Friedrich Herrmann Paradies Mit schweren Schritten stapfte ich die Treppe hoch. Meine Sohlen knallten auf das Holz und im ganzen Treppenhaus hallte es davon wider. Als ich unsere Wohnungstür aufschloss, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich stellte meine Tasche ab, zog meinen Mantel aus und lauschte. Aus dem Zimmer meiner Freundin waren vergnügte Stimmen zu hören. Eine davon war unverkennbar ihre. Von einem Besuch hatte sie mir nichts erzählt. Langsam und ohne weitere Geräusche zu machen schlich ich mich an ihre Zimmertür. Mein erster Eindruck war nun nicht mehr zu leugnen: Zwei vergnügte Stimmen drangen auf den Flur. Sie waren durch irgendetwas gedämpft, womöglich unsere Bettdecke. Ich zögerte nicht lang, öffnete und ging hinein. Mein Eintreten schien nicht bemerkt worden zu sein. Unter der Bettdecke lugten zwei Paar Füße hervor, die Stimmen waren jetzt deutlich zu hören. “Ach, hör’ doch auf…” “Aufhören soll ich, mh?” Ein Kichern. Jetzt zögerte ich doch. Schwindel packte mich. Ich schluckte. Da schnellte plötzlich Caros Kopf unter der Decke hervor. Nach einem kurzen Moment der Überraschung strahlte sie mich an. “Da bist du ja.” Keine Scham, keine Reue. Ich brachte kein Wort heraus. Ein zweiter Kopf erschien neben ihr, und wenn ich vorher bereits sprachlos gewesen war, so war ich nun endgültig überwältigt. Neben ihr lag ich. Der gleiche, aschblonde Igelschnitt, die gleiche Text 4 2015-Friedrich Herrmann-Paradies.docx Seite 1 von 5 überproportionierte Nase, sogar das linke Augenlid, das in der gleichen Weise leicht tiefer als das rechte hing - all das starrte mich an und ich starrte fassungslos zurück. “Ich kann das erklären,” sagte ich. Also nicht ich. Er. Es. Das Ding da neben Caro. “Vielleicht lässt du mich das besser machen,” fuhr Caro dazwischen und stieg aus dem Bett. Sie war splitternackt. Sie ging auf mich zu, immer noch strahlend. Dann streckte sie ihre Hand aus und berührte mich an der Schulter, wie sie es immer tat, wenn sie mir etwas so erklären wollte, dass ich es auch wirklich verstand. “Er ist nicht irgendwer”, sagte sie. “Er ist du. Er ist dein anderes Ich.” Sie strahlte und streichelte. “Ich fand das im ersten Moment auch etwas komisch, aber du - also er - hat mir alles erklärt.” “Aber”, stammelte ich hervor. “Ich verstehe nicht, wie…” “Ich auch nicht”, sagte sie. “Aber es ist doch toll, oder?” Sie zwinkerte meinem Ich auf dem Bett zu, das etwas ungeduldig zu werden schien. Sie streichelte etwas druckvoller. “Du warst in letzter Zeit so zerstreut. Du hast es mir vielleicht nicht so gesagt, aber ich glaube, du kannst das jetzt gebrauchen. Zeit ganz für dich, weißt du?” “Kommst du jetzt wieder ins Bett?”, fragte mein anderes Ich während es an der Decke zupfte. “Du bist ja heute ungeduldig”, sagte sie zwinkernd zu mir und kicherte. “Vielleicht”, sagte sie, während sie mir mit ihrem Gesicht näherkam, “nutzt du die Zeit, um mal ein wenig nachzudenken.” Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und hüpfte wieder ins Bett. Mein anderes Ich warf mir noch einen Blick zu, der so viel sagte wie “Ich mach das schon hier” und verschwand ebenfalls wieder unter der Decke. Als ich ging, rief Caro noch: “Machst du bitte die Tür zu? Du magst es Text 4 2015-Friedrich Herrmann-Paradies.docx Seite 2 von 5 doch nicht bei offener Tür…” Da hatte sie recht. Ich mochte es wirklich nicht bei offener Tür. Ich zog die Tür zu und machte mich auf den Weg zum Campus. Vielleicht hatte Caro recht. Vielleicht brauchte ich ja wirklich etwas Zeit für mich. In Hörsaal 4, erinnerte ich mich, wurde um diese Zeit immer Einführung in die Neurolinguistik angeboten. Ich hatte die Vorlesung immer ausfallen lassen, um am Mittwoch wenigstens 2 freie Stunden mit Caro zu haben. Als ich in den Hörsaal schlüpfte, war die Vorlesung bereits im Gang. Um nicht weiter aufzufallen, zwängte ich mich links außen in die hinterste Reihe. Vorn war gerade das Bild eines menschlichen Gehirns mehrere Meter groß an die Wand projiziert. Daneben standen fett die Wörter mentales Lexikon. In meiner Verwirrung hatte ich meine Tasche und damit auch mein Schreibzeug daheim gelassen. Verlegen flüsternd fragte ich meinen Nebenmann nach Kuli und Papier. “Hier”, sagte meine Stimme. Erschrocken fuhr ich auf. Einige Kommilitonen drehten sich um und kicherten. Schnell setzte ich mich wieder. Mein Kopf war hochrot. Neben mir saß ich, grinste und reckte mir Zettel und Kuli entgegen. “Musst es allerdings nicht mitschreiben. Wär ja doppelte Arbeit.” Ich schaute auf die Notizen neben mir und erkannte meine krakelige Handschrift. “Was willst du hier?”, zischte ich. “Warst du nicht eben noch… beschäftigt?” “Das bin ich immer noch”, entgegnete mein anderes Ich. “Wie? Gleichzeitig?” “Offensichtlich”, sagte mein anderes Ich schulterzuckend. “Versteh das auch nicht so ganz.” Das beruhigte mich wenig. “Ok”, sagte ich. “Ok. Nein, nicht ok. Wenn Text 4 2015-Friedrich Herrmann-Paradies.docx Seite 3 von 5 du… wenn ich schon hier bin und mitschreibe…” “…was solltest du dann stattdessen machen?” “Ja.” “Hat Caro nicht gesagt, du sollst ein bisschen nachdenken?” “Woher weißt du das?” “Ich weiß alles, was du weißt.” Das machte keinen Sinn. “Wenn du alles weißt, was ich weiß, wie kommt es dann, dass ich nicht alles weiß, was du weißt?” Mein anderes Ich überlegte kurz. “Tust du das denn nicht?” “Nein.” “Mh”, sagte es und zuckte erneut mit den Schultern. “Keine Ahnung.” Die Sache begann frustrierend zu werden. Wenn ich bis jetzt eines daraus gelernt hatte, dann, dass ich unausstehlich sein konnte. Ich verließ den Hörsaal und machte mich auf den Weg ins Paradies. Im Paradies gab es eine kleine Bank, auf der ich oft und gerne saß und nachdachte. Ich spazierte über die Wiese, die, sobald Temperaturen über 10 Grad herrschten und die Sonne sich zumindest hin und wieder blicken ließ, bevölkert war von Studenten, Einweggrills und Pfandsammlern. Heute war sie nass und ausgestorben. Auch die Bänke mit dem Blick auf die neue Teichanlage waren leer. Einzig an der Skaterbahn waren zwei Jungs mit ihrem BMX zugange. Meine Lieblingsbank war auf der anderen Seite der Saale, beim Märchenbrunnen. Als ich dort ankam, und schon von weitem sah, dass jemand auf meiner Bank saß, überkam mich eine dunkle Vorahnung. Ich beschleunige meine Schritte und meine Vorahnung schlug in Wut um. Noch nicht ganz bei der Bank rief ich: “Hey. Was soll das?” Text 4 2015-Friedrich Herrmann-Paradies.docx Seite 4 von 5 Die Gestalt auf der Bank drehte sich zu mir um. Sie war, wie unschwer zu erkennen, ein weiteres meiner Ichs. Ich stürmte zur Bank und schubste es herunter. “Hier wollte ich sitzen”, rief ich. “Du saßt doch schon hier”, sagte mein Ich und rieb sich die Schulter. Die linke Schulter, an der mich vorhin auch Caro gestreichelt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich durch die Erinnerung an sie ein Prickeln dort spürte oder meinen eigenen Schlag. Es war mir auch egal. “Nein”, sagte ich und setzte mich. “Jetzt sitze ich.” Ich schloss die Augen und tat, als dächte ich angestrengt nach. Und dann passierte das Seltsamste aller Dinge an diesem ohnehin sehr seltsamen Tag. In dem Moment, in dem ich die Augen öffnete, sah ich wiederum mich, wie ich auf der Bank saß. Anstatt selbst auf der Bank zu sitzen, stand ich aufrecht, meine Hand an meiner Schulter. Ich schaute zu meinem Ich. Es zu mir. “Weißt du”, sagte es, “denk du mal drüber nach, was du gerade getan hast. Ich überleg’ mir derweil, wie ich dieses Chaos in meinem Leben in den Griff kriege. Caro hat nämlich recht, da liegt so einiges im Argen.” Nichts weißt du!, wollte ich brüllen. Und was geht dich das an?! Aber es hatte keinen Sinn. Dort saß ich. Alles wusste ich. Alles ging mich das was an. Die Frage, die ich mir stattdessen stellte, war: Was ging es mich eigentlich noch an? Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich von der Bank am Brunnen ab und ging. Ich wusste zwar nicht wohin und warum, aber ich ging. Zunächst noch zögerlich und wütend, doch mit jedem Schritt wurde das Gehen etwas leichter. Text 4 2015-Friedrich Herrmann-Paradies.docx Seite 5 von 5
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