Schicksal Besatzerkind: Die lange Suche nach den Wurzeln

Schicksal Besatzerkind: Die lange Suche nach den Wurzeln
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Schicksal Besatzerkind: Die lange Suche nach den Wurzeln
Bericht: Knud Vetten
Obwohl seine Kindheit nun schon gut 60 Jahre zurückliegt, fällt es Winfried Behlau bis heute
schwer darüber zu sprechen. Seine Mutter hat ihn schon als Kind regelmäßig brutal
verprügelt. Er und seine Schwestern konnten sich das gar nicht erklären. Der heute 68Jährige schildert bei einer Lesung in Zittau eines dieser dramatischen Erlebnisse.
Winfried Behlau
„Schließlich ließ ich mich rückwärts mit ausgebreiteten Armen auf mein Bett fallen, sah ihr
leer ins Gesicht und schrie sie an: Schlag mich doch tot! Das hättest du schon früher
machen sollen! Ein Schlag traf mich noch mit voller Wucht, dann war es still. Sie ging, ich
schluchzte vor mich hin und blieb liegen. Der Kopf war leer, ich wollte sterben! Das erste…
Entschuldigung …“
Winfried Behlau ist ein sogenanntes Russenkind und hat seine tragische Geschichte
aufgeschrieben und jetzt veröffentlicht. Ein Bauernhof in Ostpreußen 1945: Sowjetische
Soldaten sind dort als Streife unterwegs. Winfried Behlaus Mutter ist kurz darauf schwanger,
will das Kind aber abtreiben. Das klappt nicht. Eher zufällig erfährt Winfried Behlau viele
Jahre später den Grund: Er hatte einen russischen Vater. Seine Mutter konnte ihren Sohn
nicht lieben.
Winfried Behlau
„Ich erinnere mich ganz genau, das war ein Tag nach meinem 13. Geburtstag. Sie hat
gesagt, es war ein Russe und sie haben mich vergewaltigt. Und dann hat sie nichts mehr
gesagt – das ganze Leben lang.“
Das Thema blieb in der Familie ein absolutes Tabu. Und das ist typisch. Termin in der
Abteilung für Medizinische Psychologie der Uni Leipzig: Heide Glaesmer hat in einer Studie
untersucht, welche Biografien Kinder von Besatzungssoldaten nach dem Zweiten Weltkrieg
hatten. Grundsätzlich war die damalige Gesellschaft von Vaterlosigkeit geprägt, doch bei den
Kindern sowjetischer Soldaten waren die Auswirkungen noch extremer:
Heide Glaesmer, Uni Leipzig
„In unserer Studie gab es genau zwei Kinder, die einen kleinen Zeitraum in ihrer Kindheit
hatten, wo sie mit Vater aufgewachsen sind. Das ist eine Vaterlosigkeit, die anders ist als
wenn ein Vater im Krieg gefallen ist oder in Gefangenschaft war. Da gab es Angehörige, es
gab Geschichten, es gab Bilder, Großeltern, Onkels, Tanten. Oft ist das ein absolutes
Tabuthema gewesen in den Familien, das heißt es gab keine Fotos, es gab keine
Geschichten über den Vater, sondern meistens eher so etwas, was häufig beschrieben wird
als eine Mauer des Schweigens.“
Schweigen teilweise seit fast 70 Jahren – dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945: Die Rote
Armee marschiert Richtung Ostdeutschland. Die Soldaten kommen aus einem Land, das
vorher von Nazi-Deutschland brutal überfallen wurde.
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Jetzt kommt es vielerorts zu Racheakten. Experten sprechen von bis zu zwei Millionen
Vergewaltigungen durch sowjetische Armisten.
Die Geschichte von Elfrun Josiger dagegen ist eine Liebesgeschichte. Sie wurde 1947 im
thüringischen Probstzella geboren. Wir begleiten sie zu einer Zeitzeugin:
„Hallo Traudel.“
Obwohl viele im Ort wussten, dass ihr Vater ein sowjetischer Soldat war, wurde auch hier
nicht darüber gesprochen. In diesem Haus haben sich ihre Eltern getroffen. Gertraut Müller
kennt die ganze Geschichte:
Gertraud Müller:
„Ja, das war so, Boris war zwar der Vater war, aber den haben die Russen aus dem Verkehr
gezogen und Anita musste unterschreiben, dass sie nie darüber spricht.“
Elfrun Josigers Mutter, Anita, war damals 22 Jahre alt.
Elfrun Josiger
„Ich habe meine Mutti erst im Jahr 2008 danach gefragt oder sie regelrecht aufgefordert,
sag´ mir doch bitte mal, wie mein Vater heißt. Und das sagt sie: Boris Luwitsch Kaganovich.
Und das hat sie so ängstlich von sich gegeben, immer noch. Und ich musste die Familie
schützen, sodass ich in dem Moment sogar ein schlechtes Gewissen gehabt habe, sie
gefragt zu haben. Dass sie ihr Geheimnis quasi lüften musste. Und da habe ich mich nicht
getraut weiter zu fragen. Ich habe keine einzige Frage mehr gestellt. Nie mehr.“
Aber Elfrun Josiger beginnt intensiv nach ihrem Vater zu suchen. Irgendwann weiß sie, dass
er in der Ukraine wohnte, geheiratet hat und noch einen Sohn bekam. Doch die Spur verliert
sich wieder.
Fünf Jahre später: Eine Tochter von Elfrun Josiger findet auf Facebook mehrere Kaganovichs
und nimmt Kontakt auf. Sie schickt das einzige Foto, das Elfrun Josiger von ihrem Vater hatte
und fragt, ob ihn jemand kennt. Kurz darauf kommt die unglaubliche Antwort.
Elfrun Josiger
„Da stand in seiner Antwort-Mail: The man of this foto is really my father . I am Alexander
Kaganovich. Und damit hatten wir ihn. Das war das schönste Erlebnis. Das kann ich gar
nicht in Worten beschreiben, wie schön das war.“
Alexander Kaganovich wohnt heute mit seiner Familie in Israel. Dort hat die 68-jährige Elfrun
Josiger ihren Halbbruder auch schon besucht. Und seit sich die Geschwister gefunden haben,
vergeht kein Tag ohne Kontakt. Wir können über Skype direkt mit Alexander Kaganovich
sprechen, und er erzählt uns noch eine besondere Geschichte von seinem Vater:
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Alexander Kaganovich
„Mehrere Jahre wollte er nicht heiraten, er hoffte auf ein Wiedersehen. Dann verstand er,
dass es aussichtslos war, denn damals war so eine Zeit, in der es keine Möglichkeit gab, aus
der Sowjetunion in den Westen zu kommen. Und dann erst hat Vater wieder geheiratet.“
Ortswechsel: In Aachen treffen wir Jürgen Schubert. Auch er ist das Kind eines sowjetischen
Soldaten. Mehrere hunderttausend, so schätzen Historiker, gibt es von ihnen. Genaue Zahlen
kennt niemand. Auch den 69-Jährigen beschäftigt die Frage nach seiner Herkunft schon
lange. Jürgen Schubert muss immer noch arbeiten, weil seine Rente zum Leben nicht reicht
und weil seine Suche ihn zusätzlich Geld kostet. So ist er täglich unterwegs – als Hausmeister.
Jürgen Schubert
"Der Wille ist so stark, dass ich die nächsten Verwandten mal kennen lernen möchte, um
dabei festzustellen welchen Charakter mein Vater hatte.“
1946 kommt Jürgen Schubert zur Welt. Von seinem Vater weiß er bis heute nicht viel: Kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg lernt dieser als Soldat im niederschlesischen Glatz – im
heutigen Polen - Jürgen Schuberts Mutter kennen. Sie wird schwanger. Doch die Mutter
lehnt das Kind grundsätzlich ab, und der Junge landet im Kinderheim. Dort leidet er unter
seiner Herkunft. Er wird offen diskriminiert.
Jürgen Schubert
„Es wurde mir als Kind auch dargelegt von einer Nonne, da war ich sieben, dass mein
Vater ein böser Russe sei und von der Edith kriegte ich noch Mal nahegelegt, also einer
Erzieherin, die auch aus Ostpreußen stammte, dass ich ein Russenbalg sein, ein
unerwünschtes Kind. Dass mein Vater ein Verbrecher ist. Und sowas. Unehelich geboren,
Russenkind, das war damals eine Schande.“
Seine Mutter hat ihm nie verraten, wer sein Vater genau war. Schon als junger Mann, in den
70er und 80er Jahren, beginnt Jürgen Schubert selbst zu suchen. Er reist mehrfach nach
Polen und versucht dort direkte Informationen über seinen Vater zu bekommen. Doch auf
einen Namen stößt er damals nicht. Und so dauert die Suche an. Auch das ist typisch für die
Biografien der sowjetischen Besatzungskinder.
Heide Glaesmer, Uni Leipzig
„Das ist ein ganz zentrales Thema. Das erzählen die auch. Das ist etwas, wo die sich häufig
auch nochmal auf den Weg machen heute, für viele leider heute hier auch schon mit der
Aussicht dass sie wahrscheinlich ihren Vater nicht mehr finden werden. Aber das ist etwas,
was einem da ganz häufig begegnet als Thema, weil eben diese Frage danach: Wer ist mein
Vater? Vom wem stamm ich ab? Wer ist das eigentlich? Was ist damals passiert? Das ist für
die eigene Identität ein ganz wichtiger Baustein, der irgendwie fehlt.“
Für Jürgen Schubert ist die Suche nach dem Vater inzwischen zum Lebensmittelpunkt
geworden. Dafür geht er auch ungewöhnliche Wege. Bei Recherchen im Netz unterstützt ihn
ein Freund. Vor gut vier Jahren wurden die beiden im Internet auf ein Angebot
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der Ahnenforschung aufmerksam. Eine Firma aus der Schweiz, die unter anderem ganz
konkret damit wirbt, bei der Suche nach dem Vater zu helfen.
Jürgen Schubert macht daraufhin einen DNA-Test, lässt immer wieder Nachforschungen von
der Firma anstellen. Über 1.000 Euro hat er inzwischen dafür ausgegeben. Für ihn viel Geld,
doch er klammert sich an jeden Strohhalm:
Jürgen Schubert
„Ich verspreche mir so viel davon, dass wir an einen näheren Verwandten des Vaters
kommen. Das kann in Kürze schon sein, könnte auch noch ein, zwei Jahre dauern. Das ist
drin. Das glaube ich auch, das ist drin. Sonst hätte ich es auch nicht gemacht.“
Das erste Ergebnis der Firma: Jürgen Schubert zähle väterlicherseits zur Volksgruppe der
Slaven. Ein fachlich ungenauer Begriff und nicht wirklich hilfreich. Wir fahren in die Schweiz.
Hier, in Baar in der Nähe von Zürich, hat die Ahnenforschungs-Firma iGENEA ihren Sitz.
Treffen mit dem Geschäftsführer Roman Scholz. Er erzählt uns, über ein eigenes Labor
verfüge die Firma nicht. Man arbeite mit einer US-amerikanischen Gen-Datenbank
zusammen, die 750.000 Proben vergleichen könne, die aus aller Welt kommen sollen. Roman
Scholz hat Jürgen Schubert beraten und weiß, wie wichtig ihm seine Suche ist. Abgeraten hat
er nicht.
Roman Scholz, iGENEA
Frage: „Aber sind die Chancen bei Herrn Schubert nicht schlecht?“
„Nein, würde ich nicht sagen.“
Frage: „Warum?“
„Er sucht seinen Vater, der kommt aus Osteuropa, das ist eine durchschnittliche Chance,
dass man jemand findet, der nahe genug verwandt ist.“
Eine durchschnittliche Chance – heißt konkret, die Firma hat ihm inzwischen Dutzende
Namen genannt, mit denen ein Verwandtschaftsverhältnis zu ihm bestehen könnte allerdings mehrere Generationen entfernt. Wie kann Jürgen Schubert so seinen Vater
finden?
Roman Scholz, iGENEA
„Es gibt auch Fragestellungen da muss ich den Kunden bei denen ich sagen muss, nein, wir
können das nicht machen oder die Chance ist bei einem Prozent. Dann ist es ebenso. Aber
man kann es vorher nicht einschätzen.“
Wir treffen Thomas Wienker, Humangenetiker beim Max Planck-Institut in Berlin. Er meint,
die konkreten Namen für Jürgen Schubert seien weitgehend wertlos bei der Suche nach
seinem Vater. Aber auch das gesamte Verfahren von iGENEA sei undurchsichtig und die
Chancenbewertung wissenschaftlich aus seiner Sicht nicht nachvollziehbar. Sein Fazit:
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Thomas Wienker, Max Planck Institut
„Die Wahrscheinlichkeit, dass Herr Schubert auf diesem Wege seinen Vater findet und die
Wahrscheinlichkeit einen Sechser im Lotto zu gewinnen sind größenordnungsmäßig gleich.
Nämlich verschwindend klein!“
Doch ganz aufgeben ist keine Alternative für Jürgen Schubert. Er sieht noch weitere
Möglichkeiten, zu recherchieren, gerade auch durch das Internet.
Jürgen Schubert, Elfrun Jostiger und Winfried Behlau. Drei Russenkinder mit ganz
unterschiedlichen Lebensläufen. Gemeinsam ist ihnen: Ihre Herkunft beschäftigt sie bis
heute.
Zurück in Zittau: Winfried Behlau hat seine Vergangenheit lange verdrängt. Doch kurz nach
seiner Pensionierung holt ihn die dramatische Familiengeschichte ein.
Winfried Behlau
„Als ich 64 war, hab ich begonnen, in alten Dokumenten zu suchen, meine
Tagebuchaufzeichnungen durchzulesen und hab alles zu einer Geschichte verarbeitet und
zusammengestellt. Und auch bei der größeren Reise, die ich vorher gemacht hatte, wo es
auch darum ging, dass man Spuren im Leben hinterlässt, kam für mich die Entscheidung:
Ja, ich geh‘ an die Öffentlichkeit und berichte darüber, was ich erlebt hab´ und mit welchen
Ängsten ich zeitlebens gelebt habe.“
Winfried Behlau will anderen Kindern sowjetischer Soldaten ein Beispiel geben, sich mit den
eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen. Auch weil den meisten nicht mehr viel Zeit bleibt.
Der gefundene Halbbruder, Alexander Kaganovich will im Oktober zu Besuch nach
Deutschland kommen - erstmals. Elfrun Josiger freut sich schon.
„Tschüss.“
Jürgen Schubert ist im Internet vor kurzem zufällig an ein Foto gekommen, das russische
Soldaten in der Nähe von Glatz zeigt - kurz nach 1945. Einer der Abgebildeten sieht Jürgen
Schubert sehr ähnlich. Diese Spur ist seine neue Hoffnung.
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