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Pfarrblatt: Webarchiv
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Webarchiv 2015
AKTUELL
Ve r r ückt ist relativ
Mittwoch, 21. Oktober 2015 / Verrückt ist relativ
Mittwoch, 16. September, 14:52 Uhr. 2 Stunden bis zur Sendung. Noch herrscht entspannte Atmosphäre im Sitzungsraum von
Radio loco-motivo. Der Raum gleicht eher einer Wohnküche: Kaffeemaschine und Kochherd stehen neben Drucker und PCStation. Zwischendurch huscht jemand von Radio RaBe, von dessen Studios aus loco-motivo seine Sendungen in den Äther
schickt, in den Raum, um ein Dokument oder ein Briefcouvert hervorzusuchen. Kurt sitzt am Tisch und sortiert CD‘s. Es ist das
Musikprogramm, das er heute für die Sendung zusammengestellt hat. Frédéric holt sich noch einen Kaffee, er geht noch schnell
eine rauchen, dabei liest er die Anmoderation von heute leise vor sich hin: «Dir ghöret live Radio loco-motivo uf 95,6 MHZ vom
Studio 1, u das chunnt guet…»
Das «verrückte» Radio
Obwohl es so scheint: Radio loco-motivo ist kein Radio wie jedes andere. Nomen est omen: «loco» ist spanisch und bedeutet
«verrückt». Und Radio loco-motivo ist tatsächlich eine verrückte Sache: Die Sendung wird gestaltet von Menschen mit einer
psychischen Beeinträchtigung, Menschen, welche schon einmal Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben. Das kann ein
Burnout sein, Depression oder auch eine psychische Störung.
Begründer des «verrückten» Radios ist Gianni Python. Bei der Arbeit in einer psychiatrischen Klinik in Chile kam er erstmals in
Kontakt mit dem Konzept des «Radio Loco»: Radio als Brücke zur Aussenwelt, die Menschen mit Psychiatrieerfahrung eine
Stimme verleiht und soziale Stigmata abbaut. Bald war für Python klar, dass er ein solches Projekt auch in der Schweiz auf die
Beine stellen wollte. In Zusammenarbeit mit Radio RaBe konnte Radio loco-motivo 2011 erstmals auf Sendung gehen. Seitdem
präsentiert das Radio alle vier Wochen ein einstündiges Programm. Darin enthalten: Musik, Gedichte, Kolumnen und
Reportagen, hauptsächlich zu Themen der Psychiatrie.
Das Projekt kann auch auf weitere professionelle Unterstützung zählen: Als Partner von RaBe stehen die Radioschule
klipp+klang und die Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie igs hinter dem Projekt. Seit Mai 2014 steht Radio loco-motivo als
reguläres Freizeitangebot im Programm der igs, einer Organisation, welche Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung
eine ihren Bedürfnissen angepasste Lebensform anbieten möchte. Die Radioschule klipp+klang bildet die Redaktion von locomotivo radiotechnisch aus - normalerweise bietet sie Ausbildung und Kurse für nicht kommerzielle Lokal- und Privatradios an.
«Wir müssen flexibel sein», sagt Heidi Kronenberg. Ehemals Redaktorin bei Radio SRF, unterstützt sie das Radioteam bei
seiner wöchentlichen Arbeit. Sie und Gianni Python leiten das Radio loco-motivo zwar, bleiben bei der eigentlichen
redaktionellen Arbeit aber eher im Hintergrund. «Wenn es jemandem nicht gut geht, kann er sich Freiraum nehmen. Damit
müssen wir umgehen können.» Ganz so wie mit einem «normalen» Radioteam sei es nicht. Jederzeit könne jemand ausfallen,
weil die Arbeit in dem Moment gerade eine zu grosse Belastung wäre oder die Person gerade in Behandlung müsse. Aber die
regelmässige Arbeit bei loco-motivo sei eine Bereicherung für jeden: «Wenn du weisst, ich werde da erwartet, wird das Teil der
Wochenstruktur, gibt dem Alltag eine gewisse Festigkeit.»
Betroffenen eine Stimme geben
Radio loco-motivo gibt der Psychiatrie eine Stimme. Über das Radio können sich die Betroffenen selber zu Wort melden, aus
ihrer Sicht informieren und ihre Anliegen vorbringen. Anstatt Berichterstattung von Aussenstehenden bringt loco-motivo
Erfahrungen von «Insidern». Seien es Kolumnen und Gedichte, in welchen die Schreibenden hautnah ihre Erfahrungen
dokumentieren, oder Reportagen und Beiträge über Themen der Psychiatrie: Psychosen, Psychiatrieseelsorge oder Musik als
Therapie.
Auch für das Selbstvertrauen sei die Arbeit beim Radio wertvoll. Für Menschen mit einer psychischen Krankheit sei der Kontakt
mit anderen Leuten vielfach eine grosse Herausforderung. Die Radiotätigkeit sei da eine grosse Hilfe. Man lerne, «nach aussen
zu treten, an die Öffentlichkeit. Schon seine eigene Stimme im Radio zu hören, tut dem Selbstvertrauen enorm gut», meint
Claudio. Er hat ein Burnout hinter sich, bei loco-motivo ist er für das Technische zuständig. Man schliesse zudem Kontakte,
helfe einander, arbeite zusammen. «Das ist ein ganz, ganz grosses Plus, das man sonst in der Geschäftswelt nicht findet: Jeder
ist, wie er ist und macht das, was er kann und das ist okay so.»
18:01 Uhr, die Sendung ist vorbei, es wird auf Schultern geklopft und erleichtert zurückgelehnt. Der Titelsong spielt, er ist auf
spanisch, aber von der Berner Gruppe «Formation Colibri». «Loco es relativo» singen sie in einer Zeile – verrückt ist relativ.
Sebastian Schafer, Praktikant kathbern.ch und «pfarrblatt»
Infos: www.radiolocomotivo.ch
SERIE
11.11.2015 Singen Ordensfrauen nur hinter Klostermauern?
http://www.kathbern.ch/index.php?id=1048&tx_frpnews_pi2%5Beintrag%5D=5792...
17.11.2015