ED366 Besatzung trainiert ab 10.10.1943 in der HCU 1656 (Heavy Conversion Unit) der RAF Lindholme ihren Lancaster-Einsatz und ist danach am Flugfeld von Kirmington stationiert, heute Humberside International Airport. Kopierschutz Das Dorf Kirmington mit rund 300 Einwohnern liegt nahe an der mittelenglischen Ostküste, auf der Höhe von Manchester. Westlich vom Dorfkern sind 3 Landebahnen überlappend angeordnet, die ein Dreieck bilden, an deren Längsseiten die Infrastruktur der RAF Basis angeordnet ist. Seite | 5 Kopierschutz Flugplatz der Royal Airforce am Dorf Kirmington, Mittelengland, 1943 Das Areal hat eine Gesamtfläche von 233 ha. Nachdem am 03. Sept. 1939 Grossbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hat, folgt Kanada am 10. September. Kanada ergänzt so auch die 166. Squadron mit Personal. Zur Besatzung der Avro Lancaster ED366 AS – C gehören: Sergeant Kenneth Hurst, Flugzeugführer/Pilot, 22 Jahre, aus Middlesbrough, geb. 07.11.1920, Royal Air Force Sergeant David Gareth Rees, Bordmechaniker/Flight Engineer, 19 Jahre alt, Sohn von Tudor und Elizabeth Rees, Pensarn, Carmarthen, Royal Air Force Sergeant John Saffrey, Navigator, 32 Jahre alt, Sohn von Percival Gustave und Maria Jane Saffrey, Ehemann von Marjorie Barrie Saffrey, 56 Broadway, Mill Hill, Middlesex, London N.W.7, Royal Air Force Sergeant Ronald Harris Butler, Bombenschütze/Bomb Aimer, 24 Jahre alt, Sohn von William und Hilda Butler, North River, Prince Edward Island, Kanada, Royal Canadian Air Force Sergeant Walter George Gamage, Bordfunker, Bordschütze/Wireless Operator, Air Gunner, 20 Jahre alt, Sohn von Sidney Walter George und Ellen Elizabeth Gammage, West Green, Middlesex, Royal Air Force Sergeant John Terrance Costello, Oberer Geschützturm/Mid Upper Gunner, 22 Jahre, geb. 15.09.1921 in Deutschland, Sohn von Herrn und Frau T.M. Costello, Goderich, Ontario, Kanada, Royal Canadian Air Force Sergeant Michael Monaghan, Heckschütze/Rear Gunner, 24 Jahre alt, Sohn von John und Hannah Monaghan, Barrow-in-Furness, Lancashire, Royal Air Force Seite | 6 Kopierschutz Treffunkt der Soldaten und des Personals in ihrer Freizeit. Nach Dienstschluss oder an freien Tagen trifft man sich im Pub "Marrowbone & Cleaver", vom RAF Personal "Chopper" genannt. Die Crew wird an einer 4-motorigen Avro Lancaster MK.I ausgebildet. Die ED366 wurde der 166. Squadron am 15. Okt. 1943 zur Verfügung gestellt. Die Maschine hat lediglich einen Fronteinsatz, am 18/19. Okt. 1943 gegen Hannover, zu verzeichnen. Dabei wurde der Maschine beim Überqueren der niederländischen Küste auf dem Rückflug beträchtlicher Schaden durch Schwere Flak zugefügt (AIR 27/1089). Die erwähnte Crew fliegt in dieser Besetzung ihren ersten Einsatz mit dieser Maschine. Es ist der 22. Okt. 1943. Anna besucht an diesem Freitag ihre Eltern im Heimatdorf Obermeiser. Vielleicht hat sie einen freien Tag oder Urlaub. Ihre Eltern machen sich grosse Sorgen wegen der Sicherheit in Kassel. Erst am 18. Okt. musste Hannover unter einem Grossangriff durch Bomber leiden. Sie ahnen, dass Kassel nicht verschont werden wird. Trotz strengsten Verbotes ausländische Radiosender abzuhören, spricht sich die katastrophale Gesamtsituation des Reichsgebietes herum. Heinrich und Friederike Hold bitten ihre Tochter inständig doch über Nacht zu bleiben. Aber alles Flehen hilft nichts. Anna stellt ihr Pflichtbewusstsein gegenüber ihrem Arbeitgeber über die Ängste ihrer Eltern und wohl auch über ihre eigenen. Der Tag neigt sich dem Ende und Anna bricht wieder die 22 km nach Kassel auf. Vielleicht mit einem Linienbus, mit einem Bekannten oder mit dem Fahrrad. Wir wissen es nicht. Am Ortsende Richtung Westuffeln kann sie über den herbstlichen Nebelschwaden der Nebelbeeke den kahlen Mühlenberg ausmachen, auf dem die Kinder im Winter gerne rodeln. Jetzt könnte dort oben in einer kleinen Kuhle eine Funkmess-Station oder Flugwache aufgebaut sein, die feindliche Flieger im Anflug auf Kassel registriert. Solch einen “Horchposten“ meinen Einwohner wie Manfred Neumeyer beobachtet zu haben. Seite | 7 Kopierschutz Ein Blick vom Mühlenberg auf das Dorf Obermeiser um 1940. Am linken oberen Bildrand ist der Oppermannsberg zu erkennen. Dieser Blickwinkel bot sich auch den Posten auf dem Mühlenberg. Sie kommt an der Steinernen Brücke vorbei, die die Grenze zwischen den Nachbardörfern markiert. Wenn sie ihren Kopf nach rechts wendet, sieht sie im Dämmerlicht noch die Silhouette des Huckenberges mit dem davor gelagerten Oppermanns Berg. Anna wird bei Dunkelheit im Steinweg, unweit zum Zentrum am Friedericianum, angekommen sein. Kopierschutz Eine britisch/kanadische Crew nimmt Aufstellung vor einer baugleichen “Lanc“. Im Gegensatz zu US-Soldaten haben Kanadier keine eigene Befehlsgewalt und waren der Royal Airforce untergeordnet. Seite | 8 Nachdem der Marschbefehl erteilt ist, nimmt die "Area Bombing Directive" "Target Kassel" ihren verhängnisvollen Lauf. Routineprozeduren schliesssen sich an. Volltanken, Bestücken mit der todbringenden Fracht, Motoren-, Instrumenten-, Bewaffnungscheck. Der Bomber ist standardmässig mit einer 2.000 kg Luftmine, 12 Behältern mit 90 Stabbrandbomben (je 1,7 kg) und 8 Phosphorbrandbomben (je 13,5 kg) bestückt. Die Lancaster hat mit ihren 4 Rolls-Royce Triebwerken eine Leistung von je 1.145 PS. Die Reichweite beträgt bei einer max. Bombenlast von 6.350 kg 2.675 km. Bei einer Entfernung nach Kassel und zurück von ca. 2.000 km ist noch Reserve für Umwege im Notfall vorhanden. Eine Lancaster Mark I mit einer Flügelspannweite von 31 m und einer Länge von 21 m. Kopierschutz Kopierschutz Verladen von Sprengbomben und einer Luftmine (ca. 1.800 kg). Lancaster Bomber werden im Nachteinsatz geflogen und so startet die Maschine um 17:55 Uhr als eine von 569 Bombern zum Sammelgebiet gen Kassel. 444 Maschinen erreichen das Zielgebiet Kassel (AIR 14/3411). Bei einer Marschgeschwindigkeit von 338 km/h wird mit dem Eintreffen bei ungestörtem Ablauf um 21:00 Uhr gerechnet. Seite | 9 Aufgrund von Täuschungsmanövern über Frankfurt und Köln wird in Kassel erst mit kurzer Vorwarnzeit Alarm ausgelöst. Um 20:17 Uhr heulen die Sirenen, zeitgleich in Hofgeismar (Alarmbuch Luftschutzwarnkommando). Trotz Verdunkelung herrscht an diesem beginnenden Wochenende die übliche Beschäftigkeit in der Innenstadt. Es ist nicht der erste Fliegeralarm und der erste Angriff auf das Zentrum an der Fulda. So eilen die Bürger eingeübt, aber nichtsahnend was Ihnen bevorsteht, in die Bunker und Keller. Auch Anna begibt sich zusammen mit dem Bäckermeister August Wahrenholz (1881 – 1943) und seiner Frau Sabine (1883 – 1943) in den Keller ihres Hauses Sack 4. Deren Tochter Erna, verh. Becker, sucht im Haus Sack 3 im Gewölbe Schutz. Schon 20 Minuten später um 20:37 Uhr fallen die ersten Bomben, nachdem vorher Leuchtmarkierungen abgeworfen wurden. Ein apokalyptisches Inferno breitet sich über der gesamten Innenstadt aus. Um 21:30 Uhr drehen die letzten Bomber ab. Es gibt keine Entwarnung, weil die meisten Nachrichtenverbindungen unterbrochen sind. So irren viele Eingeschlossene, teils fürchterlich schreiend oder verzweifelt apathisch, im Chaos orientierungslos zwischen den vorsorglich durch Mauerdurchbrüche verbundenen Kellerräumen umher. Viele Ausgänge sind zudem verschüttet. Das Höllenfeuer raubt den Eingeschlossenen und Fliehenden den Sauerstoff zum Atmen oder setzt Kohlenmonoxid frei. Die meisten fallen in einen Schlaf, aus dem sie niemals mehr erwachen. Weit über 10.000 Menschen ersticken, werden von Trümmern erschlagen oder verbrennen. Schnell breitet sich das grauenhafte Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner im Umland aus. Auch von Obermeiser aus können Bürger noch den Feuerschein am Firmament beobachten. Anna, 20 Jahre, lebt nicht mehr. Sie ist im Keller erstickt, ebenso die Familie Wahrenholz. Die traurige Nachricht erreicht am nächsten Tag ihre Eltern. Ein Pferdefuhrwerk mit eisenbeschlagenen Speichenrädern und einem leeren Holzsarg auf der Ladefläche macht sich auf, um den Leichnam nach Hause zu holen. Anna wird zu ihrer "letzten grosse Reise" über holpriges Kopfsteinpflaster zur Leichenhalle hinter den grossen alten Linden des Friedhofs Obermeiser gefahren, wo sie und drei weitere Personen am 28.10.1943 ihre Ewige Ruhe finden. Rena Sünder, damals 10 Jahre alt, erinnert sich dazu: "Die beiden Hitlerjungen August Sünder, mein späterer Ehemann, und Helmut Neumeyer begleiteten den Transport des Leichnams." Der Grabstein von Anna Hold könnte noch heute an die Sinnlosigkeit des Krieges und an die dunkelste Zeit Neuer Geschichte zeitlos mahnen. Das Grab wurde nach Ablauf der Frist beseitigt, der Stein ist nicht mehr vorhanden. Auf einer Flughöhe von ca. 20.000 feet/6.000 m klinkt der Bombenschütze Ronald Butler seine stählerne Last aus. Er befindet sich in der “Nase“ an exponierter Stelle in der gläsernen Kanzel des Flugzeuges. Hier liegt im Fußboden eine einmalig entfernbare Luke als Notausstieg für ihn und die 4 Insassen des Cockpites. Hier sitzen nebeneinander der Pilot und der Bordmechaniker, hinter ihnen der Navigator und der Bordfunker. In der Mitte des Rumpfes kontrolliert der MG-Schütze den oberen Luftraum. Es herrscht klares und windstilles Wetter bei hellem Mondlicht in dieser Freitagnacht. So kann der Pilot, aus südlicher Richtung kommend, die Markierungen gut ausmachen. Die Rauchsäulen der brennenden Ziele steigen senkrecht bis auf ca. 15.000 feet/4.500 m, bevor sie sich verflüchtigen (Protokoll RAF). Die Hecksicherung gibt den Blick frei auf die brennenden Überreste einer vor einer halben Stunde noch intakten Stadt. Seite | 10 Kopierschutz In der Bildmitte sind die erdgeschossigen Mauerreste des Hauses Ecke Steinweg/Sack 4 zu erkennen. Der Zugang zur Sackgasse ist durch Trümmerteile versperrt. Die Aufnahme zeigt das frühwinterliche Stadtbild Kassels Mitte November 1943. Irgendwann zu dieser Zeit wird die Maschine aus einer der Flak-Stellungen getroffen, die zum Schutz im Umkreis der Stadt postiert sind. Gemäß "Luftlage" ist ein Flak-Treffer um 21:22 Uhr für "Wer(s)tuffeln registriert. Für die Flughöhe der Bomberflotte kommt nur eine der 15 schweren Flak-Batterien in Frage, wie sie z.B. in Obervellmar stationiert ist. Zur Unterstützung der Abwehrmaßnahmen befinden sich zudem ScheinwerferSuchstellungen in der Region. Dieter Riegel aus Meimbressen erinnert sich dazu: Kopierschutz Zwischen Westuffeln und Meimbressen befand sich während des Krieges eine Stellung, in der große Scheinwerfer stationiert waren. Sie wurden dazu benutzt, mit ihren Lichtkegeln die gegnerischen Bomberverbände nachts für die Flugabwehr sichtbar zu machen. Direkt an der Kreisstraße waren Baracken für die Aufnahme des Bedienungspersonals errichtet. Die Offiziere waren in Privatquartieren in Meimbressen untergebracht. Baracken des Bedienungspersonals bei Meimbressen. Seite | 11 Ein Nachtjäger der Luftwaffe taucht auf und attackiert die beschädigte Lancaster. Sie verliert an Höhe und Geschwindigkeit, ist aber weiter flugfähig und versucht qualmend in westlicher Richtung zu entkommen. Harald Leck aus Obermeiser ist 1943 ein Schuljunge. Die Erinnerung an diese Nacht und an den darauf folgenden Tag hat sich bei ihm unlöschbar eingebrannt: Harald erzählt, dass er am Abend des Luftangriffs zusammen mit seinem älteren Bruder Ewald, mit Heinz Bringmann und Heinz Himmelmann auf der Kreuzung vor dem Gasthaus Himmelmann gestanden habe. Eigentlich sei ihnen aufgetragen worden, in einen Splittergraben (als Bunkerersatz) zu steigen, der sich hinter dem Haus von Familie Schwarz (Schwarz-Schnieder) befunden hat. Die Jungen hatten jedoch Bedenken in dem engen und nach oben offenen Graben gefangen zu sein und blieben daher im Freien. In der Endphase der Bombardierung haben sie das Flugzeug aus Richtung Kassel kommend am Himmel deutlich sehen können. Harald sagt, er habe erkennen können, dass die Maschine qualmte bzw. brannte und nur langsam fliegen konnte. Kurze Zeit später habe man am Horizont rote Leuchtkugeln gesehen. Diese seien offenbar das Signal dafür gewesen, dass die Flak aufhören sollte zu schießen. Nach seinen Angaben sind unmittelbar danach zwei deutsche Jagdflugzeuge am Himmel aufgetaucht, die den Bomber angriffen. Harald meinte, dass diese Maschinen evtl. von dem Flugplatz am Schachter Triesch (dort befand sich ein kleiner Stützpunkt mit Graspiste) aufgestiegen seien. Eine der Maschinen habe mit Leuchtspurgeschossen auf den beschädigten Bomber gefeuert. Harald sagt, er habe den Eindruck gehabt, die Jäger hätten versucht, den Bomber immer tiefer herunterzudrücken. Am Nachthimmel sei dann deutlich zu sehen gewesen, dass sich zwei Fallschirme von dem Flugzeug lösten. Wohin diese getrieben wurden, konnten die Jungen jedoch nicht mehr erkennen. Harald berichtet ausserdem, der Flieger in Laar sei angeblich mit Beinbruch verletzt gewesen. Was mit der zweiten Person geschehen ist, sei ihm nicht bekannt. Er bestätigt aber ebenfalls, dass an der Steinernen Brücke ein Fallschirm gelegen habe. Am nächsten Tag seien die Jungen der Klasse zusammen mit dem Lehrer Kurz an der Absturzstelle gewesen. Harald bezweifelt, dass es sich um einen klassischen Absturz gehandelt habe. Offenbar sei versucht worden, die Maschine auf dem Bauch aufzusetzen. Man habe deutlich Spuren gesehen, die auf ein Rutschen oder Gleiten des Wracks auf der Wiese gedeutet hätten. Er habe auch beobachtet, dass nicht der gesamte Treibstoff verbrannt war. Einige Lachen hätten sich in die vorhandenen Mäuselöcher auf der Wiese ergossen und dort weitergebrannt. Der mit dem Fallschirm abgesprungene Flieger war nach seiner Einschätzung nicht der eigentliche Pilot. Am Wrack angekommen, meint Harald gesehen zu haben, dass die beiden Piloten bzw. die Personen, die im Cockpit vorn gesessen haben, immer noch in ihren Sitzen angeschnallt und stark verkohlt waren. Deutsches Militär, nach Haralds Ansicht Angehörige der SS, habe die verkohlten Leichen mit langen Haken von ihren Sitzen gezogen. Harald berichtet weiterhin, dass Moritz Hold, der Großvater von Reinhard Hold, noch in der Nacht mit seiner Schrotflinte zu dem Wrack aufgebrochen sei. Vor dem Wald sei allerdings schon deutsches Militär gewesen. Um ein Haar sei auf ihn geschossen worden, weil man ihn für einen Gegner gehalten haben habe. Seite | 12 Die Avro Lancaster mit Kennung ED366 AS - C kommt nach einer Bruchlandung um 22:30 Uhr (Angabe Bürgermeister Reinhardt) nördlich vom Oppermannsberg, einem rechteckigen einzelnen kleinen Waldstück zwischen Obermeiser und Westuffeln, zum Liegen. Dabei brennt das Wrack auf Westuffelner Seite nahe an der Uffelner Beeke aus. Das Rinnsal entspringt am Huckenberg und markiert die Gemeindegrenze. Es erfolgt keine Explosion und das Heck bleibt relativ unbeschädigt. Der Pilot Sgt. Kenneth Hurst überlebt die missglückte Notlandung durch Fallschirmabsprung. Er sitzt als Einziger einer Lancaster-Crew während der ganzen Operation auf seinem Fallschirm angeschnallt. Die übrige Crew soll ihren Schirm erst im Notfall anlegen. Er flieht in den angrenzenden Wald und stellt sich am nächsten Tag, Samstag, den 23.10.1943 um 18:00 Uhr in Laar (Angabe Bürgermeister Reinhardt), einem Gutshof vor Zierenberg. Luftlinie ca. 3 km vom Unglücksort. Nach schwer zu entschlüsselnden Bemerkungen der RAF Verlustmeldung (Loss Card 22) könnten die Soldaten Gamage, Rees und Butler durch vorausgehenden Beschuss (killed in afore fire) getötet worden sein. Es sind keine Aussagen des Geretteten zum Hergang bekannt. Ebenso werden keine Kontaktmeldungen während des Fluges registriert. Der Verlust des Bombers wird mit fehlender Ursache und Ortsangabe unter AIR 27/1089 dokumentiert. Lancaster mit fast identischer Startzeit landen noch kurz vor 24:00 Uhr auf dem Heimatflughafen Kirmington (Protokoll RAF). Es sind Nachtjäger des ganzen Reichsgebietes in dieser Nacht im Grossraum Kassel im Einsatz. Nach Angaben der “Luftlage Reich vom 23.10.1943“ kommen diverse Nachtjäger-Beteiligungen beim Absturz infrage. Eine eindeutige Zuordnung eines Nachtjäger-Piloten ist nicht machbar. Folgende Angabe erscheint möglich: Uffz. Klaus Möller, Uhrzeit 21:15 Uhr, 25 km westlich Kassel, 12. Staffel, NJG 3, Flughöhe 4600 m, Schema Lancester. Von der “Luftlage“ werden am 22./23.10.1943 57 sichere Abschüsse gemeldet. Nach englischen Aufzeichnungen (AIR 11/3411) wurden 42 Bomber mit Verlust verzeichnet. 8 feindliche (deutsche) Flugzeuge werden abgeschossen. Es ist nicht anzunehmen, dass Nachtjäger am 22.10.1943 auf dem Feldlandeplatz Schachten zum Auftanken zwischengelandet sind, da die Graspiste erst 1944 angelegt und vom 24.11.44 bis 15.12.44 durch das Jagdgeschwader 3 "Udet" genutzt wird. Nach der überlieferten Erzählung des Zeitzeugen Dietrich Lohne, der damals als Bürgermeister von Obermeiser das Flugzeugwrack an der Gemarkungsgrenze aufgesucht hat, ist der Obere Bordschütze, Sergeant Costello, mit beiden Händen an seinem "Browning 303"-Geschütz sitzend, tot aufgefunden worden. Dietrich Lohne äußerte die Vermutung, dass der Schütze offenbar bis “zur letzten Patrone“ gefeuert habe. Frau Dora von Starck berichtet am 30.08.2015 über die Ereignisse: Am Sonntag nach dem Bombenangriff, also am 24.10.1943, befand sich ein befreundeter Gartenbaumeister zu Besuch auf Gut Laar. Er ging an diesem Vormittag spazieren in Richtung Hohenborn. Bei dieser Gelegenheit hat sich ihm offenbar Kenneth Hurst aus dem Wald heraus zu erkennen gegeben. Er ist dann mit zum Gut gekommen und wurde dort zunächst verköstigt. Später wurden dann die Behörden informiert und er wurde abtransportiert. Mir ist allerdings nicht bekannt, wo er hingebracht wurde. In Laar hat er offenbar schon erklärt, dass er nach seinem Fallschirmabsprung zur abgestürzten Maschine gelaufen ist. Dort konnte er allerdings nichts mehr ausrichten. Ich meine mich zu erinnern, dass in den Überlieferungen stand, dass ein zweiter Flieger versucht habe, aus der Maschine auszusteigen. Seite | 13 Das sei ihm aber nicht lebend gelungen. Ob der Schirm nicht aufgegangen war oder er sich anderweitig verletzt hatte, konnte ich nicht sagen. Aus meiner Zeit in Westuffeln kann ich bestätigen, dass die sterblichen Überreste der Flieger in einer einzigen großen Holzkiste bestattet wurden. Am 10.09.2015 bestätigt Frau Dora von Starck schriftlich das vorab mündlich geschilderte Geschehen wie folgt: Bei dem schweren Luftangriff im Oktober 1943 auf Kassel stürzte ein britischer Lancaster Bomber des Typs Mark I brennend ab und zerschellte am Oppermannsberg in der Gemarkung Westuffeln an der Grenze zu Obermeiser. Der Pilot des Fliegers war abgesprungen, sicher gelandet und hatte sich im Wald verborgen. 6 Insassen verbrannten, es waren 4 Briten und 2 Kanadier, die zunächst in einem Kameradengrab auf dem Friedhof in Westuffeln beerdigt wurden. Nachdem der überlebende Pilot frühmorgens bei dem ausgebrannten Flugzeug feststellte, dass kein Kamerad überlebt hatte, stellte er sich am Morgen des 24. Oktober am Hagenfeld (Hohenborn) dem dort spazierengehenden Artur Glogau, der ihn mit nach Laar ins Haus nahm. Dort wurde er erstmal verköstigt und dann von den zuständigen Behörden abgeholt und gefangen genommen. Artur Glogau (1874 – 1960), Gartenarchitekt und Hochschullehrer in Geisenheim, war 1943 längere Zeit zur Gestaltung und Anlage eines neuen Parkweges in Laar. In einer Untersuchung der RAF vom August 1946 gibt der Bürgermeister von Westuffeln, A. Reinhardt, seine Beobachtungen zu Protokoll: Er bestätigt das Flugzeug in Flammen gesehen zu haben. Es sei aus einer Höhe von ca. 500 m mit steilem Sinkflug abgestürzt und schliesslich in einem Feld ca. 2 km westlich des Dorfes zerschellt. Der Bürgermeister von Laar Gunter Starck gibt zu Protokoll: Er habe gesehen, dass die Maschine von der Flak und dann von einem Nachtjäger getroffen wurde. Im Licht der Flammen habe er beobachtet, dass eine Person herausgeschleudert wurde. Das Flugzeug sei nach unten getrudelt und in horizontale Fluglage gekommen, bevor es ausser Sichtweite abstürzte. Beide Bürgermeister hatten die Unglücksmaschine am nächsten Morgen in Augenschein genommen. Nach ihren Angaben war der vordere Teil schlimm demoliert und ausgebrannt. Es gab anscheinend keine Explosion und der Rest der Maschine hatte nicht gebrannt. Beide Bürgermeister bestätigen 6 Leichen. 3 weitgehend verkohlt, 3 unverbrannt in voller Kleidung. Es sei ihnen nicht möglich gewesen, die ursprüngliche Lage der Körper festzustellen, da die Wehrmachtssoldaten sie am Näherkommen gehindert haben. Nach Angaben des "Returning POW Reports" weist der Pilot Sgt. K. Hurst bei seinem Aufgreifen nur oberflächliche Verletzungen auf. Anmerkung: In den Berichten der Augenzeugen wird ein zweiter Fallschirm erwähnt. Inwieweit der Schirm sich ganz oder teilweise geöffnet hatte oder ob mit ihm ein weiteres Besatzungsmitglied aus der Maschine lebend oder tot befördert wurde, bleibt ungeklärt. Als Fluchtmöglichkeit kommen neben dem Ausstieg aus der PlexiglasKanzel des Bombenschützen noch die Ladetür infrage. Dagegen soll die Öffnung im Dach des Cockpits nicht zum Fallschirmabsprung genutzt werden. Auch die beiden Ausstiege im Dach des Rumpfes sind nur bei der “Wasserung“ der Maschine zu gebrauchen. Seite | 14 Kopierschutz So mag sich dem Betrachter am Boden das Bild eines überfliegenden Lancaster-Bombers dargestellt haben. Die Wrackteile und die persönlichen Gegenstände der Soldaten werden von der Wehrmacht geborgen und nach Hofgeismar gebracht. Ebenfalls wird der Pilot K. Hurst nach Hofgeismar überstellt (Angabe Bürgermeister von Westuffeln A. Reinhardt). Sgt.Hurst kommt vom 24.10.1943 bis 06.11.1943 zunächst ins Vernehmungslager DULAG Luft, am Ortsrand von Oberstedten, heute Stadtteil von Oberursel. DULAG Luft wurde ab 1943 AWSW (Auswertestelle West) genannt und vom Roten Kreuz tangiert. Danach wird er ins STALAG IV B, Mühlberg an der Elbe interniert (POW, Prisoner of War, Camp 4 B, No. 261211). Von da verliert sich die Spur des Überlebenden vom Oppermannsberg. Das Lager wurde am 23.04.1945 durch die Rote Armee befreit und danach von der Sowjetunion für politische Gefangene weitergeführt. Kopierschutz Das Eingangsportal des STALAG IV B in Mühlberg an der Elbe Seite | 15 Die Trümmerteile der abgestürzten Maschine werden am Tag nach dem Absturz von einem der extra abgestellten Wachposten der Wehrmacht fotographiert, der bei der Famile Leimbach in Westuffeln einquartiert ist. (Geschichtsverein Westuffeln) Kopierschutz Die Aufnahme zeigt den hinteren Teil des Flugzeugrumpfes, der noch die geringsten Beschädigungen erlitten hat. Deutlich zu sehen sind Fragmente der Kennbuchstaben (ED AS) auf der Beplankung. Im Hintergrund die Baumwipfel vom Opermannsberg. Kopierschutz Die zweite Photographie zeigt den vorderen bzw. mittleren Teil des Flugzeugwracks. Hier ist deutlich die durch den Aufprall und das Feuer verwüstete Partie mit den Überresten der Motoren und den verbogenen Propellern zu sehen. Seite | 16 Kopierschutz Diese Aufnahme zeigt den Rumpf aus südlicher Richtung. Vorn rechts die Kennung ED AS. Kopierschutz Die vierte Aufnahme zeigt ausschließlich Trümmer, die offensichtlich dem Feuer ausgesetzt waren. Bei den erkennbaren Objekten könnte es sich um einen SauerstoffDruckbehälter und den Unterbau eines Sitzes handeln. Seite | 17 Nach Angaben von Ortsbewohnern aus Obermeiser wird an oder unter der Steinernen Brücke ein Fallschirm gefunden. Kopierschutz Kopierschutz Die Steinerne Brücke an der Gemarkungsgrenze zwischen Obermeiser und Westuffeln. Hier, unter bzw. an der Brücke, wurde am Tag nach dem Luftangriff ein Fallschirm gefunden. Im Hintergrund sieht man die damals noch unbebauten Gemarkungsteile, in der sich heute die Neubausiedlung von Westuffeln befindet. Die Aufnahmen entstanden Ende der 1930er Jahre und stammen aus dem Bilderarchiv von Familie Hermann Neumeyer. Mit grosser Wahrscheinlichkeit handelt es sich um den Fallschirm des Piloten, der ihn hier nach der Landung versteckte. Im Zusammenhang mit dem Absturz kommt 1947 eine Anzeige bei der Besatzungsmacht zur Sprache. Durch Meldung eines Einwohners aus Obermeiser erfolgt eine ergebnislose Anhörung des Dorfgastwirtes durch die Amerikanische Kontrollinstanz in Hofgeismar. Dabei soll der zu Unrecht Beschuldigte einen verletzten englischen Soldaten am Flugzeugwrack getötet haben. Der Kriegsalltag in Obermeiser ist durch Trauer, Verzweiflung, Hoffen, Bangen gekennzeichnet. In der Schule ist der Bomberabsturz, besonders für Jungen, das vorherrschende Thema. Vielleicht auf Drängen seiner neugierigen Schüler und auf Anordnung macht sich der Lehrer Karl August Kurz mit seiner Klasse auf den Weg zum Wrack vor dem Oppermannsberg. Wir wissen nicht wie schwer es "Molli", so nennen ihn seine Schüler, gefallen ist, diesen schweren Gang anzutreten. Wir können nur ahnen, was in seinem Herzen vorgeht. Seine Tochter Grete Seydler, die in Kassel verheiratet war, ist ebenfalls in gleicher Nacht den Bomben zum Opfer gefallen. Die sterblichen Überreste der 6 Männer der Bomberbesatzung werden gemeinsam in einer grösseren Holzkiste, hergestellt aus groben Brettern, in der südwestlichen Ecke des Friedhofs Westuffeln anonym beigesetzt. Dabei werden gemäss RAF Verlustmeldung (Loss Card 23) Sgt. Saffrey und Sgt. Costello zunächst identifiziert. Polnische Zwangsarbeiter heben auf Anordnung des Ortsgruppenleiters aus Ehrsten das Grab aus und nehmen die Beerdigung vor. Nach der Besetzung des Ortes durch die Amerikanischen Streitkräfte wird dieser politische Vertreter des NS Regimes verhaftet. Vermutlich wird auf Druck der SS und der Wehrmacht sowie mit vermutlicher Billigung des Kreisleiters den toten Soldaten kein ortsübliches Begräbnis zu Teil. Seite | 18 Die Herzen derer, die das könnten, bleiben verschlossen. Ihnen sind die Hände zum stillen Gebet, zum Abnehmen der Mütze, gebunden. Zu unvorstellbar schwer lastet das Inferno der vergangenen Nacht und erdrückt eine angemessene und humane Regung. VERSTEINERTE HERZEN - Heart of Stone Dazu vermerkt der Lehrer Alexander Vial in der Westuffelner Schulchronik: Die 6 toten Flieger wurden auf Anordnung des Ortsgruppenleiters aus Ehrsten in sehr unwürdiger Weise, ohne militärische und kirchliche Ehren, begraben. Wie roh und unmenschlich war doch ein grosser Teil des deutschen Volkes durch den Nationalsozialismus geworden (Geschichtsverein Westuffeln). Herbert Richeling, damals ein Schüler aus Obermeiser, am nächsten Morgen an der Unglücksstelle mit dabei, erinnert sich an die Worte seines Lehrers Karl August Kurz beim Anblick der Leichen: “Das sind auch nur Menschen, obwohl sie unsere Feinde sind und nicht unsere Freunde sein können.“ Kopierschutz Kopierschutz Sergeant John T. Costello Oberer Geschützturm Nach Meldungen des Landratsamtes des Kreises Hofgeismar werden die 6 Toten am 09.06.1947 nach ihrer Exhumierung nach Hannover überführt. (Siehe Meldeformular vom 04.07.1947, Geschichtsverein Westuffeln). Seitdem ruhen die Gebeine der gefallenen Soldaten auf dem Soldatenfriedhof Hannover. Sgt. John Costello befindet sich in einem Einzelgrab, David Rees zusammen mit seinen Kameraden. Die erneute Bestattung erfolgte am 11.6.1947 (Graves Concentration Report). Ein Gedenkstein für Ronald Harris Butler in Cornwall, Prince Edward Island (Kanada) “Flight Sergeant Ronald H. Butler, …killed in action over Germany, October 22. 1943…“ Kopierschutz Kopierschutz Sergeant Ronald Harris Butler, Bombenschütze Nach handschriftlichen Angaben in den britischen Verlustunterlagen (Loss Card 22) findet sich in der Rubrik von Sergeant Butler die Eintragung "baled out (mit dem Fallschirm abgesprungen)". Damit könnten sich die Angaben von Zeitzeugen zu einer zweiten Fallschirmsichtung bestätigen lassen. Seite | 19 Der Bomberabsturz ist schon lange kein dörfliches Gesprächsthema mehr, als plötzlich ein Fund aufhorchen lässt. Heinz-Georg Himmelmann erzählt dazu folgende Geschichte: Wir hatten über Jahre hinweg ein Feld hinter dem Oppermanns Berg bewirtschaftet. In den 1970er Jahren hat mein Vater Heinz am Ende des Feldes in einer Hecke eine Taschenuhr gefunden. Die Uhr war stark korrodiert und die Zeiger waren abgebrochen. Die Aufschriften waren aber noch lesbar und haben den englischen Ursprung der Uhr nachgewiesen. Er hat die Uhr dann an das Rote Kreuz geschickt und darum gebeten, die Uhr den Angehörigen der Flieger zuzuleiten. Ich habe die Uhr damals mit eigenen Augen gesehen. FRIEDEN UND STILLE - Nights in White Satin 70 Jahre nach Ende des II. Weltkrieges überspannt der Nachthimmel den Oppermannsberg mit Stille und Frieden. In der Stadt Kassel hinter dem Horizont der aufgehenden Sonne ist neues pulsierendes Leben eingekehrt, fernab der Ereignisse dieser schrecklichen Zeit. Hinter uns liegt die Asche der Väter. Vor uns die Hoffnung auf ein friedliches und respektvolles Miteinander der Nationen, sowie die Erkenntnis, dass es im Krieg nur Verlierer gibt. Reinhard Saalfeld, im Oktober 2015 Meinen herzlichen Dank an alle, die zum Entstehen dieser Dokumentation mit Engagement, Informationen, Aufzeichnungen und Bildmaterial beigetragen haben: Holger Neumeyer Wolfgang Friedrich Harald Leck Herbert Richeling Heinz-Georg Himmelmann Manfred Neumeyer Bildnachweis RAF Museum Kirmington National Archive Canada Anna Leimbach Wolfgang Friedrich Dieter Riegel Eirwen Wesley Dora von Starck Reinhard Saalfeld Geschichtsverein Westuffeln Dieter Riegel Mark Chamley Mark Chamley Eirwen Wesley Holger Neumeyer Graham Chaters Stadtarchiv Kassel Fred Vogels David Swallow Seite | 20 Dom Howard (www.lancasterbombers.net) Nachtrag: Sgt. Kenneth Hurst Sollte es die übliche Befragung durch die Royal Airforce (confidentials) des überlebenden und aus der Gefangenschaft entlassenen Piloten gegeben haben, so sind die Protokolle weiterhin unter Verschluss des National Archive von England. Sgt. Hurst kam ursprünglich aus Middlesbrough, England. Hier ist 1948 die Heirat eines Kenneth Hurst mit Doreen Middleton verzeichnet. Sgt. John Saffrey Der Navigator nahm an der Bombadierung Hamburgs am 27.7.1943 teil. Danach noch an Einsätzen zum Minenlegen an der niederländischen und französischen Küste. Seine posthum verliehenen Auszeichnungen wurden im Dezember 2015 in einer Auktion versteigert. Dazugehörig die orginale Versandschachtel an seine Ehefrau Mrs. M. - B. Saffrey. Kopierschutz Kopierschutz Grabinschrift in Gedenken an John Saffrey, mit Erwähnung Kassels als Sterbeort, auf dem Grabstein seiner Eltern. Seite | 21 Zuordnung von einer Auswahl von Oppermannsberg vom Oktober 2015 Relikten der abgestürzten Lancaster Karabinerhaken eines Fallschirms. Fundort: Zwischen Absturzstelle und Nähe Waldrand. Material: Eisen, stark verrostet. Feder aus Edelstahl. Kopierschutz Bauteil des "Oxygen economiser". Kopierschutz Dieses Gerät befand sich in der Bugkanzel und erkannte bzw. steuerte einen bedrohlichen Verlust des Luftsauerstoffes. Es ist anzunehmen, dass Teile davon bei der frontalen Bruchlandung herauskatapultiert worden sind. Fundort: Am Waldrand, waldseitig. Material: Kupfer, durch Hitze leicht deformiert. Kopierschutz Seite | 22 am Kopierschutz Eisenrohr zum Oxygen economiser zugehörig. Durchm. 20 mm, Länge 38 cm. Ein Ende abgeflanscht einschl. Verschraubung. Fundort: zusammen mit dem Oxygen economiser Kupfer Bauteil. Material: Eisen, stark verrostet. Bruchstücke der Aussenverkleidung, 1,2 und 0,8 mm. Kopierschutz Fundort 1,2 mm: am Waldrand Fundort 0,8 mm: an der Aufschlagstelle. Material: Aluminium oder Legierung. Bruchstück von 2 mm Kristallglas, leicht gewölbt. Vermutlich zu einer Instrumentenverglasung gehörig. Fundort wie Plexiglas. Bruchstück von Plexiglas, 4 mm. Vermutlich zum Cockpit gehörig. Auch andere Verglasungspunkte sind denkbar. Fundort: in der Nähe der Aufschlagstelle. Material: Acryl. Engl. Bezeichnung Perplex, brennbar. Seite | 23 Bruchstücke der Aussenverkleidung, 1,2 und 0,8 mm. Fundort 1,2 mm: am Waldrand Fundort 0,8 mm: an der Kopierschutz Deformiertes und verschmolzenes Metall mit 3 Nieten, Durchm. 5 mm, Abstand 16 mm, sowie Einschluss einer Messingschraube 4/13 mm für Verbindung von Holz und Metall. Im mittleren Teil des Rumpfes wurde zur Gewichts/Treibstoffeinsparnis ein leichtes Holzrahmenwerk aus Rottanne im Kopfbereich eingebaut. Andere Holzbauteile wurden in die Unterkonstruktion der Flügelspitzen und hinter den Motoren flügelunterseitig integriert. Material des Metallstücks: Alclad. Alclad verbindet die Korrosionsbeständigkeit reinen Aluminiums mit der Stabilität einer Aluminium, Kupfer, Mangan und Magnesium Legierung. Die Legierung ist dabei unlösbar mit dem Alu beidseitig beschichtet. Der Schmelzpunkt liegt bei ca. 500 Grad Celsius. Fundort: Waldrand, waldseitig. Patronenhülse, Durchmesser 11,5 mm. Kopfprägung: RG 1942, WI Fundort: wie Glas Identifikation: Britische 303 Patrone zur Verwendung mit der Browning 303 Bewaffnung. RG: Royal Ordnance Factory Radway Green. WI: Armour Piecing MK.1 Material: Messing. Kopierschutz Identifikation der Relikte mit freundlicher Unterstützung von facebook, Avro Heavy Lancaster. Seite | 24
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