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Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Volkmar Kramarz 2013
I Einleitung
Die Geschichte der Aufnahmetechnik und der Wiedergabe von Klängen, Geräuschen und
insbesondere von Musik ist kaum einhundertfünfzig Jahre alt. Angestoßen von Pionieren
und Erfindern wie Scott de Martinville stellten ab 1877 Thomas Edison und nachfolgend
Emil Berliner Geräte wie einen Phonograph oder Grammophon1 vor und konnten damit
erstmalig aufgezeichnete auditive Klänge einer zunehmend breiteren Öffentlichkeit mit
Hilfe von Schallplatten und Draht- bzw. Bandaufzeichnungen zugänglich machen. Im Zuge
dieser Entwicklung führten eine Vielzahl von Experimenten zu unterschiedlichsten
technischen Veränderungen und Materialeinsätzen2. Zu den herausragenden Ereignissen
gehört hier beispielsweise der nach dem zweiten Weltkrieg stattfindende Wechsel vom
Disc-Cutting, dem Einprägen direkt auf eine Scheibenmatrize, hin zur Aufnahme auf
Magnettonbändern mit den sich dabei neu öffnenden Möglichkeiten wie etwa dem
Mehrspurverfahren: »One of the techniques improved and facilitated by tape recorders
was overdubbing, an additive process whereby successive performances are combined or
overlaid with one another within within the unity time frame...creating the illusion of an
ensemble performance«. 3 Entwicklungsschritte wie diese stellen in einer langen Reihe
eine bis heute nicht endende Innovationskette dar, in der unterschiedliche
Aufnahmetechniken und eben auch neue Tonträger und Medien vorgestellt werden: von
der Schellack-Platte über die Vinyl-LP und die CD bis hin zur aktuellen mp3-Datei oder
Blue-Ray-Disc. Darüber hinaus kommen über die medialen Verbundsysteme wie den
Tonfilm, Fernsehübertragungen und nicht zuletzt über das aktuelle Phänomen der
allgemeinen Digitalisierung noch die Verbindungen mit anderen, vorwiegend optischen
Sinneseindrücken hinzu. Dadurch tut sich heute eine mediatisierte auditive Klangwelt auf,
die von den einstigen mit ihren rückblickend recht schlicht anmutenden Ursprüngen viele
Entwicklungssprünge, verbunden mit entsprechend vielen vehementen Diskussionen und
Auseinandersetzungen, weit entfernt ist.4 Hinzu kommt, dass das Aufzeichnen von
Klängen, Geräuschen und Musik unsere Hörgewohnheiten grundlegend verändert, es
sogar die Art und Weise von Musikaufführungen vollständig umgekrempelt und massiv
Einfluss darauf genommen hat, wie beispielsweise heute Musik gehört und verbreitet
wird.5
In dem in der Regel nicht gleichmäßigen, sondern meist ruckhaftem Verlauf der
Innovationsschübe6 gab es oftmals einige entscheidende Zeitabschnitte, in denen
innerhalb kürzester und vor allem sehr überschaubarer Abfolgen bestimmte auditive
Entwicklungen stattfanden, die im Moment des Entstehens für die Zeitzeugen oftmals
1
Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 37.
2
Pfau: Tonbandtechnik. Grundlagen Technik Praxis, S. 99.
3
Zak III: The poetics of rock, S.10.
4
So gibt es bis weit in die 60er hinein noch eine ausgeprägte Diskussion, ob sich das
neuartige Stereophonie-Verfahren wirklich als eine Verbesserung des Hörens
herausstellen würde. Viele Produktionen erscheinen daher betont sowohl als Mono- als
auch als Stereo-Veröffentlichung. Siehe dazu auch: Wolf E. von Lewinski: »Die StereoSchallplatte: Trick oder Trumpf?«.
5
Katz: Capturing Sound. How technology has changed music, S. 1.
6
Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 33.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
geradezu überwältigend wirkten und nachfolgend meist lang anhaltende und
grundsätzliche Veränderungen auf einem bestimmten Gebiet der auditiven Entwicklung
bewirkten. Als solch ein bemerkenswerter Quantensprung wird speziell in der
Geschichtsschreibung der populären Musik das Album „Sergeant Pepper´s Lonely Hearts
Club Band“ der Beatles und dessen Erstellung 1967 in den Londoner EMI-Studios in der
Abbey Road gesehen. Die Hintergründe und Bedingungen, die zu der Entstehung dieser
aufsehenerregenden Platten-Produktion7 führten und beitrugen, sollen hier ebenso erörtert
werden wie die Überlegungen, welche Auswirkungen dieses bekannte Werk der Fab Four
aus Liverpool für die nachfolgende Musikentwicklung hatte.
II. Ein Tonstudio in London
Wie kam es dazu, dass ausgerechnet ein Londoner Tonstudio solch eine Berühmtheit als
kreative Klangschmiede erringen konnte? Welche Umstände führten dazu, dass vier junge
Männer aus Englands Norden, unterstützt von einigen Mitarbeitern des Studios, dort im
Verlauf des Jahres 1967 Single-Tracks erarbeiteten wie „Strawberry Fields forever“, „I am
the walrus“ oder eben das komplette Album „Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club
Band“? Von dessen Veröffentlichung wird später immerhin gesagt werden, dass wohl nur
der Wiener Kongress von 1815 die Menschen in Europa mehr bewegt hat – und
vermutlich in Nordamerika gleich ebenso.8
Zum Verständnis der individuellen Entwicklung innerhalb der EMI Abbey Road Studios in
dieser Zeit sollen folgende übergeordnete Bereiche unterschieden werden:
1. KONSTRUKTION und AUSSTATTUNG
2. Die GESCHÄFTSSTRUKTUR
3. Die KÜNSTLER, ihre technischen Mitarbeiter und das REPERTOIRE.
Unter diesen Gesichtspunkten die Entwicklung eines Studio-Komplexes, wie es die AbbeyRoad-Studios darstellen, aufzubereiten, kann dann sowohl die Entwicklungsstränge dort
im Haus verdeutlichen als auch helfen die Frage zu beantworten, warum die Beatles denn
gerade hier diese besagten Songs aufgenommen haben, und ob das nicht auch woanders
hätte stattfinden können.
Gleichzeitig ermöglicht die Betrachtung der individuellen Historie auch einen generellen
Einblick auf die Recording-Culture dieser Jahrzehnte und ermöglicht damit ein Verständnis
für die Veränderungen, die eine Band wie die Beatles im Bereich Aufnahmeverfahren und
Audio-Produktion eingebunden in die allgemeinen musikalischen Entwicklungen bewirkte.
II a. Die Konstruktion und Ausstattung
Die Abbey Road Studios wurden als eine ausgelagerte Dienstleistungsabteilung zum
Zweck von Erstellung diverser Tonaufnahmen und damit als ein gesonderter
Gebäudekomplex konzipiert und anschließend realisiert. Auftraggeber war die 1898 von
7
Barrow: John Paul George Ringo & Me, S. 230. Der ehemalige Pressechef der Beatles
nennt das Sgt. Pepper´s Album in seinem biographischen Rückblick ein „spectacular
album“ und sagt dazu: „John and Paul recognised the project as a make-or-break-point in
the band´s career.“
8
Stark: Meet the Beatles, S. 5.
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Studios
Emil Berliner selbst gegründete Industriefirma Gramophone Company, die 1931 mit der
UK Columbia Records Company zu Electric & Musical Industries, kurz EMI verschmolz.
Nicht zuletzt speziell für das aus der Gramophone Company hervorgegangene
Plattenlabel His Masters Voice HMV wurden diese betriebseigenen ,EMI Recording
Studios´ großzügig konzipiert und eingerichtet, um erstmalig ungestört und konzentriert ein
eigenes Repertoire an Tonproduktionen aufbauen zu können. Dies geschah, betont
außerhalb des Fabrikgeländes des Mutterhauses, in einem nah am Zentrum gelegenen
Vorort der Weltstadt London, um damit einen gut erreichbaren Platz für Künstler und
Kreative anbieten zu können. Allein die baulichen Dimensionen des 1907 errichteten
Zentralwerkes in Hayes können deutlich machen, dass es sich hierbei um einen höchst
finanzkräftigen Konzern handelte, der ohne große Schwierigkeiten später auch diesen
mächtigen Studioneubau für Tonaufnahmen in London errichten lassen konnte. Immerhin
hatten die Architekten Wallis, Gilbert & Company das Zentralwerk auf einer Fläche von
über 250 Hektar Grund erbaut und dort Fabrikationsanlagen für technische Geräte aller
Art, nicht zuletzt aus dem Unterhaltungs- und Haushaltbereich, erstellt, die diese Firma zu
einem weltweit bekannten und führenden Elektrotechnikproduzenten aufsteigen ließ.9
Von denselben Architekten erfolgte 1929, nach dem Kauf der benachbarten Grundstücken
Abbey Road Nr. 3 und 5 im Londoner Stadtteil St. John´s Wood, die Planung und der
nachfolgende Bau eines Tonstudios, das die Architekturfirma konsequent bis zur
Fertigstellung im November 1931 betreute. Ausgehend von einem bereits vorhandenen
relativ kleinen Villa-Gebäude, in dem von nun ab überwiegend die Studioverwaltung
residieren sollte, wurde der einstige Garten nahezu vollständig durch einen an das vordere
Haus anschließenden massiven Baukörper ausgefüllt, in dem die eigentlichen
Aufnahmeräume eingerichtet wurden.
Damit wurde es in seiner Zeit zu dem weltweit größten Studio für Plattenaufnahmen, das
aber mit seiner zur Abbey Road nahezu unveränderten Frontansicht im Prinzip weiterhin
wie ein Privathaus wirkte, und wo beispielsweise die bisherige private Küche erst Jahre
später um- und ausgebaut wurde.10 Trotz der monumentalen Größe des Komplexes
verblieb bedingt durch die städtisch eingebundene Lage eine besondere Schwierigkeit
besonders für die auswärtigen Künstler, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter
verschärfen sollte: Das Haus bot mit seiner relativ schmalen Vorderseite und seinem
schmalem Vorgarten nämlich nur wenig Platz für Auto-Parkplätze, die daher schon bald
hoch begehrt waren. Immer wieder erörterte Planungen einer großzügigen Tiefgarage
innerhalb des Komplexes wurden aufgrund der Gedrängtheit der einzelnen Baukörper
aber nie bis zu einer Realisierung getrieben, weil nur ein Abriss der alten Gebäude
sinnvolle Lösungen erlaubt hätte.11
Die neu errichteten Aufnahme-Räume wurden an das Anfang der 30er Jahre übliche
musikalische Repertoire angepasst und fielen dadurch, rückblickend gesehen,
beeindruckend großzügig dimensioniert aus:
Das Studio 1 war ausreichend groß auch für größte Orchesteraufnahmen und wurde sogar
mit einer eigenen Bühne und einer Orgelempore eingerichtet, um die Aufführung eines
Orchesterstückes wie in einem Konzert zu ermöglichen. In einem Raum von rund 500 qm
Größe, komplett mit getäfelten Holzboden ausgelegt, konnte selbst eine herumziehende
9
Kehew/Ryan: Recording the Beatles, S. 15 – 17.
10
Southall, Brian u.a.: Abbey Road, S. 19.
11
Ebenda, S. 159.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Marchingband mit über 60 Ensemble-Mitgliedern problemlos auf einer Aufnahme
festgehalten werden, wobei die enorme Weite der hallenartigen Räumlichkeit noch durch
eine Deckenhöhe von etwa 12 Metern unterstrichen wurde. Schon wenige Jahre später
waren diese Dimensionen für eine schlichte Beat-Band wahrlich überwältigend: Eine
vierköpfige Band wie die Beatles fühlte sich in diesem Studio mit seiner Größe zwischen
Turnhalle und Flugzeughangar förmlich verloren, hätte nicht ihr Techniker für sie bei solch
einer Gelegenheit einen künstlichen kleinen Raum, eine Art Hütte gebaut, die den Raum
deutlich kleiner wirken ließ.12
Eher für Big Bands mit etwa 20 Mitgliedern und für kleinere Orchester-Ensembles war
dagegen das Studio 2 gedacht, das mit etwa 220 qm Grundfläche und einer Deckenhöhe
von über acht Metern zwar ebenfalls über eine recht imposante Größe verfügte, dennoch
aber leichter von kleinen Besetzungen zu nutzen war. Dies sollte das Studio sein, in dem
neben geläufiger klassischer Musik dann üblicherweise die Künstler aus dem Bereich von
Jazz, Comedy und Unterhaltung aufgenommen wurden, und wo schließlich auch die
Beatles den größten Teil ihrer Plattenaufnahmen durchführten.
Nur ungefähr halb so groß wie das Studio 2 war dagegen das Studio 3, das aber bei einer
Fläche von etwa 110 qm immerhin ebenfalls noch eine Deckenhöhe von knapp 5 Metern
aufwies und genau wie die anderen Studioräume mit einem durchgehenden Holzfußboden
und großzügig konzipierten Wandverkleidungen versehen war. Hier wurden überwiegend,
wie von der originären Planung her auch vorgesehen, Solo-Klavierkonzerte und klassische
Kammermusikaufnahmen durchgeführt. Genau wie in den anderen Studios auch konnten
die jeweiligen Aufnahmen dabei in einem jeweils unabhängigen Regieraum kontrolliert und
bearbeitet werden. Die Regieräume waren an die Aufnahmeräume unmittelbar
angebunden und durch Sichtfenster und auch Zugangstüren verbunden, so dass
problemlos eine schnelle Kommunikation möglich war.
In der Abbey Road wurde damit schon bei der architektonischen Planung und bei der
Errichtung und Ausstattung das investiert, was notwendig war, um marktführend und
qualitativ hochwertig zu sein. Dieser Anspruch wurde auch in den nächsten Jahren
beibehalten. Entsprechend weist dieses Studio von Jahrzehnt zu Jahrzehnt alles auf, was
es jeweils dem aktuellen Stand der Technik entsprach: Das Studio begann bereits seit
seiner Inbetriebnahme mit Electrical Recording, also mit Mikrophonen und Verstärkern im
Gegensatz zur früheren mechanischen Aufzeichnung und wurde in den 50ern konsequent
auf Bandmaschinen und schließlich ab den frühen 80ern komplett auf digitale
Aufnahmeverfahren und Produktion von CDs umgestellt.13
Sicherlich entscheidend ihren Anteil an den dort produzierten hochwertigen Aufnahmen
hatte die üppige Ausstattung gerade in der Peripherie der Aufnahmekette: Viele und vor
allem hochwertige Mikrophone aller Bautypen, allen voran die bekannten NeumannRöhren-Tonwandler der M-Serie, waren in einer Vielzahl vorhanden genau so wie
Kompressoren unterschiedlicher Bauarten, großzügig viele Röhrenvorstufen wie die
legendären Siemens V72 und diverse Bandmaschinen mit zunehmend mehr Einzelspuren
in jedem Regieraum. Generell ist zu sehen, dass die unmittelbare Verbindung zum
Mutterhaus, einer global agierenden Industrieproduktionsfirma von Elektro-Geräten, dafür
sorgte, dass auf Anfrage die notwendigen Geräte in höchster Qualität angefertigt oder,
12
Emerick/Massey: Du machst die Beatles! S. 291.
13
http://www.emimusic.com/about/history/timeline/ EMI-History. Stand 27.06.2011
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
individuell abgestimmt, über einen Fremdeinkauf angeliefert wurden. In der Regel standen
sie nach kurzer Zeit, entsprechend den Anforderungen der Produzenten und Tontechniker
oder entsprechend den weltweiten Verbesserungen im internationalen Audiobereich, zur
Verfügung.14
Vorrangig war dabei für lange Zeit das Ziel, die von den Künstlern erzeugten Klänge
möglichst unverändert festzuhalten und reproduzieren zu können – ,True Fidelity´ war
gleichermaßen eine Vorgabe wie auch das Motto dieses Studios, was deutlich macht, das
lange Zeit, bis weit in die 60er hinein, die Technik vorrangig für eine authentische
Dokumentation von Klängen gedacht war: Alles, was in der langen Kette von Mikrophon
bis Lautsprecher geschah, sollte der möglichst getreuen Wiedergabe dienen, nicht aber
einer wie auch immer gearteten künstlerischen Manipulation und Modifikation.15
II b. Die Geschäftsstruktur
Die Abbey Road Studios wurden zum Zweck von Erstellung diverser Tonaufnahmen von
vornherein als eine ausgelagerte Dienstleistungsabteilung in einem eigenen
Gebäudekomplex geplant und realisiert.
Da es sich hier um die Investition einer weltweit agierenden Großfirma handelte, wurden
alle Geschäftsziele unter der deutlichen Prämisse von geschäftlichem Erfolg gesehen.
Praktisch jede Unternehmung berücksichtigte kommerzielle Aspekte und war insofern auf
Gewinn ausgerichtet. Die Konstrukteure und Manager dieses Studios verfolgten daher das
vorrangige Ziel, endlich einen fest eingerichteten Aufnahmeraum zu erbauen, der es dem
Konzern ermöglichen sollte, nicht länger nur in einer angemieteten Konzerthalle oder
Kirche Aufnahmen durchführen, sondern in ausschließlich dafür vorgesehenen Räumen
arbeiten zu können. Dass damit neben der Kostenverringerung eine konzentrierte
Arbeitsumgebung geschaffen wurde, die Jahrzehnte später auch den Beatles zu ihren
hoch gelobten Meisterwerken verhelfen sollte, war im Prinzip nur ein nachrangiges Ziel der
Studioerbauer. Im Vordergrund standen nüchtern kalkulierte Zeit-, Arbeits- und
Geldersparnisse.
Dass dann das größte Studio seiner Art für Plattenaufnahmen entstand, war ebenfalls rein
pragmatisch kalkulierten Geschäftsüberlegungen geschuldet: Angepasst an die üblichen
Vorstellungen, die zur Zeit des Baubeginns in Bezug auf anerkannte und gut verkaufbare
Musik herrschte, wurden hier Aufnahme-Säle konzipiert, die im Prinzip den bisher jeweils
angemieteten Räumen entsprachen. An sich schwebte den Erbauern hier eine hoch
effektive Musikfabrik vor, in der ungestört und möglichst effizient die Produktion der Ware
Musik erfolgen sollte. Das erklärt nicht zuletzt auch den eher nüchternen ZweckEinrichtungsstil aller Studios in der Abbey Road, wo lange Zeit offene Kabelschächte,
unverkleidete Metalltüren mit sachlichen Notausgangsschildern und greller NeonBeleuchtung zum recht unromantischen Ambiente beitrugen. Für kundenorientierte
Emotionalität oder unnötigen ästhetischen Zierrat wollte die Geschäftsführung kein Geld
ausgeben, denn das tat sie als kühl rechnende und dem Vorstand verantwortliche
14
Der Produzent George Martin musste den Beatles sogar bei ihren ersten StudioSessions noch die unterschiedliche Handhabung von ihren üblichen Bühnen-Mikrophonen
und den viel empfindlicheren und hochwertigeren Studiomikrophonen erklären. Babiuk:
Der Beatles Sound, S. 65.
15
Brock-Nannestadt: The development of recording technolgies, S. 150.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Firmenleitung in den übrigen Produktionsbereichen ebenfalls nicht. Und immer wieder, wie
etwa zu Beginn der Studioaktivitäten kam Glück hinzu: Auch wenn beispielsweise der Bau
des Studios in einer Zeit stattfand, in der die Umsätze sanken und eine allgemeine
Wirtschaftskrise umherging, herrschte zu Beginn der 30er doch gleichzeitig eine fast
euphorische Aufbruchsstimmung, speziell was die boomartige Verbreitung von
Radiogeräten und Plattenabspielgeräten betraf. Viele Privathaushalte wollten sich damit
versorgen und so machte es geschäftlich großen Sinn, für die unzähligen und immer
begehrteren Heimgeräte, die nicht zuletzt im Mutterhaus der EMI in Hayes produziert
wurden, konstant neue Aufnahmen für Tonträger oder Radioübertragungen zu erstellen.16
Damit wurde der musikalische Aufnahmevorgang von seinem Termindruck und dem bis
dahin vorhandenen Stress befreit, etwa unbedingt während eines einmaligen LiveKonzertes erstklassige Ergebnisse erzielen zu müssen. Zusätzlich wurde die MusikProduktion in einen Prozess des sachlichen Arbeitsvorganges verwandelt, der sich
zumindest äußerlich von der Montage diverser Apparaturen und Geräte kaum noch
unterschied. In solchen Werkshallen standen in sachlicher Atmosphäre fest vereinbarte
Betriebszeiten, disziplinierte Arbeitshaltung und der unbedingte Wille des Gewinnerzielens
im Vordergrund. Und in beiden Szenarien dominierten weiß bekittelte Techniker und
ernsthaft blickende Ingenieure mit Jackett und Krawatte das Arbeitsfeld.17
Insofern war es selbstverständlich, dass die gesamte Firmenpolitik der EMI darauf
abzielte, eine Musik zu produzieren, die am Markt einen möglichst hohen und leicht zu
erzielenden Absatz erreichte. Schwarze Zahlen waren mehr gefordert als etwa innovativer
Experimental- oder kreativer Pioniergeist, der in den Hintergrund rückte. Wenn es aber
dem Geschmack der breiten oder zumindest der gut zahlenden Käufermasse entsprach,
wurde ein neuartiges Unterfangen bewilligt und gefördert – entsprechend wurde die
Produktpalette und das gesamte Dienstleistungsangebot, wenn auch manchmal zögerlich,
ausgerichtet. Zusätzlich zu den eigentlichen Aufnahmeräumen wurden Büros,
Waschräume und aufwändige Telefonanlagen installiert, um dem Studiokomplex ein
vollständig eigenständiges Arbeiten zu ermöglichen. 18
II c. Die Abbey Road Studios – ihre Künstler und ihr Repertoire
Üblicherweise sind Sound-Recording und die Herstellung von Reproduktionsgeräten, also
die Bereiche Aufnahme und Wiedergabe, jeweils getrennte Produktionssegmente, die
deutlich voneinander unterschieden sind. In einer Abteilung bzw. Firma werden die
Aufnahmen produziert, in einer anderen die Wiedergabegeräte, mit denen diese Musik
dann abgespielt werden kann. Doch im Fall der Abbey Road Studios kommen hier diese
beiden Welten über die gemeinsame leitende Mutter-Firma zusammen. Das hatte
unterschiedlichste Konsequenzen zur Folge, da diese Verbindung zwar für eine
hervorragende technische Ausstattung, gleichzeitig aber auch für den permanent
kommerziell ausgerichteten Gewinn-Druck sorgte.
Weil die Räume in der Abbey Road als eine der ersten speziell und ausschließlich nur zum
Aufnehmen gedacht waren, wurden dort erstmalig Anforderungen an die AufnahmeSessions gestellt, die nur in einem expliziten Ton-Studio denkbar waren. Bei einer
Aufnahme etwa in einer nur für einen Abend angemieteten Konzerthalle wäre vieles
16
Kehew/ Ryan: Recording the Beatles, S. 14.
17
Emerick: Du machst die Beatles, S. 67.
18
Kehew/ Ryan: Recording the Beatles, S. 16.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
oftmals nicht möglich gewesen. Dies war naturgemäß bei den Stilistiken, die extensiv auf
Soundbearbeitung und intentionalen Klangvorstellungen19 abheben, wichtiger als bei den
Genres, die ihre Interpreten möglichst nur unverfälscht auf einer Aufnahme festgehalten
wissen wollten. Popmusik mit all ihren Sound-Ansprüchen rückte dementsprechend Jahr
um Jahr mehr in den Vordergrund,20 während daneben die ursprünglich so favorisierte und
im zentralen Fokus der früheren Planungen stehende Klassik mehr zurückgedrängt wurde.
Bei der Auswahl der Studioaktivitäten hatte man in der Abbey Road immer Wert darauf
gelegt, Weltstars von Rang und Namen für Aufnahmen in die Abbey Road zu verpflichten,
um mit diesen berühmten Persönlichkeiten einen größtmöglichen Eindruck auf das
Publikum zu erzielen. Damit verbunden war dann aber auch der fast durchgehende
Verzicht auf Experimente und Wagnisse aller Art. Die arrivierten, in der Regel älteren und
gesetzten Herren, die als Artist & Repertoire-Manager das Entscheidungsrecht bezüglich
der Verpflichtung von Künstlern und Komponisten hatten, zeigten keinerlei Interesse an
serieller Musik, 12-Ton-Klänge oder gar frühe futuristische bzw. elektronische
Experimentalprojekte. Solch eine Musik kam daher hier praktisch nicht vor und wurde
folgerichtig in den großen Studiohallen der EMI nicht produziert, auch wenn die
technischen Einrichtungen es zweifelsohne ermöglicht hätten.
Folgerichtig waren daher die Techniker und auch die Aufnahme betreuenden Produzenten
weniger zu musikalisch-innovatorischen Versuchen, sondern eher auf die Einhaltung der
gerätetechnischen Vorschriften angehalten. Sie wurden weniger für außergewöhnliche
Klang-Experimente und innovative Reflexionen gebraucht, sondern wurden als
Regelwerke und Anweisungen ausführende Angestellte gesehen. So fürchtete
beispielsweise der Tontechniker Geoff Emerick bei der Suche nach einem möglichst
ungewöhnlichen Gitarrensound vor allem die strafenden Abmahnungen seiner
Geschäftsleitung: »Als ich neben dem Mischpult kniete und an Knöpfen drehte, die ich auf
keinen Fall bedienen durfte, weil sie das Mischpult in den Himmel blasen konnten, dachte
ich unwillkürlich: Wenn ich der Studiomanager wäre und mich dabei erwischen würde,
würde ich mich feuern.«21
Es war aber nicht ungewöhnlich, dass die Performer, die vorführenden Künstler, die
berühmten Dirigenten und Pianisten selbstbewusstes Denken und mutiges Handeln mit in
die Aufnahmen brachten: Artur Schnabel wird beispielsweise schon früh bei der EMI das
individuell geprägte Gesamtwerk von Beethoven einspielen, und gleich nach dem Krieg
werden anerkannte deutschsprachige Sängerinnen ihre Karriere mit anspruchsvollen
Kunstliedern lückenlos fortsetzen und pflegen können. Dank der offensichtlichen
Gewinnmöglichkeiten, die bei solch großen Namen bestehen, rückten auch politische
Differenzen diskret in den Hintergrund. Die Abbey Road Studios sorgten in diesem Fall
damit sogar konkret für eine erste Verbindung zwischen den noch kurz zuvor in
kriegerische Handlungen verwickelte Völker – aber eben vor allem, um daraus einen Profit
zu ziehen.22
19
Frith, Ästhetik der Popmusik, S. 10.
20
Southall: Abbey Road, S. 53.
21
Emerick, / Massey: Du machst die Beatles, S. 395.
22
Southall: Abbey Road, S. 31.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
III. Die Beatles und ihre Studio-Produktionen
„Ich will klingen wie der Dalai Lama, der von einem Berggipfel heruntersingt“ (John
Lennon)23
Als der anerkannte Gitarrenexperte Tony Bacon auf der Suche nach einer Erklärung für
den Mythos „Gibson Les Paul Standard“, die er als ,Million Dollar Les Paul´ beschreibt,
den Gitarrenbauer Max Baranet, seinerseits ebenfalls ein dezidierter Les Paul-Fachmann,
nach der Erklärung für den Ursprung der Faszination dieses begehrten Gitarrenmodels
befragte, brachte dieser einen ,X-Factor´ als erläuterndes Gedankenmodell ein. Gemeint
ist in diesem Fall weder eine amerikanische TV-Serie noch eine Castingshow für neue
Pop-Talente, sondern ein Beschreibungsversuch für das Zusammenkommen von
unterschiedlichsten Wirkungselementen, die sich an einem bestimmten Moment auf einem
Punkt treffen, um sich dann wieder voneinander zu entfernen und ins Unendliche zu
verlieren: „Verschiedene Faktoren kamen alle zusammen an einem Punkt in praktisch nur
einem Jahr. Und dann driftete es wieder auseinander. Aber in Bezug auf diesen speziellen
einzigartigen Ton war alles richtig zu diesem einen Zeitpunkt!“. 24
In einer ähnlichen Weise lässt sich verdeutlichen, warum gerade für die Popmusik die
kurze Zeitspanne, die die Beatles konzentriert im Studio verbrachten, so enorm
bedeutsam ist. Es handelt sich um eine an sich nur wenige Jahre umfassende Tätigkeit,
die aber wie keine andere Studioarbeit so akribisch, so detailliert beobachtet und
dokumentiert worden ist. Minutiös wurde jede einzelne Session mit allen wichtigen und
gelegentlich auch
weniger wichtigen Einzelheiten festgehalten und steht heute für
Untersuchungen und Nachforschungen zur Verfügung25. Wenn man dann die einzelnen
Stränge betrachtet, die vom Baubeginn der Abbey-Road Studios bis hin zu den Werken
der Beatles führen, werden mehrere Aspekte erkennbar. Diese wiederum machen
deutlich, warum eine bestimmte X-Kombination einzelner Faktoren fast zwangsläufig dazu
geführt hat, dass diese Liverpooler Beatband dort in London so erfolgreich wurde – und
warum dies eben hier und nicht woanders stattfand.
Die Studios in der Abbey Road waren beim Eintreffen der Beatles professionell und der
Zeit entsprechend eingerichtet. Bei notwendigen Reparaturen konnte der Hausdienst
gerufen werden, eine Kantine versorgte die Künstler mit Sandwiches und Tee. Ein
hauseigener Mastering-Room sorgte für Überspielungen und Probeabzüge unmittelbar
nach jeder Session, und nicht zuletzt verhalf ein Sicherheitsdienst den umjubelten Stars
zu einer ungestörten Arbeitsatmosphäre, die möglichst nicht von ekstatischen Fans
unterbrochen wurde. Zusätzlich wurden die Musiker von einer eigenen Techniker-Crew
betreut und von der intern verbundenen Mutter-Firma oder durch gezielte Fremdeinkäufe
mit den jeweils notwenigen Apparaturen versorgt. Wie hochwertig oder sogar exzellent
dieses Equipment, angefangen etwa von dem in der Kölner EMI-Dependance entwickelten
Mischpult bis hin zu den üppig dimensionierten Kompressoren und Abhörlautsprechern26,
nicht nur für die damalige Zeit war, zeigt, dass heute bestimmte Geräte aus den Laboren
23
Emerick /Massey: Du machst die Beatles, S. 27.
24
Bacon: Million Dollar Les Paul, S. 138.
25
z.B.: Lewisohn, Mark: The complete Beatles Chronicle.
26
Kehew/ Ryan: Recording the Beatles, S. 138ff.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
und Werkstätten der EMI-Technik nach wie vor hoch begehrt sind. Mittlerweile haben sie
sogar als beliebte virtuelle PlugIns Einzug in die moderne Computerwelt gehalten27.
III a. Der fünfte Beatle: Der Produzent George Martin
Ihr Produzent George Martin war ursprünglich Leiter des hauseigenen Labels Parlophone.
Er sollte an sich seinen Verlag mit Klassik-Aufnahmen aller Art versorgen, hatte aber
schon bald damit begonnen, sich daneben auf Jazz und Comedy zu konzentrieren und
dort ausgiebig Kenntnisse in Bezug auf alle Gegebenheiten des Pop-Business zu
sammeln. In dieser Funktion konnte er es sich erlauben, eine Band wie die Beatles
einzuladen und sie nebst der dazu gehörigen Technik zu buchen, ohne dabei jeden
einzelnen Schritt und Handgriff ausdrücklich genehmigen lassen geschweige denn
persönlich bezahlen zu müssen. Natürlich war ihm der enorme Gewinndruck des Hauses
nur zu vertraut, aber als festangestellter Produzent konnte sich Martin zumindest vorrangig
auf den kreativen Output ,seiner´ Künstler konzentrieren, ohne gleichzeitig dafür Sorge zu
tragen, wie denn etwa die alltäglichen Kosten für Heizung, Wasser und Strom gedeckt
werden sollten. Außerdem ermöglichte ihm die Studioleitung, bei informativen Besuchen in
US-Studios den dortigen Standard der Aufnahmetechnik kennenzulernen.28 Kaum ein
anderer damaliger Produzent aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik, der nicht
festangestellt oder verbeamtet etwa beim Rundfunk tätig war, befand sich in einer solch
sorgenfreien und gesicherten Stellung.
Und als dann die Beatles mit ihrer Musik große Gewinne einspielten und damit die
wichtigste Forderung des Studiomanagements mehr als erfüllten, konnten sich die
Künstler gemeinsam mit George Martin herausnehmen, das Studio – über einige Jahre
hinweg – praktisch zu ihrem Privataufenthaltsraum umzufunktionieren. John Lennon
formulierte dies später so: »We were just getting better technically and musically that´s all.
Finally we took over the studio.«29 Praktisch alles von dem, was die Beatles und ihr
Produzent sich beispielsweise im Jahr 1967 wünschten, wurde ihnen zugesagt oder
angeliefert. Plötzlich waren viele der bisherigen und so strikt einzuhaltenden zeitlichen
Begrenzungen nicht mehr bindend: Gastmusiker konnten auf Kosten des Hauses
eingeladen werden, bisher gesperrte Nachtzeiten wurden freigegeben und selbst ein
bereits öffentlich bekannter Drogenkonsum wurde toleriert – für die Träger des höchsten
Ordens der Nation gab es kein ,Unmöglich!` mehr.
Es war andererseits diese Freiheit, dieses Ahnen von unbegrenzten Möglichkeiten, das
sich schließlich neben der Gewinnmaximierung auch musikalisch ausdrückte.
Arbeitstechniken, die aus der Welt der Neuen Musik oder tapemusic stammten und mit
Namen wie Stockhausen, Cage und Xenakis verbunden waren, wurden jetzt mit großem
Ehrgeiz ausgiebig praktiziert: Bänder, die mit veränderter Geschwindigkeit oder rückwärts
liefen, waren jetzt ebenso selbstverständlich wie in kleine Schnipsel aufgeteilte Bandteile,
die wieder zufällig zusammen gefügt wurden. Geräusche aus Technik und Verkehr, aus
27
So gibt es mittlerweile eine Firma der Abbey Road Studios selbst, die einzelne
Studioelemente als hochpreisige Computersoftware, als PlugIns anbietet:
www.abbeyroadplugins.com
28
Dies geschah bereits 1958, wo Martin auch Recordings-Sessions mit Frank Sinatra
erlebte. Martin George: All you need is ears, S. 144
29
Southall, Brian u.a.: Abbey Road, S. 84.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
der Natur oder auch bekannte Zitate aus der kurz zuvor noch so weit entfernten Klassik
wurden in neue Pop-Songs integriert. Diese unbekümmerte Art von Grenzenlosigkeit und
Tabubefreiung veränderte innerhalb kürzester Zeit das Gesicht der bis dahin so biederen
und betont ,nur´ unterhaltenden Beatmusik. Immer mehr gerierten sich die Beatles wie
seriöse Komponisten oder Avantgarde-Mitglieder. Sie standen oft über Wochen für keinen
Termin mehr zur Verfügung und schlossen sich bewusst in ihr Tonlabor ein, um ungestört
von der zunehmend sich verändernden Welt mit Unruhen, Vietnamkrieg und
Studentenprotesten ihre persönlichen Gedanken und Phantasien in Klänge umzusetzen.
Selbst ihr langjähriger Manager Brian Epstein musste in dieser Zeit, kurz vor seinem Tode,
verbittert feststellen, dass er die vier Musiker praktisch nicht mehr zu einer Präsentation
oder einem Pressetermin bewegen konnte – es war nur noch die Arbeit an ihren
musikalischen Werken, die für sie zählte30.
Was unterschied die Beatles in diesem Stadium dann noch von einem anerkannten
seriösen zeitgenössischen Komponisten wie Karl Heinz Stockhausen, dessen Porträt
sogar auf dem Cover von Sergeant Pepper´s zu finden ist? Dazu gehört vor allem der
Einsatz von durchgehenden, schlichten Rhythmen und von markanten schnell beliebten
Melodien aus der diatonischen Dur- und Moll-Welt. Der Einsatz dieser konventionellen
musikalischen Mittel war der entscheidende Grund dafür, dass die Beatles nicht von
einfachen Lieder-Sängern im Teenager-Alter zu bestaunten gereiften Komponisten der
Neuzeit mutierten31. Nur kurzfristig wagten sie gelegentlich einen konsequenten Sprung in
das weite Feld der ernsthaften Musique concrete, als sie mit Aufnahmen wie ;Carnival of
Light` experimentierten oder auf ihrem Weißen Album mit „Revolution No. 9“ eine
durchgehende Collage veröffentlichten. Aber jeder der Musiker, allen voran Paul
McCartney, experimentierte für sich ausgiebig mit modernen Sounds, Instrumenten und
Strukturen.32 Insgesamt fand, wie etwa Wicke später konstatierte, in den Augen vieler
Kritiker dadurch auch eine Verschiebung statt von der bisherigen Musik-Betrachtung mit
ihren rein kompositorischen Elementen wie Harmonik, Melodik und Rhythmik hin zu einer
viel stärkeren Betonung der klanglichen Aspekte: »Der Schwerpunkt verschob sich vom
Was auf das Wie des Musizierens. Nicht mehr der Melodieverlauf als solcher oder seine
rhythmische Organisation war entscheidend, sondern die konkrete Natur seiner
klanglichen Präsenz. Songs fungierten bald nur noch als eine Art Gerüst und Aufhänger
für die Sounds, mit denen sie realisiert wurden«33.
III b. Anstöße und Entwicklungen
Insofern ist es eine bemerkenswerte Entwicklung der Dinge, die hier im London der späten
60er Jahre zu beobachten ist: Ausgerechnet eine von vielen Gitarren-Bands, die als
schlichter Clubact mit Liedern und Standards aus dem Rock´n´Roll groß geworden war,
erhielt auf Grund der enormen Gewinne, die sie erzielte, die Möglichkeit zu einer fast
unbegrenzten Tonstudio-Nutzung Da die Beatles gleichzeitig nicht mehr live spielen
30
Barrow, Tony: John Paul George Ringo & Me, S. 232
31
Ross: The rest is noise, S. 435. So schrieb 1953 Der Dirigent Hermann Scherchen an
Henze in Bezug auf dessen Oper „König Hirsch“: »Aber mein Lieber, wir schreiben doch
heute keine Arien mehr.«
32
Peel: The unknown Paul McCartney. McCartney and the Avant-Garde. S.8.
33
Wicke: Von Mozart zu Madonna, S. 259.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
wollten, weil sie bei dem allgemeinen Geschrei, das auf ihren Konzerten herrschte,
überhaupt keine Möglichkeit mehr hatten, miteinander musizieren zu können, entdeckten
die vier Musiker in den folgenden Monaten fast zufällig, dass solch ein komplizierter
Studiokomplex mit all seinen vielfältigen Möglichkeiten wie ein zusätzliches
eigenständiges Instrument eingesetzt werden kann.
Sie wuchsen in Folge daraufhin von einer spontanen Liveband zu einem komplex
denkenden Team, das unterstützt von Produzenten und diversen Tontechnikern
gemeinsam das Abenteuer ,Erforschung eines Tonstudios durchlebte. Gleichzeitig war
damit das Ende ihrer bisherigen Karriere besiegelt, die überwiegend auf dem Konzertieren
in einem Club, Halle oder Stadion basiert hatte. Angesichts des dramatischen
gesellschaftlichen Wandels gerade innerhalb der Jugendgeneration bestand eh die
Gefahr, dass aus den umjubelten Helden von gestern mit ihren simplen Songs belächelte
Figuren von morgen würden, in einer Welt des progressiven Aufbruchs. Es war ein
Schicksal, das ihre einstmals gefährlichsten Konkurrenten, die Beach Boys, genau in
dieser Zeit und noch anschließend hautnah selber erleben sollten.34
Durch die Öffnung hin zu neuen musikalischen Perspektiven wurden die Beatles zu einem
maßgeblichen Wegbereiter einer auditiven Richtung, in der es beispielsweise nicht länger
nur eine und einzigartige, live aufgeführte Originalaufnahme gab. Der Wechsel der vier
Musiker in ein Studio mit Mehrspurtechnik sorgte dafür, dass von nun ab die einzelnen
Stücke zunehmend in akribischer Puzzlearbeit zusammengestellt und geformt wurden.
Hier stand nicht länger eine eingeprobte Musikgruppe vor dem Mikrophon, die exakt das
gleiche Repertoire auch abends im benachbarten Club hätte spielen können, sondern es
wurde in langwierigen Verfahren, angeleitet durch den Produzenten, ein aus
unterschiedlichsten Elementen kombiniertes Aufnahmeergebnis erzielt. Ein Konzept, das
heute als ein historisch gewachsenes Verfahren innerhalb der Plattenindustrie gilt: »The
producer has played a key part in the making of recorded music as a separate entity from
musics that rely on the moment: Recordings are usually copies of an event that did not,
precisely, happen.«35
Hier wurde im Endeffekt erreicht, was einem Pierre Schaeffer in einer völlig anderen
Verbindung vorgeschwebt haben mag, als er forderte, dass innerhalb der Musique
Concrete die zukünftige elektroakustische Musik nicht länger notenfixierte Partituren,
sondern werkfixierte Aufzeichnungen als Grundlage haben soll: » Experimentelle Musik im
Sinne von Pierre Schaeffer basiert auf der Umkehrung des traditionellen
Kompositionsverfahrens, das ausgeht von der abstrakten Vorstellung und diese in einer
Notation fixiert, nach deren Maßgabe eine konkrete klangliche Realisierung entstehen
kann. Schaeffer hingegen geht aus vom konkreten Klangphänomen, das als
Schallaufzeichnung gespeichert ist und im Studio weiter verarbeitet werden kann, was die
Bildung abstrakter musikalischer Zusammenhänge erlaubt. Die "Musik im gewohnten
Sinn", die sogenannte „abstrakte" Musik, führt nach Schaeffer von der (geistigen)
Konzeption über die Niederschrift zur instrumentalen Ausführung, während die von ihm
begründete konkrete Musik ausgeht von der Bereitstellung von Klangmaterialien, diese im
Stadium des Experimentierens und in Verbindung mit Skizzen aufarbeitet und auf dieser
34
Wald: How the Beatles destroyed Rock´n Roll, S. 236.
35
Blake: Recording practices and the role of the producer, S.51.
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Grundlage eine (materielle) Komposition realisiert; die erstere Musik führt also vom
Abstrakten zum Konkreten, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten.«36
Und weiter stellt Rudolf Frisius in einer Übersicht der Entwicklung der elektronischen
Musik und der Musique Concrete fest:
»Populäre und avancierte Musik haben in den sechziger Jahren ihre gemeinsamen
Produktionsbedingungen entdeckt – als Produkte des Tonstudios. Die Beatles montierten
Tierstimmen in einen Song ihres wohl berühmtesten Schallplattenalbums ein, von dem sie
schon frühzeitig wußten, daß seine Musik nur noch im Studio produziert, aber nicht mehr
live aufgeführt werden konnte. Dies ermutigte sie in der Schlußnummer dieses Albums zu
noch kühneren Klangexperimenten, die weit hinausführten über die Grenzen dessen, was
in der alltäglichen Umwelt zu hören ist oder was Stimmen und herkömmliche Instrumente
zu produzieren vermögen.«37
Dabei war dieses Studio ja nie als Tummelplatz für spitzzüngige, langhaarige und nur
Unterhaltungsmusik spielende Jugendliche geplant oder intendiert, sondern vornehmlich
als ein Studio für ernste Musik oder zumindest für anspruchsvolle musikalische
Unterhaltung. Dies verdeutlicht auch die generelle Bevorzugung der ,echten´ und vor
allem ,populären´ Klassik. Diese eingespielt etwa von einem Wunderkind wie Yehudi
Menuhin, der bereits als 16jähriger dort in London erstmals seine Geige erklingen ließ und
später in den Abbey Road Studios noch über 250 Werke aufnehmen sollte.38
Fazit
Im Verlauf der späten 60er veränderte sich im Bereich der Pop-Musik alles: Auf Grund der
enormen Gewinne im Bereich Unterhaltende Musik speziell bei Bands wie den Beatles
gab es für die jungen Musiker plötzlich die Möglichkeit der freien Verfügung über
Studiozeiten und damit praktisch unbegrenzten Zugriff auf die gesamte Studioperipherie.
Im Zuge der Ausweitung aller Möglichkeiten ermöglichten die Beatles dann auch die
Verbindungen zwischen bisher strikt getrennten Welten wie populäre Unterhaltungsmusik
und elektronischer Musik. Warum gerade die Musique concrete, die Tape music und die
Elektronik dabei im Vordergrund stand, dürfte nicht zuletzt auch ideologische Gründe
gehabt haben. Die Urheber und Komponisten dieser Neuen Musik nach 1945 sahen sich
zwar selbst in unmittelbarer Traditionsfolge zu Beethoven bis Wagner, hatten aber bis
dahin auf Grund der weitgehenden Unverkäuflichkeit ihrer Werke praktisch keinen Zutritt
zu den großen kommerziellen Studios wie etwa den EMI-Studios in der Abbey Road
gefunden. Doch in ihren Arbeiten hatten sie vehement einen bis dahin noch nicht
gekannten Freiheitswillen ausgedrückt: »Schlüsselbegriff in Darmstadt war ... „Freiheit“.
Nach Jahrhunderten untertäniger Abhängigkeit von Kirche und Adel, Bürgertum und
Massenpublikum konnten Komponisten endlich tun und lassen, was sie wollten«39.
Und speziell diese Verbindung von innovativen, progressiven Einflüssen, gepaart mit
hämmernden Rhythmen und Dur-/Moll-Tonalität aus der kommerziellen Pop-Musik, wird
dann in der Folge als Rezept weltweit aufgegriffen und rasch weiter entwickelt werden.
Vieles von dem, was wir heute unter den Begriffen Electronic, Disco, Rap und Techno
36
Frisius: »Experimentelle Musik in Frankreich: Tendenzen und Studios der
elektroakustischen Musik«.
37
Frisius: »Die Wiedergeburt der Musique concrete – die 60er Jahre«.
38
aus: Wikipedia Artikel „Abbey Road Studios“, Stand 24.06.2011.
39
Ross: The rest is noise, S. 434
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
kennen, hatte damit hier, speziell bei der Arbeit der Beatles in diesem Londoner
Studiokomplex, seinen allerersten vorsichtigen Ursprung. Vor allem aber sorgten die
Beatles auf Grund ihrer ungeheueren Popularität dafür, dass Experimente dieser Art auch
wirklich von einer großen Hörerschar weltweit wahrgenommen wurden. Das war etwas,
was der Neuen Musik in diesem Umfang bisher verwehrt geblieben war.
Vielleicht bleibt insofern die Frage, wie anders wohl alles gekommen wäre, hätten sich die
Beatles damals nicht in die Abbey Road Studios zurückgezogen, um dort ihre Musik,
angefangen bei schlichten Songs wie „Love me do“ und „Can´t buy me love“,zu immer
komplexeren Werken a la „Tomorrow never knows“, „Revolution No. 9“ oder „Day in the
life“ hin zu entwickeln. Würde die Pop-Musik unserer Tage, würde die Welt dann so
klingen, wie sie heute klingt...?
Die Beatles in der Abbey Road, ca. 1967
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road
Studios
Literaturverzeichnis
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