Der Begriff natura und seine ethische Relevanz in Senecas

Christina Kreuzwieser
Der Begriff natura und seine ethische
Relevanz in Senecas Prosaschriften
V& R unipress
Mainz University Press
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MIX
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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Christian
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fragestellung und Forschungsüberblick
Methode und Aufbau . . . . . . . . . . .
Bemerkungen zur Zitation . . . . . . . .
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Kapitel 1: Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Sind Natur und Gott identisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung . . . . . . . .
1.3 Senecas Beschreibung des ethischen Ziels als Rückkehr der Seele
zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.1 Die stoische Ursachen-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.2 Seneca über Körper und Seele des Menschen . . . . . . . .
1.3.3 Welche Art von Wissen geht nach Seneca aus der
contemplatio hervor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Senecas Bestimmungen der menschlichen ratio . . . . . . . . . .
1.4.1 Die ratio als Gott im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4.2 Die Vernunft des Nicht-Weisen . . . . . . . . . . . . . . . .
Fazit und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen
Kapitel 2: Einflüsse der philosophischen Tradition auf Senecas
Naturbegriff: Die quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Der soziopolitische Kontext der quattuor-personae-Theorie .
2.1.1 Überblick über die quattuor-personae-Theorie . . . . .
2.1.2 Der Begriff persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8
Inhalt
2.1.3 Der Einzelne als Angehöriger der politischen Elite . . . . . .
2.1.4 Die Beziehung zwischen den persönlichen Eigenschaften und
der (politischen) Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Das Verhältnis zwischen der ersten und zweiten persona . . .
2.2.2 Die Darstellung von Catos Selbsttötung (Cic. off. 1, 111f.) –
Beleg für einen ethischen Partikularismus? . . . . . . . . . .
2.2.3 Textanalyse von Cic. off. 1, 111f. . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4 Die biographische Dimension konsistenten Handelns . . . . .
2.2.5 Exkurs: Odysseus, Aias und die Schlacht bei Thapsus . . . .
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 3: Senecas Begriff der menschlichen natura . . . . . . . . . . . .
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Das artspezifische Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Die begriffliche Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . .
3.1.2 Die begriffliche Bestimmung des guten Handelns . . . . . . .
Exkurs und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Die natura des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 Die unterschiedlichen ›Startbedingungen‹ für die sittliche
Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Die natura des Menschen als sein Temperament . . . . . . . .
3.2.3 Der Zusammenhang zwischen der natura des Einzelnen und
dessen Lebensweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.4 Der Mensch als sein eigenes Kunstwerk? . . . . . . . . . . . .
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Die Bedeutung der menschlichen natura für die Erziehung und
die sittliche Entwicklung
Kapitel 4: Der Zusammenhang von sozialer Rolle, sittlicher Entwicklung
und menschlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Nicht-gelungene soziale Interaktion als fremdbestimmtes Handeln .
4.2 Magnam rem puta unum hominem agere – Rollenhandeln und
Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Identität als normativer Begriff der stoischen Ethik . . . . . .
4.2.2 Nicht-gelungenes Rollenhandeln durch Änderung des
Wollens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3 Das Verhältnis der Rollen zueinander . . . . . . . . . . . . .
4.2.4 Identität als dynamische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.2.5 Die Bedeutung der natura des Einzelnen für dessen Identität .
4.3 Absolute und relative Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Das Erkennen der ›sittlich guten Identität‹ . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Anleitungen zu einem Leben nach dem eigenen Gesetz . . . . . . .
4.5.1 Die biographische Dimension der ›sittlich guten Identität‹ . .
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Kapitel 5: Exempla als Mittel ethischer Unterweisung . . . . . . . . . . .
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Literarische exempla in epist. 120 und 104 . . . . . . . . . . . . . .
5.1.1 Senecas Theorie der exempla . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.2 Die Darstellung der historischen exempla Horatius Cocles
und Fabricius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.3 Die Darstellung sittlich guten Handelns . . . . . . . . . . . .
5.1.3.1 Das exemplum des Weisen (epist. 120) . . . . . . . . .
5.1.3.2 Sokrates und Cato als exempla (epist. 104) . . . . . . .
5.2 Exempla und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Die richtige imitatio von Vorbildern . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1 Das Bienengleichnis und das Verdauungsgleichnis in epist. 84
5.3.2 Die Person des imitator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2.1 Der Vergleich des imitator mit einer Ahnenmaske
(imago) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2.2 Dem Vorbild die ›eigene Form eindrücken‹ . . . . . .
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161
161
Kapitel 6: Die Methode der Selbstprüfung in Sen. dial. 5
(= De ira 3), 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Die Selbstprüfung als Dialog der ratio mit sich selbst
6.2 Der Prüfende als ›Augenzeuge‹ . . . . . . . . . . . .
6.3 Die Selbstprüfung als ›Blick in den Spiegel‹ . . . . .
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205
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208
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208
212
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Teil III: Die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Epistulae
morales
Kapitel 7: Senecas Funktionalisierung des Briefes für die Erziehung . .
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1 Der Zusammenhang von Freundschaft, Anwesenheit und
Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1.1 Die Bedeutung der physischen Anwesenheit von Lehrer und
Schüler im contubernium . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1.2 Anwesenheit trotz räumlicher Distanz . . . . . . . . . . . .
7.1.3 Entindividualisierung der Freundschaft? . . . . . . . . . . .
10
Inhalt
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Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . .
243
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
7.1.3.1 Die beiden Formen der societas . . . . . . . . . . .
7.1.3.2 Die Beschreibung der Freundschaft als engere
Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1.4 Die literarische Funktion des Adressaten Lucilius . . . . .
7.2 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremd- und
Selbsterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2.1 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremderziehung
7.2.2 Selbstprüfung ›vor den Augen‹ des anderen . . . . . . . .
7.2.2.1 Der Gott im Inneren des Menschen . . . . . . . . .
7.2.2.2 Die Spiegelfunktion des Briefpartners . . . . . . .
Teil IV: Zusammenfassung
Vorwort
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Version meiner
Dissertation, die unter demselben Titel im Wintersemester 2013/14 von der
Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde.
Mein Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter, Prof. Dr. Therese
Fuhrer, die diese Arbeit mit größter Sorgfalt betreut und mir in zahlreichen
Gesprächen wertvolle Hinweise und konstruktive Rückmeldungen gegeben hat.
Auch bei meinem Zweitkorrektor, Herrn Prof. Dr. Christoph Horn, möchte ich
mich sehr herzlich bedanken. Unsere oftmals kontroversen Diskussionen über
das Senecanische Philosophieren haben sich als ein fruchtbarer Nährboden für
die vorliegende Arbeit erwiesen. Herrn Prof. Dr. Bernhard Uhde, der mein
Studium durch die Vermittlung seines umfassenden Wissens sowie seine unkonventionelle Art in hohem Maße bereichert und nachhaltig geprägt hat, sei an
dieser Stelle mein großer Dank ausgesprochen.
Anna-Lena Stock hat mit ihrer gewohnten Umsicht und Genauigkeit die
Arbeit korrekturgelesen, wofür ich ihr großen Dank schulde.
Mein Dank gilt der Mainz University Press bei V& R unipress für die Aufnahme der Arbeit sowie die reibungslose Zusammenarbeit während der
Drucklegung; insbesondere bei Herrn Prof. Dr. Thomas Hieke bedanke ich mich
in diesem Zusammenhang herzlich.
Mein besonders herzlicher Dank gilt auch meinen Freunden Tobias Uhle und
Stefan Merkle. Danke für die vielen schönen Stunden und Euren Beistand in
schwierigen Zeiten!
Auch meinen lieben Eltern danke ich von Herzen für ihre Unterstützung und
dafür, dass ich mich immer auf sie verlassen konnte.
Mein größter Dank gilt jedoch meinem Mann Christian. Ohne ihn hätte ich
den Weg, den ich gegangen bin, nicht gehen können. Ihm ist dieses Buch gewidmet.
Mainz im August 2015
Einleitung
Fragestellung und Forschungsüberblick
In der vorliegenden Arbeit geht es um die Frage, welchen Begriff von natura
Seneca in seinen Prosaschriften verwendet und welche Relevanz dieser für seine
Ethik besitzt. Besonders die Frage nach dem Begriff der natura des Menschen
und dessen Bedeutung für die praktische Ethik stehen im Zentrum der Untersuchung. Diese Studie ist allerdings nicht primär philosophisch ausgerichtet,
d. h. es geht in erster Linie nicht darum, den Zusammenhang von Naturbegriff
und praktischer Ethik unter philosophisch-systematischen Gesichtspunkten
darzustellen; ebenso wenig steht die Frage nach der philosophiegeschichtlichen
Einordnung von Senecas Aussagen im Vordergrund. Seine Prosaschriften, von
denen besonders die Epistulae morales eine eingehendere Behandlung erfahren,
werden als pädagogische Werke gelesen. Seneca selbst tritt in seinen ethischen
Schriften in der Rolle des Pädagogen auf; er stellt die praktische Seite der
stoischen Philosophie in den Vordergrund und wendet sich an den in der Philosophie fortschreitenden Menschen (proficiens), dessen Fortschritt nicht in
einem bloßen Zugewinn an ›theoretischem‹ Wissen, sondern in erster Linie in
der Verbesserung seines konkreten alltäglichen Handelns besteht und in diesem
erkennbar sein muss. Auf den sittlichen Fortschritt, wie Seneca ihn darstellt,
sowie auf die praktische Ausrichtung seiner erzieherischen Bemühungen legt
auch die vorliegende Studie den Fokus. Sie nimmt also nicht in erster Linie das
ethische Ziel, sondern den Weg, auf dem sich der proficiens dem Ziel anzunähern
versucht, in den Blick.
Die Arbeit beabsichtigt aufzuzeigen, dass Seneca mit dem Begriff natura nicht
nur die Vernunft als die Gattungsnatur des Menschen bezeichnet, sondern
darunter auch die nicht-rationalen, jedem Einzelnen gegebenen Anlagen und
14
Einleitung
Eigenschaften versteht, durch die er sich von anderen Menschen unterscheidet.
In der Forschung ist hier bisweilen von der individuellen natura die Rede1.
Es soll also nachgewiesen werden, dass Seneca gerade aufgrund seiner Konzentration auf die praktische Ethik vom Menschen nicht nur als Gattungswesen
und damit in seiner allgemeinsten Bestimmung spricht, sondern ihn auch als
besonderen und einzelnen Menschen in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang soll herausgearbeitet werden, welche moralische Bedeutung er der
nicht-rationalen natura beimisst.
Insbesondere die Frage, inwiefern diese neben der ratio als der menschlichen
Gattungsnatur den sittlichen Fortschritt und auch das sittliche Handeln des
sapiens, der das ethische Ziel erreicht hat, bestimmt, steht im Zentrum der
Untersuchung. Mit dieser Fragestellung reagiert die vorliegende Arbeit einerseits auf Forschungsbeiträge, welche die nicht-rationale natura als für die moralische Entwicklung irrelevant ansehen und in Senecas Philosophica keinerlei
Neuerung gegenüber der philosophischen Tradition erkennen wollen. Andererseits knüpft sie auch an die entgegengesetzte Position an, der zufolge in
Senecas philosophischen Schriften vom Menschen als Individuum die Rede sei
und sich seine Aussagen mit neuzeitlichen Konzepten von Individualität
(weitgehend) deckten.
In der nun folgenden Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Forschungspositionen soll die Fragestellung meiner Studie weiter präzisiert werden.
I. Hadot befasst sich in ihrer Dissertation mit Senecas Naturbegriff und bestimmt diesen vor dem Hintergrund der stoischen Philosophie. Sie hebt hervor,
dass schon die Alte Stoa unter der natura des Menschen zweierlei verstanden
habe, und zwar »seine ›Logos-Natur‹, aus der sich sein Normbewusstsein und
die daraus resultierende angeborene Tendenz zur Wertung herleite, und seine
individuelle Natur«2. Mit Blick auf die Bedeutung dieser individuellen Natur
kommt sie zu dem Schluss: »Das Individuelle ist also wohl erkannt, nur hat es
sich der überindividuellen Norm zu beugen, die nicht zu Gunsten des Individuellen verletzt werden darf«3. Den individuellen Unterschieden komme, so
Hadot, ohnehin wenig Bedeutung für die Seelenleitung zu; mit fortschreitendem
Unterricht trete das individuelle Moment zu Gunsten der überindividuellen
Norm (universa natura) zurück. Auch bei ungünstigen Anlagen könne der
Mensch das ethische Ziel grundsätzlich erreichen. Hadot legt den Fokus ihrer
Studie auf die Beschreibung des ethischen Ziels, wodurch Senecas Fort1 Vgl. die Darlegung des Forschungsstandes auf S. 14ff. Zu den Begriffen ›Individuum‹ und
›Individualität‹ s. S. 19ff.
2 I. Hadot (1969) 32.
3 I. Hadot (1969) 33.
Fragestellung und Forschungsüberblick
15
schrittsgedanke und die Frage, inwiefern dieser durch die besondere, oder in
Hadots Worten: individuelle natura des Menschen bestimmt sein könnte, zu
wenig in den Blick kommt. Sie scheint diese als tugendirrelevante Kontextbedingung aufzufassen, d. h. als eine Größe, welche keinerlei moralische Bedeutung hat.
Hengelbrock, der in seiner Dissertation den sittlichen Fortschritt in Senecas
ethischen Schriften ausführlich untersucht, richtet seinen Blick anders als Hadot
auf den proficiens selbst und den von ihm zu beschreitenden Weg. Anhand einer
Analyse einzelner Briefe stellt er wichtige Wegmarken des philosophischen
Fortschritts heraus, wie z. B. die Bedeutung des otium, des philosophischen
Lehrers oder der Freunde. Er zeigt auch, welche didaktischen Mittel Seneca
einsetzt und in welcher literarischen Gestaltung der Fortschrittsgedanke erscheint4. Zudem erwähnt er mit Rekurs auf Hadot kurz die »individuelle« Natur
des Menschen und hebt mit Verweis auf DL 7, 89 und Cic. off. 1, 107–109 hervor,
dass der proficiens »neben dieser allgemeinen Natur noch die individuelle zu
betrachten«5 habe. Allerdings geht er nicht näher darauf ein, was an den beiden
genannten Stellen unter der individuellen natura zu verstehen sein könnte und
welche Relevanz sie für den ethischen Fortschritt besitzt. Er lässt im Unklaren,
inwieweit hier vom Fortschritt eines einzelnen, oder in Henlgebrocks Worten:
individuellen Menschen die Rede sein könnte.
Neben diesem durch I. Hadot eröffneten Forschungsparadigma der ›Seelenleitung‹ greift die vorliegende Studie eine weitere aktuelle Forschungslinie auf,
und zwar diejenige zum Problem des personalen Selbst in der Antike. Die im
Folgenden angeführten Studien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundausrichtung, Fragestellung und Methodik zwar teilweise stark von der vorliegenden Arbeit, sind für sie aber dennoch von Bedeutung.
In der jüngeren und jüngsten Forschung (s. u.) ist ein verstärktes Interesse an
der Untersuchung des Selbst in der antiken Philosophie, der Stoa im engeren
Sinne und bei Seneca im Besonderen zu beobachten, wobei die einzelnen Positionen bisweilen stark voneinander abweichen. Diese Studien haben eine
philosophisch-systematische Grundausrichtung gemeinsam, und sie schreiben
sich mitunter ein in die Erforschung der Ontologie des Geistes. Das ihnen gemeinsame Hauptaugenmerk gilt der Frage, ob und inwieweit sich in der antiken
Philosophie ein Konzept des Selbst ausmachen lässt und welche Stellung es
innerhalb der philosophischen Tradition einnimmt. Diese Arbeiten beziehen
sich zum großen Teil auf die Werke Michel Foucaults. Er sieht in der Philosophie
des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine verstärkte Hinwendung zum
4 Vgl. Hengelbrock (2000) 130ff.
5 Vgl. Hengelbrock (2000) 91.
16
Einleitung
Selbst und zieht als Zeugnis hierfür die in der kaiserzeitlichen Stoa stark betonte
Aufforderung zur Selbstprüfung und -formung heran6.
In seiner Monographie Self. Ancient and Modern Insights about Individuality,
Life, and Death (2006) nimmt Sorabji den Menschen nicht als Gattungswesen,
sondern als Individuum in den Blick7. Ihm zufolge nehme der Mensch als ein mit
sich selbst identisches und seiner selbst bewusstes Individuum die Welt subjektiv aus der Perspektive der ersten Person wahr8. Sorabji überträgt damit
Konzepte und Vorstellungen, die wesentlich neuzeitlich bestimmt sind, auf die
antike Philosophie und versucht eben diese moderne Sichtweise in antiken
Texten nachzuweisen.
Auch Long vertritt die These, dass insbesondere die stoische Philosophie den
Menschen als Individuum begreife. In seinem Aufsatz Representation and the
Self in Stoicism führt er als Beleg dafür die stoische Erkenntnistheorie an, für
welche die subjektive Perspektive der ersten Person kennzeichnend sei9.
Der im Jahr 2009 erschienene Sammelband Seneca and the Self10 vereint
Aufsätze, welche sich aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive der Untersuchung des Selbst in Senecas Prosaschriften und Tragödien widmen. Diese Studie erhebt nicht, wie ausdrücklich
betont wird, den Anspruch, ein einheitliches Konzept des Senecanischen Selbst
zu eruieren11; sie verfolgt vielmehr das Ziel, die Rede vom Selbst bei Seneca
stärker zu konturieren und zu schärfen.
Die einzelnen Beiträge – im Folgenden gehe ich auf die im engeren Sinne
philosophischen ein – sind durchaus heterogen: Long will in Senecas Texten
einen Beleg für Individualität erkennen, wohingegen Gill und Inwood dies für
unzutreffend halten.
Während Long in Representation and the Self in Stoicism nicht auf Seneca
eingeht, bezeichnet er ihn in Seneca and the Self: Why now? in Anlehnung an
Foucault als ›Theoretiker des Selbstseins‹ (»theorist of selfhood«), was selbst
dann zutreffe, wenn man seine Aussagen nicht in Beziehung zur stoischen Lehre
6 Vgl. Foucault (1986) 64.
7 Sorabji (2006) 20: »In asking about the self, I am not asking what it is to be a human being or
higher animal in general, but about what it is to be an individual one«.
8 Vgl. Sorabji (2006) 20: »Each of them needs to relate to the world in terms of me and me
again«. Vgl. auch den Abschnitt »Importance of the ›I‹-perspective« (ders., 22ff.).
9 Vgl. Long (1996) 265: »The self in this sense is something essentially individual – a uniquely
positioned viewer and interlocutor, a being that has interior access of a kind that is not
available to anyone else«. Die stoische Erkenntnistheorie lasse sich beschreiben (ebd. 266)
»as a new focus on consciousness, on the individuality of the perceiving subject, as a fundamental feature of the mental«.
10 Bartsch/Wray (2009).
11 Bartsch/Wray (2009) 7.
Fragestellung und Forschungsüberblick
17
von der Göttlichkeit der menschlichen Vernunft oder zur Güterlehre setze12.
Long bestimmt den Menschen als »unique centre of agency and consciousness«13
und als einheitliches Subjekt (»unitary subject«), und er überträgt ausdrücklich
die neuzeitliche Definition der Person, die Taylor vornimmt, auf Senecas Texte14.
Neben dieser subjektiven sei aber auch eine objektive Perspektive (»one objective and the other subjective«) wie z. B. Körperlichkeit, Geschlecht, Ethnie etc.
von Bedeutung. Durch diese einander überschneidenden Perspektiven werde
die Identität eines Individuums bestimmt15.
Gill kritisiert m. E. zu Recht die Übertragung neuzeitlicher Konzepte von
Individualität auf antike Texte16. Ihm geht es, anders als Long und Sorabji, um die
Frage, mit welchen Begriffen und Konzepten der Mensch in antiken philosophischen Texten als moralisch verantwortlich handelnder beschrieben wird.
Seine Studien sind also methodisch so ausgerichtet, dass sie diese Texte auf
Begriffe und Vorstellungen befragen, die zu modernen analog sind17. In seinem
Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration (s. u.) rekurriert
Gill auf seine beiden Monographien Personality in Greek Epic, Tragedy, and
Philosophy (1996) und The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought
(2006). Darin vertritt er die These, dass die antike Philosophie den Menschen als
Vernunftwesen18, das objektives Wissen generieren kann und als Teil einer Gemeinschaft verstanden wird, bestimmt19. Diese Sichtweise, welche er mit dem
Begriffspaar ›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«20) beschreibt,
12 Vgl. Long (2009) 23: »Yet Seneca’s value as a theorist of selfhood is not vitiated, in my
opinion, if we completely reject his Stoic commitment to the divinity of human rationality,
for instance, or the indifference of all values except virtue and vice«.
13 Vgl. Long (2009) 26.
14 Vgl. Long (2009) 35 mit Rekurs auf Taylor (1985) 257–281: »[…] Taylor proposes the following sets of attributes for what we mean by a person: (a) an agent with purposes, desires,
aversions, and so forth; (b) an agent with a sense of yourself as an agent capable of making
plans for your life, holding values in virtue of which different plans seem better or worse,
with the capacity to choose between them; (c) a unitary subject; (d) a self-interpreting
animal, whose consciousness is determined by what it finds significant; (e) reflexivity and
self-awareness; (f) linguistic capacity and disclosure in public space«.
15 Vgl. Long (2009) 25f.: »Perhaps the clearest approach to the concept of selfhood is to take it
as a name for one’s individual and temporal identity from two distinct but necessarily
overlapping perspectives – one objective and the other subjective«.
16 Vgl. Gill (1996) 424.
17 Vgl. Gill (2008b) 81: »Rather, my interest lies in locating ancient concepts that are analogous
in function to those of the modern ›self‹ or ›person‹. This function, as just suggested, is that of
identifying what matters about, or is essential to, the person as a psychological whole, or
specifying what psychological capacities are criterial of full moral or social status«.
18 Vgl. Gill (1990) 8: »Furthermore, the criteria of normative human status in ancient philosophy were, typically, rationality and sociability«. Vgl. auch ders. (2006) Introduction und
ebd. Kapitel 6.
19 Vgl. Gill (2006) 340.
20 Vgl. Gill (1996) Kapitel 6.4 und dort v. a. 427: »The approach implied is ›objectivist‹ in the
18
Einleitung
erfolge aus der Perspektive der 3. Person und sei kennzeichnend für die gesamte
antike Philosophie. Hingegen sei die als ›subjektiv-individuell‹ (»subjectiv-individual«) bezeichnete Sichtweise, die wesentlich auf die Perspektive der 1.
Person abstelle, neuzeitlich und für die antike Philosophie nicht kennzeichnend21. Gill kommt zu dem Schluss, dass die antike Philosophie keineswegs über
ein Konzept von Individualität verfügt, welches sich mit neuzeitlichen Aussagen
deckt22.
In seinem Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration fragt
Gill nach der Senecanischen Konzeption des Selbst. Vor dem Hintergrund der
stoischen Psychologie untersucht er, wie Seneca den inneren Konflikt der Tragödienfiguren Medea und Phaedra darstellt. Er bezeichnet diesen als Konflikt
zwischen einem tatsächlichen, affektgeleiteten Selbst (»actual self«) und einem
idealen, vollkommenen Selbst (»natural self«)23, wobei letzteres durch die
Vollendung der menschlichen Vernunft bestimmt sei. Die sittliche Entwicklung
vom tatsächlichen zum vollkommenen Selbst beschreibt Gill als einen Prozess,
auf den sich die Beschreibungskategorie ›objektiv-partizipierend‹ (»objectiveparticipant«) anwenden lasse24.
Reydams-Schils nimmt in ihrer Monographie das Konzept des Selbst in der
Römischen Stoa in den Blick und bestimmt dieses in Anlehnung an Gill mit dem
Begriffspaar »objective-participant«, wobei sie den Fokus auf das Element
»participant« legt25. Ziel ihrer Studie ist es nämlich aufzuzeigen, dass die Vertreter der römischen Stoa, also Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel,
das Selbst sowohl unter soziologischen als auch unter ontologischen Gesichtspunkten als in größere Zusammenhänge eingebettet verstehen: Das Selbst sei
also wesentlich dadurch bestimmt, dass es in soziale Beziehungen sowie die
rationale Ordnung des Kosmos eingebunden sei26.
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23
24
25
26
sense that it assumes that there are objectively determinable (knowable) concepts of this type
(such as being normatively ›human‹). It is objective-participant in that it assumes that the
knowledge of such concepts depends on full and effective participation in interpersonal
engagement and reflective debate«. Vgl. auch ebd. Kapitel 6.7.
Vgl. Gill (2006) 338: »The use of subjectivity as a criterion of selfhood or personhood reflects
the influence of Descartes’ move of taking the ›I‹, conceived as a self-conscious, unitary
subject, as fundamental to our understanding of reality. […] The objective approach rejects
the idea that there is a peculiarly private, first-personal sphere of experience to which the
person as subject has privileged access«.
Vgl. Gill (2006) 391.
Vgl. Gill (2009) 73f.: »There is thus a continuing conflict between (what one might call) our
›natural self‹, that is, the capacity for full rationality that is constitutive of our nature as
rational animals, and our ›actual self‹, which imperfectly realizes this capacity«.
Vgl. Gill (2009) 77: »Also, this development, and the view of psychological experience associated with it, is conceived in strongly objectivist, indeed, in a sense, ›naturalist‹ terms,
rather than giving a privileged status to the subjective, first-personal view«.
Vgl. Reydams-Schils (2005) 37.
Vgl. Reydams-Schils (2005) 17: »[…] the Roman Stoic self is […] fundamentally embedded.
Fragestellung und Forschungsüberblick
19
Wie Gill, so wendet sich auch Inwood in seinem Aufsatz Seneca and Self
Assertion gegen die Auffassung, dass sich in Senecas Schriften eine Innovation
hinsichtlich des Selbst erkennen lasse. Nach Inwood generiere Seneca diesen
Eindruck durch seine literarische Technik: Durch die Briefform, die zahlreichen
Selbstzeugnisse sowie die Schilderung seiner Selbstprüfung bemühe er die
Perspektive der 1. Person und erzeuge so den Eindruck gesteigerter Subjektivität27; seine Philosophie sei aber gegenüber der stoischen Tradition nicht innovativ28. Senecas Selbst sei nichts weiter als das Kunstprodukt seiner literarischen Tätigkeit29.
Die Verwendung neuzeitlicher Begriffe wie ›Selbst‹ oder ›Individuum‹ zur
Interpretation antiker Texte erscheint mir methodisch nicht sinnvoll. Denn
indem Sorabji und Long die grundsätzliche Anwendbarkeit dieser Begriffe auf
antike Texte postulieren, wird eine neuzeitliche und damit anachronistische
Perspektive der Interpretation von vornherein festgelegt, welche Gefahr läuft,
Aussagen antiker Autoren aus dem Bezugsrahmen ihrer jeweiligen philosophischen Ausrichtung herauszulösen. Insbesondere bei Sorabji findet sich kaum
oder nur in unzureichendem Maß eine Rückbindung an antike philosophische
Systeme, und die Formulierung Longs, dass Seneca auch ohne Rücksicht auf die
stoische Philosophie als ›Theoretiker des Selbstseins‹30 gelten könne, zeugt m. E.
von dieser äußert problematischen Methodik. Da ich also der Auffassung bin,
dass sich neuzeitliche Begriffe wie ›individuell‹ oder ›Individuum‹ und die mit
ihnen verbundenen (neuzeitlichen) Konzepte und Vorstellungen nicht auf antike
Texte übertragen lassen, möchte ich auf die Verwendung dieser Termini verzichten.
Wenngleich der methodische Ansatz von Long und Sorabji als fragwürdig
bezeichnet werden muss, so zeigen ihre Studien doch, dass Seneca vom Menschen offensichtlich nicht bloß allgemein, d. h. als Gattungswesen spricht. Aus
ihren Arbeiten geht hervor, dass Seneca auch die besonderen Eigenschaften
eines einzelnen Menschen in den Blick nimmt, welche nicht durch die Vernunft
als die Gattungsnatur bestimmt sind und durch die sich ein Mensch von einem
anderen unterscheidet.
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29
30
On the ontological level, this embeddedness indicates that the self is anchored both in a body
and in a rational order that, the Stoics would claim, structures all of reality as ultimately
proceeding from an immanent divine principle. The social counterpart to this ontological
aspect indicates that the self is intrinsically connected to others in a network of relationships
that each has its specific claims and standards of behaviour«.
Vgl. Inwood (2009) 56–60.
Vgl. Inwood (2009) 46: »I would like to suggest that despite Foucault’s claims even Seneca’s
conception of the self doesn’t involve anything more substantial or robust in the way of
mental ontology«.
Vgl. Inwood (2009) 63.
Vgl. Anm. 12.
20
Einleitung
Anstelle des neuzeitlichen Terminus ›Individuum‹ verwende ich den Begriff
›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, der als Antonym zur Bezeichnung ›Gattungswesen‹ fungiert. Während der Begriff ›Gattungswesen‹ all diejenigen
Merkmale bezeichnet, die allen Vertretern einer Gattung gemeinsam sein
müssen, erfasst der Begriff ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹ – beide Begriff
verwende ich synonym – einen Vertreter dieser Gattung in seiner Singularität
und bezeichnet diejenigen Eigenschaften, die bei den einzelnen Vertretern der
Gattung ›Mensch‹ in unterschiedlicher Ausprägung vorgefundenen werden
können.
Im Unterschied zum neuzeitlichen Begriff ›Individuum‹, der in Senecas
Texten weder eine terminologische31 noch eine inhaltliche Entsprechung hat,
weisen die Termini ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, mit denen sich die
lateinischen Ausdrücke proprius, singulus und quisque übersetzen lassen, eine
solche Entsprechung auf. Da die Begriffe proprius (›eigentümlich‹/›besonders‹)
und universus (›allgemein‹) in der stoischen Philosophie als Attribute zum
Nomen natura verwendet werden – ein prominentes Zeugnis ist die quattuorpersonae-Theorie in Cic. off. 1, 107–11632 –, scheint mir die Rede vom Einzelnen
und dessen besonderer natura und die Frage, inwieweit diese neben der Vernunft als der allen gemeinsamen universa natura als tugendrelevant beschrieben
wird, legitim.
Aufbauend auf dem gerade dargelegten Forschungsstand, untersucht die
vorliegende Arbeit Senecas Texte stets mit Rekurs auf die stoische Philosophie.
Dabei bildet der Begriff natura, dem in dieser philosophischen Schule eine
zentrale Bedeutung für die Anthropologie und Ethik zukommt, einen geeigneten
Ausgangpunkt für die Frage nach Senecas Auffassung vom Menschen und
dessen sittlicher Entwicklung.
Die vorliegende Studie soll deutlich machen, dass Cicero und Seneca – anders
als Ilsetraut und Pierre Hadot behaupten – den sittlichen Fortschritt (und das
ethische Ziel) nicht nur allgemein über die Vernunftnatur des Menschen, sondern auch durch die besonderen angeborenen Eigenschaften eines Menschen –
seine besondere natura – bestimmen und die moralische Entwicklung so als den
Weg des Einzelnen beschreiben. Die Kenntnis der natura des Einzelnen und der
31 Seneca verwendet den Begriff indivuduus (›ungeteilt‹) in seinen Prosaschriften nur vier Mal,
wobei er ihn als physikalischen Terminus gebraucht (vgl. dial. 1 [= De providentia], 5, 9 und
dial. 8 [= De otio], 5, 6) oder ihn als Attribut zu Abstrakta verwendet (vgl. epist. 67, 10 und
epist. 73, 8); niemals wird individuus auf Menschen bezogen. Cicero übersetzt in fin. 1, 17
den physikalischen Begriff %tola, der bei den Atomisten die kleinsten, nicht weiter teilbaren
Einheiten bezeichnet, durch individua; zu den Begriffen ›Individuum‹ und ›Individualität‹
in der Antike und Frühscholastik vgl. Kobusch (1976) 300–304.
32 Mit Ciceros quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116 befasst sich Kapitel 2 ausführlich.
Methode und Aufbau
21
vernunftgeleitete Umgang mit ihr stellen meiner Ansicht nach gerade keine
tugendirrelevante Kontextbedingung dar, sondern werden in den Texten als
condicio sine qua non für das Erreichen der Tugend beschrieben. Senecas Philosophica zeigen, wie im Verlauf der Arbeit verdeutlicht werden soll, dass das
richtige Urteil, in dem der stoischen Philosophie zufolge die Tugend besteht, nur
mit Rücksicht auf die natura des Einzelnen gefällt werden kann und diese somit
als notwendige Bedingung der Tugend ausgewiesen wird.
In diesem Zusammenhang soll auch aufgezeigt werden, dass Senecas Philosophieren über eine bloße Adaptation stoischer Dogmen an praktische Bedürfnisse hinausgeht; die allgemeinen stoischen Lehrsätze werden von ihm
nicht einfach auf konkrete Situationen ›heruntergebrochen‹. Senecas Ausführungen zeigen vielmehr, dass die stoischen Dogmen und insbesondere die
stoische Lehre von der Zweiseitigkeit der menschlichen natura ein breites
Spektrum an unterschiedlichen tugendrelevanten Handlungsmöglichkeiten
zulassen; dieses Differenzierungspotential wird von ihm mit Blick auf die
praktische Philosophie ausgeleuchtet. Da er den sittlichen Fortschritt und das
ethische Ziel als den Weg des Einzelnen beschreibt, werde ich Gills Junktur
›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«) abzuwandeln suchen in
›objektiv-vereinzelt‹.
Methode und Aufbau
Die vorliegende Arbeit versteht sich dezidiert als philologische Studie. Aus
diesem Grund dienen ausgewählte lateinische Textpassagen aus Senecas Prosaschriften, die zusammen mit ihrer deutschen Übersetzung zitiert werden, als
Ausgangs- und stetiger Bezugspunkt der Interpretation. Durch die Methode des
close-reading werden die lateinischen Texte einer genauen sprachlichen und
inhaltlichen Analyse unterzogen, deren Ergebnisse für die Interpretation
fruchtbar gemacht werden sollen. Die Auswahl der Textpassagen konzentriert
sich nicht nur auf diejenigen Stellen der Senecanischen Prosaschriften, in denen
expressis verbis von der menschlichen natura die Rede ist, sondern berücksichtigt auch Passagen, in denen ohne explizite Verwendung dieses Terminus
Senecas Konzept der menschlichen natura verhandelt wird.
In den ersten drei Kapiteln steht neben einer Analyse des Begriffs Natur
(rerum natura) die Frage, welchen Begriff der menschlichen natura Seneca in
seinen Prosaschriften verwendet, im Zentrum der Untersuchung; diese wird im
Zusammenhang mit der philosophischen Tradition, in die er sich stellt,
durchgeführt. Damit fungieren die Kapitel 1–3 als Grundlagenkapitel und bilden den ersten Teil der vorliegenden Arbeit. Darauf aufbauend wird im zweiten
Teil, den die Kapitel 4–6 umfassen, die Bedeutung der menschlichen natura für
22
Einleitung
die praktische Ethik in den Blick genommen; hier soll gezeigt werden, wie
Seneca seine pädagogischen Bemühungen auf den Einzelnen ausrichtet. Der
dritte Teil der Studie (Kapitel 7) nimmt die Beziehung von Form und Inhalt der
Epistulae morales in den Blick und eruiert, wie Seneca die Briefform für seine
erzieherischen Bemühungen funktionalisiert. Im vierten und letzten Teil werden
die in den ersten drei Teilen erzielten Ergebnisse überblicksartig zusammengefasst.
Die Fragestellung der einzelnen Kapitel lässt sich folgendermaßen skizzieren:
Im ersten Kapitel erfolgt eine Untersuchung des Begriffs der Natur (rerum
natura). Dabei wird gefragt, in welchem Verhältnis Naturwissenschaft und Ethik
zueinander stehen und welche anthropologischen Bestimmungen Seneca aus
naturwissenschaftlichen Aussagen ableitet. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden, ob und inwieweit er die rerum natura als Maßstab für seine Ethik
begreift.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Untersuchung der menschlichen natura. Allerdings geht es noch nicht um Senecas Konzeption derselben, sondern
um die Frage, wie die stoische Tradition, in die Seneca sich stellt, die natura des
Menschen beschreibt. Ciceros Ausführungen, die er im Rahmen der quattuorpersonae-Theorie über die menschliche natura macht und die in der Forschung
wiederholt als Beleg für eine Individualisierungstendenz in der stoischen Philosophie herangezogen werden, sind Gegenstand der Analyse. Vor diesem
Hintergrund können in den darauffolgenden Kapiteln die Spezifika des Senecanischen Naturbegriffs, die sich einerseits aus der Anknüpfung an die
quattuor-perosonae-Theorie, andererseits aus deren Modifikation ergeben,
deutlich gemacht werden.
Kapitel 3 wendet sich wieder Seneca zu und beabsichtigt zu zeigen, dass er mit
dem Begriff der menschlichen natura Aussagen aus der quattuor-personaeTheorie aufgreift, indem er über den Naturbegriff den Menschen sowohl als
allgemeinen als auch als besonderen erfasst. Es soll aber auch deutlich gemacht
werden, dass Seneca Ciceros Aussagen über die menschliche natura insofern
modifiziert, als er den Bezug zwischen der natura und den gesellschaftlichen
Normen anders fasst als Cicero. Mit dem dritten Kapitel wird der Grundlagenteil
abgeschlossen.
Kapitel 4, welches den zweiten Teil der Arbeit einleitet, nimmt den Menschen
in seinem sozialen Umfeld in den Blick und befasst sich mit Senecas Begriff der
sozialen Rolle. Dabei wird mit Rekurs auf die quattuor-personae-Theorie gezeigt, welche sozialen Faktoren zusammen mit der natura des Menschen dessen
Lebensweg und sittliche Entwicklung bestimmen und welcher Zusammenhang
zwischen sozialer Rolle, menschlicher natura und Identität besteht. Insbesondere Senecas Aussagen über die Bedeutung der natura für gelungenes Rollen-
Bemerkungen zur Zitation
23
handeln lassen Modifikationen der quattuor-personae-Theorie erkennen und
machen die Eigentümlichkeiten seines Naturbegriffs erneut deutlich.
Im 5. und 6. Kapitel wende ich mich den Methoden der Erziehung bzw.
Selbsterziehung zu. Im Zentrum von Kapitel 5 stehen die Untersuchung von
Senecas Verwendung von exempla sowie die Frage nach deren pädagogischer
Funktion. Dabei soll aufgezeigt werden, dass gerade Senecas Theorie der richtigen imitatio von Vorbildern von einem auf den Einzelnen ausgerichteten Erziehungskonzept zeugt.
Kapitel 6 untersucht die Methode der Selbstprüfung als Mittel der Selbsterziehung. Der Fokus der Analyse richtet sich auf die Frage, welche Tragweite
Seneca der menschlichen Erfahrung für die moralische Entwicklung beimisst
und welche Bedeutung er dem aus der Selbstprüfung hervorgehenden Wissen
für das Handeln zuschreibt.
Kapitel 7, das den dritten Teil der Studie umfasst, nimmt eine Sonderstellung
ein: Es fragt nach der Bedeutung, welche die Briefform für die Vermittlung der
stoischen Philosophie in ihrer Senecanischen Ausprägung haben könnte und
nimmt so die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Blick. Im Zusammenhang mit einer Untersuchung des Senecanischen Freundschaftsbegriffs, der
für das Verständnis des Absender-Adressaten-Verhältnisses zentral ist, wird
auch nach der literarischen und philosophischen Funktion des Adressaten Lucilius gefragt. Die Ausführungen dieses letzten Kapitels zielen auf den Nachweis,
dass Seneca über die Form der Epistel die Aussage transportiert, dass Erziehung
eine auf den Einzelnen, auf ein konkretes ›Du‹ ausgerichtete Tätigkeit sei. Abschließend folgt in Teil IV eine Zusammenfassung der Ergebnisse.
Bemerkungen zur Zitation
Die Zitation von Senecas Epistulae morales und Dialogi richtet sich nach den
kritischen Ausgaben von Reynolds, die Naturales quaestiones werden nach der
Ausgabe von Hine zitiert. Die aus Ciceros De officiis entnommenen Textstellen
werden gemäß der Ausgabe von Winterbottom wiedergegeben. Bisweilen habe
ich die Interpunktion geändert; ebenso wird die Schreibweise vereinheitlicht (v
wird durchgehend mit v statt mit u wiedergegeben). Die Übersetzung der lateinischen Textpassagen erfolgt in Anlehnung an die im Literaturverzeichnis
angeführten Übersetzungen, die ich jedoch größtenteils abgeändert habe.
Antike Autoren und Werke werden nach dem Abkürzungsverzeichnis in Der
Neue Pauly zitiert; die bibliographischen Abkürzungen der Forschungsliteratur
richten sich nach den Angaben in der Ann¦e philologique.
Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen