Vom Verschwinden der männlichkeit

Vom V ersch w inden
der m ä nnlichkeit
Videospiele und Pornofilme beschädigen
die entwicklung junger männer weit
gravierender als bisher angenommen. Zu
diesem schluss kommt der legendäre
stanford-Psychologe Philip Zimbardo in
seinem neuen Buch.
Von michael hugentobler
illustration thomas ott
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Der durchschnittliche Jugendliche schaut heute während zwei
Stunden pro Woche Pornos. Videogames spielt er sogar zwei
Stunden am Tag. Während dieser Zeit lebt er in einer zurück­
gezogenen Welt, die aus Computer und Bildschirm besteht.
Muss uns das Sorgen bereiten?
Ja, sagt der Psychologe Philip Zimbardo. Denn junge Män­
ner würden von den gleichaltrigen Frauen abgehängt, sie sei­
en intellektuell und wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfä­
hig. Das sagt er anlässlich der Vernissage seines provokativen
Buches «Man (Dis)connected» in London. Der Saal, ein Kon­
ferenzraum einer evangelischen Kirche, ist bis auf den letzten
Stuhl besetzt, und die keinen Stuhl haben, stehen entlang der
Wände.
Zimbardo ist jener Psychologieprofessor, der in den Sieb­
zigerjahren das Stanford­Experiment durchführte. Mit männ­
lichen Studenten simulierte er eine Gefängnissituation und
liess die einen die Rolle der Gefangenen spielen, die anderen
die Rolle der Wärter. Das Experiment hätte zwei Wochen dau­
ern sollen, musste jedoch nach sechs Tagen abgebrochen wer­
den, da die Häftlinge revoltierten und die Wärter zu Sadisten
Für jede halbe Stunde, die Vater und Sohn
im Gespräch miteinander verbringen, starrt
der Sohn 44 Stunden auf einen Bildschirm.
verkamen. Das Stanford­Experiment machte Zimbardo, der
mehr als fünfzig Bücher geschrieben hat, weltberühmt und
wurde mehrfach verfilmt.
Stubenhocker, Schulversager
Glaubt man Philip Zimbardo, steckt der junge Mann in einer
Krise. Er weiss nicht mehr: Was ist überhaupt ein Mann? Er
geht immer seltener aus dem Haus, Abenteuer ersetzt er durch
Videogames, Erregung verschafft er sich durch Pornos. Und
fällt er mal auf, stellt man ihn mit Ritalin ruhig.
«Videogames und Pornos sabotieren die Männlichkeit»,
sagt Zimbardo. Er habe nicht grundsätzlich etwas gegen die­
se Art der Zerstreuung einzuwenden, gegen den Exzess aber
schon. Und was sind die Gründe für die Neigung zum Exzess?
Zu einem wichtigen Teil die Abwesenheit der Väter, meint der
Psychologe. In England beispielsweise sei die Wahrscheinlich­
keit grösser, dass ein Jugendlicher einen Fernseher im Schlaf­
zimmer hat, als dass ein Vater anwesend ist. Für jede halbe
Stunde, die Vater und Sohn im Gespräch miteinander verbrin­
gen, starrt der Sohn 44 Stunden auf einen Bildschirm. Und
niemand hindert ihn daran.
«Die Mutter liebt bedingungslos, auch den Verlierer – der
Vater aber stellt Forderungen für seine Liebe», sagt Zimbardo.
Das heisst: Der Junge muss zum Beispiel gute Noten heimbrin­
gen. Und das wird er auch versuchen, er will ja vom Vater ge­
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lobt und bewundert werden. Doch das Grundelement dieser
Motivation sei heute aus vielen Haushalten verschwunden.
Immer mehr Ehen werden geschieden, die Zahl alleinerzie­
hender Mütter nimmt überall im Westen zu. In den USA sind es
heute doppelt so viele wie vor dreissig Jahren – 41 Prozent.
Fehlt der Vater, muss die Mutter arbeiten, sodass die tra­
ditionellen Essenszeiten wegfallen. Das mag irrelevant erschei­
nen, aber gemäss Zimbardo beeinflusst das gemeinsame Mahl
die Zukunft eines Kindes massgeblich. Sitzt ein Kind jeden Tag
mit den Eltern zu Tisch, ist die Gefahr, dass es später einmal
Suchtprobleme entwickelt, viermal kleiner als bei einem Kind,
das nur jeden zweiten Tag mit den Eltern zu Abend isst.
Philip Zimbardo ist nicht der Ansicht, dass Eltern sich nicht
trennen dürfen. Ihn beunruhigt, dass es oft im Streit passiert.
In den USA schaffen es nur 15 Prozent aller Väter, nach der
Trennung eine enge Verbindung zu ihren Söhnen aufrechtzu­
erhalten. Egal ob die Ehe hält oder nicht: Wenn Kinder lernen,
was Liebe und Vertrauen bedeuten, profitieren sie ein ganzes
Leben davon. Sie verdienen später im Schnitt fünfzig Prozent
mehr als Kinder aus problembehafteten Familien, unabhän­
gig von ihrer Intelligenz oder davon, welcher so­
zialen Klasse sie angehören.
Und was ist mit den Mädchen? Brauchen die
keinen Vater? Schon, aber sie haben ihre Schulleis­
tungen besser unter Kontrolle und arbeiten auch
vaterlos an ihrer Bildung. Für das Buch über den
verstörten jungen Mann haben Zimbardo und
seine Mitautorin Nikita Coulombe weltweite Um­
fragen mit bis zu zwanzigtausend Personen durch­
geführt. Hier einige der Ergebnisse, die in der Ten­
denz auch auf die Schweiz zutreffen:
– In jedem Land schneiden die Mädchen in der Schule bes­
ser ab als die Jungen.
– Das Risiko, dass ein Mädchen ein Schuljahr wiederholen
muss, ist überall kleiner.
– In Schweden, Neuseeland und Polen sind die Mädchen
den Jungen um eineinhalb Schuljahre voraus.
– In den USA werden nur 30 Prozent der ungenügenden
Noten an Mädchen vergeben, was dazu beigetragen hat, dass
amerikanische Frauen unter dreissig heute mehr verdienen
als gleichaltrige Männer.
Abwesende Väter, Entfremdung von der Realität durch
Pornos und Videospiele: Reicht das als Erklärung für die Kri­
se des jungen Mannes? Zimbardo nennt einen weiteren Fak­
tor, der auf den ersten Blick überrascht: Schüchternheit.
1970 ergab eine Umfrage unter Männern, dass 40 Prozent
von ihnen sich als gelegentlich schüchtern empfanden. 2007
waren es 84 Prozent. Der Anstieg hat gemäss Zimbardo mit
der Digitalisierung unseres Lebens zu tun, die direkten Kon­
takt minimiert. Wer online ein Buch bestellt oder Geld über­
weist, braucht mit niemandem zu reden. Im Internet trifft ein
Jugendlicher auf unzählige Frauen – Brünette, Blondinen, Rot­
und Schwarzhaarige –, die vorgeben, bereit zum Sex zu sein,
ohne dass er sie je angesprochen hat. Als Resultat entwickelt
er eine soziale Unbeholfenheit, weiss nicht mehr, wie man real
mit jemandem in Kontakt tritt. «Wie ein verirrter Tourist strau­
DA S M AGA Z I N 2 3/2015
chelt er durch die soziale Landschaft. Er beherrscht die Sprache nicht, weder verbal noch nonverbal, ist nicht einmal fähig,
nach dem Weg zu fragen.»
An diesem Punkt der Vernissage geht ein Raunen durch
das Publikum. Auffallend viele junge Männer sind gekommen,
um dem Professor zuzuhören. Viele scheinen nicht mit ihm
einverstanden zu sein. Zimbardos Thesen beruhen auf einer
ziemlich wertkonservativen Sicht der Welt. Etwas früher an
diesem Tag hat er auf BBC mit Andrew Przybylski debattiert,
der am Oxford Internet Institute über die Auswirkungen des
Internets auf die Gesellschaft forscht. Im Gegensatz zu Zimbardo vertritt Przybylski die Ansicht, die digitale Welt sei ein
ganz normaler und weitgehend unbedenklicher Teil des modernen Lebens.
Zimbardo aber sagt, wer den Umgang mit seinen Mitmenschen lernen will, müsse sich in der realen Welt bewegen,
nicht in der virtuellen. «Der grösste Teil unserer Konversation ist nicht verbal. Ich muss entscheiden, wie nahe ich einer
Person treten darf, mit der ich spreche, wie oft ich ihr in die
Augen schaue und wie ich antworte. Es gibt Tausende von Regeln, nach denen Kommunikation funktioniert. Die einzige
Möglichkeit, diese zu lernen, ist durch Übung.»
Weil die Übung fehlt, befürchtet er, dass es bald überall in
der westlichen Welt so sein wird wie in Japan, wo jeder dritte
männliche Teenager kein Interesse an Sex bekundet und sich
in eine Fantasiewelt flüchtet, die er aus dem Schlafzimmer
heraus kontrolliert. In Japan haben diese Männer einen Namen: soshoku danshi. Pflanzenfresser.
Das Hardcore-Portal Pornhub gehört bei britischen Kindern zwischen 6 und 14 Jahren zu den 35 meistbesuchten Webseiten. In dieser Pornowelt haben Männer riesige Penisse, sofortige Erektionen, die Filme zeigen Sex, der bis zu einer Stunde dauert. «Viele Darsteller bekommen vor dem Dreh Testosteron in ihren Penis gespritzt. Aber das sehen die jugendlichen Zuschauer nicht.» Darin liege der Unterschied zum
Pornokonsum der Erwachsenen: Diese begreifen Pornos als
eine Inszenierung von Fantasien. «Teenager denken, so sei
das echte Leben.» Das verunsichere junge Männer, sie bekämen das Gefühl, niemals mithalten zu können. Und genau
das sei seit jeher das grosse Thema bei jungen Männern: Wie
steht es um meine sexuellen Fähigkeiten? «Das führt dazu,
dass sie sich von den Frauen in ihrem Umfeld entfremden und
zur Befriedigung Pornofilme schauen.» So etwa in Japan, wo
sich die Zahl der jungen Männer, die kein Interesse an Sex haben, innerhalb von sechs Jahren verdoppelt hat. Paradoxerweise wirke sich Pornografie sogar negativ auf die Erektionsfähigkeit aus.
Und wenn sie dann doch Sex haben, folgt die Enttäuschung: Sie stellen fest, dass Mädchen Pornosex eklig finden,
dass ihnen Kuscheln, Küssen und Umarmen wichtig sind und
dass es sie irritiert, wenn der Mann nach dem Akt sofort den
Raum verlässt.
«Junge Männer sind in einer hedonistischen Zone der sofortigen Befriedigung gefangen», sagt Zimbardo. Die stete und
unmittelbare Befriedigung aber sei der Vorbote der Sucht. Das
mache die Porno-Videospiel-Kombination so gefährlich. Welt-
weit werden jede Woche schätzungsweise drei Milliarden
Stunden Videogames gespielt. Der durchschnittliche Jugendliche hat heute zehntausend Stunden mit Computerspielen
verbracht, wenn er einundzwanzig wird. Das entspricht dem
Aufwand für zwei Abschlussarbeiten an der Uni. In Grossbritannien werden Game-Seiten häufiger angeklickt als das Webportal der BBC, weltweit suchen mehr Menschen im Netz nach
Informationen über Computerspiele als nach Nachrichten zum
Tagesgeschehen.
Zimbardo zufolge gibt es auch einen direkten Zusammenhang zwischen exzessivem Spielen und ADHS-Diagnosen. Da Jugendliche oft nachts spielen, kommen sie am nächsten Tag müde zur Schule, sind unkonzentriert, hampeln herum. Ein Teenager braucht neun Stunden Schlaf pro Nacht, aber
die meisten haben sieben oder weniger. Zimbardo vermutet,
dass bei vielen jungen Männern fälschlicherweise ADHS diagnostiziert wird und sie Ritalin verschrieben bekommen,
während sie doch eigentlich bloss ausschlafen müssten.
Über Sex reden und nicht bloss über Biologie
Natürlich gibt es auch Mädchen, die am Computer spielen,
aber dreimal weniger als junge Männer. Dies habe auch damit
zu tun, dass die Protagonisten der Spiele fast ausschliesslich
männlich seien und sich die Inhalte um traditionell männliche Werte drehen würden: Durchsetzungsvermögen, Aggressivität, Abenteuer.
Einen Grossteil der Verantwortung für das Wegdriften der
jungen Männer aus der realen in die virtuelle Welt sieht Zimbardo also bei den Vätern – und zwar auch bei Vätern aus sogenannten intakten Familien, weil sie häufig zwar theoretisch
präsent sind, in Wahrheit jedoch mehr Zeit für Beruf und
Hobby als für ihre Söhne aufwenden. Aber auch Schule, Staat
und Medien seien gefordert. «Es braucht eine sinnvolle Aufklärung, die sich um Sex dreht und nicht bloss um Biologie. Es
braucht Männer, die zu Lehrern ausgebildet werden, denn auch
in der Schule sind männliche Vorbilder rar. Und es braucht
Medien, allen voran eine Filmindustrie, die ein emanzipiertes
Bild des Mannes transportieren. «Ein Mann ist doch mehr als
diese Deppen aus dem Erfolgsfilm ‹Hangover›, und die Hauptdarstellerin könnte sich auch mal in einen Mann verlieben,
bevor er die Welt rettet – und nicht erst hinterher.»
Zum Schluss: Diskussion mit dem Publikum. Ein Lehrer
fragt, wie er seine Schüler davon abhalten könne, in den Ferien 15 Stunden pro Tag durchzuspielen. Eine Frau in der ersten
Reihe schimpft: «Sie reden hier von Einzelfällen, und das ist
nicht sehr hilfreich.» Auch ein junger Mann kritisiert Zimbardo: Er und seine Freunde, sagt der junge Mann erregt, würden
im Netz sehr wohl kommunizieren und, gerade bei Videospielen, gemeinsam Strategien entwickeln. Die giftigen Kommentare bringen den Professor nicht aus der Fassung. «Ich spreche hier nicht von allen jungen Männern, aber dennoch von
Abertausenden. Und das macht mich traurig.»
Dann setzt er sich an einen Tisch und signiert Bücher.
M ICH A EL H UGEN TOBL ER ist redaktioneller Mitarbeiter bei «Das Magazin»; [email protected]
Der Illustrator T HOM A S O T T lebt in Zürich; www.tott.ch
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