O Mensch, der Schöpfung König – oder Mathe

...o Mensch, der Schöpfung König – oder:
Mathe und Grillparzer
Der folgende Artikel – wurde für ein Jahresheft der Rudolf Steiner-Schule
Wien Mauer verfasst und später in der 'Monatszeitschrift zur Pädagogik
Rudolf Steiners – Erziehungskunst 4/1994' veröffentlicht.
von Klaus Podirsky und Dagmar Reithofer
Ein Gedicht als Einstieg in den Mathmatikunterricht
Wieviel weißt du, o Mensch, der Schöpfung König
Wieviel weißt du, o Mensch, der Schöpfung König,
der du, was sehbar, siehst, was messbar, misst.
Wieviel weißt du und wieder, ach, wie wenig,
weil, was erscheint, doch nur ein Äußres ist.
Und steigst du in die Tiefe der Gedanken,
wie findest du den Rückweg in die Welt?
Du armer König, dessen Reiche schwanken,
der eine Krone trägt, allein kein Szepter hält.
Zu dem Gewölb von deinen strengen Schlüssen,
stellt sich der Schlussstein nun und nimmer ein,
und die Empfindung, Flügel an den Füßen,
entschwebt der Haft und ruft hinfliegend: Nein!
Denn etwas ist, du magst's wie weit entfernen,
das dich umspinnt mit unsichtbarem Netz,
das, wenn du liebst, du aufschaust zu den Sternen,
dich unterwerfend dasteht – das Gesetz.
Franz Grillparzer
Dieses Gedicht kannte die Klasse 'zufällig' schon aus der Mittelstufe. Im Nachhinein gesehen,
erwies es sich als gute Fügung, da somit empfindungsmäßig angelegt war, was uns in der 9. Klasse
auf einer mehr gedanklichen Ebene eine Brücke zur Mathematik und ihren Gesetzmäßigkeiten
schaffen sollte. Zu Beginn der Epoche stellte ich den Schülern folgende Frage: „Vier Spieler stehen
auf einem Kreis vor einem Eishockeytor. Welcher Spieler hat die größte Chance, seinen Puck im
Tor unterzubringen?“ Diese Situation wurde an der Tafel aufgezeichnet, um die Fragestellung zu
verdeutlichen.
Die Klasse entschied sich eindeutig für Stephan. Aus der Frage, warum sich die Mehrzahl der
Schüler für Stephan entschied, wurde deutlich, dass die Schüler für diesen Standpunkt den größten
Torschusswinkel vermuteten. In das Epochenheft musste nun jeder Schüler eine entsprechende
Situation zeichnen. Als sämtliche Verbindungslinien der Standorte zu den Torgrenzen gezogen
waren, konnten wir an das Abmessen der Winkel gehen. Diese Zeichnungen fielen natürlich
verschieden groß aus, und entsprechend der Zeichengenauigkeit ergaben sich zur Verblüffung aller
annähernd gleich große Torschusswinkel für alle Positionen am Kreis. Für den Spieler nahe der
Torlinie (Philipp) war ein genaues Ablesen des Winkels aber kaum mehr möglich. Weiters wurde
noch jener Winkel gemessen, den ein Spieler hätte, könnte er im Zentrum des Kreises stehen. Diese
Messung ergab von Schüler zu Schüler einen verschiedenen, aber bei allen annähernd doppelten
Wert. Damit war die Fragestellung gegeben: „Sind die Winkel am Kreis (Peripheriewinkel) wirklich
alle exakt gleich groß, und ist der Winkel im Mittelpunkt (Zentriwinkel) gesetzmäßig doppelt so
groß?“ Diese Fragestellung blieb am ersten Tag offen.
Der nächste Tag begann wieder mit unserem Gedicht. Durch die Vorgangsweise am Tag davor
konnten die Schüler Zugang zum Inhalt der 1. Strophe des Gedichts finden: „Sehen, was sehbar ist;
messen, was meßbar ist.“ Auch die Tatsache, dass wir die Situation, die in diesem Beispiel
erschien, in der Anschauung – sozusagen als ein 'Äußeres' – betrachtet haben, war den Schülern
deutlich. Als Aufgabe für den 2. Tag blieb, den Sachverhalt gründlich auszuloten und „in die Tiefe
der Gedanken“ zu steigen. Den Einstieg bildete eine Vorstellungsübung folgender Art: „Stellt euch
einen Kreis vor und durch den Kreis eine horizontale Sehne, unterhalb des Mittelpunkts, mit den
Endpunkten A und B auf dem Kreis. Die Punkte A und B schließen mit einem Punkt C ganz oben
und einem Punkt D entsprechend unten einen Winkel ein. Den Punkt D lassen wir vorläufig einmal
außer acht. Schätzt, wie groß der Winkel bei C ist. (Die Schätzungen lagen gut – bei 70°.) Nun lasst
die Punkte A und B gleichmäßig auf der Kreislinie nach unten wandern. Was passiert mit der
Sehne? Was passiert mit dem Winkel bei C? (Sehne und Winkel werden immer kleiner.) Lassen wir
die Punkte immer weiter nach unten wandern, so lange, bis sie fast zusammenfallen, wie groß ist
jetzt der Winkel bei C geworden (vielleicht 5°) ? Und nun fallen die Punkte A und B in einem Punkt
zusammen, die Sehne hat die Länge 0 bekommen, der Winkel die Größe 0°. So, dasselbe machen
wir jetzt in der Gegenrichtung. Die Punkte A und B und damit die Sehne wandern kontinuierlich
nach oben – jetzt geht unsere Sehne genau durch den Kreismittelpunkt. Wie groß ist der Winkel
geworden, kennt ihr diesen Fall (90°, Thaleskreis). Lassen wir die Punkte entlang der Kreislinie
weiter nach oben wandern, so lange bis A und B ganz knapp bei C liegen. Wie groß ist unser
Winkel jetzt (ca. 170°) ? Und nun fallen A und B im Punkt C zusammen, die Länge der Sehne ist
wieder 0, die Winkelgröße aber 180° geworden.“
Deutlich wurde, dass die Qualität des Winkels auch noch erhalten blieb, als die Punkte A und B im
1. Übungsteil zusammenfielen (0°) und ebenso im 2. Übungsteil, als die Punkte A und B in C
zusammenfielen (180°). Diese Qualität war allerdings nur mehr gedanklich fassbar.
Jetzt gingen wir zielstrebig an die Klärung unserer gestrigen Fragestellung heran. Hatten wir bis
jetzt die Bewegung der Sehne AB und ihre Auswirkung auf die Winkelgröße betrachtet, so sollte an
Hand des folgenden Tafelbildes in der Vorstellung die Lösung unserer Aufgabenstellung von
gestern entstehen.
„Lassen wir den Punkt C auf der Kreislinie zum Punkt A hin wandern und betrachten wir
ausschließlich die Sehne CA, ihre Länge und ihre Richtung. Was geschieht mit ihrer Länge? (Die
Sehne wird kontinuierlich kürzer.) Am Ende dieser Wanderung des Punktes C, der nun knapp bei A
liegt, frage ich: 'Wie lang ist die Sehne?' (Sie hebt sich fast nicht mehr von der Kreislinie ab und ist
vielleicht 1 cm lang.) 'Welche Richtung hat sie?' (Der Prozeß der sich verändernden
Sehnenrichtung wurde an der Tafel mit dem Geodreieck veranschaulicht.) Jetzt hat der Punkt C
den Punkt A erreicht. Obwohl die Sehne zum Punkt geworden ist, ist etwas von der Sehne erhalten
geblieben. Was ist das? 'Die Richtung' – Großartig! (Welche Richtung das ist, verdeutlichte uns das
Geodreieck an der Tafel.) Es ist die Richtung einer Geraden, die im Punkt C = A den Kreis berührt.
Wir haben ein Bild dieser gedachten Richtung gefunden – die Tangente in A. Vom Anfang unseres
Prozesses an war der Winkel α immer eingeschlossen von zwei Sehnen CA und CB. Wird die Sehne
CA am Ende unseres Prozesses zwar längelos, behält sie aber eine Richtung, so fällt die Sehne CB
mit der Sehne AB zusammen und hat somit deren Richtung. Gibt es den Winkel a noch? Wenn ja,
wo müsste er gesetzmäßig erscheinen?“ Dass der Winkel nun unterhalb der Sehne AB,
eingeschlossen von der Tangente in C = A erscheint, wurde von einigen Schülern ausgesprochen
und für die Klasse zur Gewissheit. Dies gab die entscheidende Sicherheit, dass dieser Winkel α
durch den ganzen Prozess in seiner Größe unverändert erhalten bleibt.
Denselben Prozess unterwarfen wir nun den Punkt D und somit die Sehne DA. Auch hier wurde
verfolgt, wie sich Länge und Richtung änderten. Neuerlich entstand die Einsicht – bereits erleichtert
durch den 1. Teil unserer Übung –, dass auch der Winkel α' erhalten bleibt und schlussendlich
oberhalb der Sehne AB, eingeschlossen von der Tangente, erscheint. Der nächste Schritt war nun,
dass das Bild der Richtung, der zum Punkt gewordenen Sehnen CA und DA als Tangente in der
Tafelzeichnung dargestellt werden konnte. (Dass hiermit bereits unausgesprochen Entscheidendes
für die Infinitesimalrechnung – 12. Klasse – angelegt wurde, sei nur am Rande erwähnt.)
Somit erkennen wir α und α' als Ergänzungswinkel in A.
α + α'' = 180°
Der durchgeführte Gedankenprozess in Verbindung mit der Anschauung, dass α und α' sogar in der
Extremlage Ergänzungswinkel bilden, festigt die Überzeugung, dass das Gesetz gilt:
a) Im Kreis ist die Winkelsumme gegenüberliegender Winkel eines Sehnenvierecks 180 °.
b) Im Kreis sind alle Peripheriewinkel über der selben Sehne gleich groß.
Damit wurde die an der äußeren Darstellung des Eishockeytrainings abgeleitete Vermutung zur
Gewißheit – zum Gesetz.
Am Tag darauf, nachdem wir unser Gedicht gesprochen hatten, versuchten wir gemeinsam, an
Hand dieses Gedichtes den Ablauf des gestrigen Unterrichts aufzuarbeiten, denn auch wir waren ja
„in die Tiefe der Gedanken gestiegen“. Was war unsere entscheidende Einsicht? Die Einsicht, dass
auch einer zum Punkt gewordenen Sehne eine Eigenschaft als Qualität erhalten bleibt: ihre
Richtung. Dass diese Richtung die Richtung der Tangente ist, ermöglichte uns den „Rückweg in die
Welt“ – in die Darstellung und schuf somit neue Möglichkeiten der Anschauung. Die 2. Strophe
beschreibt den Weg nach innen, den Weg in die Gedanken, die nur der Mensch hat, der deshalb eine
Krone – das Sinnbild für die Weisheit – trägt.
Bleibt er aber in seinen Gedanken verhaftet, so ist er zwar klug oder gescheit – aber ohne Bezug zur
Welt – dann kann er sein „Szepter“, das Symbol der Tatkraft – nicht halten. Wahrer König wird der
Mensch, wenn sich seine weisheitsvollen Gedanken an der Welt beweisen können, und somit ein
Wechselbezug gelingt.
Als wir den Winkel α durch das 'Umschlagen' unterhalb der Sehne AB wiederfanden, entstand zum
ersten Mal Begeisterung – hatten wir „Flügel an den Füßen“, Stolz und Erstaunen über das, was wir
gedanklich fassen konnten. Nochmals mussten wir in einen Gedankenprozess (mit dem neuen Punkt
D) einsteigen, um den 'umschlagenden' Winkel α' oberhalb der Sehne AB zu finden. Erst damit war
der „Schlussstein“ gesetzt und das „Gewölb“ fertig. Wieviel Kraft aber nötig war für diese letzte
Anstrengung – kann nur ein Anwesender beurteilen. Dieser Schlussstein! Er ist ja jener Stein, der
am allerweitesten oben zu legen ist, dafür aber hat er auch die größte Bedeutung für all dasjenige,
worauf er ruht. Erst dadurch entsteht ein Ganzes, das sich selbst trägt. Wie aber will ein Gewölbe
gebaut werden, damit es hält? Es will, die Gesetzmäßigkeiten der Natur in sich tragend, errichtet
werden, um sie damit überwinden zu können. Die Schwerkraft als solches Gesetz anzuerkennen
ermöglicht das Kunstwerk, das sie bezwingt. Der Schlussstein ist die letzte Einsicht, er sichert das
Zusammenspiel der Schwere und der Leichte. Der Mensch als König der Schöpfung hat die
Möglichkeit, die Natur in ihren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, er hat die Möglichkeit nicht gegen
sie, sondern mit ihr zu arbeiten. So gesehen ist ein Gesetz etwas Großartiges, dessen Anerkennen
dem Menschen eine Spannung zwischen dem Blick nach außen (1. Strophe) und nach innen (2.
Strophe) ermöglicht.
So entstand auch unser Gewölbe im Wechselspiel von innerer Gedankenarbeit und äußerer
Anschauung.
Das mathematische Arbeiten in Beziehung zu setzen mit einem lyrischen Werk bot für mich als
Lehrer Überraschendes und Beflügelndes – und für die Schüler? – Vielleicht erreichte die
Beschäftigung mit Grillparzers Gedicht doch zusätzliche Motivation, sodass sie bewusster an die
gedankliche Suche nach mathematischen Gesetzlichkeiten herangingen, diese Suche mit größerer
Ausdauer verfolgten und nicht bloß als belastenden Zwang erleben konnten und schließlich als
befriedigende Errungenschaft zu schätzen lernten auf dem langen Weg zu dem 'König in sich
selbst'.
Entstanden aus einer gemeinsamen Stundenvorbereitung des Mathematikunterrichts in der 9.
Klasse.
Klaus Podirsky und Dagmar Reithofer