Das Heidi taugt sehr wohl zur nationalen

Das Heidi taugt sehr wohl zur nationalen Identifikation
NZZ am Sonntag 13.12.2015, Nr. 50, S. 19 / me Meinungen
Das Heidi taugt sehr wohl zur nationalen Identifikation
Der Schellen-Ursli verkörpere die Schweizer Identität viel besser als Heidi , hat Alex Capus
geschrieben. Wer den Roman von Johanna Spyri aber genauer liest, merkt, dass das falsch ist,
In der letzten «NZZ am Sonntag» verglich der Schriftsteller Alex Capus zwei prominente helvetische Kinderhelden, die derzeit
auch im Kino zu sehen sind: den Schellenursli und das Heidi. Capus outet sich als Fan von Ursli. Der sei widerborstiger als
das Heidi und tauge für uns Schweizer besser zur Identifikation. Capus versteigt sich gar zur Behauptung, Heidi sei ein
klassisches Opfer ohne Anspruch auf Selbstbestimmung. Ist das wirklich so?
Alex Capus’ Interpretation mag auf die verkitschten Zeichentrickfilmversionen von «Heidi» zutreffen, dem Kinderbuchklassiker
von Johanna Spyri wird er nicht gerecht. Klar, Ursli macht uns Eindruck, weil er genagelte Schuhe trägt und nicht wie Heidi
barfuss über die Wiesen hüpft. Und dass der tapfere Bub sein Schicksal selber in die Hände nimmt und nach einsam
durchwachter Nacht einen Triumph feiert, wollen wir gar nicht kleinreden. Die Idee aber, dass uns dieser Held näher sein soll,
weil er kämpfe, auch einmal etwas Verbotenes tue und niemanden um Erlaubnis frage, ist so steil wie der Falknis. Ist das
wirklich unser Mythos? Vielleicht für die Kriegsgeneration. Die Widerborstigkeit passte zur Bedrohungssituation, die in den
vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts herrschte und in der Folgezeit noch lange gefühlt wurde. Wenn von Mythen die
Rede ist, die in diesen dunklen Jahren der nationalen Stärkung dienten, gehört ebenso Wilhelm Tell erwähnt. Auch er passt
samt Bergromantik und Freiheitspathos ins Schema von «Schellen-Ursli». Aber noch einmal: Ist das unser Mythos?
Jedenfalls lassen sich in Spyris Werk Motive ausmachen, die eine genauere Prüfung der These nahelegen. Erstens ist ihre
Geschichte von Anfang an nicht als Heldenepos komponiert. Im Zentrum stehen Beziehungen, die sich entwickeln. Heidi
kommt zu einem alten Griesgram, der sozial und emotional verwahrlost mit dem Rücken zur Dorfgemeinschaft lebt. Einem
solchen Kerl ein kleines Mädchen zu überantworten, wäre heute ein Fall für die Kindesschutzbehörde. Aber der Öhi entpuppt
sich nicht als Täter, und seine Enkelin wird kein Opfer. Die Kleine bringt dem Alten etwas entgegen, was der schon zu lange
nicht mehr erlebt hat: Vertrauen und Zuneigung. Sein Herz schmilzt so wie der Geissenkäse und die Herzen der Leser. Spyri
beschreibt das Wunder einer Enthärtung berührend, aber nie rührselig. Der Roman sei für Kinder und solche, die Kinder
liebhätten, schreibt sie zum Geleit. Sie richtet sich an ein Publikum, das sich vom Triumph der Liebe emporheben lässt und so
jäh wie der Öhi wieder auf dem Boden landet, als die dumme Base Dete dem Alten das Heidi nimmt und es als
Verdingmädchen nach Frankfurt verfrachtet.
Capus hat recht! Heidi ist nicht aus hartem Holz geschnitzt. Während der Alte wieder verhärtet, wird sie krank. Aber sie behält
auch im hessischen Flachland ihre Gabe, Freundschaften zu schliessen. In diesem Roman gibt es deshalb nicht einen
Helden, dafür viele Heldinnen. Klaras Grossmutter gehört zu ihnen. Sie ist die weise Alte, die aus ganz anderem Holz
geschnitzt ist als ihr butterweicher Sohn oder die steinharte Rottenmeier. Nun ergreift sie die Initiative. Das Kind muss wieder
heim.
Die Story könnte hier mit einem Happy End schliessen. Aber Spyri entwickelt die Figuren im zweiten Band weiter. Zuerst wird
die Fortsetzung von Öhis Heilungsgeschichte erzählt. Heidi liest ihm aus der Bibel vor, und das Schmelzwerk des
Evangeliums bringt das begonnene Enthärtungswunder zum Abschluss. Dass diese Szene nie verfilmt wurde, erstaunt nicht.
Das Glaubensthema, das den Roman wie einen roten Faden durchzieht, wird herausgeschnitten. Was man noch sehen kann,
ist die Wirkung. Aus dem Öhi wird ein begabter Physiotherapeut und Erzieher: Klara lehrt er gehen, dem hartholzigen
Geissenpeter einem entfernten Verwandten des Schellen-Ursli wäscht er die Kappe. Und das Heidi liest Peters blinder
Grossmutter aus dem Psalter vor.
Womit wir beim Mythos wären. Es ist nicht der, den Capus beim beherzten Ursli entdeckt. Was Spyri in ihren Roman verwebt,
ist biblischer Stoff. Blinde werden sehend, Lahme gehen und Arme schöpfen Hoffnung. Die treibenden Kräfte sind Heilung und
Versöhnung. Vielleicht wird hier ja auch gar kein Mythos erzählt, sondern eher die Arbeit am Mythos angestossen dem
Mythos vom einsamen Helden. Ihn zu hinterfragen, kann für die nationale Identitätsfindung durchaus erhellend sein. Denn die
Mär vom einsamen Kämpfer, der es im Alleingang schafft, ist vielleicht gar nicht das, womit die Bürger einer Demokratie sich
identifizieren sollten. Der Öhi hat das kapiert. Ein Kind hat ihm die Augen geöffnet. Da passt es ganz gut, dass die Premiere
des Heidi-Films in die Adventszeit fällt auch wenn das Kalkül dahinter mehr mit jenem Sinn zu tun hat, dem sich die meisten
Schweizer verschrieben haben: dem Sinn fürs Geschäft. Aber das ist hoffentlich nur ein Mythos.
entgegnet Ralph Kunz
Ralph Kunz
Ralph Kunz, 51, ist seit 2004 Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. In Forschung und Lehre
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beschäftigt er sich unter anderem auch mit der Wirkung von Geschichten in Seelsorge und Gottesdienst. Kunz ist
zudem Leitungsmitglied des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich.
Quelle:
NZZ am Sonntag 13.12.2015, Nr. 50, S. 19
Ressort:
me Meinungen
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