Für die Rückkehr von Arten müssen die Lebensräume

pro natura magazin
thema
05 | 2015 Oktober
11
Für die Rückkehr von Arten
müssen die Lebensräume stimmen
2
4
Mit den Lebensräumen
verschwinden die Arten
26
Mehrere einst in der Schweiz ausgerottete Tieroder Pflanzenarten haben in den vergangenen Jahr-
Die Farbpalette der Blumenwiesen
zehnten wieder den Weg in ihre alte Heimat zurückgefunden. Andere aber schafften es nicht, sich
Hunderte von faszinierenden Wiesenbildern wurden
hier wieder zu etablieren – weil die Lebensräume
für den Pro Natura Fotowettbewerb eingereicht, die besten
oft nicht mehr geeignet sind.
neun wurden prämiert. Prämiert wurden auch die Gewinner der Wiesenmeisterschaften – wir stellen einen
Andi Hofstetter
Foto: Prisma/Bolliger, Illustration: Vera Trächsel
Wiesen­champion vor.
18
14
Strengere
Grenz­werte
für die Labore
Der staunende
Beobachter
Damit die Kantone wirksamer
gegen die oft viel zu hohen
Pestizidwerte in den Gewässern
Weil Manuel Stahlberger in
vorgehen können, will der
seinen musikalischen Er-
Bundesrat die Gewässerschutz-
kundungen immer wieder
Verordnung revidieren. Genau
die ­Natur streift, wollte das
das versucht das Bundesamt
Pro ­Natura Magazin mehr
für Landwirtschaft aber zu
über die ­grüne Ader des Ostschweizer ­Sängers erfahren
und begab sich mit ihm auf
Christian Flierl
verhindern.
eine St. Galler Stadtrandtour.
pro natura magazin
Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz
von der Zewo als gemeinnützig anerkannt.
Impressum: Pro Natura Magazin 5/2015. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235
Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv ­
Layout: Vera Trächsel, Raphael Weber.
Mitarbeit an dieser Ausgabe: René Amstutz, Michael Casanova (mc), Josephine Cueni, Nicolas Gattlen, Rico Kessler (rke), Sabine Mari, Kurt Marti (km), Lorenz Mohler (Übersetzungen), Jan Ryser,
Bertrand Sansonnens (bs), Urs Tester (ut), Friedrich Wulf, Rolf Zenklusen (zen).
Redaktionsschluss Nr. 1/2016: 17.11.2015
Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 116 000 (85 000 deutsch, 31 000 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier.
An­schrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: [email protected]; www.pronatura.ch; P­ K‑40-331-0
Inserate: CEBECO GmbH, We­berei­str. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, [email protected] Inserateschluss 1/2016: 27.11.2015
Friends of the Earth International.
Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutz­union IUCN und Schweizer Mitglied von
www.pronatura.ch
inhalt
3
editorial
inhalt
4thema
4 Z
wiespältiger Erfolg: Der Lichterglanz erfolgreicher
Wiederansiedlungen verdeckt viele Misserfolge.
Wie sehr soll man Heimkehrern helfen?
8 H
eikle Eingriffe: Bei der Pflanzenwelt gestalten sich
Wiedereinführungen als besonders delikat.
Natura Magazins. Im vorletzten Sommer entdeckte ich auf unserer
10 Zuwarten oder helfen? Zwei Amphibienexperten
schätzen den Handlungsbedarf unterschiedlich ein.
zuvor nur abgegraste Weide ausgebreitet hatte. Ein genauer Blick
14köpfe
16in kürze
18 brennpunkt
18 P
estizide: Die Umweltämter fordern EU-Grenzwerte,
die Bauern- und Chemielobby blockiert.
22 Sabotage: Rechtsbürgerliche Politiker torpedieren
die Umsetzung des Gewässerschutzgesetzes.
Ein Spaziergang mit meinem Hund stand am Anfang dieses Pro
grossen Spazierrunde plötzlich mehrere Orchideen, wo sich Tage
bestätigte die spontane Vermutung: Spatenspuren; jemand hatte die
Orchideen hier willentlich gepflanzt – eine Orchideenart, die ich
zuvor noch nie auf dieser Weide gesehen hatte.
Kopfschütteln war meine erste Reaktion – Kopfschütteln über
Menschen, welche die Natur wie ihren Garten formen wollen,
anstatt dieser freien Lauf zu lassen. Ich ging und dachte weiter:
Hatte nicht ich selber die Pflanzung junger Eichen auf derselben
Weide initiiert? Gewiss, doch diese Bäume sind heimisch, damit
sollten die uralten Eichenbestände bewusst verjüngt werden. Doch
gab es womöglich nicht ebenso gute Gründe für die Pflanzung dieser
Orchideenart, die vielleicht auch einmal heimisch auf der Weide
24 Globale Nachhaltigkeit: Die UNO setzt sich
ambitionierte Ziele - die NGOs helfen mit.
war?
25 Klimagipfel: In Paris darf sich die Pleite von
Kopenhagen nicht wiederholen.
Arbeitstagen merkte, bei Pro Natura nicht alleine. Eine
26news
26 Fotowettbewerb: So schön sehen die prämierten
Wiesenbilder aus.
Mit dieser Ambivalenz bin ich, wie ich in den folgenden
ab­schliessende Haltung, ob Wiederansiedlungen sinnvoll sind, gibt
es auch unter meinen Kolleginnen und Kollegen nicht. Ein Teil sieht
darin allenfalls ein legitimes und notwendiges Instrument, um
regional ausgerottete Tiere und Pflanzen wieder in ihr
ursprüngliches Ausbreitungsgebiet zurückzuführen. Ein anderer Teil
28: W
iesenchampion: Bio-Bauer Emil Häfner ist stolz
auf seine preisgekrönten Blumenwiesen.
lehnt solche Projekte aber ab, weil die Ansiedlungs­versuche
iesenknopf: Ohne diese Futterpflanze geht bei
29: W
den Moorbläulingen nichts.
Nebenrisiken bergen. Beide Lager kommen in diesem Magazin zu
mehrheitlich erfolglos geblieben sind und solche Aktionen auch
emeindetümpel: Sollen nach dem Erfolg in der
30: G
Romandie auch in der Deutschschweiz entstehen.
Wort.
egate: Ermöglichen grosse Hinterlassenschaften
32: L
und stehen für bewegende Lebensgeschichten.
Intakte Lebensräume bilden die Grundvoraussetzung für die
35leserbriefe
36service
38beobachtet
39 pro natura aktiv
46 shop
48die letzte
In einem zentralen Punkt sind sich aber alle Naturschützer einig:
Rückkehr lokal ausgestorbener Arten. Ob man ihnen dann bei der
Rückkehr hilft, ist erst eine sekundäre Frage. Symptomatisch mag
dazu der Fall des Fischotters sein: In den 70er-Jahren scheiterte eine
Wieder­ansiedlung, weil damals die Gewässer noch zu stark
verschmutzt und kanalisiert waren. 40 Jahre später, mit besserer
Wasserqualität und renaturierten Gewässern, klopft der Otter nun
von alleine wieder an die Türen der Schweiz.
Und die Orchideen? Die habe ich diesen Sommer nicht
wiedergesehen. Gärtnern in der Natur ist vielleicht doch nicht so
einfach.
Raphael Weber, Chefredaktor
thema
Raphael Weber (2)
Ohne geeignete
Lebensräume
kehren keine
Arten zurück
Fischotter Lutra lutra
Ursprüngliche Ausbreitung
in der Schweiz
Ende des 19. Jahrhunderts lebten in der
Schweiz über 1000 Otter, vorwiegend
im Mittelland, im Tessin und entlang der
grossen Seen am Jurasüdfuss.
Ausrottung
Ausrottung in der Mitte des vergangenen
Jahrhunderts durch die Verschmutzung
und Kanalisierung der Gewässer einerseits,
andererseits durch die Jagd.
Wiederansiedlung
Ein Wiederansiedlungsprojekt aus dem
Jahr 1975 im Gebiet der Sense und des
Schwarzwassers scheiterte: Keiner der acht
ausgesetzten Fischotter aus Bulgarien
überlebte.
Mehrere heimische Tierarten,
die einst in der Schweiz
ausgestorben waren, sind in
den vergangenen Jahren wieder
heimgekehrt – entweder
von alleine oder durch
aktive Mithilfe. Viele
Wiederansiedlungsprojekte
sind aber auch gescheitert.
Illustrationen Vera Trächsel (2)
4
Eine ursprünglich ausgestorbene Tier- oder Pflanzenart kehrt
dank eines Wiederansiedlungsprojekts wieder in ihren ange-
folg hart erarbeitet werden muss. Wichtigste Voraussetzung ist,
Die erfolgreichen Wiederansiedlungen zeigen, dass der Er-
stammten Lebensraum zurück – welche Erfolgs­geschichte!
dass die Gründe fürs Aussterben wegfallen und genügend ge-
Ohne Wiederansiedlungsprojekte könnten wir keine Stein­
eigneter Lebensraum für die Art vorhanden ist. Danach brau-
böcke bewundern, keine Dämme des Bibers entdecken und
chen die Projekte einen langen Atem, damit auch Rück­schläge
im Frühjahr auch keine klappernden Störche hören.
verkraftet werden können. So mussten die ausgesetzten Stein-
böcke intensiv überwacht werden, damit sie nicht von Wilde-
Wiederansiedlungsprojekte sind attraktiv. Wenn ein Luchs
aus dem Käfig in die Freiheit springt oder ein Bartgeier in sein
rern erlegt wurden.
Aussetzungsnest getragen wird, sind Menschen mit Begeis-
terung dabei, nehmen Medien Anteil. Doch wer sich intensi-
Jahren Arbeit der Titel des ersten Berichts zur Wiederansied-
ver mit Wiederansiedlungsprojekten befasst, stellt fest, dass
lung der Störche. 40 Jahre Durchhaltewille brauchte es zuletzt,
«Stirbt der Storch in der Schweiz aus?», lautete nach zehn
es hinter dem Lichterglanz des Erfolges viele schattige Miss­
bis der Erfolg gut sichtbar wurde. Das Wiederansiedlungs­
erfolge gibt. Ich spreche auch aus eigener Erfahrung: Wäh-
projekt des Bartgeiers läuft nun schon fast 40 Jahre. Es be-
rend meiner Studienzeit war ich an zwei Wiederansiedlungs­
gann 1978, der erste Vogel konnte 1986 freigelassen werden,
projekten des Laubfroschs in der Region Basel beteiligt. An ei-
der erste in freier Wildbahn aufgewachsene Jungvogel flog
nem Standort hat es geklappt, am anderen nicht.
1997 aus seinem Horst.
Pro Natura Magazin 5/2015
thema
Kleiner Rohrkolben
Typha minima
Ursprüngliche Ausbreitung
in der Schweiz
Markante Bestände entlang der grossen
Flüsse Rhone, Aare, Rhein und Reiss. Die
Auenpflanze besiedelt sandig-schlickige
Pfützen, die nach einem Hochwasser
langsam austrocknen.
Verschwinden
Im vergangenen Jahrhundert durch die
Begradigung und Wasserkraftnutzung
unserer Flüsse.
Wiederansiedlung
1999 bis 2002 im Kanton Genf durch
den Kanton selber und den Botanischen
Garten. Kleine Rohrkolben wurden an
drei Standorten ausgepflanzt, doch
keine der Pflanzen überlebte den
Jahrhundertsommer 2003 mit seiner Hitze
und Trockenheit.
Aktuelle Verbreitung
Restliche Einzelvorkommen am Rhein und
der Rhone im Wallis. Eine Diplomarbeit
zeigte, dass geeignete Lebensräume,
wenn überhaupt, nur noch sehr spärlich
vorhanden sind.
Mehrere Arten, die in der gesamten Schweiz oder in einzelnen Regionen
ausgestorben waren, haben sich mittlerweile wieder erfolgreich hier etabliert;
entweder durch eine Wiederansiedlung oder durch eine autonome Heimkehr.
Eine Auswahl dieser Arten stellen wir in den grünen Boxen vor.
Bei anderen Arten sind Wiederansiedlungsversuche gescheitert; sie werden in
den roten Boxen vorgestellt und schwarz-weiss porträtiert.
Weitere Tier- und Pflanzenarten sind entweder daran, selbstständig in ihre
ursprüngliche Lebensräume heimzukehren, oder es wird diskutiert, ob sie hier
wieder angesiedelt werden sollen. Gemäss dem Ampelsystem werden diese
Arten in den orangen Boxen vorgestellt.
Während die Erfolgschancen der Wiederansiedlungsprojek-
ständig einwandernde Ringelnattern warten. Er setzte eine ost-
te überschätzt werden, sind die Risiken unterschätzt. Woher
europäische Ringelnatter-Unterart aus. Nun müssen diese Tie-
kommen die Tiere oder Pflanzen, die man aussetzen möchte?
re wieder eingefangen werden.
Besteht die Gefahr, dass mit dem Wegfang der Tiere oder dem
Ausgraben von Pflanzen eine noch intakte Population gefähr-
dass Krankheiten freigesetzt werden oder sich sonst die
Mit dem Aussetzen von Tieren besteht auch die Gefahr,
det wird? Sind die zur Wiederansiedlung vorgesehenen Indivi-
Lebens­bedingungen für andere gefährdete Arten verschlech-
duen genetisch vielfältig oder besteht die Gefahr von Inzucht?
tern, sodass die Aktion anderen Tieren und Pflanzen schadet.
Und: Verlieren die Tiere oder Pflanzen, wenn sie in Gefangenschaft gezüchtet werden, Fähigkeiten, die sie zum Über­leben
Das Instant-Natur-Syndrom
in der Natur brauchen? Aus Zuchten stammende Auerhühner
Das Beispiel mit der ausgesetzten Ringelnatter zeigt auch: Wir
konnten in der Natur die Nadelholzknospen nicht mehr ver-
leben in einer «Instant-Gesellschaft»: Wir sind es gewohnt,
dauen, weil sich ihr Magen an nährstoffreiche Kost gewöhnt
dass das, was wir haben wollen, auch sofort verfügbar ist. Die-
hatte.
ses Gefühl von sofortiger Verfügbarkeit wird auch auf die Na-
tur projiziert. Als Pro Natura die Feldgrille zum Tier des Jah-
Wichtig ist auch die Frage, ob die richtige Art oder Unter-
art ausgesetzt wird. In einem Feuchtgebiet im Luzerner Mit-
res wählte, haben wir Anfragen erhalten, wo man denn sol-
telland konnte ein ungeduldiger Reptilienfan nicht auf selbst­
che Grillen für den eigenen Garten bekommen könne. Es war
Pro Natura Magazin 5/2015
5
thema
nicht einfach, die Anrufer zu überzeugen, dass ein Aussetzen
die Lebensräume miteinander verbunden sein, damit Tiere
im eigenen Garten wenig Sinn macht, weil der Lebensraum zu
und Pflanzen geeignete Gebiete wieder besiedeln können. Mit
klein und isoliert ist.
ihrer Tümpeloffensive setzt Pro ­Natura auf diesen Effekt.
Im Kreis der aktiven Naturschützer ist diese Ungeduld auch
spürbar. Wir sehen ja, dass in der intensiv genutzten Land-
Was macht man aber bei einer Art, die nur noch in Rest-
beständen vorkommt? Da kann ein Wiederansiedlungsprojekt
schaft die verbliebenen Naturflächen klein und isoliert sind.
sinnvoll sein. Doch in erster Linie braucht es eine rasche Ver-
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich gefährdete Tiere und Pflan-
besserung der Lebensbedingungen. So fördert Pro Natura im
zen von alleine ausbreiten können, ist klein. Die Versuchung
Rebgebiet des Vispertales den vom Aussterben bedrohten Lein-
ist also gross, der Natur mit dem Aussetzen von ein paar Frö-
krautscheckenfalter. In den Rebparzellen wächst die ebenfalls
schen, ein paar Schmetterlingen oder Orchideen auf die Sprün-
fast ausgestorbene Heida-Rebe. Dazwischen soll das zum Reb-
ge zu helfen. Doch so wird nur attraktiven Arten «geholfen».
bau gehörende Italienische Leinkraut wieder häufiger wachsen,
Und die schnellen und improvisierten Aussetzungen sind sel-
das den Raupen als Futter dient. So produzieren die Rebparzel-
ten erfolgreich. Sie sind Symptombekämpfung statt Heilung.
len im Vispertal wieder fruchtigen Heida-Weisswein und flat-
Auf den isolierten Flächen verschwinden anspruchsvolle Ar-
ternde Leinkrautscheckenfalter.
ten in der Regel rasch wieder.
Bei der Förderung der Artenvielfalt setzt Pro Natura des-
halb primär auf die Verbesserung von Lebensräumen, auf die
Zuerst die Lebensräume
spezielle Förderung von bestimmten Arten und weniger auf
Wer den gefährdeten Arten langfristig helfen will, ver­g rössert
spektakuläre Wiederansiedlungsprojekte.
und verbessert deren Lebensräume. Mit mehr dyna­m ischen
Auengebieten, mehr Trockenweiden und Blumenwiesen, mehr
Mooren mit einem funktionierenden Wasserhaushalt, mehr
lichten Wäldern und mehr Naturwaldreservaten wäre einem
grossen Teil der gefährdeten Arten geholfen. Zudem müssen
URS TESTER leitet bei Pro Natura die Abteilung Biotope & Arten.
www.pronatura.ch/unsere-standpunkte > Artenschutz (2005)
Die Weltnaturschutzorganisation IUCN hat Regeln für die sorgfältige
Wiederansiedlung von Arten ausgearbeitet (englisch):
https://portals.iucn.org/library/sites/library/files/documents/2013-009.pdf
Rebhuhn Perdix perdix
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Bis in die 1950er-Jahre lebten über 10 000
Rebhühner in den Ackerbaugebieten der
Schweiz.
Verschwinden
Ab 1975 sorgte die Intensivierung der
Landwirtschaft und die Zerschneidung der
Landschaft durch Strassen und Siedlungen
für einen rasanten Rückgang – obwohl zu
dieser Zeit jedes Jahr mehrere Tausend
importierte Rebhühner in der Landschaft
freigelassen wurden.
Pflugschar-Zungenstendel
Serapias vomeracea
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Südlich der Alpen im Tessin und Misox.
Wiederansiedlung
2004 bis 2007 Aussetzung von
Rebhühnern im Klettgau (SH) in
Zusammenhang mit einem mehrjährigen
Programm der Schweizerischen
Vogelwarte zur Förderung von
Lebensräumen im Ackerbaugebiet.
Verschwinden
Die Art stand kurz vor dem Verschwinden
in der Schweiz: Die Zahl der Standorte
reduzierte sich von 81 (1881) auf deren
3 (2015). Gründe sind die Intensivierung
der Landwirtschaft einerseits und die
Nutzungsaufgabe schlecht zugänglicher
Grundstücke andererseits.
Aktuelle Verbreitung
Im Klettgau ist das Rebhuhnvorkommen
erloschen. In der Schweiz ist das Rebhuhn
vom Aussterben bedroht, letzte Brutpaare
leben im Kanton Genf.
Art und Zeitpunkt der Rückkehr
Durch ein Förderprojekt von ZHAW
und Pro Natura: Isolierte Populationen
werden fremdbestäubt und an gezielt
ausgewählten Standorten in der Nähe von
ehemaligen Vorkommen ausgebracht.
Vera Trächsel (4)
6
Aktuelle Verbreitung
Neun Standorte sind bekannt. Der Erfolg
der anderen Ansaatflächen ist noch
unbekannt.
Pro Natura Magazin 5/2015
thema
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Weissstorch Ciconia Ciconia
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Bis 1900 weit verbreitet, rund 140 Paare
brüteten entlang der grossen Flüsse im
Mittelland.
Einführen, einwandern, wiederansiedeln …
Verschwinden
Bis 1949 ausgestorben wegen des
Rückgangs von Feuchtgebieten und des
ungünstigen Klimas.
Wiederansiedlung
Ab 1948 in Altreu Aufzucht von Störchen
durch den «Storchenvater» Max Blösch.
Erste Erfolge in den 1960er-Jahren,
später durch die Gründung von 24
Aufzuchtstationen.
Aktuelle Verbreitung
Heute brüten wieder mehr frei lebende
Störche in der Schweiz als zu Beginn des
19. Jahrhunderts.
Blauauge Minois dryas
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Noch im 19. Jahrhundert weit verbreitet,
besonders in Gebieten mit traditioneller
Streuenutzung.
Förderprojekt
1992 Start eines Förderprojekts des
Schmetterlingsforums Zürich im Gebiet
Kappel/Rifferswil (ZH) mit Auslichtungen,
Entbuschungen und Kultivierung von
Riedflächen. Ausserdem Züchtung und
Aussetzung von Raupen.
Aktuelle Verbreitung
Im Projektgebiet Erhöhung des Bestands
von maximal 20 (1992) auf über 100 Falter
(2001).
Pro Natura Magazin 5/2015
Benoît Renevey (4)
Bestandesrückgang
Trockenlegung von Feuchtgebieten
und Intensivierung der Landwirtschaft
einerseits, Nutzungsaufgabe und
Verbuschung von Riedflächen andererseits
machten das Blauauge zur stark
gefährdeten Schmetterlingsart.
Immer wieder wird behauptet, der Wolf sei in der Schweiz
wieder angesiedelt worden. Dies trifft nicht zu. Von einer Wiederansiedlung sprechen wir, wenn eine Tier- oder
Pflanzenart in einer Region nicht mehr vorkommt und
der Mensch danach bewusst Individuen dieser ausgestorbenen Tierart in der Region freilässt oder Pflanzen aussät und anpflanzt. Der Wolf ist aber von alleine
wieder von Italien und Frankreich in die Schweiz heimgekehrt. In diesem Fall spricht man von einer Wieder­
besiedlung.
Die Wiederansiedlung und die Wiederbesiedlung einheimischer Arten ist nicht vergleichbar mit der Verbreitung gebietsfremder Arten aus einem anderen Kontinent: Sind solche Arten unbeabsichtigt hierher gelangt,
etwa als unerwünschte «Beilagen» von Warentransporten, spricht man von der Einschleppung einer Art. Von
einer Einführung ist die Rede, wenn gebietsfremde Arten bewusst transportiert werden, von Freisetzung,
wenn sie absichtlich in der Natur freigesetzt worden
sind (was etwa bei zahlreichen Fischarten der Fall ist).
Solche gebietsfremde Arten können sich mitunter
alarmierend ausbreiten, Lebensräume verändern und
dadurch einheimische Tier- und Pflanzenarten verdrängen. In diesem Fall spricht man von invasiven gebietsfremden Arten. Nur ein kleiner Teil aller gebietsfremder Arten ist invasiv. Gebietsfremde Arten, die sich in
einem nicht heimischen Gebiet etabliert haben, werden
auch als Neobiota bezeichnet, respektive als Neophyten
(Pflanzen) und Neozoen (Tiere).
Es gibt auch Tierarten, die natürlich aus umliegenden Gegenden in ein Gebiet wandern, in dem sie vorher
nicht vorgekommen sind. In einem solchen Fall sprechen
wir von Einwanderung. Im Gegensatz zur Einschleppung
und Einführung ist dies ein natürlicher Prozess, der relativ häufig vorkommt. Während der Eiszeit mussten sich
viele Pflanzen- und Tierarten aus dem vergletscherten
Alpenraum zurückziehen. Seither kehren sie langsam
wieder zurück. Es hat also nicht immer der Mensch seine
Hand im Spiel, wenn am Teich eine unbekannte Libelle
fliegt, oder im Garten eine unbekannte Grillenart zirpt. ut
8
thema
Wisent Bison bonasus
Historische Verbreitung in der Schweiz
Jura, Mittelland.
Ausrottung
Letzter Nachweis der Art im
11. Jahrhundert. Jagd, Land- und
Forstwirtschaft führten zum Aussterben
des Wisents in der Schweiz.
Wiederansiedlung
Nächste wilde Population in Deutschland
in der Nähe von Köln. Eine Gruppe von
Biologen setzt auf die Idee einer aktiven
Wiedereinführung des Europäischen
Bisons im Schweizer Jura und sucht eine
Region, die bereit ist, eine Wisent-Herde
aufzunehmen. Die Tiere sollen nach
einigen Jahren der Akklimatisierung in die
Freiheit entlassen werden.
Die Natur
ist kein Garten
Die Wiedereinführung von Pflanzen ist
ein heikles Unterfangen mit unsicherem
Ausgang. Pro Natura fordert, dass diese
Praxis zurückhaltend angewandt wird,
und engagiert sich stattdessen für mehr
Biodiversität auf Wiesen.
Aktuelle Verbreitung
In Europa leben über 4600 Wisente, die
meisten von ihnen in freier Wildbahn
(Osteuropa), ansonsten in Parks oder Zoos.
Jede Pflanzenart hat ihre besonderen biologischen und ökologischen Eigenschaften. Ob sie an einem bestimmten Standort
gedeiht, hängt bekanntlich ab vom Feuchtigkeitsangebot, vom
pH-Wert, von der Nährstoffkonzentration sowie von Sonneneinstrahlung, Höhe und Klima. Weitere Einflussfaktoren sind
die genetische Struktur der Population, die Zerstückelung des
Lebensraums und die Interaktion mit anderen Lebewesen, so
auch dem Menschen. Während Tiere einen Lebensraum verlassen können, wenn er ihnen nicht mehr behagt, überlebt eine
Pflanze nur, wenn sie sich dort anpassen kann, wo sie Wurzeln geschlagen hat.
Heikle Eingriffe
Das Verschwinden einer Pflanzenpopulation oder einer einzelnen Pflanzenart hat meist mehrere Ursachen. Diese sind
komplex und können sich gegenseitig verstärken, so etwa
Bodenentwässerung, Verbuschung, Änderung von Mähoder Weide­rhythmus, Überdüngung, genetische Isolierung
oder die vollständige Zerstörung des Lebensraums – ganz
zu schweigen vom Klimawandel und der Stickstoffbelastung
in der Atmosphäre unseres Planeten, die den Ökosystemen
zusetzen.
Die Wiedereinführung einer Pflanzenart oder die Stär-
zen­a rten, entweder durch Aussaat oder durch Verpflanzung,
Die Erfahrung zeigt: Die Wiedereinführung von Pflan­
kung eines Bestandes durch weitere Exemplare der gleichen
bleibt in den meisten Fällen erfolglos, weil die erwähnten
Art ist heikel und sollte mit Zurückhaltung eingesetzt wer-
Punkte nicht gebührend berücksichtigt wurden. Zudem bildet
den. Im Vorfeld einer solchen Massnahme müssen vorher
die unklare kritische Grösse für eine langfristig überlebens­
sämtliche betroffenen Akteure eingebunden werden – also
fähige Pflanzen­population einen weiteren Unsicherheitsfak-
etwa Experten, Behörden, Naturschutzorganisationen. Zu-
tor; Experten gehen von rund 200 Exemplaren aus.
dem sind die Richtlinien der IUCN zur Wiedereinführung
von Arten zu berücksichtigen. Insbesondere muss gewähr-
Fragliche Erfolge
leistet sein, dass die Art am fraglichen Standort schon frü-
Gelegentlich mag die Wiedereinführung aber auch gelingen,
her vorkam, dass die spontane und autonome Neubesiede-
wenn auch teilweise nur knapp. Beispiele dafür wären der
lung eines Lebensraums mittelfristig ausgeschlossen ist, dass
Zarte Gauchheil im Kanton Waadt, dessen gestärkter Bestand
die Gründe für das Verschwinden der Art bekannt sind und
sich nur durch engmaschige Betreuung und intensive Pflege
dass die Ökologie des Lebensraums sowie die Nutzungsart
halten lässt, der Kleine Rohrkolben im Wallis, das Schwedi-
die Erhaltung der Art begünstigen. Ohne sorgfältiges Abwä-
sche Wimper-Sandkraut im Kanton Waadt oder der Kantige
gen dieser Aspekte ist jeglicher Aufwand fehlinvestiert.
Lauch im Kanton Bern. Ob hier wirklich schon von Erfolgen
Pro Natura Magazin 5/2015
thema
9
Rothirsch Cervus elaphus
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
In der gesamten Schweiz, nicht nur im
Alpenraum.
Wolf Canis lupus
Ausrottung
Ausrottung bis Mitte des 19. Jahrhunderts
durch Jagd mit Gewehren.
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Weit verbreitet im gesamten Land, nicht
nur im Alpenraum.
Wiederansiedlung
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wanderten wieder erste Rothirsche
in die Schweiz ein. Ausbreitung
dank Jagdbanngebieten und dem
Schweizerischen Nationalpark.
Ausrottung
Ausrottung bis Ende des 19. Jahrhunderts
durch Jagd mit Gewehren.
Wiederbesiedlung
Ab Mitte der 1970er-Jahre begann Italien,
seine letzten Wolfsvorkommen besser zu
schützen. Dadurch erholte und erweiterte
sich die Population. 1995 erreichte der
erste Wolf die Schweiz, weitere sind ihm
gefolgt, zahlreiche wurden jedoch erlegt.
Aktuelle Verbreitung
Mittlerweile bestehen in den Kantonen
Graubünden und Tessin je ein Rudel.
Insgesamt wird die Wolfspopulation in der
Schweiz auf rund 25 Exemplare geschätzt.
In den französischen und italienischen
Alpen leben rund 1500 Wölfe.
Aktuelle Verbreitung
Nach der Besiedlung des Alpenraums
tauchen auch immer öfter Hirsche im
östlichen Teil des Juras und in den
Wäldern des Mittellands auf. Geschätzte
30 000 Rothirsche leben in der Schweiz.
Weissrückenspecht
Dendrocopos leucotos
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
In den tiefen Lagen der Alpen in Wäldern
mit viel Alt- und Totholz.
Verschwinden
In der Mitte des 19. Jahrhunderts, weil
der Wald bis ins Hochgebirge intensiv
genutzt und teilweise kahl geschlagen
wurde.
Wiederbesiedlung
Aus dem benachbarten Österreich, weil
es auch in den Schweizer Wäldern wieder
immer mehr alte und absterbende
Bäume gibt.
Aktuelle Verbreitung
Einige wenige Brutpaare in Graubünden.
Vera Trächsel (4)
Raphael Weber (4)
gesprochen werden darf, bleibt allerdings abzuwarten, denn
ler denken – in Schutzgebieten jedoch ist die Praxis mit äu-
ob diese Bestände langfristig überleben, wird sich erst zei-
sserster Vorsicht und restriktiv anzuwenden. Pro Natura for-
gen müssen.
dert deshalb, dass die Wiedereinführung zurückhaltend praktiziert und nur als letztes Mittel eingesetzt wird, wenn alle an-
Keine trendigen Einzelaktionen
deren Optionen ausgeschöpft wurden.
Die Wiedereinführung von Arten liegt heute im Trend, das
Vorrangig muss es darum gehen, den Pflanzen ausrei-
mediale Echo auf Projekte dieser Art kommt nicht von unge-
chend Lebensräume in der freien Natur anzubieten und die
fähr. Zusätzlich zum aktuellen Hype haben einige Pflanzen­
angestammten Arten im Rahmen einer dynamischen und an­
freunde manchmal das Gefühl, die Natur sei ein Garten, und
dauernden Entwicklung der natürlichen Lebensräume zu be-
siedeln Pflanzen an, die dort natürlicherweise nicht vorkom-
vorzugen. Im Rahmen des Projekts Regio Flora zeigt Pro Na-
men würden. So geschehen mit Schlauchpflanzen in einigen
tura, wie die Biodiversität verbessert werden kann. Das Pro-
Mooren im Jura oder Cannabis in Naturschutzgebieten. Pro
jekt fördert die Vielfalt auf Weiden durch den Einsatz von re-
Natura hält nichts von solchen vermeintlich «ökologischen»
gionalem Saatgut.
Einzelaktionen.
Bei der Einführung von Arten mag man in der Land- und
Forstwirtschaft sowie im Landschafts- und Gartenbau liberaPro Natura Magazin 5/2015
René Amstutz ist Leiter Schutzgebiete und Arten bei Pro Natura.
www.regioflora.ch
thema
«Sinnvoll ist eine Wiederansiedlung
nur dann, wenn die Arten geeignete
Lebensräume vorfinden»
Viele Arten in der Schweiz haben heute
nur noch isolierte Bestände. Sollen sie zur
Förderung der Biodiversität wieder aktiv
in einst besiedelten Gebieten ausgesetzt
werden? Die Amphibien-Spezialisten
Heinz Durrer und Silvia Zumbach
diskutieren Chancen und Risiken von
Wiederansiedlungen.
Pro Natura: Herr Durrer, Sie haben in den letzten 30 Jahren rund um Basel über 20 Weiher und Biotope für Amphibien geschaffen. Was hat sie dazu bewogen?
Heinz Durrer: Ich habe hier in Basel miterlebt, wie sich der
Laubfrosch schleichend verabschiedet hat, wie die Rufe immer seltener geworden sind und schliesslich ganz verstummten. Auch die Kreuzkröte und die Gelbbauchunke sind am
Verschwinden. Weil wir ihre Lebensräume nahezu voll­
ständig zerstört haben. Das kann und will ich nicht einfach
so hinnehmen.
Bergkronwicken-Widderchen
Zygaena fausta
Sie haben in Ihren Biotopen rund um Basel immer wieder Amphibien ausgesetzt, die Sie in der Station «Arche
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Im gesamten Jura und im subalpinen
Alpenraum auf locker bebuschten
Magerrasen und südexponierten
Waldrändern mit Felsfluren entlang von
Kronwicken, ihren ausschliesslichen
Futterpflanzen.
Noah» züchteten. Wieso haben Sie nicht einfach gewartet, bis Amphibien die neu geschaffenen Lebensräume von
selbst besiedeln?
Durrer: Eine natürliche Besiedlung ist in diesen Fällen nicht
möglich, weil die Lebensräume der Amphibien durch die Zersiedlung, durch Strassen- und Autobahnbau fraktioniert und
Rückgang
Starker Lebensraumverlust
durch die Intensivierung der
Landwirtschaft einerseits, durch die
Bewirtschaftungsaufgabe andererseits. Im
Kanton Baselland verschwand die Art vor
rund 20 Jahren.
isoliert wurden. Nun könnte man sehr wohl geeignete Passagen schaffen: Brücken, Tunnels und Trittsteinbiotope. Doch
leider wird dies zu wenig getan. Also bleibt – als letzte Möglichkeit! – die künstliche Wiederansiedlung.
Das sind doch, Frau Zumbach, gute Gründe. Trotzdem
steht die karch solchen Wiederansiedlungen skeptisch gegenüber. Wieso eigentlich?
Silvia Zumbach: Wir sind nicht grundsätzlich gegen Aussetzungen, vorausgesetzt, dass bestimmte Kriterien betreffend
Genetik, Biotoppflege, Zucht, Dokumentation usw. erfüllt sind.
Aber wir setzen andere Prioritäten. In erster Linie gilt es, die
bestehenden Populationen zu erhalten, ihre Lebensräume auf-
Lorenz Andreas Fischer (2)
10
Wiederbesiedlung
Tagfalterschutz Baselland, ein Projekt
von Pro Natura Baselland, hat in 27
Gebieten Fördermassnahmen für Tagfalter
durchgeführt. 2012 wurden erstmals
wieder Raupen des BergkronwickenWidderchens gefunden – einer von
mehreren Erfolgen des Projekts.
Aktuelle Verbreitung
Spärliche Bestände im Jura und im
Alpenraum.
Pro Natura Magazin 5/2015
thema
Steinbock Capra ibex
«Aussetzungen gaukeln den Leuten
vor, dass man alles zerstören und
wieder neu erschaffen kann.»
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Weite Teile des Alpenraums.
Silivia Zumbach, Leiterin karch
Ausrottung
Ausrottung bis Mitte des 19. Jahrhunderts
durch Jagd mit Gewehren.
Wiederansiedlung
Erste Wiederansiedlungsversuche Ende
des 19. Jahrhunderts misslangen. 1911
erstmalige erfolgreiche Aussetzung im
Weisstannental (SG). Basis für die Rückkehr
bildete ab 1875 ein neues Jagdgesetz und
die Gründung von Jagdbanngebieten.
zuwerten und vor allem, neue Lebensräume zu schaffen. Denn
Aktuelle Verbreitung
45 000 Steinböcke leben im gesamten
Alpenraum, davon 15 000 in der Schweiz.
zes Artenspektrum zu fördern. Idealerweise im Grossmassstab.
nur so kann sichergestellt werden, dass die Tiere auch langfristig eine Überlebenschance haben. In kleinen Insel-Biotopen
ist diese Chance kaum je gegeben, man muss dann immer wieder neue Individuen hinzutun. Wir ziehen wir es vor, ein gan-
Das heisst?
Zumbach: Es darf ruhig mehr «geklotzt» werden, indem Neuanlagen etwas grösser sind. Nicht zehn, sondern Hunderte, ja
Tausende Amphibien sollen die aufgewerteten Lebensräume
besiedeln. Damit steigt auch der Ausbreitungsdruck und die
umgebenden Biotope werden natürlicherweise wiederbesiedelt.
Dann erübrigt sich eine Aussetzung …
… falls das Netz nicht zu grosse Löcher aufweist.
Zumbach: Klar, die Vernetzung muss gewährleistet sein. Ich
stelle aber auch fest, dass die Wanderfähigkeit der Amphibien
oft unterschätzt wird. Und dass man den Tieren kaum mehr
Zeit zugesteht. Wenn das Biotop errichtet ist, will man sofort
auch die Zielarten sehen. Also bedient man sich in anderen
Populationen, was zu gefährlichen Aderlassen oder zur Einschleppung von Krankheiten führen kann. Dabei ist es doch
viel befriedigender, wenn man eines Tages die Früchte seiner
Arbeit ernten kann, indem die Amphibien den Tümpel von
selbst besiedeln.
Durrer: Das alles mag auf übergeordneter Ebene zutreffen.
Was aber wären die Folgen im Lokalen und für den Naturschutz? Es ist doch nicht «wurscht», ob es in Binningen die
Unke noch gibt. Sie war hier einmal heimisch und hat im
Verlauf der Zeit ihre Heimat verloren, der Mensch hat sie
ihr entzogen. Jetzt ist ihr Heimatbiotop wieder entstanden
und die Unke darf zurückkehren, wenn nicht anders möglich durch eine Wiederansiedlung. Viele Bürgerinnen und
Bürger von Binningen unterstützen unsere Projekte, auch finanziell. Sie springen dort ein, wo die anonyme Eidgenossenschaft ausbleibt. So bewahren sie einen Teil ihres Naturerbes
auch für ihre Nachkommen. Wenn die nächste Generation die
Vera Trächsel (2)
Unke nicht mehr kennt, wird sie dieses unscheinbare Natur­
Pro Natura Magazin 5/2015
erbe nicht einmal vermissen und auch nicht schützen wollen.
Schliesslich ist Artenschutz auch Umweltschutz. Nur wer Sorge trägt zum kleinen Schönen, wird sich auch für eine intakte Umwelt einsetzen.
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12
thema
Fischotter Lutra lutra
Bodensee-Steinbrech
Saxifraga oppositifolia ssp
amphibia
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
Entlang der natürlichen Strandrasen am
Bodenseeufer.
Verschwinden
Im vergangenen Jahrhundert durch die
Regulierung des Bodensee-Wasserstands
und die Befestigung der Ufer, zudem
durch Algenwatten als Folge des
nährstoffreicheren Seewassers. 1965
wurde das letzte Exemplar nachgewiesen.
Wiederbesiedlung
Momentan bewegen sich die Fischotter von
Frankreich her entlang der Rhone wieder
auf die Schweiz zu, wo mittlerweile wieder
geeignetere Lebensräume vorhanden sind.
Aktuelle Verbreitung
2014 Sichtung eines ersten Otters in Genf.
Allenfalls weitere Vorkommen an der
Aare bei Bern, wo im Tierpark Dählhölzli
im Jahr 2005 bei einem Hochwasser
Otter in die Freiheit schwammen. Es
existieren in fast allen europäischen
Ländern Otterpopulationen, auch in den
Nachbarländern der Schweiz.
Vera Trächsel (3)
Diskutierte Wiederansiedlung
Verbliebene (Samen-)Bestände wurden für
ein allfälliges Wiederansiedlungsprojekt
gesucht, doch weder in einer Samenbank
noch in einem botanischen Garten gibt
es noch Bodensee-Steinbreche. Deshalb
ist diese Unterart wohl für immer
ausgestorben.
Ursprüngliche Ausbreitung
in der Schweiz
Ende des 19. Jahrhunderts lebten in der
Schweiz über 1000 Otter, insgesamt im
Mittelland, im Tessin und entlang der
grossen Seen am Jurasüdfuss.
«Wenn die nächste Generation
die Unke nicht mehr kennt,
wird sie dieses unscheinbare Naturerbe
nicht einmal vermissen.»
Heinz Durrer, Professor für Biologie
unsere Kräfte besser auf jene Arten konzentrieren, die es in
der Schweiz noch gibt.
Dem Schwund an heimischen Arten stehen neue Arten gegenüber, die in die Schweiz einwandern. Soll man diese
willkommen heissen, ja mehr noch: zur Bereicherung gar
neue Arten einführen? Oder soll sich der Artenschutz allein an der Vergangenheit orientieren – mit dem Ziel, die
Zumbach: Das ist unbestritten. Andererseits aber können Aus-
Artenvielfalt einem früheren Zustand anzugleichen?
setzungen auch falsche Zeichen setzen. Sie gaukeln den Leu-
Zumbach: In der Natur gibt es keinen statischen Zustand,
ten vor, dass alles technisch machbar ist, dass man alles zer-
sondern nur dynamische Gleichgewichte. Arten werden sel-
stören und wieder neu erschaffen kann.
tener und häufiger, die Lebensräume ändern sich. Also kann
es auch nicht Ziel sein, irgendeinen Ur-Zustand wiederherzu-
Sind wir moralisch dazu verpflichtet, bereits ausgerotte-
stellen. Bei den einwandernden Arten handelt es sich aber oft
te, einst heimische Arten wie etwa die Wechselkröte wie-
um anspruchslose, weit verbreitete Generalisten, während die
der anzusiedeln?
heimischen Spezialisten verschwinden oder wegen ihrer gerin-
Zumbach: Sinnvoll ist eine Wiederansiedlung nur dann, wenn
gen Anzahl kaum noch eine Rolle im Ökosystem spielen. Gera-
die Arten geeignete Lebensräume vorfinden. Die Wechsel­k röte
de diese Spezialisten aber sind von besonderem Wert, weil sie
ist ja nicht zufällig ausgestorben, die entsprechenden Habi­tate
Vielfalt einbringen und die Ökosysteme robuster machen. Da-
im Tessin sind zu klein und zu selten geworden. Wir sollten
von profitieren viele weitere Arten.
Pro Natura Magazin 5/2015
thema
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zur sache
«Hallo» sagte der Biber erst,
als die Flüsse wieder frei flossen
Fischadler
Pandion haliaetus
Ich erinnere mich noch gut – und gerne: 1997 wars, als der ers-
Ursprüngliche Ausbreitung in der
Schweiz
In Gewässernähe, im Flachland, in den
tiefen voralpinen Tälern und im Tessin.
te Biber an die Tore zur Region Basel anklopfte und sich im Rechen des Kraftwerks Augst am Rhein verfing. 200 Jahre, nachdem der letzte Biber an der Birs erlegt worden war, ebenfalls vor
Ausrottung
Letzte beobachtete Brut in Ellikon
am Rhein (ZH) 1914. Gründe für das
Aussterben: Wilderei, Fang von einzelnen
Tieren durch Tierpräparatoren, Entnahme
von Eiern durch Sammler, Fehlen von
grossen alten Bäumen in Uferwäldern.
Gelegentlich sind Einzeltiere auf dem
Vogelzug zu beobachten.
Der Zufall wollte es, dass Pro Natura im gleichen Jahr den Bi-
ber zum «Tier des Jahres» erkor. Gründe genug damals für uns
im Vorstand von Pro Natura Baselland, für die Biber aktiv zu
werden. Die Hauptfrage lautete: Haben die Biber tatsächlich eine
Chance, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Die gründlich analysierte Antwort lautete: Ja, aber ...
Raphael Weber (3)
Wiederansiedlung
2014 gestartetes Wiedereinführungsprojekt
über den Zeitraum von fünf Jahren in der
Region Chablais de Sugiez (FR), das von
der welschen Vogelschutzorganisation
«Nos Oiseaux» betreut wird. 60 Jungtiere
aus europäischen Beständen werden
in künstlichen Volieren-Nestern in die
Schweiz eingeführt werden.
den Toren Basels.
Aktuelle Verbreitung
2015 wurden die ersten sechs Jungtiere
aus Schottland in die Schweiz gebracht. In
Europa gibt es mehr als 10 000 Fischadler
(Russland, Baltikum, Skandinavien,
Frankreich, Schottland).
Aber? Sollen sie es tatsächlich schaffen, müssen wir sie ak-
tiv dabei unterstützen: Biberlebensräume schaffen – also lebendige und vielfältige Fliessgewässer –, Ausbreitungsbarrieren wie
Flusskraftwerke öffnen und Sympathie für die Biber schaffen.
Gesagt, getan: Pro Natura Baselland startete im Jahr 2000 in der
Nordwestschweiz die erste «Hallo Biber!»-Aktion.
15 Jahre später wissen wir: Der Kraftakt hat sich mehr als
gelohnt. Der Sympathieträger Biber machte es möglich, dass verschiedenste Akteure wie Kraftwerksbetreiber, Fischer, Land­
wirte, Behörden sich für dieses Ziel begeistern liessen und ihren
Beitrag leisteten für die erfolgreiche Rückkehr der Biber in ihre
alte Heimat. Heute freuen sich unzählige Leute in der Nordwestschweiz an wieder vielfältigen und lebendigen Fliessgewässern –
Durrer: Bei der Aussetzung von gebietsfremden Arten ist
und an Beobachtungen des sympathischen Nagers.
höchste Vorsicht geboten. Im Kanton Genf etwa paaren sich
die ausgesetzten Alpenkammmolche mit den heimischen
gestartet; im Mittelland, in der West-, Zentral- und in der Ost-
Kammmolchen, mit dem Resultat, dass es fast nur noch Hy-
schweiz. Nach dem gleichen Modell und mit ähnlichem Erfolg.
Seither hat Pro Natura vier weitere «Hallo Biber!»-Aktionen
bride gibt und die heimische Art langsam verschwindet. Die
Der Biberbestand hat in dieser Zeit erfreulich stark zugenom-
wissenschaftlichen Kenntnisse sind in vielen Fällen ungenü-
men. Selbstverständlich nicht nur wegen «Hallo Biber!». Doch
gend und die Folgen nicht abzuschätzen. Deshalb sollten wir
die Rückkehr der Biber ist eine Erfolgsgeschichte, die uns zeigt,
auf Experimente verzichten und unsere Anstrengungen auf die
dass einigermassen intakte Lebensräume eine zentrale Voraus-
bedrohten, lokal angepassten Arten konzentrieren.
Interview: NICOLAS GATTLEN, freischaffender Journalist.
Heinz Durrer ist emeritierter Professor für Biologie am Medizinischen
Institut der Universität Basel. Für seine Verdienste als Förderer der
Amphibien erhielt er 2013 den Naturschutzpreis von Pro Natura
Baselland.
Silvia Zumbach engagiert sich seit über dreissig Jahren für den
Amphibienschutz. Die Berner Biologin leitet die Koordinationsstelle
für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz (karch) mit Sitz
in Neuchâtel. Sie hat mehrere erfolgreiche Vernetzungsprojekte
begleitet.
www.karch.ch
setzung sind für die erfolgreiche Rückkehr von Arten.
Ausgangspunkt dieser Erfolgsgeschichte bildeten allerdings
Wiederansiedlungen von Bibern ab den 1950er-Jahren. Diese
wurden jedoch unkoordiniert und mit völlig unklaren Erfolgsaussichten an verschiedenen Orten der Schweiz vollzogen. Der
Durchbruch kam erst mit der Erkenntnis: Wir müssen Biber­
lebensräume schaffen und Biberbarrieren öffnen.
Dank dieser Erkenntnis fühlt sich seit zwei Jahren auch in
meiner Wohngemeinde an der Birs eine Biberfamilie wohl und
lässt berührende und unvergessliche Einblicke in ihr Familien­
leben zu – Hallo Biber!
Urs Leugger-Eggimann, Pro Natura Zentralsekretär
Pro Natura Magazin 5/2015