Der innere sichere Ort

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Der innere sichere Ort
Du gehst die geschäftige Strasse entlang und spürst die Verunsicherung sowohl in
beinahe jeder äusseren Bewegung als auch bei den Bewegungen deiner dir permanent
präsenten inneren Suche. Es liegt nicht am fehlenden Mut oder an mangelnder Neugier.
Im Gegenteil, weit mehr als der Durchschnitt deiner Zeitgenossen, wanderst du seit
geraumer Zeit immer weiter und tiefer forschend in deine Seelenlandschaften hinein,
gehst in deren dunkle Regionen genauso wie an Abgründe deines Herzens heran, atmest
den Angstodem deiner Kindheitstage wie auch die Ahnungen der letzten Momente
hinein. Deine Seelen-Sümpfe werden dir mehr und mehr vertraut.
Es ist nur, als ob man dir sehr früh und vor allem zu früh in deiner Entwicklung anstelle
eines unbedingten „Ja“ und damit eines unbedingten Willkommens in diesem deinem
Leben ein zögerliches Vielleicht wird Meines ja besser durch dich zugefleht hätte. Das
erste Lächeln, das dir galt, war ängstlich und scham-durchtränkt und diese Anmutung
prägte sich tief in deine noch rudimentär-entwickelten Gehirnwindungen ein. Dir fehlt
eine dir-gewisse, warme Mitte, ein verlässslich-wohliges Herz, ein heimeliges Gefühl in
der Brust und ein klares Wissen um das, was für dich stimmt und dich heilt. Du
benötigst daher einen Ort im Kern deines Wesens von wo aus sich Ruhe, Gelassenheit
und auch Heiterkeit mischt mit Klarheit, Unerschütterlicheit und von wo sich Halt bis in
die entferntesten Winkel deiner Seele auszubreiten vermag. Du brauchst einen
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Seelengarten mit schützenden Hecken, einen Ort des inneren Friedens und der
Sicherheit. Dort kann dann die Quelle all deiner Begabungen, dort können deine
geistigen Gaben, deine Seelenschätze unbedroht sprudeln, sich ins permanent
entfaltenwollende Leben ergiessen und in ihm tröstliche, vertrauensvolle Spuren
einkeimen lassen. Dort ist deine Lebensfülle, deine kreative Vielfalt, dein LiebesHerzschlag für ewig dann gut beheimatet.
Das noch mehr anzuspüren, weitere kleine Vertrauenssamen einzulegen und zu giessen
ist unsere Aufgabe hier und jetzt. Den Boden dafür haben wir bereits mutig bereitet,
haben die aufwallende Wut und die hochschwappenden Ängste benannt. Ja du hast dich
diesen Bedrohungen gestellt und das alte Vermeidungsmuster tapfer verbannt. Du
rauchst bereits kaum noch, trinkst nur noch in genüsslicher Absicht, flüchtest nicht
permanent in den vermeindlichen Schutz vermeindlicher Freunde. Innehalten,
Stillstehen und Geschehenlassen sind nicht mehr reine Horrorvisionen. Du bist Schritte
gegangen, die viele nicht einmal zu imaginieren wagen. Jetzt gilt es diese einfachen, aber
existentiell notwendigen Übungsschritte immer und immer wieder zu wiederholen, bis
sie zur zweiten Natur geworden sind und von innen heraus, quasi als Lebensmantra,
dich ständig durchwirken und dir dich er-füllend Halt geben.
Zunächst gilt es wie üblich einige Vorbereitungen für die heutige Űbung sorgsam zu
treffen. Wie du weißt, hilft es, wenn du dich bereits zuvor achtsam auf deine Übung
vorbereitest und dich innerlich und äusserlich schon eine Weile hast ruhiger werden
lassen, du nicht direkt vorher gegessen hast und du dich auch nicht gerade von
Fernsehen, Computer und Zeitschriften hast beeindrucken lassen. Ideal wäre es, wenn
du zuvor ein paar Körperübungen machen konntest oder von einem Spaziergang in
ruhiger Natur zurückkommst.
Du ziehst dich zurück in einen geräuscharmen Raum, in welchem die Temperatur für
dich angenehm warm reguliert ist. Du sorgst dafür, dass du eine zeitlang nicht gestört
werden kannst. Dann wählst du eine Position, die dir jetzt am besten tut. Willst du
sitzen, benötigt du einen Stuhl oder Hocker, der dir ermöglicht den Rücken gut
balanciert und entspannt aufrecht zu halten. Vielleicht willst du aber liegen. Dann lege
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eine nicht zu weiche Matte oder Decke unter. Eine Knierolle hilft eventuell wenn du
Rückenprobleme hast.
Erinnere dich daran, dass es kein Ziel zu erreichen gilt, du nichts falsch machen oder
besonders richtig machen kannst. Versuche offen und neugierig zu sein für das, was dir
deine Seele gleich erzählen und zeigen mag. Sei dankbar für jede noch so kleine oder
kurze Information, für jede Wahrnehmung deiner inneren Welten.
Du wirst für die nächste halbe Stunde an einen Ort geführt, an dem du Empfindungen
von unbedingter Sicherheit und Geborgenheit erleben kannst. Es ist ein Erfahrensort der
sich tief in deiner Seele befindet, ein Ort der vollkommenden inneren Sicherheit. Jeder
Mensch hat einen solchen Raum in der Tiefe der Seele wo er sich rundum sicher und
wohlfühlen kann und so auch du. Du selber wirst diesen Ort wählen und finden. In
deiner Vorstellung kann dieser Ort aussehen wie an einem wunderschönen Platz in der
Natur, innerhalb eines Geborgenheit ausstrahlenden Gebäudes, einer Kapelle, einer
Hütte oder in einem Tempel. Aber dieser vorgestellte Ort kann weit entfernt auf einem
anderen Planeten sein oder eine Art unkonkrete bildlose Anmutung, bestehend
vornehmlich aus dem Empfinden von Geborgenheit und Sicherheit.
Wenn du dann am Ende deiner meditativen inneren Reise zurückkehrst, versuche
irgendein dir angenehmes Körperzeichen, eine Geste zu machen, wie z.B. die Hände zu
falten, mit den Fingern zu schnipsen oder mit den Augen zu zwinkern. Das verankert die
Erinnerung an diesen Ort noch deutlicher in dir. Jedes Mal, wenn du dann wieder an den
Ort der inneren Sicherheit gehen willst, hilft dir dieser Körperanker, einfacher dorthin zu
gelangen.
Nimm jetzt einige tiefe Atemzüge. Atme dabei durch die Nase ein und durch den Mund
aus. Versuche dein Ausatmen mehr und mehr zu verlängern und damit Stress, Unruhe
und Schwere aus dir herausfliessen zu lassen. Stell dir vor, dass du kosmische Energie
einatmest, in dir verteilst und dann mit dieser heilsamen Kraft Ungutes und Unreines
ausatmest. Wenn ungewollt Gedanken dich ablenken wollen, lass sie durch dein Hirn
ziehen, ohne sie festzuhalten, aber auch ohne dich anzustrengen, sie zu vertreiben.
Führe deine Gedanken jeweils sanft zurück zum Rhythmus deines Ein- und Ausatmens.
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Jetzt schaue bitte nach Innen und lasse dort das Bild eines sicheren Ortes auftauchen, an
dem du dich sehr wohl fühlen kannst. Es mag sein, dass du den Ort genau siehst, es ist
aber genau so gut, wenn du ihn lediglich spürst, seine Atmosphäre wahrnimmst,
Geräusche hörst oder seinen Duft riechen kannst. Wenn du spürst, dass dein Ort sich
sehr weit entfernt befindet, kannst du als Hilfsmittel, um dorthin zu gelangen, auch ein
Fahrzeug, ein Boot oder einen
Zauberstab nehmen. Was auftauchen will, lass
geschehen, sei dabei ganz entspannt. Es ist völlig in Ordnung sich einen Ort zunächst
auszudenken. Bleib bei dem Auftauchenlassen und Wahrnehmen deines Ortes der
Geborgenheit, bis du dich an ihm sicher und freudig fühlen kannst. Manchmal braucht
es eine kleine Weile oder einiger Anläufe. Wenn du an deinem Wohlfühlort gut angelangt
bist, gib mir bitte ein kleines Zeichen mit deiner rechten Hand.
Überprüfe nochmals ob du dich an diesem Ort wirklich geschützt und wohlig fühlst.
Hast du es dir ganz bequem dort machen können? Spüre jetzt in deinen Körper hinein:
Wie fühlst er sich jetzt an, wenn du dich so geborgen und sicher fühlst? Wie fühlt sich
dein Bauch an, wenn er sich beim Atmen auf- und ab-bewegt? Was geschieht in deiner
Brust gerade? Spürst du deinen Herzschlag? Kannst du deine Haut wahrnehmen? Wie
fühlt es sich an, dein Gewicht ganz dem Boden zu überlassen? Spürst du die
Entspannung in deinen Gliedern? Kannst du dir innerlich zulächeln? Magst du jetzt,
wenn dir das, nach einer Weile des Geniessens und Geschehenlassen, gut tut, ein dir
liebes kleines Kind oder dein eigenes inneres Kind herbeikommen lassen zu deinem
sicheren Ort? Wenn ja, dann lass es sich neben dich setzten und mit dir gemeinsam eine
Weile die friedvolle Ruhe des sicheren, geborgenen Ortes geniessen. Wenn du magst
nimm sanften Körperkontakt auf und spüre das entspannte Miteinandersein.
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Nach einer guten Zeit hole ich dich dann langsam zurück in die Realität des
Therapieraumes. Ich lasse dir noch genügend Zeit, dich in Ruhe von dem Kind und
dann von deinem Wohlfühlort zu verabschieden und auch dich bei deiner Seele, sowie
deinen Seelenbeschützern zu bedanken.
Du gehst wieder die geschäftige Strasse entlang, dein Körper fühlt sich noch ein wenig
zu weich an, gleichwohl atmest du vertieft und vertrauensvoll. Deine Bewegungen sind
langsamer als sonst, aber viel prägnanter. Du lächelst in dich hinein und weißt, dass du
jederzeit, wenn sich diese altvertraute Verunsicherung in dein Gemüt einschleicht, dich
zu deinem sicheren, inneren Ort der Geborgenheit begeben kannst. Du kannst es gleich
jetzt, hier sogar tun, mitten im betriebsamen öffentlichen Raum, auf dem Weg hin du
deinem nächsten Ziel.
Matthias Witzel, Mai 09