Feuilleton. Von Nick Joyce Im Frühjahr 2015 richtete die britische Rocksängerin Polly Jean Harvey, besser bekannt als PJ Harvey, ein provisorisches Tonstudio auf dem Gelände des ehrwürdigen Somerset House im Herzen Londons ein. Ihre Absicht war es, ein neues Album vor Publikum zu erarbeiten. Mit diesem Konzept zeigte Harvey viel Mut. Erfahrungsgemäss ist die Arbeit im Aufnahmeraum mühselig. Es geht nur in kleinen Schritten voran. Mit Pannen und Patzern ist zu rechnen. Gaffer sind da in der Regel unerwünscht. Nächsten Freitag veröffentlicht Harvey die Sessions im Somerset House unter dem Titel «The Hope Six Demolition Project». Ihr neuntes Album knüpft mit seinen unfertig wirkenden Arrangements, dem dilettantisch anmutenden Zusammenspiel der Musiker und den oft grausam ausgeschmückten Songtexten über Neoimperialismus und Globalisierung beim Vorgänger «Let England Shake» (2011) an. Harveys Meisterwerk war ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam. England solle beben, forderte sie, und beben tut das Land tatsächlich. Nur nicht so, wie Harvey sich das wohl erhofft hatte: Sozialabbau, Bildungsmisere und Wiederaufrüstung stehen wie zu Zeiten von Margaret Thatcher auf der politischen Traktandenliste – als hätte David Cameron die Uhr um 30 Jahre zurückgedreht. BaZ Kompakt | Donnerstag, 14. April 2016 | Seite 22 Düster und prickelnd PJ Harveys grossartiges neues Album «The Hope Six Demolition Project» Gesammelte Feldaufnahmen Auf «The Hope Six Demolition Project» entwickelt Harvey ihre vielschichtige Protestmusik konzeptuell weiter. Über die letzten Jahre hat sie Afghanistan, Kosovo und die USA bereist und die gesammelten Eindrücke im symbolträchtigen Somerset House zu Songs verarbeitet. Das Anwesen unweit der Waterloo Bridge war zu verschiedenen Zeitpunkten Sitz der britischen Admiralität, der nationalen Steuerbehörde und des nationalen Einwohnermeldeamts. Das Haus aus dem 18. Jahrhundert war eine Machtzentrale des British Empire zu seiner Blütezeit. Trotz Harveys düsteren Songtexten ist «The Hope Six Demolition Project» prickelnd und eingängig geraten. Harvey hat ihre Folk-Songs, Rock-Nummern und Piraten-Shantys mit Intensität eingespielt: Über quakende Saxofone und schneidende Gitarren rollt sie mit mädchenhafter Gesangsstimme die Gräueltaten der neuen Weltordnung aus. Zunächst merkt man es nur Songtiteln wie «The Ministry Of Defence» oder «Dollar, Dollar» an, um was es hier geht. Mit dabei im Studioprovisorium Vielschichtige Protestmusik. Polly Jean Harvey (46) hat eine Meinung waren die Produzenten Flood und und eine Botschaft. Foto Keystone John Parish, die schon Harveys Kernwerk «To Bring You My Love» (1995) einen urchig-industriellen und doch europäisch unterkühlten Sound verliehen hatten. Sie sind die einzigen Konstanten in Harveys Schaffen, das sonst von einem pathologisch anmutenden Veränderungszwang bestimmt scheint. Über die letzten 25 Jahre hat sie sich in Genres wie Blues, Grunge, Industrial, Dance und Sixties-Pop versucht. Spannend waren diese Verrenkungen immer, aber nicht immer überzeugend. Aus Harveys Kanon ragen «To Bring You My Love», «Let England Shake» und jetzt «The Hope Six Demolition Project» heraus. Bei diesen drei Alben schien Harvey das Endergebnis wichtiger als der Prozess. Auf der stilistischen Durchreise hatte Harveys Musik oft einen touristischen Anstrich. Genau das wird ihr aktuell angelastet. Scheisshäuser und Zombies Im Eröffnungsstück «The Community Of Hope» beschreibt sie Ward 7, einen Stadtteil von Washington, als soziale Kriegszone, wo die Schulen wie Scheisshäuser aussähen und zugedröhnte Zombies herumliefen. Nicht einmal die grossen Supermarktketten liessen sich dort nieder. Lokalpolitiker und Sozialarbeiter aus Ward 7 behaupten jetzt, Harvey würde ihr Quartier kaputtsingen: Man tue viel dafür, das Leben der Einwohner erträglicher zu gestalten. Erstaunlich an dieser Geschichte ist, dass Harveys Kritiker «The Community Of Hope» überhaupt gehört haben. So bekannt ist Harvey nicht, dass man ohne Eigeninitiative auf ihre Musik stösst, geschweige denn auf ihre neuste Single. Hinter Harvey steht aber eine geölte PR-Maschine, heisst ihr Manager doch Paul McGuinness, der sich bis 2013 um die Geschicke von U2 kümmerte. Man würde es dem irischen Macher durchaus zutrauen, die lokale Empörung um «The Community Of Hope» angefeuert zu haben. Aber das hat er, wenn überhaupt, wohl ohne Harveys Wissen getan. Zu viel Hype verträgt die Klientin nicht. Wird Harvey der Rummel um ihre Musik zu gross und das Interesse an ihrer Person zu stark, zieht sie sich schnell zurück. Harvey tut immer nur das Minimum, um sich im öffentlichen Bewusstsein zu halten. 2016 gibt sie kaum Interviews, ihr Konzertpensum ist auf wenige Festivalauftritte beschränkt. Auch liess sie nach den ersten Sessions im Somerset House einen Einwegspiegel zwischen sich und den Zuschauern einbauen, um sich vor den Blicken der Gaffer schützen zu können. PJ Harvey, «The Hope Six Demolition Project», Island/Universal.
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