Manche können nicht einmal rückwärtsfahren - VCS Verkehrs

AKTUELL
Gotthard
«Manche können nicht
einmal rückwärtsfahren»
Text: Daniel Bütler
Fotos: Jérôme Faivre
Der Schwerverkehr auf der Gotthardroute ist von osteuropäischen Fahrern
dominiert. Sie arbeiten zu Dumpinglöhnen und gefährden zusehends die Sicherheit auf Schweizer Strassen: ein Augenschein im Urner Schwerverkehrszentrum.
Helikopter ins Spital gebracht.
Ein Grossaufgebot von Feuerwehr, Sanität und Polizei war vor
Ort, der Brand konnte glücklicherweise innert einer Stunde
behoben werden. Trotzdem blieb
die A9 stundenlang gesperrt.
Unglücke wie dieses von Ende
Januar bei Gamsen-Brig sind
keine Einzelfälle auf Schweizer
Strassen. Im Gotthard-Strassentunnel etwa sind bei fast 90 Prozent der schweren Verkehrsunfälle LKW beteiligt.
D
ie Explosion war gewaltig:
Ein LKW voller leicht entzündlichem Aceton geriet in
Brand. Mit einem Fahrfehler hatte der Chauffeur aus dem Senegal
vom Simplonpass her kommend
den Unfall selbst verursacht. Der
verletzte Fahrer wurde mit dem
Osteuropa dominiert
Wer etwas über den Schwerverkehr auf der Gotthardroute lernen will, besucht am besten das Schwerverkehrszentrum
Uri in Ripshausen bei Erstfeld. An diesem sonnigen Frühlingsnachmittag fahren wahre
LKW-Ungetüme, aber auch kleinere Lieferwagen vor. Die Mehrzahl trägt ein Nummernschild
aus Osteuropa. Gerade wird ein
Fahrer aus Bulgarien kontrolliert. Der Mann sieht müde aus.
Die Papiere und die Ladung sind
in Ordnung. Nun werden die
Blinklichter geprüft. Da der Fahrer weder Deutsch noch Englisch
spricht, kommunizieren die Polizisten per Handzeichen mit ihm.
Nach einer Viertelstunde hat der
Chauffeur die Kontrolle überstanden, er darf weiterfahren,
Richtung Italien.
Der Transitverkehr durch
die Schweiz ist immer stärker
durch Unternehmen aus Osteuropa dominiert. Und generell
stammt immer mehr Personal in
der Transportbranche aus diesen Ländern. «Auch für Unternehmen aus Deutschland, den
Niederlanden, der Schweiz oder
Italien fahren zunehmend Osteuropäer», sagt Stefan Simmen,
der Leiter des Schwerverkehrszentrums Uri (SVZ). Gerade bei
«
Ich fahre für ein niederländisches
Unternehmen nach Italien. Was ich
geladen habe, weiss ich nicht. Mein
Lohn beträgt 64 Euro am Tag. Ich pendle
zwischen Litauen und Westeuropa. Ich
arbeite jeweils sechs Wochen in Europa
und verbringe praktisch Tag und Nacht
im LKW. Dann gehe ich für drei Wochen
zurück nach Litauen, wo ich Familie habe
und als Busfahrer tätig bin. Darauf kehre
ich zurück nach Europa.»
Petras, Litauen
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VCS MAGAZIN / JUNI 2015
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Gotthard
italienischen Fuhrhaltern sind
immer seltener einheimische
Chauffeure am Steuer.
Simmen, ein bodenständiger
Urner, kommt gerade von einer
Mitarbeiterschulung. Thema: die
Manipulation der digitalen Fahrtenschreiber von LKW – gemäss
deutschen Polizeikollegen ein
wachsendes Problem auf europäischen Strassen. So wird etwa verschleiert, dass die Fahrer die nötigen Ruhezeiten nicht einhalten.
Gravierende
Sicherheitsmängel
Im Schwerverkehrszentrum Uri
werden stichprobenmässig etwa
fünf Prozent der Laster, die auf
der Gotthardautobahn Richtung
Süden fahren, kontrolliert: 2014
total rund 17 000 LKW. Geprüft
wird etwa, ob die Abmessungen und das Gewicht der Fahrzeuge die Vorschriften erfüllen,
ob Papiere und Ladung korrekt
sind und ob die Chauffeure die
erlaubten Fahr- und Ruhezeiten
einhalten. Fast jedes siebte oder
2333 der überprüften Fahrzeuge
wurden 2014 wegen gravierender
technischer Sicherheitsmängel
angehalten und mussten verzeigt
werden.
Am Überwachungsstand kontrollieren zivile Polizisten die
LKW. Sie pflegen einen ausgesprochen anständigen Umgang
mit den LKW-Fahrern, die oft nur
ein paar Brocken Deutsch oder
Englisch sprechen. Ein junger
Chauffeur aus Rumänien macht
einen verschüchterten Eindruck.
Doch er besteht die Kontrolle.
Weniger gut ist es einem
Fahrer ergangen, der auf dem
Parklatz neben einem Laster
ohne Anhänger steht und raucht.
Er habe ein Problem mit dem
Anhänger, erzählt der Pole. Nun
muss er eine Busse von 1000
Franken bezahlen und wartet,
dass «die Bank» das Geld überweist. Müsste er den Betrag selber vorschiessen, hätte er ein
grösseres Problem: Er verdient
1000 bis 1500 Euro monatlich.
Bei Gesetzesverstössen müssen
die Fahrer eine Bussenkaution
Fast jedes siebte überprüfte Fahrzeug wies 2014 gravierende Sicherheitsmängel auf.
hinterlegen. Doch für Osteuropäer handelt es sich dabei teilweise
um eine astronomische Summe.
Wie die Abklärungen der Polizei
ergaben, arbeiten manche Rumänen, Bulgaren oder Leute aus den
Ex-Sowjetstaaten nach eigenen
Angaben zu Tiefstlöhnen von 350
bis 450 Euro. Den Negativrekord
hält ein Weissrusse: Er verdient
gerade mal 250 Euro! Die Abklärungen zu den finanziellen
Verhältnissen dienen der Staatsanwaltschaft zur Festlegung der
Höhe der Busse. Auch in der Hierarchie der Chauffeure scheinen
«
Gerade bin ich unterwegs ins
Tessin, wo ich eine grosse Maschine abholen soll. Ich bin seit
35 Jahren im Beruf, fahre immer die
Strecke Tschechien–Schweiz und
zurück. Mein Verdienst? Eine Katastrophe. Zum Glück kann ich das
Wochenende meistens mit der Familie verbringen. Ich habe drei Kinder
und bin auch schon Grossvater.»
Fahrer aus Tschechien, will Namen
nicht sagen
VCS MAGAZIN / JUNI 2015
die Bulgaren und Rumänen ganz
unten zu stehen: Über sie lästern
die Fahrer anderer Nationen offen. «Die stehlen einem sogar
das Benzin aus dem Tank, wenn
man nicht aufmerksam ist», sagt
einer.
Laut Simmen bleiben osteuropäische Fahrer generell nicht
häufiger in den Kontrollen hängen. Trotz korrekter Papiere fragt
man sich im Schwerverkehrszentrum aber gelegentlich, wie manche zu ihren Ausweisen kamen.
«Es gibt Chauffeure, die nicht
wissen, wie sie rückwärtsfahren können oder ein LKW-Licht
reparieren müssen.»
Leben im Lastwagen
Es ist Abend geworden im Kontrollzentrum. Auf dem Parkplatz
stehen rund 90 Laster, wegen des
Nachtfahrverbots übernachten
die Fahrer hier. Im SVZ können
sie gratis Toiletten und Duschen
benutzen. Ein junger Mann in
Kapuzenjacke schreitet über den
Parkplatz, das Handy am Ohr.
Giorgio ist Rumäne und fährt
für ein italienisches Unternehmen. Er hat «medizinisches Material» in die Region Zürich ge7
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Gotthard
Die Lastwagenchauffeure aus Italien (Fotos links) kriegen immer mehr Konkurrenz aus Osteuropa (Fotos rechts).
Am schlechtesten bezahlt sind Fahrer aus Rumänien – mit rund 400 Euro Lohn monatlich.
bracht. Was er über die Schweiz
wisse? «Nichts», sagt er und lächelt verschmitzt.
Giorgio wartet seit Stunden auf
den Arbeitskollegen aus Italien.
Sein Laster hat einen Defekt an
den Bremsen, der behoben werden muss, bevor er weiterfahren
kann. Doch wie die meisten der
hier gestrandeten LKW-Fahrer
kann er sich keinen Garagisten
aus der Umgebung leisten. Für
das Unternehmen ist es günstiger,
zur Reparatur einen Mitarbeiter
aus Italien kommen zu lassen.
Giorgio ist 39 und arbeitet seit
2001 in Italien. Er hat aber einen
«rumänischen Arbeitsvertrag».
Das italienische Mutterhaus hat
ein Subunternehmen in Rumänien gegründet, bei dem er offi-
ziell angestellt ist. Dies mit dem
Ziel, Steuern zu vermeiden, wie
Giorgio offen sagt.
Im Transportgeschäft herrscht
ein harter Konkurrenzkampf:
Viele europäische Transportunternehmen, auch solche aus der
Schweiz, haben in den letzten Jahren Tochterfirmen in Osteuropa gegründet. Die Fahrer dort
haben weniger Rechte und massiv tiefere Löhne als ihre Kollegen im Westen. 200 bis 400 Euro
verdiene ein LKW-Fahrer in
Rumänien, bestätigt Giorgio.
Die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) beklagt die schlechten Arbeitsbedingungen der osteuropäischen
Chauffeure. Sie seien dubiosen
Beschäftigungsunternehmen un-
terworfen und führen zu Dumpinglöhnen quer durch Europa.
Die Arbeitsbedingungen der
Osteuropäer gefährden laut ETF
die Sicherheit auf den Strassen.
Ironie der Geschichte: Die
Schweiz hätte ein wirksames Mittel gegen die allseits bekannten
internationalen Sicherheitsmängel. Würde der 1994 vom Volk
angenommene
AlpenschutzArtikel korrekt umgesetzt, wären
die Güter längst von der Strasse
auf die Schiene verlagert worden.
Mit dem neuen Eisenbahn-Basistunnel, der nächstes Jahr eröffnet
wird, können 750 000 Lastwagen
jährlich auf die Bahn verladen
werden. Nebst dem Sicherheitsgewinn für alle wären auch die
Staus am Gotthard passé.
Die Lage spitzt sich zu
Wegen des massiven Kostendrucks nimmt der Druck auf die
Fahrer in ganz Europa zu. «In
Italien pressen die Unternehmen die Fahrer aus», sagt Giorgio. «Du musst viel arbeiten und
viele Kilometer machen.» Häufig
würden auch die Fahrtenschreiber manipuliert. «LKW-Fahrer
ist ein riskanter Job», findet er.
«Man müsste ausgeruht sein.»
Giorgio lebt zwar eigentlich in
Italien, hat aber eine kleine Familie in seinem Heimatland, die
er nur selten sieht. Zurzeit wohnt
er ununterbrochen im LKW.
Auch am Wochenende? «Ja, eine
Wohnung in Italien kann ich
mir momentan nicht leisten.»
Er starrt wieder auf sein Handy.
Mehr Kontrollen – aber zu viele LKW
Das SVZ, das grösste Schwerverkehrs-Kontrollzentrum in der Schweiz,
wird im Auftrag des Bundesamtes für Strassen von der Urner Kantonspolizei betrieben. 50 Mitarbeitende überwachen hier den TransitSchwerverkehr auf der Gotthardautobahn. Das SVZ ist auch eine Folge des
verheerenden Unfalls im Gotthardtunnel von 2001. Seither wurden die Sicherheitsmassnahmen verbessert. Laster werden vor dem Gotthardtunnel
gestoppt und nur noch dosiert Richtung Süden gelassen. Trotzdem fahren
immer noch viel zu viele LKW durch den längsten Schweizer Tunnel. Gemäss dem Alpenschutzartikel dürften nur 650 000 LKW pro Jahr die Alpen auf der Strasse überqueren. Tatsächlich fahren 850 000 bis 900 000
Laster allein durch den Gotthard. Stimmt die Bevölkerung nächstes Jahr
dem Bau einer zweiten Gotthard-Strassenröhre zu, würde diese Zahl noch
markant ansteigen.
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VCS MAGAZIN / JUNI 2015
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Gotthard
Noch immer keine Nachricht
von seinem Arbeitskollegen. Es
heisst weiter warten.
Um 20 Uhr ist der SVZ-Parkplatz fast voll, doch im Restaurant herrscht gähnende Leere.
Kaum ein Chauffeur isst hier.
Obwohl die Menüpreise sehr
moderat sind, können sich die
Fahrer in der Schweiz kein warmes Essen leisten. Die meisten
verpflegen sich kalt, manche
nehmen sogar ihr Essen von zu
Hause mit. Den Abend verbringen sie mit ihrem Radio, PC oder
Smartphone und legen sich dann
zeitig in ihrer Kabine schlafen.
Am Morgen fahren sie in aller
Herrgottsfrühe weiter.
Beim Rückweg ins SVZ-Büro
fällt ein komplett demoliertes
LKW-Wrack auf: Es ist der Überrest eines bulgarischen Sattelschleppers, der ein paar Tage zu-
vor im Seelisbergtunnel in einen
Lieferwagen prallte. Den stehenden Lieferwagen hatte er nicht
rechtzeitig gesehen. Der verletzte
Fahrer musste mit der Ambulanz
ins Spital gebracht werden.
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