Die Hoffnung stirbt zuletzt

Am 18. Oktober 2015 fanden weltweit in den tibetischen Exilgemeinden die Vorwahlen
für das Amt des Sikyong, des politischen Oberhaupts der Exilregierung, und der
Abgeordneten des Exilparlaments statt. Der Hauptwahlgang ist für den 20. März
angesetzt.
Am 4. Dezember wurde das vorläufige Ergebnis verkündet. Wangpo Tethong, einer der
beiden Abgeordneten für Europa im tibetischen Exilparlament, kommentiert den ersten
Wahlgang.
Siehe auch Tibet und Buddhismus Nr. 113, 2/2015, S. 48 ff.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Von Wangpo Tethong
Das amtliche Zwischenergebnis aus Dharamsala vom 4. Dezember 2015 meldet: Lobsang
Sangay, der 2011 gewählte Amtsinhaber, liegt mit knapp 67 Prozent der Stimmen in
Führung. Penpa Tsering, Vorsitzender des Exilparlaments und einziger ernsthafter
Gegenkandidat, ist mit 23 Prozenz weit abgeschlagen an zweiter Stelle.
Die Botschaft der Vorwahlen ist leicht auf einen Nenner zu bringen: Offensichtlich sind
die Tibeterinnen und Tibeter zufrieden mit Lobsang Sangay und wollen ihm eine weitere
Chance geben.
Seine große Popularität ist erklärungsbedürftig, da sein Leistungsausweis im Grunde und
gemessen an seinen vielen Versprechen schmal ist. Die Ursache für dieses Resultat
scheint daher zum einen seiner effizienten Pressearbeit geschuldet zu sein, zum anderen
auch der Unfähigkeit der Gegenkandidaten, diese an und für sich günstige Ausgangslage
für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.
Versprechungen der visionären Art – „in 5 Jahren in Lhasa“, wie sie 2011 zu hören waren
– gab es diesmal keine. Auch nicht vom Penpa Tsering, der reichlich hölzern wirkte. Es
war ein Vorwahlkampf ohne politische Inhalte. Der einzige, der noch für inhaltliche
Farbtupfer sorgte, war der Außenseiter Lukar Jam.
Lukar Jam hat sich durch seine unbedachten Aussagen („Landesveräter Dalai Lama“)
selbst um seine kleine Chance gebracht. 2500 Stimmen sind kein gutes Resultat, daran
gibt es nichts zu deuteln, und seine Anhänger täten gut daran, dies nüchtern zu
analysieren und daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Das Potential
von möglichen Rangzen-Symphatisanten ist nämlich höher [Rangzen, tib.
Unabhängigkeit]. Allein der Tibetische Jugendkongress hat schon über 10.000
Mitglieder. Wen haben diese gewählt? Das Gezerre der Anhänger mit der
Wahlkommission über die Zulassung von Lukar Jam zur Hauptrunde bringt für die
Aufarbeitung gar nichts.
Was kann der Wahlkampf nun noch bieten? Leider nicht mehr viel. Selbst bei
ausgeglicheneren Vorbedingungen wäre es zwischen Lobsang Sangay und Penpa Tsering
–was die politischen Inhalte betrifft – nur um ein Scheingefecht von politischen
Zwillingen gegangen.
Droht nun die große Langeweile? Nicht ganz. Zum Glück gibt es ja noch die Wahlen zum
Exilparlament, dabei sind bei den kommenden Hauptwahlen knappere Entscheidungen zu
erwarten.
Je nach Region und Wahlkreis gab es in der Vorrunde ein ganz unterschiedliches
Wahlverhalten. Die religiösen Schulen sowie die Amdowas haben mehrheitlich und
relativ konservativ ihre Altvorderen wieder gewählt. Bei den Khampas wurden
diejenigen, die die Fahne der Khampas und die von Rangzen am aufmüpfigsten
hochgehalten haben, glänzend wieder bestätigt. U-Tsang (Zentraltibet) hat,
gesellschaftspolitisch gesehen, ein vergleichsweise progressives Wahlverhalten gezeigt
und mit Dhardon Sharling eine junge Frau, die einen aktivistischen Esprit versprüht, zur
Spitzenkandidatin gewählt.
Verschiebungen auf den hinteren Rängen sind aufgrund der knappen Abstände zwischen
einzelnen Kandidaten bis März 2016 denkbar. In den nächsten Wochen werden sich die
Kandidaten und Kandidatinnen deshalb noch einige Duelle liefern. Dies gilt für die aus
Europa und den USA. In den USA haben zwei ehemalige Präsidenten des Tibetan Youth
Congress, die an dritter beziehungsweise vierter Stelle liegen und klare Befürworter von
Rangzen sind, durchaus Chancen, einen Sprung nach vorne zu machen. Auch auf den
Regionallisten finden sich auf den aussichtsreichen Plätzen 10 bis 15 einige interessante
Namen, die nicht dem tibetischen Mainstream entsprechen.
Die Frage ist: Worum wird es bei diesen Wahlen thematisch noch gehen? Ganz objektiv
und nüchtern betrachtet gibt es zwei Kernthemen, die heiß diskutiert werden müssten.
Das ist zum einen die Frage, welche politischen Veränderungen es in unserer TibetPolitik braucht. Die zweite ebenso existentielle Frage lautet: Wohin steuert die
Exilgemeinschaft, und was muss sich ändern. Die Wahlen werden bezüglich dieser Frage
leider keine Klarheit schaffen.
Das Wahlvolk wie auch die Kandidaten zeigten sich jedoch sehr unwillig, kontroverse
politische Gespräche über reale Themen zu führen. Die immer gebetsmühlenartig
angezettelte „Rangzen versus Umay-lam“(Mittlerer Weg)-Debatte war eine
Scheindebatte, die von den Themen ablenkte, auf die die CTA-Verantwortlichen
tatsächlich Einfluss haben. Im Grunde waren die KandidatInnen wohl dankbar, dass alle
zusammen in diese Diskussionsfalle tappten. So brauchte man über die konkreten
Brennpunkte weniger nachzudenken, und es ging nur noch darum, lautstark die Loyalität
zum Dalai Lama, zum Umay-Lam und Mainstream kundzutun.
Die tibetischen Medien versagten dabei, die Kandidaten Farbe bekennen zu lassen.
Weder wurde nach der Meinung zu konkreten Sachfragen gefragt, noch wo man im
Haushalt neue Schwerpunkte zu setzen gedenke oder wie man sich zu den
bevorstehenden Personalentscheidungen – Veränderungen im Exilministerrat – stellen
werde. Welche Entwicklung soll die CTA und unsere Exilgemeinschaft in den
kommenden fünf Jahren durchlaufen, welchen Stand der Tibet-Arbeit streben wir im
Westen und in Indien an, und mit welchen neuen Mitteln wollen wir diese Projekte
finanzieren?
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht schaffen es diese exiltibetischen Wahlen,
nicht nur das politische Personal für die nächsten fünf Jahre zu bestimmen, sondern auch
zu sagen, wohin politische die Reise gehen wird.
Jona, 5. Dezember 2015
WANGPO TETHONG, 52 Jahre, studierte Allgemeine Geschichte, Allgemeines
Staatsrecht und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Zürich und schrieb
seine Abschlussarbeit über Die Exiltibetische Elite 1959 bis 1976: Integrations- und
Desintegrationsprozesse in der politischen Führungsschicht (ISBN 3-7206-0036-X).
Tethong hat in diversen tibetischen und internationalen Organisationen Verantwortung
getragen und ist beruflich als selbständiger Kommunikationsberater tätig. Seit 2014 ist er
Abgeordneter im tibetischen Exilparlament.