Konrad Kyeser - Bellifortis (Ende 14. Jhd.)

VO Glaube und Wissen in der deutschen Literatur des Mittelalters - SS 2015
Glaube und Wissen
-
-
Max Weber: Wissenschaft als Beruf (Vortrag von 1922); Soziologie
o Rationalisierung durch Wissenschaft (bessere Kenntnisse der eigenen
Lebensbedingungen)
o Es bedeutet nicht, dass man mehr von der Welt weiß (man kann nicht alles wissen);
es geht darum, ein Vertrauen zu Tatsachen aufzubauen
o Es geht nicht mehr um Wissen (das für den Einzelnen eh zu komplex ist), sondern um
ein Vertrauen (vorwissenschaftliches Wissen genügt, um sich in der Welt
zurechtzufinden)
o Vorwissenschaftliches Wissen bedeutet eine konkretere Bewältigung der Welt (die
zunehmende Rationalisierung bedeutet nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis
der Lebensbedingungen, sondern dass man alles wissen könnte, wenn man wollte)
o Es geht nicht um eine praktische Beherrschung der Welt, sondern um den Glauben,
dass man die Sache im Griff hat
o Entzauberung der Welt: Der Glaube, alles im Griff zu haben, diskreditiert „magische
Mittel“ und privilegiert die Möglichkeiten der Wissenschaft
Bronislaw Malinowski - Feldforschung (1922); Ethnologie
o Beschreibung: Fischen auf Boyowa (Pazifik); technisch-rationale (profane) Praktiken
in Lagunen, magische (sakrale) Praktiken im Norden (offenes Meer)
o Beobachtung: Rationalität und Magie/Religion tauchen nebeneinander auf
o These: Das, was man vortheoretisch als „rational“ und „magisch“ versteht, stellt
keine sich ausschließende Opposition dar, sondern zwei kulturelle Optionen, die in
verschiedenen Zeiten und Situationen verschieden aufeinander bezogen werden
Beispiel: Wissenschaft und Technik
-
-
Beispiel 1: Konrad Kyeser - Bellifortis (Ende 14. Jhd.)
o Kriegstechnisches Kompendium; Bestseller bei kriegsinteressierten, reichen Bürgern
o Sowohl Realien (ca. 1/3), modifizierte Realien als auch literarische Motive (z.B.
Keuschheitsgürtel); Interaktion von Technik und Wunschvorstellungen
o Z.B. „Geschosse, mit denen man trifft, was du willst“: technisch-rationale Abbildung
und Texte zur Herstellung von Geschossen, aber auch magisch-religiöse Erweiterung
(Material: Hinrichtungswerkzeuge; Herstellung zur Stunde des Saturns; 3 Schüsse in
die Luft am Karfreitag); symbolische Aura durch Textverschlüsselung
Beispiel 2: Handschriften in der Prager Nationalbibliothek (2. Hälfte des 15. Jhd.)
o Magische Medizin
 Runenähnliche Geheimzeichen zur Verschlüsselung von Sach- oder
Expertenwissen
 Einschübe in Geheimschrift in normalen Text; das Wissen wird vermittelt,
jedoch die „Geheimzutat“ verschlüsselt
o Deutsche Teufelsbeschwörung
 Fast gesamter Text in Geheimschrift, da der Inhalt gefährlich für den
Verfasser war
1

-
Anleitung zur Kontaktaufnahme mit dem „bösen Geist“ (Geschenke für den
Teufel, welcher in Gestalt eines schwarzen Hündchens erscheint, dann
beantwortet dieser alle Fragen)
 Hilfe von heiliger Instanz (vgl. Heiligenkult), aber ausgehend von spezifisch
rationalem Interesse des Fragenden
Beispiel 3: Straßburger Handschrift (ca. 11. Jhd.; 1870 im dt.-frz.-Krieg verbrannt)
o Tumbo-Zauberspruch: „Dümmling saß auf einem Berg mit dummen Kind im Arm.
Dumm hieß der Berg. Dumm hieß das Kind. Der heilige Dümmling segne diese
Wunde. Zur Stillung des Blutflusses.“
o Es gab viele Zaubersprüche zur Blutstillung, da nach Geburten die Wunden oft nicht
gestillt werden konnten
o Muster der Analogie: Szene aus der Vergangenheit soll in der Gegenwart wirken oder
sich wiederholen (Historiola et Incantatio)
o Muster des Heiligen als Helfer: nicht selten, oft Jesus, Wotan, etc.; hier hl. Tumbo (?)
o Tradition des Spruches
 5. Jhd.: „Lied nützlich bei der Blutung von Frauen: Der Erstarrte ging in die
Berge, der Erstarrte blieb stehen. Ich beschwöre dich, Gebärmutter, dies
nicht zornig aufzunehmen.“ (Namenmagie: der Stupidus [Erstarrte; lat.
stupere] ist Symbol für den Blutfluss, der stillstehen soll)
 10. Jhd.: Historiola ist Naturbild: Frau mit Kind über fließendem Wasser;
Incantatio: Bitte um Stillstand des Blutflusses („stupidus“ kann auch „dumm“
bedeuten [lat. stultus]; Dümmling bleibt jedoch funktionslos)
 Danach: Hinweis auf den Heiligenkult (aus Dümmling wird der hl. Tumbo)
o „rationale“ sprachliche (Fehl)deutung und Veränderung der Sprachtradition mit
magisch-religiösen Mitteln
Erstes zur Systematik
-
-
-
-
Glaube: unhintergehbares Vertrauen
o Im MA: Sicherheit des Glaubens, da alles als Plan Gottes und Heilsgeschichte
verstanden wird
o Heute: Glaube an die Wissenschaft
Wissen: wahre, gerechtfertigte Meinung (bei Platon)
o Mögliche Zweifel als Voraussetzung von Wissen
o Im Zentrum: Mensch als erkennendes Wesen
Begriffspaare
o Mythos vs. Logos
o Hottentotte vs. Fachphysiker (bei Weber)
o Sakrales vs. Profanes (bei Malinowski)
o Rationalisierung als Prozess
o Mystik vs. Scholastik
Verhältnis von Glaube und Wissen in MA-Grundpositionen
o „Ich glaube, weil es widersinnig ist.“ - Augustinus zugeschrieben
o „Wir glauben, um zu erkennen.“ - Augustinus
o „Ich glaube, damit ich erkennen kann.“ - Anselm von Canterbury
o „Ich erkenne, damit ich glaube.“ - Abelard
2
o
o
„Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und diese erfassen wir
als Wahrheit.“ Abelard (Scholastik)
Gotteserkenntnis durch persönliche Erfahrung - Mystik (zeitgleich mit der Scholastik)
Die sieben freien Künste
-
-
-
-
-
-
Bildungseinrichtungen
o Kloster- und Domschulen
o Ab 8. Jahrhundert auch scholae publicae
o Daneben auch wandernde Scholaren (ab 1150 mit Rechtsschutz); Barbarossas
Scholarenprivileg (rechtliche und kulturelle Freiheit der Universität)
o 1057 Salerno (Medizin), 1088 Bologna, 1150 Paris, 1167 Oxford, 1209 Cambridge,
1348 Prag, 1365 Wien, 1385 Heidelberg
Die Septem Artis Liberalis
o Trivium (Dreiweg): Grammatik, Rhetorik, Dialektik (Logik)
o Quadrivium (Vierweg): Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie
o Reihenfolge oft verschoben, jedoch stets Grammatik als erstes
Kanonischer Text: Martianus Capella: „De nuptis Philologiae et Mercurii“ („Die Hochzeit der
Philologie und des Merkur“); Darstellung der sieben freien Künste als Brautjungfern, die ihr
Wissen als Brautgeschenk mitgeben; man musste den spätantiken Charalkter aus dem
Heidnischen umdeuten
Königsdisziplin Philosophie: vereint die Künste (Problem: Verhältnis zu Gott); Werk von
Boethius: er wird in Erwartung seiner Hinrichtung von der Philosophie gestärkt
Harmonisierung Gottes und der Künste
o Beispiel für häuslich-klösterliche Erziehung: zuerst Grammatik als Grundlage der
göttlichen Inspiration, denn die Artes kamen von Gott; dann weiteres Studium (Ars ->
Gott -> Artes); am Ende steht die Kunst eines Herrschers
o Obwohl sich die Rechtsgelehrsamkeit traditionell auf Dialektik und Rhetorik bezieht
o Z.B. Hartmann von Aue: „Gregorius“ oder Thomasin von Zerklaere: „Der welsche
Gast“
Veränderung der Inhalte und Fehler bei Zerklaere
o Erstbelegung arabischer Zahlen in einem deutschen Text
o Einige einfache Rechenfehler
o Geometrie: krumme Linien; Basislinie ungleich zum Radius des Kreises
„Hortus Deliciarum“ („Garten der Köstlichkeiten“)
o Enzyklopädie von Herrad von Hohenburg (Äbtissin); ca. 1180; 1870 beim deutschfranzösischen Krieg in Straßburg verbrannt; jedoch deutsches Faksimile
o Systematik
 Philosophie im Zentrum
 Frau mit 3 Gesichtern (Ethik, Logik und Physik)
 Bemerkung: „Die Philosophen haben zuerst Ethik, dann Naturkunde
und dann Rhetorik gelernt)
 Darunter: Abbildungen von Sokrates und Platon
 Bemerkung: „Philosophen waren die Weisen der Welt und Kleriker
der Heiden“
3


Alle Weisheit stammt von Gott; allein die Weisen jedoch können
alles tun, was sie wünschen
 Die Philosophie hat gelehrt, das Wesen jeder Sache wissenschaftlich
zu untersuchen
 Daraus entspringen „7 Quellen der Weisheit“ (die sieben freien
Künste)
o Grammatik
 Attribut: Rute (Der St. Galler Abt Purchard sei durch
Kaiserschnitt von seiner toten Mutter Wendilgart
entbunden worden [14 Tage vor dem Termin].
Deshalb wurde er in frisches Schweineschmer
eingebettet, um Haut anzusetzen. Das Gelang und
Purchard wurde von den späteren Mitbrüdern
„ingenitum“ [der Ungeborene] genannt. Einzige
Einschränkung war es, dass er selbst bei dem Stich
einer Fliege sofort heftig blutete, was seine Lehrer
davon abhielt, ihre Ruten an ihm anzuwenden.)
 Lehre als „Zucht“
o Rhetorik
 Attribut: Griffel und Tafel
 Wachstafel: Mündlichkeitsnah; Konzept, Notiz
 Codex/Rolle: fixiertes Wissen
o Dialektik
 Attribut: Hundekopf
 Bemerkung: „Ich lasse die Argumente wie Hunde
aufeinander zu rennen.“
 Dialektik als „Angriff und Verteidigung“ von
Argumenten
o Musik
 Attribut: Lyra, Chitarra, Drehleier
 Ursprünglich: „Kunst des Berechnens der
Verhältnisse“ (Harmonielehre)
o Arithmetik: „Ich bestehe aus Zahlen, deren Unterschiede ich
demonstriere.“
o Geometrie
 Attribut: Zirkel und Stock (Landvermesserstock)
 Bemerkung: „Ich kümmere mich um die Maße der
Erde mit viel Sorgfalt.“
 Hier noch nicht die heutige Geometrie, sondern die
Kunst der Landvermessung; beim welschen Gast
jedoch bereits die heutige Konnotation
o Astronomie: hier Astrologie; Deutungen aus den Sternen
Unter dem Kreis: Dichter und Wahrsager, von unreinem Geist inspiriert
(produzieren fabulöse Hirngespinste); dargestellt als schwarzer Vogel auf
ihren Schultern
 Vogel: z.B. „Alben-Psalter“: David wird vom hl. Geist inspiriert
 Weißer Vogel vs. schwarzer Vogel
4


Gott als Ausgangspunkt; Poeten und Magier orientieren sich an den Artes,
gehören aber nicht zum inneren Kreis
Ab 12. Jahrhundert deutlicher Konflikt zwischen Dichtern und Gelehrten; z.B.
Text aus der deutschen Kaiserchronik:
 „Nun gibt es in diesen Zeiten leider eine Gewohnheit. Manche
denken sich Lügen aus und fügen die mit ‚dichterischen‘ Worten
zusammen. Jetzt befürchte ich sehr, dass deshalb die Seele brennt:
Denn es geschieht ohne die Liebe Gottes. Und so lehrt man diese
Lügen die Kinder, die nach uns leben werden.“
Naturkunde und Weltbild
-
-
-
Keine Hinweise darauf, dass man sich die Erde als Scheibe vorstellte
o Mainauer Naturlehre: Körper des Menschen besteht aus den vier Elementen; das
erste ist die Erde (kugelförmig)
o Lucidarius (1150): die Welt ist rund und ist mit Ozean umschlossen; Vergleich
Eidotter
o Berthold (13. Jahrhundert): wieder Vergleich Erde - Eidotter
o Auch bei Hildegard von Bingens Visionen wird die Erde rund dargestellt
o Beweis mit dem Verschwinden der Schiffe am Horizont
Konsequenzen
o Welt ist umrundbar (Reisebericht von John Mandeville [14. Jahrhundert]: Anekdote
von Mann, der die Welt umrundet, und dann, zuhause angekommen, wieder
umkehrt, da er seine eigene Sprache und Heimat nicht mehr wiedererkannte)
o Möglichkeit der Antipoden („Gegenfüßler“) am anderen Ende der Welt
 Ablehnung durch Augustinus: Unmöglichkeit der Ozeanüberquerung;
Erschaffung der Menschen auf unserem Teil der Welt; wenn alle Menschen
von Adam und Eva abstammen, ist es unmöglich, dass es auf anderen
Erdteilen Menschen gibt (Argument auf Bibelgrundlage; Konkurrenz Glauben
- mögliches Wissen); außerdem Widerspruch zu Matthäus: „…geht zu allen
Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern.“; falls es Antipoden
gäbe, wäre Jesus‘ Auftrag widersinnig, da der Ozean unüberquerbar ist
 Deutung der Weltgestalt in Konkurrenz zur Heilsgeschichte (Erfahrungs- vs.
Buchwissen)
 In der Regel kein großer Streit (z.B. Antipoden als Hochzeitsgäste in
Hartmann’s Erec), aber auch z.B. Verbrennung des Petrus von Abano (Padua)
1316
Die Einteilung der Welt und ihre Bedeutung
o Die Einteilung in 4 Teile, z.B. bei Boethius:
 „Wie nichtig das Lob der Erde sei, denn die Erde ist nichts im Vergleich zum
Himmel.“; Tröstung des zu Tode verurteilten
 Nur ein Viertel der Erde sei von „uns bekannten Menschen“ belebt; wenn es
„und bekannte“ Menschen gibt, impliziert dies, dass es auch „unbekannte“
geben könnte (-> Antipoden)
 Erde sei von Wasser umgeben; die Menschen leben auf dem Viertel, das
oben aus dem Wasser herausragt (Ökumene)
5

o
-
Das Ganze könne man anhand eines „Himmelsglobus“ im Kloster St. Gallen
nachvollziehen (ungeklärt); moderne Skizze:
Die 3 Kontinente, z.B. in der Mainauer Naturlehre:
 Europa, Affrica, Asya
 Wiederholung der „Kleinheit der Erde“
 Schema für die Ökumene:
Umsetzung dieses Wissens in Weltkarten
o St. Galler Palimpsest (8. Jarhundert): Kombination der beiden Darstellungen
o
Ebstorfer Weltkarte (1300)
 3,5x3,5 m
6


-
Ge-Ostet: „ex oriente lux“; Nordung erst seit Erfindung des Kompass
Zeitachse von der Erschaffung der Welt über die vier Weltreiche (Babylon Persien - Griechenland - Rom) ans Ende der Welt (wo wir uns befinden)
 Gott als Träger der Weltkugel
o Londoner Psalterkarte (nach 1260); Durchmesser: 8cm
Struktur der Weltkarten
o Vorderseite (Gott als Salvator; steht auf dem Drachen [bei Londoner Psalterkarte])
und Rückseite (Gott als Pankrator; beherrscht die Welt, jedoch Bedrohung durch
Drachen am Ende der Welt)
o Heilsgeschichtliche Zeitachse vom Anfang bis zum Ende der Menschheit
o Jerusalem als Zentrum der Welt und des Heilsgeschehen (bei Ebstorfer Karte: auch
das himmlische Jerusalem mit 12 Türme und Toren sowie goldenen Mauern); bei
Mandeville: Jerusalem sei die höchste Stadt der Welt, ganz oben auf der Kugel
o Paradies und Paradiesflüsse: östlichster Punkt
o Sonnenbaumorakel (neben dem Paradies): Alexandersage; zwei Bäume, die in die
Zukunft sehen können (Mischung aus Heilsgeschichte und literarischem Stoff)
o Völker Gog und Magog (Kannibalen): nach islamischer Tradition von Alexander hinter
ein Tor gesperrt; am Ende der Welt werden die Völker ausbrechen (Endzeit wird
sichtbar; Deutung von Gefahr aus dem Osten)
o Monstrata am Rande der Welt im heißen Süden; missgestaltete Menschen,
„Schattenfüßler“ von der Ökumene getrennt
Mystisches Wissen
-
-
Systeme des Wissens
o 4 Elemente (nach Aristoteles: „De Caelo“)
 Erde (kalt - trocken)
 Wasser (kalt-feucht)
 Luft (heiß-feucht)
 Feuer (heiß-trocken)
o Galenus (Arzt): Körpersäfte, die Verhalten und Gesundheit definieren
 Gelbe Galle: heiß-trocken (Feuer); Charakter: Choleriker
 Schwarze Galle: kalt-trocken (Erde); Charakter: Melancholiker
 Blut: heiß-feucht (Luft); Charakter: Sanguiniker (heiter, aktiv)
 Schleim: kalt-feucht (Wasser); Charakter: Phlegmatiker (passiv, positiv
schwermütig)
o Eigenschaften des Kosmos finden sich also im Mensch wieder (Makrokosmos Mikrokosmos); dies erscheint auch Hildegard von Bingen (1098-1179) in einer Vision
Vision und Wissen
o Darstellung: „Medium“ erhält Offenbarung Gottes (oft durch Flammen dargestellt)
und schreibt sie auf Wachstafeln (Notizen; erst später von Schreibern in Codex
übertragen) auf
o Problem: Schrift vs. Offenbarung
 Schrift: vermittelt, gelehrt, systematisch
 Offenbarung: unvermittelt, sinnlich, unsystematisch
 Dazwischen: Wachstafeln (Inspiration vs. Deutung)
7
o
-
Wie kann man Visionen aufschreiben?
 Z.B. Diktat im Schlaf
 Z.B. „The Book of Margary Kempe“ (gestorben 1438)
 Vision, die sie im Auftrag der Vision aufschreiben lassen soll
 Nach 20 Jahren: Versuch des Aufschreibens; Schreiber stirbt bald
 Der fortsetzende Schreiber kannte jedoch weder die Schrift noch die
Sprache (Problem der schriftlichen Fixierung der Vision)
o Hildegard von Bingen reagierte auf die Sprachproblematik: Erfindung einer „lingua
ignota“ und „litterae ignotae“
 Schreibt ein dreisprachiges Glossar (Lingua ignota - Deutsch - Latein)
 Viele Substantive, einige Adjektive, wenige Verben, keine Strukturwörter
 V.a. Namen für Pflanzen und Kräuter, aber auch andere Grundsachverhalte
 Keine Grammatik, also Unmöglichkeit einer Textschreibung
 Nur einmal taucht die „lingua ignota“ in einem Werk Hildegards auf, nämlich
in einem Hymnus an Rom („orzchis“ = „unermesslich“, „caldemia“ = „Duft“,
„loiffolum“ = „Völker“, „crrzanta“ = „gesalbt“)
 Nur eine Anwendung der „litterae ignotae“ in einem Brief
 (gescheitertes) Experiment einer neuen Sprache für die Wiedergabe
mystischer Erlebnisse abseits der gelehrten Deutungen
 Kommunikationsmodell
 Verhindert hier die Hinwendung des Senders zum Empfänger; von
Informationsvermittlung abgewandt
 individuelle Verbindung von Sender und Kommunikationsgegenstand
 Enkodierung (durch Erlernen der Sprache) erlaubt die tatsächliche
Wiederholung des ursprünglichen Kommunikationsereignisses
 Sprache hier als Speicher- statt als Kommunikationsmedium
Anwendung mystischer Praktiken
o Buchstaben- und Schriftmagie
 Bibelorakel
 Dreigefährtenlegende (Gründung des Bettelordens durch Franz von
Assisi): aus dem allgemeinen Gotteswort wird ein persönliches,
unmittelbares Erlebnis (Inspiration)
 Augustinus: „Confessiones“: „Tolle lege! Nimm und lies!“
1. Verzweiflung und Bitte um Inspiration
2. Inspiration 1: Tolle lege
3. Deutung 1: kein Kinderlied
4. Inspiration 2: Lesen des Gottesworts
5. Deutung 2: Beziehen des Textes auf das eigene Leben
6. Inspiration 3: Licht des Friedens legt sich auf das Herz
7. Deutung 3: Markieren der Textstelle und Weiterverbreitung
 Petrarca - Besteigung des Mont Ventoux (1912 m)
 1336; oben angekommen, liest er eine zufällige Stelle in den
„Confessiones“ des Augustinus
 „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der
Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden
8
o
Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und
vergessen darüber sich selbst.“ (Confessiones X, 8)
 Moderne Deutung: Begründung des Alpinismus?; nach Muster
antiker Herrscher erste Beschreibung einer freiwilligen
Bergbesteigung
 Bei genauerer Betrachtung: eben keine Aufforderung zum
Bergsteigen; Naturerlebnis marginal gegenüber der Selbsterkenntnis;
Erhebung des Menschen in der Schöpfung; Primat des Buches vor
der Erfahrung; „Ich ließ ab von den Bergen und wandte das innere
Auge auf mich selbst.“
 Wiener Handschrift
 „A = Gewalt/Leben; B = Gewalt/Krieg; C und D = Trübsal/Tod; E und F
= edles Geblüt; …Z = das nimmt dir alles“
 Text: wenn man einen Traum zu Ende bringen will bzw. ihn deuten:
am Morgen Psalm 50 lesen und dann eine zufällige Seite
aufschlagen; der erste Buchstabe der Seite gibt Auskunft
 Unterschied zu Bibelorakel/Petrarca: volkstümliches Ritual; statt
Auslegung des Bibeltextes (Deutung auf Grundlage des Textes) jetzt
Bedeutung ohne Deutung, also direkte Inspiration (wie bei den
Mystikern)
Mantik: Zufallsprognostik
 Diese Tradition im Mittelalter sehr einflussreich
 Z.B. „Prophezeiung aus dem Gallapfel“
 V.a. für Kaufleute; herausfinden, ob etwas teuer oder billig wird
 Man soll einen Gallapfel finden und öffnen
 Darin Made: alles wird billiger; Darin Spinne/Mücke: alles wird teurer
 Z.B. auch mit grafischer Aufarbeitung
 Zuerst Textdekodierung (einfache Geheimschrift)
 Dann persönliche Daten in einem Kreis aufsuchen und rechnen
 Herausfinden, wer von zwei Eheleuten zuerst stirbt
 J. Hartlieb: „Das Buch aller verbotenen Künste“ (1456); hält die Mantik für
negativ und Aberglaube; zu diskreditierende Praxis, die Störung des sozialen
Zusammenhalts nach sich zieht
Krankheit und Heilung
-
-
Grundproblem: Wenn Krankheit ein Teil der Schöpfung, also gottgegeben ist, darf man sich
dann gegen diese Gottesgabe wehren?
Lösungsansätze
o Auch die Heilkunst ist eine Gottesgabe (Basilieos, 4. Jhd.)
o Therapie als Buße (Augustinus, 5. Jhd.)
o Linderung statt Heilung
Lorscher Arzneibuch
o Um 795; später im Besitz Ottos III.
o Z.T. innovative Inhalte, z.B. Wickel aus Schafsdung, Käse und Honig auf tiefe Wunden
(primitives Antibiotikum)
9
o
-
-
-
-
-
-
Viel Naturmedizin, z.B. Bockshornkleemehl, Honig und Knoblauch gegen Husten oder
Efeu als Heilmittel gegen Bronchitis
o Rechtfertigung der Heilkunst
 Mitleid (compassio) sei wichtiger als die theologischen Einwände
 Heilkunst und Arzneien kommen in der Bibel vor
 Verschiedene Gründe für Krankheit: Sünde, Probe oder Leidensanfälligkeit;
Medizin vor allem (aber nicht ausschließlich) für letzteres nützlich
Innsbrucker Arzneibuch (12. Jhd.): gegen die Krankheit der Frau solle nach der Geburt ein
gedörrtes und pulverisiertes Geschlechtsteil eines brunftigen Hirsches zu sich genommen
werden; dazu Alant (Königskraut)
Basler Rezepte (vor 800): gegen Krebsgeschwüre solle man Salz, Seife und Ruß von
Austernschalen verbrennen; dies soll mit alter Wolle auf das Geschwür gerieben werden bis
es blutet; dann Eiweiß-Honig-Mischung, bis die Wunde rein ist
Anbindung der Heilkunde an über die Krankheit hinausgehende Prinzipien
o Mikro- und Makrokosmosmodell
o St. Gallener Arzneibuch (9. Jhd.): Verbindung von Kräuterkunde und Monatsregeln
(genaue Regeln, was man in einem bestimmten Monat essen/tun solle)
o Aderlass
 Bis ins 17. Jhd. verbreitet
 Entfernung von „schlechtem Blut“; Einfluss auf die Mischung der Körpersäfte
 Gebunden an Jahreszeiten, Monate und astronomische Konstellationen
 Der „Aderlassmann“ aus der Süddeutschen Tafelsammlung (1410)
 Grafische Darstellung der besten Stellen für den Aderlass mit
schriftlichen Bemerkungen
 Stirnader gegen Gebrechen, Krankheit und Schmerzen der Augen
 Adern in den Augenwinkeln gegen gerötete und dunkle Augen
 Adern im Nacken gegen „Nachtfurcht“, Schrecken, Schwachsinn,
Kurzatmigkeit irres Reden und andere „Kopfkrankheiten“
 Adern auf der Nasenspitze gegen Augenfluss
Daneben: Zaubersprüche (in deutscher Sprache ab dem 9. Jhd.)
o Im Mittelalter: gleichberechtigt gegenüber der Medizin
o Prinzipien
 Historiola (Ereignis in der Vergangenheit) und Incantatio (Beschwörung, dass
sich dieses in der Gegenwart wiederholen soll)
 Zeitliche Analogie: so wie damals, so jetzt
 Modale Analogie: z.B. Fluss steht still - Blutfluss soll stillstehen
 Oft Personifikation, „magische“ Handlungen oder christliche Einflüsse
o Z.B. „Nesso-Zauberspruch“ („Pro Nessia“ bzw. „Contra Vermes“); “nessio“ evtl. vom
lateinischen “nescio” (Personifikation des Unbekannten, um es anzusprechen)
Vermischung der Prinzipien, z.B. Pest des 14. Jhd.; Reaktionen: Judenpogrome (Vorwurf der
Brunnenvergiftung), Verhaltensregeln (Quarantäne), Flagellation (Buße als Reaktion; Verbot
durch Clemens VII. im Jahre 1349: Gewaltverzicht des Christentums gilt auch gegenüber
seines eigenen Körpers)
Später auch Integration von Tabubereichen
o Münchner Handschrift (15. Jhd.)
10




-
-
Sammlung von Liedern und Rezepten
Simple Geheimschrift (nicht jeder sollte das Rezept sofort verstehen)
Z.B. gegen Geschlechtskrankheiten
Rezept vermischt reale Namen, wo man Ingredienzen kaufen kann (z.B. des
Goldschmieds oder des Metzgers) mit Kunstsprache (evtl. im Sinne einer
auszusprechenden Zauberformel)
o Olmützer Medizinisches Kompendium (15. Jhd.)
 Individuelles Geheimwissen: Schlüssel auf der Buchinnenseite
 Z.B. Rezept zur Treue der Ehefrau (wichtig im Mittelalter, da die Frage nach
der Vaterschaft stets zweifelhaft war)
Hartmann von Aue: „Der Arme Heinrich“ (um 1200)
o Handlung
 Erfolgreicher und glücklicher Ritter
 Auf dem Höhepunkt seiner Karriere bekommt er die „Miselsucht“; kann ab
nun nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen
 Heinrich akzeptiert dies nicht als Werk Gottes und will sich dagegen wehren
 Hoffnung: mögliche Heilung; konsultiert Institutionen und Experten
(Montpellier und Salerno: damals Medizinhochburgen)
 In Salerno erfährt er von einer Heilungsmöglichkeit; jedoch ist die Arznei so
exklusiv, dass deren Besorgung „viel Geld und Willensstärke“ erfordert,
außer wenn „Gott der Arzt ist“
 Arznei: Jungfrau im heiratsfähigen Alter, welche ihr Leben für ihn opfert;
Dilemma: selbst wenn man so ein Mädchen finden würde, sollte man die
Hilfe nicht annehmen
 Heinrich entscheidet sich, dass dies unmöglich sei, und kehrt nach Hause
zurück
 Seine junge Pflegerin bietet das Opfer an (erhofft sich Jenseitsvorteile)
 Überzeugt ihre Eltern und Heinrich (argumentiert so klar, dass die Rede wohl
direkt von Gott stamme)
 Arzt stimmt widerwillig zu; in letzter Stunde stoppt ihn Heinrich, als er durch
einen Türspalt ihren nackten Körper sieht
 Heinrich wird geheilt; Eine Fassung: Heirat der beiden; andere Fassung: beide
gehen ins Kloster
o Themen
 Krankheit als Gottesprüfung (nach Muster Hiobs)
 Potentielle Heilbarkeit (magisches Heilmittel: Jungfrauenblut)
 Die Möglichkeit erregt die Sehnsucht nach Heilung
 Ethische Dimension wird dadurch eröffnet: indem Heinrich auf das Opfer
verzichtet, wird er erlöst
 Reines Erdulden keine Option mehr; „Wissenschaft“ erzeugt neue ethische
Herausforderungen
„Erec“ (um 1180)
o Wunderheilmittel (Pflaster oder Salbe), um verwundete Ritter schnell zu reparieren
o Gegeben durch die Fee Morgan (Artus‘ Schwester)
o Magische Heilung durch magische Figur, der am Ende ein gottgleicher Status
zukommt (und trotzdem mit Artus verwandt ist)
11
Dichter als Lügner
-
Wortgeschichte von „tihton“/“dichten“
o Die althochdeutsche Benediktinerregel (um 800)
 Von lat. „dictare“; „institia dictate“: den Ablativus Absolutus („weil das Recht
es so vorschreibt/diktiert“) übersetzte man mit einem mhd. Dativ; der
Stamm (dict-) bleibt erhalten („Dicktieren“)
o Exhortatio ad plebem christianam (9. Jhd.)
 „tihton“: diktieren, diktiert bekommen, Diktat
 Es geht um Glaubensbekenntnis (Credo) und Paternoster, welche die “Hl.
Boten“ direkt vom Hl. Geist empfangen haben (-> diktiert)
 Vgl. Inspiration mit dem Hl. Geist
o Rolandslied des Pfaffen Konrad (um 1160)
 Eine himmlische Instanz (Engel) diktieren Karl dem Großen die Gesetze
 Inspiration und Diktat also nicht nur für geistliche und literarische Texte
o König Rother (vor 1200)
 Autor nennt sich selbst „Richter“; in den Ausgaben wurde dies aber stets als
„Tichter“ wiedergegeben
 „einrichten“ eines Textes; ihn in eine passende Form bringen
o Deutsche Kaiserchronik (ca. 1160)
 Erster Beleg im Mhd. für „tichten“ im Sinne von „wahrem Schreiben mit der
Hilfe Gottes“
 Aber: dieser Text ist eine Chronik, kein literarischer Text
 Erster Buchtitel in deutscher Sprache: „Cronica“; als Abgrenzung zu
„Skophen“ (Sänger)
 Arbeiten „ohne Liebe Gottes“ (also doch Bezug der Chronik auf Gott
als Inspirationsmodell)
 Lügen werden als Wahrheit verstanden; deshalb hier eine wirklich
wahre Geschichte, die dann „liet“ genannt wird (also ein literarischer
Begriff für die Komik)
 Vgl. Artes-Zyklus aus dem „Hortus Deliciarum“
o Otfrieds Evangelienbuch (um 865)
 Leben Jesu in 5 Büchern; erstes größeres deutsches Werk in Endreimen
 Widmung an Ludwig den Deutschen: „Dem dichte ich das Buch“, damit er es
vorlesen lassen könne
 „Cur Scriptor“: Autor erklärt, wieso er auf Deutsch schreibt; Vergleich zur
Antike: „Die antiken Völker dichten in ihrer Sprache über ihre Heldentaten.“
 „Invocatio“: das eigentliche Werk beginnt dann mit einer klassischen
Inspirationsbitte
o Millstätter Psalter (um 1200)
 Übersetzung des lateinischen Psalters ins Deutsche
 Erster Beleg für „tihton“ als „Falschheit erzeugen“
 Deshalb auch bei literarischen Texten ein Rückbezug auf das alte Modell des
„inspirierenden Diktats“, z.B. im „Parzival“ Wolfram von Eschenbachs
 Textgenese: von Chretien de Troyes (Wolfram sagt, dieser erzähle
die Geschichte nicht gut); Vorlage: provenzialischer Dichter Kyot
12

o
Fazit




-
(evtl. Erfindung Wolframs); dieser wiederum habe von Flegetanis
(Heide mit jüdischer Mutter; Kyot soll seine Schriften im Kloster von
Toledo gefunden haben) geschöpft
Also: Wolfram selbst ist nicht Urheber der Schrift; Schrift ist
göttlichen Ursprungs, jedoch mehrmals vermittelt; Inspiration und
Schrift wieder zusammen und dadurch Distanz zum Autor
„tihton“: ursprünglich inspiriertes Schreiben; Diktat einer geistlichen Instanz;
nicht nur in der Literatur
Trennung von Schrift und Inspiration; bei Otfried: Dichtung als Gottesdienst;
sonst wird es jedoch als problematisch gesehen (Lügen)
Dichten unabhängig von Schrift und Inspiration; Freiraum für Dichter im
modernen Sinne, aber mit fingierten Schriftbezügen
Autoren arbeiten dann mit diesen Schriftbezügen weiter, die neue
Möglichkeiten öffnen
Reaktionen
o Wolfdietrich D (um 1250)
 Heldenepos; vor dem 13. Jhd. nicht durch Quellen belegt
 „Es wurde ein Buch gefunden, das ist wahr, im Kloster Tagemund, da lag es
lange.“ (Möglichkeit des Vergessens der Geschichte; somit wird sie zur neuen
Geschichte)
 „Danach wurde es nach Bayern gesandt, dem Bischof von Eichstätt vertrieb
es die Zeit 17 Jahr lang.“ (Buch wird privat gelesen und ist nur einer Person
inhaltlich bekannt)
 Fürst las es dann 10 Jahre lang; nach seinem Tod vergessen, bis es der Kaplan
fand (Doppelte Buchauffindung)
 Der Kaplan gibt es wieder an das Haupt einer religiösen Institution weiter
 Äbtissin lässt sich (obwohl sie bestimmt lesen kann) von zwei Meistern
(Magister) aus dem Buch vorlesen
 Die Meister verbreiten dann die Geschichte öffentlich, das Buch liegt weiter
im Kloster
o Wolfdietrich D im Druck (16. Jhd.)
 Anfang genau wie in der Handschrift
 Dann jedoch geht es nicht mehr um das Verbreiten, sondern um das
Übersetzen in deutsche Sprache (Meister übersetzen es im Auftrag der
Äbtissin)
 „Neue“ Medien beziehen sich wieder auf „alte“ Medien: hier bezieht sich der
Druck auf die Handschrift
o Wolfram von Eschenbach behauptet, er könne nicht lesen (Marginalisierung der
Schrift)
o Hartmann von Aue: „Iwein“ (um 1200)
 Die Schrift wird zur Grundlage der Rittergeschichte
 Keine Inspiration, sondern Wiedererzählen bereits existierender Geschichten
(„in Büchern gelesen“)
13

-
Inhalt: Zeiten des Königs Artus sind vorbei (keine so vorbildhaften Ritter und
ideale Höfe mehr), doch die neuen „ maere“ bewahren die alten „werc“ auf
 Alte „werc“ erzeugen neue „maeren“, in diesem maere wird ein maere
(Initialaventüre von Kalogrenant) zum werc, sowie das maere höfisches
Handeln erzeugen soll
 Führt poetologisch vor, wie Taten in Geschichten verwandelt werden
Beispiel zur Überlieferung: Werke Hartmanns
o Texte um 1200 entstanden
o Iwein-Handschriften jedoch erst ab 1230; Erek: Fragmente ab 1250, vollständig erst
im Ambraser Heldenbuch (Anfang 16. Jhd.)
o Erste vollständige Erek-Handschrift im 16. Jhd.
o Anders z.B. beim Parzival Wolframs
o Krakauer Kronenkreuz (Mitte 13. Jhd.): Kreuz aus einer Schmuckkrone; die
Initialaventüre aus dem Erek ist darauf abgebildet
o Iwein-Fresken auf Schloss Rodeneck (um 1200): Initialavetüre des Iweinn
(Kalogrenant); erster weltlicher Freskenzyklus der Kunstgeschichte
o Also: Lebensform der Epik weniger in der Schrift, sondern zunächst mehr Teil der
höfischen Repräsentation
Rationalität und Heldensage
-
Topografie der Heldensage
o Beispiel aus der Antike: Schiffskatalog am Ende der Ilias (8. Jhd. v. Chr.)
 Große ästhetische Tradition des Katalogs
 Kontingente der Griechen, welche geografisch-politische Einheit bilden
 178 Ortsnamen, die konsequent den griechischen Siedlungsraum abdecken
 Jedoch: es fehlt die gesamte kleinasiatische Westküste und die vorgelagerten
Inseln (z.B. Lesbos und Samos)
 Diese Gebiete wurden erst 1050 v. Chr. besiedelt; der Katalog stellt also
Gebiete einer älteren Zeit dar
 Homer nennt u.a. „Peteon und Hyle“: lange für Erfindung gehalten; 1993
wurden jedoch bei der Verlegung von Wasserleitungen 250 Täfelchen
gefunden, die aus dem Archiv eines Palastes stammen, der 1200 v. Chr.
abgebrannt ist; die beiden Städte müssen also untergegangen sein
o Hildebrandslied
 Text spielt im gotischen Reich (Oberitalien)
 Hildebrand ging mit Theoderich nach Osten
 Baut auf räumliche Vorstellung in Himmelsrichtungen (und das in einer Zeit
ohne funktionierende Landkarten)
o Nibelungenlied
 Reise von Donau (Etzelhof) an den Rhein (Burgunderhof) in genau 12 Tagen
 Hagen und Dankwart „kannten sich [topografisch] aus“
 „Alte Straße“ ging von Frankreich bis Konstantinopel (teils römisch befestigt);
1135: große Dürre, also Gelegenheit zur Setzung von Brückenpfeilern in
Regensburg; 1146: „Steinerne Brücke“ fertig (bereits 1147 zog das Kreuzheer
des 2. Kreuzzuges darüber); bis in die Neuzeit benutzt
14

-
Der Passauer Autor erwähnt Regensburg nicht, obwohl es zu dieser Zeit eine
Metropole war (die beiden Bistümer waren im Streit)
 Die Nibelungen ziehen also erst entlang der „Neuen Straße“ (um 1200),
steuern dann aber auf den alten Donauübergang zu (alter Sagenbestand)
 Also: Vermischung von altem und neuem Wissen
Heldensage und Technik
o Fluggerät in der Thidrekssaga (um 1300)
 Nordische Sage; Wieland (Schmied) muss für den König arbeiten; damit er
nicht fliehen kann, lässt der König seine Achillessehnen durchschneiden,
deshalb behindert; aus Rache tötet Wieland alle Königssöhne, zeugt mit der
Tochter einen Erben und flieht mit einem Fluggerät
 Parallele: Dädalus und Ikarus
 Genialer, aber gewalttätiger Handwerker in Gefangenschaft
(Dädalus: Mord aus Neid - Wieland: Mord aus Rache)
 Teilweises Scheitern des Fluges durch Testperson
o Ikarus (Sohn): Symbol des jugendlichen Hochmuts
o Egil (Bruder): Misstrauen gegenüber dem Verwandten
 Naturkunde (Vögel als Vorbild) kombiniert mit spezieller Flugtechnik
 Andere Saga: Wieland baut sich ein U-Boot
o Schmiedekunst
 Wielands Schwert „Mimung“
 Wette mit Königsschmied, wer besser ist; Schmied Amilias macht
eine Rüstung, Wieland ein Schwert; Wieland enthauptet ihn mühelos
 Schmiedet ein Schwert, feilt es zu Staub und gibt es Geflügel zum
Fressen, aus dem Kot schmiedet er ein neues; mehrmalige
Wiederholung des Vorgangs
 Geflügelkot enthält Kohlenstoff und Stickstoff und bewirkt neben der
Auskohlung eine zusätzliche Nitrierung des Eisens (Schwert wird
härter und geschmeidiger zugleich)
 Schwert des Riesen Ecke
 auch von Wieland geschmiedet
 Taucht es in Flüssigkeit ein, die er in „9 Königreichen“ suchen musste
 Eintauchen in spezielle Flüssigkeit: Wirkung naturwissenschaftlich
nicht bewiesen, jedoch im Mittelalter so praktiziert
 Alchemistische und „naturwissenschaftliche“ Texte
 Damast-Stahl: Zusammenschichtung verschiedener Materialien
 Ausrosten: Eisen vergraben und schwächere Teile verrosten lassen
und entfernen
 Aufkohlen/Zementieren: Anreicherung der Oberfläche mit
Kohlenstoff (z.B. Holzkohlepulver, gemahlenes Ziegenhorn oder
Geflügelkot)
 Auslöschen: Eintauchen in Wasser oder spezielle Flüssigkeit (fett und
sehr flüssig)
 Parallelen aus anderen Kulturkreisen
15

-
Arabischer Raum: Al-Biruni (11. Jhd.) zitiert in einem Kommentar zu
einem Schwerttraktat einen Text aus dem 8.Jhd.: „Die Härte des
Schwertes entsteht im Bauch der Vögel. Al-Biruni sagt, diese Form
der Schwerthärtung sei bei den Rus (Normannen in Osteuropa) und
Sagaliba (schwedisch Wikinger) üblich.“
 Chinesischer Raum: „Es gibt eisenfressende Tiere, aus deren Kot man
besonders scharfe Schwerter schmieden kann.“
 Rückbindung an den Mythos
 Behandlung des Eisens mit Würmern: man glaubte an den Übergang
des Tieres in die Waffe (in alchemistischen Texten: Härte durch
Behandlung mit Menschenblut)
 „Königsklasse“: durch Drachenblut gehärtetes Schwert
 Parzival: Helm aus Diamant (Adamas), der nicht mehr durch Waffen
überwindbar ist; deshalb List: Ritter tränkt den Helm mit Bocksblut
(galt als äußerst unrein), welches den Diamant weich wie einen
Schwamm machte (ethische Dimension: Reinheit des Diamanten
wird aufgehoben)
 Vermischung von Technik und Magie, z.B. „Geschosse, mit denen
man trifft, was du willst“ (vgl. Kapitel Wissenschaft und Technik)
Rationalisierung des Mythos am Beispiel von Siegfrieds Drachenhaut
o Wissen wird in „magische Instrumente“ transformiert, mit denen im Text
übernatürliche Dimensionen erzählt werden können (z.B. auch Tarnmantel)
o Hagen entlockt Kriemhild das Geheimnis von Siegfrieds Verwundbarkeit
o „Loch“ im „magischen Instrument“, das rational begründet wird (Lindenblatt fällt auf
seine Schulter)
o Anders im „Lied vom hürnen Seyfried“
 Erste Drucke im 16./17. Jhd., wahrscheinlich aber alte Tradition
 Der ungezogene Siegfried wird von seinen Eltern in den Wald geschickt; der
Schmied, der ihn aufnimmt, schickt ihn später zu einem Drachen, um getötet
zu werden; jedoch tötet Siegfried den Drachen und seine ganze Familie; er
holt sich ein Feuer und verbrennt die Drachen; im so geschmolzenen Sud
steckt er die Finger, welche hörnern werden; schmiert sich überall damit ein,
nur zwischen den Schultern kann er sich nicht erreichen.
 Anatomische Erklärung des Loches
Heldensage und Mythos
-
-
Was ist ein Mythos?
o Alternative zum „logos“
o Modus der Welterklärung, der nicht rational ist
o Mythos ist nicht gedeckt von normaler Welterfahrung
o Taucht oft in der Literatur auf, da er starke Ähnlichkeiten mit dem Konzept der
Fiktionalität hat (potentielle Unabhängigkeit von der Welterfahrung)
Mythische Räume der Heldensage am Beispiel von Laurins Rosengarten
o Gebirgsmassiv als klassischer Ort mythischer Wesen (Zwerge)
o „Laurin“ (Mitte 13. Jhd.); märchenhafte vs. historische Dietrichepik
o 5 stark divergierende Fassungen
o Inhalt (vgl. Vulgatfassung)
 Hildebrand rühmt Dietrich; jedoch sei er noch nie auf den Zwergenkönig
Laurin gestoßen, der in einem Tiroler Wald in einem Rosengarten lebe
 Dietrich zieht mit Witege dorthin; sie treten auf einen goldenen Faden und
zertreten Rosen (Tabu und Tabubruch)
16






o
o
o
Laurin besiegt Witege; Dietrich (mit 3 Mitstreitern) besiegt Laurin
Dietleib beschützt Laurin, da dieser dessen Schwester Künhild gefangen hält
Versöhnung; sie alle gehen zu einem Berg; dort aber steckt Laurin einen
magischen Ring an, der in stark und unsichtbar macht und nimmt alle
gefangen
Künhild befreit die Helden; sie will den Zwerg nicht heiraten,w eil er Heide ist
(vgl. Kriemhild - Etzel); sie gibt Dietleib einen Ring, mit dem er unsichtbare
Zwerge sehen kann; Dietrich bekommt einen Gürtel mit ähnlicher Wirkung
Die Zwerge holen 5 Riesen zur Verstärkung, werden aber besiegt
Laurin wird gefangen genommen und muss in Bern als Gaukler zur
Belustigung dienen
Also:



Realer Ort wird zum Schauplatz der Sage
Wird mit mythischen Accessoires ausgestattet (z.B. Goldfaden)
Konkurrenz mythisch-magischer Instrumente mit eigenen, nicht-rationalen
Gesetzen
 Aber auch reale Prinzipien (Ehe, Laurin als Heide)
 Ende: mythische Erklärung für die Entstehung der Gaukler
Wirkung der Sage auf die Realität: z.B. historische Aktualisierung des Laurin
 Laurin-Kult im 19./20. Jhd.
 Laurin-Brunnen in Bozen 1907 als Touristenattraktion erbaut
 1934 von den Faschisten zerstört (Symbol der Überlegenheit eines
Germanen über einen Romanen)
 1936 ins Kriegsmuseum in Rovereto
 Nach dem Krieg an anderer Stelle wiederaufgebaut
 Aktuelle Debatte um Umsetzung des Brunnens (vgl. Süd-Tiroler Freiheit)
Literarisierung des mythischen Raums: „Der Rosengarten zu Worms“ (Mitte 13. Jhd.)
 Inhalt
 Kriemhild besitzt in Worms einen Rosengarten, der von 12 Helden
bewacht wird
 Sie schreibt einen Herausforderungsbrief an Dietrich: Gewinner der
Zweikämpfe sollen Rosenkranz und Kuss erhalten
 Dietrich will den Boten zunächst töten, beruhigt sich aber und
sammelt 11 weitere Helden zusammen
 Dietrich hat Angst und muss gereizt werden; die Berner siegen alle
 Kriemhilds Vater Gibich muss sein Land jetzt von Dietrich als Lehen
nehmen
 Der Berner Mönch Ilsan nimmt die Rosenkränze mit ins Kloster und
drückt sie seinen Brüdern aufs Haupt, sodass das Blut spritzt
 Aus dem mythischen (realen) Raum wird eine Art Bühne (literarischer Raum)
 Im „Reihenspiel“ auch Aktualisierung des Mythos
 Dietrich vs. Siegfried (beide Drache als Helmzier)
 Trotz Drachenhaut blutet Siegfried
 Dietrich hat ihn mit seinem Feueratem aufgeweicht (feuerspeiend
auch in anderen Dietrichepen)
 Also:
 Mythos und Realität sind aufeinander bezogen und erklären sich
gegenseitig: z.B. Bergmassiv - Anderswelt; Laurin - Gaukler;
Drachenhaut (Problem in der literarischen Realität) - Feueratem
(Lösung des Problems)
 Mythische Züge etablieren eigene (nicht reale) Gesetze im Rahmen
der Literatur und werden somit literarisch produktiv
17
-
Mythische Elemente im Nibelungenlied
o Tarnmantel („Kappe“ durch Fehldeutung von capa = Mantel)
 Siegfried erbeutet den Tarnmantel von Alberich; es wird nur gesagt, dass der
Zwerg deshalb Siegfried unterlag
 Im Kampf gegen Sachsen und Dänen: Tarnmantel taucht nicht auf; Paradox:
unbesiegbarer und unsichtbarer Held kann sich nicht bewähren
 erst als Siegfried Gunther helfen muss, Brünhild zu gewinnen, taucht der
Mantel wieder auf
 Tarnmantel macht unsichtbar und verleiht die Kraft von 12 Männern; so
kann Siegfried bei den Freiersproben Brünhild für Gunther überwinden
 Mythos gegen Mythos (sonst könnte Brünhild nicht geheiratet werden)
 Störung der Ordnung: auf der mythischen Ebene gehören Siegfried und
Brünhild zusammen, aber Gunther heiratet sie
o Brünhilds Unüberwindbarkeit
 Brünhild ist mit magischen Kräften ausgestattet
 Wird durch Betrug überwunden (Störung der Ordnung); sie weiß dies nicht
 Sie weiß aber, dass etwas nicht stimmt (Warum heiratet Kriemhild Siegfried,
obwohl der doch beim Werbungsbetrug behauptete, er sei Gunthers
Lehensmann?)
 So setzt sie ihre mythischen Kräfte ein und verweigert Gunther die
Hochzeitsnacht; der „reale“ Vollzug der Ehe wird durch die mythischen
Kräfte ermöglicht
 Beginn einer höfischen Geschichte: Brünhild braucht nun Gefolgsleute,
Gunther ist wieder Herr
 Verbindung Mythos und Sexualität (Verzicht auf Sexualität = Abkehr von den
Regeln des Sozialen = Außeralltäglichkeit)
 Herrscherehe: hinter dem Herrscherpaar stecken die Regeln des Mythos; sie
als „Bester und Beste“ sind mythisch legitimiert (hier jedoch Störung:
Siegfried wäre der „Beste“, Herrscher jedoch Gunther)
o Siegfrieds Drachenhaut
 Siegfried nach Bad in Drachenblut unverwundbar, außer an einer Stelle
 „Lücke“ im Mythos ermöglicht es Hagen, mit „realen“ Regeln den Mythos zu
überwinden
 Folge: Der Betrug durch den Mythos erzeugte eine Störung („Bester“ und
„Beste“ bekommen sich nicht), eine Lücke im Mythos ermöglicht, diese
Störung zu beseitigen
o Die Wassernixen bei Mehring
 Letztes mythisches Element im Nibelungenlied
 An der Donau sucht man einen Übergang; Hagen trifft dabei auf weissagende
Meerjungfrauen; sie sollen ihm die Zukunft voraussagen
 Er raubt ihnen ihre Kleider und sie betrügen ihn dafür
 Die erste Nixe sagt ihm einen Triumph in Etzels Land voraus, die zweite den
Tod
 Hagen zweifelt, dann genauer: „Keiner von euch kommt mit dem Leben
davon, bis auf den Kaplan des Königs.“
 Hagen testet die Voraussage und wirft den Kaplan über Bord: obwohl dieser
nicht schwimmen kann, erreicht er das Ufer (Inszenierung eines mythischirrationalen Moments zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der Nixen)
 Hagen akzeptiert das Schicksal; die Dimension des Tragischen ist etabliert
(obwohl man sich dagegen wehren wird)
 Alles Mythische verschwindet nun aus dem Lied; Untergang findet unter den
Regeln der „Realität“ satt (gerade darin liegt die Drastik)
18
o
-
Zusammenfassung: Mythos im Nibelungenlied
 Trennung zweier Ebenen: Mythos und „Realität“
 Der Mythos erklärt die Regeln der „Realität“ (der Herrscher ist der Beste und
kann mythische Proben bestehen)
 Diese Regeln werden jedoch gebrochen; ein Mythos steht gegen einen
anderen (Walküre vs. Tarnmantel); so entsteht ein Problem in der „Realität“
 Neuer Mythos wird im Sinne der „realen“ Ordnung zerstört (Siegfrieds Tod)
 Die „reale“ Ordnung ist aber damit nicht zu retten (Kriemhilds Rache),
darüber informiert eine mythische Instanz (Nixen)
 Die Zerstörung ist aber ein „realer“ Effekt der Störungen, die der Mythos
angerichtet hat
Mythos und Anderswelt
o Anderswelt: Orte jenseitiger Wirklichkeit (auch dargestellter Wirklichkeit im Mythos
und Märchen)
o Funktion: Darstellbarkeit des Mythos; Produktion von literarischen Sinnentwürfen
abseits der Darstellung von Realitäten (aber Bezug der Anderswelt zur Welt)
o Beispiel: Hof und Wald im „Hürnern Seyfrid“
 Prinzip: Exile and Return (im Nibelungenlied: Durchmischung der Sphären)
 Exile: man verlässt die gewohnte Welt, um in der Anderswelt etwas zu
erleben, was für die Welt bedeutend ist
 Return: man nimmt das in die Welt mit und verändert sie dadurch (vgl.
Hänsel und Gretel)
 Seyfrid am Hof I: unerzogen und gefährlich
 Seyfrid im Wald I: Unerzogener wird zum Drachentöter und Befreier
 Seyfrid am Hof II: Befreier ist der Beste und damit der Mann der befreiten
Prinzessin, aber als Drachentöter bleibt er gefährlich
 (nicht erhalten: Seyfrid im Wald II: wird dort ermordet
 Am Hof III: Rache für diesen Mord zerstört den Hof)
Liebe als Krankheit
-
Liebe: unwahrscheinlicher prekärer Zustand, den man trotzdem auf Dauer zu stellen versucht
Krankheit: ungewöhnlicher Zustand, abweichend von der Norm der Gesundheit, den man
möglichst schnell loswerden will
Parallelen: Außeralltäglichkeit, Unvermeidbarkeit und Leid
Andreas Capellanus: De Amore
o Kleriker (evtl. am französischen Königshof), lebte Ende des 12. Jhd.
o Traktat über die Liebe und vor allem über ihre Gefahren
o Diskreditiert die (körperliche) Liebe und warnt davor
o Reaktion auf die „inflationäre Behandlung“ der Liebe
o Argumentation
 Liebe als „Erleiden“ (passio), ausgelöst durch Anblick und Gedanken an eine
forma (des anderen Geschlechts)
 Ziel: körperliche Nähe / Vereinigung
 Passio ist kein actio, da man von jemand anderem abhängt; nur durch das
Gleichgewicht (Erwiderung) wird aus dem Leid eine Freude (die aber stets
durch Angst bedroht ist)
o Argumente gegen die Liebe
 Liebe ist Irrtum, denn sie schwächt (macht appetitlos, schlaflos und stört die
Verdauung)
 Liebe = Sünde (Sünde schwächt immer)
19

-
Folgen der schlechten Verdauung: Körpersäfte geraten in Verwirrung
(Folgen: Fieber, Verwirrung, Wahnsinn)
 Außerdem frühzeitiges Altern durch die Liebe
o Psychologische (z.B. Aufmerksamkeit), körperliche (z.B. Schlafstörung), ethische
(Sünde) und allgemein medizinische Argumente (z.B. Körpersäfte in Verwirrung)
o Weitere Symptome der Liebeskrankheit:
 Wechsel der Farbe: weiß und rot
 Starke Erhitzung oder Frost
 Verlust der Sprache, des Verstandes und der Stärke
 Alterung, Blutspucken und Tod
Liebeskrankheit im Minnesang
o Beispiele
 Friedrich von Hausen
 Ich komme durch sie oft in so große Not,
Dass ich den Leuten „Guten Morgen“ sage,
auch wenn es schon auf die Nacht zugeht.
Ich war so weit in sie verdacht,
dass ich währenddessen nicht bei Sinnen war;
und wer mich auch grüßte, ich bemerkte ihn nicht.
 Symptom: Abwesenheit und Verwirrung
 Zustandsschilderung oder Symbol für unbeschreibbaren Zustand?
 Liebe vs. soziale Ordnung: Vereinzelung und Asozialität
 Heinrich von Morungen
 Herrin, willst du mich heilen,
dann schau mich ein wenig an.
Ich kann es nicht länger vermeiden;
Ich werde das Leben verlieren.
Ich bin krank, mein Herz ist verletzt.
Herrin, das haben mir angetan
Meine Augen und dein roter Mund.
 Verbindung zum Liebestod
 „Infektion“ durch Blick und Bild
 Folgen einer asymmetrischen Gegenseitigkeit (meine Augen - dein
Mund); passio durch Anblick der forma
 Ziel: Blick gegen Blick (Nähe, Vereinigung); im MA: „sehen“ durch
aktives Aussenden von Strahlen, die das reflektieren, auf was sie
fallen; gegenseitiges Anblicken als „ineinander Eindringen“
 Heinrich von Morungen: Vil süeziu senftiu toeterinne
 Süße, sanfte Mörderin,
warum wollt Ihr mich umbringen,
obwohl ich euch doch so sehr liebe,
wahrlich Herrin, mehr als alle anderen Frauen?
Glaubt Ihr, wenn ihr mich tötet,
dass ich Euch nicht mehr anschaue?
Nein, Eure Minne hat mich dazu gebracht,
dass Eure Seele die Herrin meiner Seele ist.
Wird mir hier durch Euch nichts Gutes geschehen,
dann muss meine Seele trotzdem sagen,
dass Eure Seele mir dort wie eine reine Frau dienen wird.
 Konzept: Trennung von Körper und Seele, Diesseits und Jenseits
 Was körperlich, eigentlich und „hier“ nicht sein kann, wird
zwangsläufig seelisch, uneigentlich im „Dort“ geschehen
20
 Seelenminne (Transzendierung der Minne oder Parodie?)
Walther von der Vogelweide
 Der immer für Eure Ehre gekämpft hat
gegen unstetige Menschen, das war ich.
Dabei wurde ich verwundet.
Ihr habt mich angeschossen,
und sie ist unverletzt:
Ihr geht es gut, ich bin krank. […]
Herrin, lasst mich folgendes genießen:
Ich weiß, dass Ihr noch mehr Pfeile habt.
Könnt Ihr nicht einen in ihr Herz schießen,
dass es ihr genauso weh tut?
Könnt Ihr, edle Königin,
nicht Euer Leid aufteilen
oder das meine heilen,
oder muss ich alleine so zugrunde gehen?
 Personifizierte Frau Minne wird angeklagt
 Deutliche Parodie auf die Liebesleiddichtung
o Zusammenfassung
 Liebe als Störung der (körperlichen) Normalität
 Liebe als tödliche Krankheit, vgl. „senen“ (ahd.): zunächst „krak sein“, dann
übertragen auf „etw. vermissen“; Re-Konkretisierung im Spätmittelalter:
„Sehnsucht“ („-sucht“ impliziert Krankheit); heute abstrakte Bedeutung
 Liebesschmerz und Liebestod als paradox-positive Konsequenzen
 Walther: „Minne ist Minne, wenn sie gut tut; wenn sie weh tut, dann nennt
man sie nicht mit Recht Minne.“
 Literatur inszeniert diese Emotion und ihre Konsequenzen (auch als
literarisches Spiel oder Parodie)
Liebeskrankheit im Epos
o Der Eneasroman des Heinrich von Veldeke (um 1170-1194)
 Eskalationsstufen der Liebe bei Dido
 Liebe wird von Venus ins Haus geschickt
 Liebe entbrennt als Feuer
 Trauer, das Eneas nichts merkt
 Liebe ist Schmerz (Pfeil im Herz), kann noch verheimlicht werden
 Dann: zusätzliche Fackel von Cupido
 Wechsel der Farben und der Temperatur
 Verlust der Orientierungs- und Handlungsfähigkeit
 Zum Schluss: Suizid Didos
 Königin erklärt Lavinia das Wesen der Liebe
 Verletzung, Schwächung, Temperaturwechsel, Schlaf- und
Appetitlosigkeit, endloses Grübeln, man kann sich nicht schützen
 „Herrin, ist Minne eine Krankheit?“ - „Nein, aber doch sehr ähnlich.“
- Ich fürchte, sie ist stärker als Pest oder Fieber. Beides wäre mir
lieber; denn man wird nach dem Schwitzen wieder gesund.“
 Folgen der Liebe steuern den Text:
 Dido: ihre maßlose, unerwiderte Liebe zu Eneas führt zum Suizid
 Lavinia: gegenseitige, zwangsläufige und unheilbare Liebe zu Eneas;
erfüllt die Vorhersehung, dass die beiden zusammengehören
 Liebe als übergeordnetes Prinzip ist destruktiv (Dido), aber lässt das
entstehen, was entstehen soll (auch wenn dadurch andere Regeln
übergangen werden: Lavinia ist eigentlich mit Turnus verlobt)
21

-
o
-
-
Tristantradition: Eilhart von Obergs „Tristrant“ (um 1170) und Gottfried von
Straßburgs „Tristan“ (um 1210/20)
 Liebeswerbung: Marke wirbt durch den Werbungshelfer Tristan um Isolde
(Isolde mag Tristan nicht)
 Mutter gibt Brangäne einen Liebestrank für Isolde, dass sie sich nach der
Liebesnacht doch noch in Marke verliebt
 Tristan und Isolde trinken den Trank aus Versehen auf der Überfahrt; sie
müssen sich nun lieben; dies wertet das Gefühl nicht ab, auch wenn es
„magisch“ hergestellt wurde; Zwangsläufigkeit der Liebe
 Liebe und Ehe fallen auseinander; am Ende dominiert der Zwang der Liebe
 Krankheitsvorstellung hat jedoch Heilungsmöglichkeit:
 Isolde ist traurig in ihrem Zimmer, bis Tristan mit der „Ärztin“
erscheint; sie können sich nun lieben
 Personifikation der Liebe als Ärztin, die sich selbst kuriert
 Heilung der Kranken durch Nähe und „Fesselung der beiden Herzen
durch wunderbare Gewalt“
 Soziale Regeln werden gebrochen (Ehebruch), aber am Ende sterben beide
 Bei Eilhart: Wirkung des Tranks ist auf 4 Jahre befristet; 14tägige Trennung
führt zum Tod; sozialer Handlungsspielraum verschärft das Dilemma
 Bei Gottfried: zeitlich unbefristet, Trennung ist tödlich (Nähe zu Capellanus);
kein Handlungsspielraum, Fatalität von Anfang an
 Funktion des Minnetrankes
 Liebe macht asozial
 Liebe wird in mythischer Zwangsläufigkeit in Konkurrenz zu sozialen
Normen ausgelöst
 Dies als maximal unwahrscheinlicher und unkontrollierbarer
Zustand, nicht als „Entschuldigung“ (vgl. Drachenkampf als Analogie
zum Trank: Tristan besiegt einen Drachen; Drachentöter bekommen
immer die Prinzessin)
 Liebe nicht als individuelles Ereignis, sondern als überindividuelles
Prinzip, das am Exempel Tristan und Isolde vorgeführt wird
Liebe im Mittelalter: universal begründetes, überindividuelles Phänomen, von dem man
befallen werden kann
Liebe in der Moderne: Liebe ist nicht universell; gültiger Sinn entsteht nur zwischen den
Liebenden; nicht objektiv; Kategorie des „Selbst“ und des „Anderen“ absolut und
regeldeterminierend
Fazit
o Liebe im Mittelalter als Vereinigung von Glaube und Wissen
o Liebe nicht rational begründbar und doch unvermeidbares Faktum („Krankheit“)
o Mythische, körperliche Gründe werden angeführt, diese führen jedoch nur zu einer
Warnung vor der Liebe, nicht zur Erklärung derselben
o Liebe hat absoluten Geltungsanspruch, an dem Individuen teilhaben, den sie aber
nicht - wie in der Moderne - produzieren
o Liebe erzeugt eine Wahrheit neben anderen Wahrheiten; entweder harmonisch (z.B.
Liebe + Ehe) oder in Konkurrenz (z.B. Liebe vs. Ehe)
22