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Wissenschaft und Fortbildung
Computerunterstützte, virtuell
geplante orthognathe Chirurgie
Fallbericht einer präoperativen Planung und operativen Umsetzung mit CAD/CAM
Ein Beitrag von Dr. Dr. Tilo Schlittenbauer und Dr. Andreas Detterbeck, Erlangen
Die orthognathe Chirurgie mit Osteotomie und Repositionierung des Ober- beziehungsweise Unterkiefers dient zur Korrektur von Fehlbildungen des
knöchernen Gesichtsschädels und dentaler Okklusionsstörungen. Für gewöhnlich wird dabei eine
kephalometrische Analyse zur Auswertung, Behandlungsplanung und Evaluation der Ergebnisse herangezogen. Diese zweidimensionale Auswertung ist
jedoch in der Analyse von dreidimensionalen komplexen Strukturen limitiert [1]. Daher wurde die
CAD/CAM (computer-aided design/manufacturing)Technologie eingeführt, um die Präzision der präoperativen Planung zu verbessern [2-7].
Fallbericht
Präoperative Planung
Ein 20-jähriger Patient stellte sich mit einer Dysgnathie des progenen Formenkreises nach kieferorthopädischer Vorbehandlung in der Zahnklinik 3 – Kieferorthopädie des Universitätsklinikums Erlangen in unserer Klinik vor. Zur exakten virtuellen Durchführung
der Umstellungsosteotomie wird ein Gesichtsschädel-CT (Schichtdicke 1,0 mm) angefertigt (Abb. 1).
Die 3-D-Simulation erfolgt mithilfe des Softwareprogramms Trumatch (Materialise, Leuven, Belgien).
Die vom Patienten genommenen Ober- und Unterkiefergipsmodelle werden digitalisiert und mit den
CT-Daten überlagert, um eventuelle Ungenauigkeiten in der Darstellung der Zähne im CT-Scan auszugleichen. Zur oberflächenbasierten okklusalen
Abtastung der Gipsmodelle wird ein 3-D-Weißlicht-
Abb. 1: Präoperative Bildgebung (CT)
scanner eingesetzt. Die digitalisierten Daten stehen
nun dem Konstrukteur, dem Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen sowie dem Kieferorthopäden mittels
eines Web-Meetings gleichzeitig zur Verfügung. Die
weitere Therapieplanung kann so direkt digital
vorgenommen werden. Zunächst wird der Schädel
in der dreidimensionalen Darstellung positioniert
und eine Mittellinie definiert (Abb. 2). Anschließend
erfolgt das Anzeichnen der Osteotomielinie im Oberkiefer (Abb. 3) mit der virtuellen Erzeugung eines
Cutting-Guides (Abb. 4) sowie der virtuellen dreidimensionalen Neupositionierung des Oberkiefers
(Abb. 5) nach interdisziplinärer Planung.
Der Zwischensplint kann nun nach Einblenden des
Unterkiefers korrekt zur neuen Oberkieferposition
orientiert geplant werden (Abb. 6 und 7). Anschließend wird der Unterkiefer virtuell nach hinten verschoben und in der neuen Lage okklusal dem Oberkiefer angepasst (Abb. 8 und 9). Der Operateur hat
so die Möglichkeit, die vestibuläre Osteotomielinie
festzulegen und mittels eines Cutting-Guides intraoperativ umzusetzen (Abb. 10). Die neue maxillomandibuläre Position wird virtuell durch einen
Endsplint (Abb. 11) fixiert. Am Ende ist es möglich,
die neue knöcherne und weichteilige Simulation
zu betrachten (Abb. 12).
Operative Umsetzung
Enoral erfolgt die Schnittführung von der Crista
zygomaticoalveolaris zur Gegenseite und die Präparation zur Darstellung des unteren Mittelgesichtes
Abb. 2: 3-D-Simulation der CT-Daten mit angezeichneter Mittellinie
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Abb. 3: Einzeichnen der Osteotomielinie
Abb. 4: Cutting-Guide für den Oberkiefer
Abb. 5: Neupositionierung des Oberkiefers
Abb. 6: Planung des Zwischensplints
Abb. 7: CAD/CAM-gefertigter Zwischensplint
Abb. 8: Planung der vestibulären Osteotomielinie
Abb. 9: Anpassung des Unterkiefers an den Oberkiefer
Abb. 10: Cutting-Guide für den Unterkiefer
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Abb. 11: CAD/CAM-gefertigter Endsplint
Abb. 12: 3-D-Darstellung der finalen Therapieplanung
Abb. 13: Cutting-Guide im Oberkiefer
Abb. 14: Zwischensplint
streng subperiostal. Es folgt die Lösung des Nasenschlauches. Nach Einprobe des Cutting-Guides
wird dieser bei guter Passung mit Schrauben befestigt (Abb. 13). Im Gegensatz zum konventionellen Vorgehen erfolgen die Ausmessungen bereits
virtuell und müssen nun klinisch nicht mehr vorgenommen werden. Es kann direkt begonnen werden, am Cutting-Guide zu osteotomieren. Die LeFort-I-Osteotomie wird mit den üblichen Schritten
vervollständigt.
Nach Mobilisation des Oberkiefers wird der virtuell geplante, CAD/CAM-gefertigte Zwischensplint
eingesetzt. Die intermaxilläre Fixierung (IMF) erfolgt über Stahldrähte, die die festsitzende kieferorthopädische Apparatur beider Kiefer verbinden.
Sie fixiert den Oberkiefer über den Zwischensplint
in seiner neuen Position am Unterkiefer. Der Oberkiefer wird über CAD/CAM-gefertigte Miniosteosyntheseplatten (Synthes) am Mittelgesicht fixiert
(Abb. 14). Anschließend wird die IMF gelöst und
es erfolgen die Schnittführung und strenge subperiostale Präparation am aufsteigenden Ast bis zur
Regio 46. Der Unterkieferrand muss komplett vom
Weichgewebe abgelöst werden. Es folgt das Einsetzen des Cutting-Guides, der am Unterkiefer durch
die Zahnreihen, den Unterrand der Mandibula
und eine Osteosyntheseschraube fixiert wird. Die
vorgesehene Rinne dient als Osteotomielineal, al-
lerdings nur im vestibulären Anteil des Unterkiefers (Abb. 15). Der Rest der sagittalen Osteotomie
muss – wie bisher – frei durchgeführt werden.
Nach Mobilisation des Unterkiefers wird der CAD/
CAM-gefertigte Endsplint ebenfalls über eine IMF
zwischen den Zahnreihen eingebunden. Dadurch
kommt die Mandibula in die angestrebte neue
Endposition. Mittels CAD/CAM-gefertigten Osteosyntheseplatten werden die Unterkieferanteile neu
fixiert (Abb. 16). Anschließend wird die IMF gelöst. Der Wundverschluss erfolgt mit 4,0 Vicryl in
Einzelknopftechnik. Die postoperative Bildgebung
belegt eine gute neue Positionierung und Verzahnung (Abb. 17, vgl. Abb. 1).
Diskussion
Die virtuelle 3-D-Planung erleichtert die Behandlungsplanung an den komplexen knöchernen fazialen Strukturen und ergänzt die konventionelle
Planung um die transversale Ebene. Zur präoperativen Planung wurde im vorliegenden Fall die virtuelle Chirurgie anstelle einer Modell-OP angewandt,
um den Behandlungsplan exakt am Computer zu
simulieren. Die zweidimensionale kephalometrische
Analyse und Planung sind vor allem bei Patienten
mit Gesichtsasymmetrien limitiert. Konsequenterweise sollte zur chirurgischen Simulation immer
der behandelnde Kieferorthopäde bei dem Web-
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Abb. 16: CAD/CAM-gefertigte Osteosyntheseplatten im Unterkiefer
Abb. 15: Cutting-Guide im Unterkiefer
Abb. 18:
CAD/CAM-gefertigte
Osteosyntheseplatten
Abb. 17:
Postoperative Bildgebung (DVT)
Meeting anwesend oder zugeschaltet sein, da er die
kephalometrische Analyse vornimmt und die erforderliche Kenntnis über die präoperative kieferorthopädische Behandlung hat.
In der Literatur gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, die den positiven Effekt der virtuell geplanten
orthognathen Chirurgie belegen. Hsu et al. zeigten
in einer Multicenterstudie mit 65 Patienten, dass
die Planung durch eine computerunterstützte chirurgische Simulation exakt und vor allem beständig intraoperativ umgesetzt werden kann [8]. Eine
andere Arbeitsgruppe [9] sieht weitere Vorteile der
3-D-Planung. Sie ermöglicht dem Chirurgen, Asymmetrien des Knochens und der Weichteile zu erkennen. Weiterhin können alle Informationen in Computerdateien gespeichert und dadurch online verwaltet werden. Die Reproduzierbarkeit und Ortsunabhängigkeit der Behandlungsplanung sind
dadurch gegeben. Die Sicherheit der Patientendaten muss aber gewährleistet sein und aktuellen
Anforderungen genügen, was durch den Anbieter
derartiger Systeme sichergestellt werden sollte [10].
Die Autoren sehen zukünftig die Möglichkeit, ganz
auf Gipsmodelle zu verzichten, wenn intraorale
Scanner technisch den Ersatz übernehmen können
[9]. Es gibt Hoffnung, dass langfristig auf eine ionisierende Bildgebung verzichtet werden kann, sofern
das diskutierte Potenzial der dentalen MRT-Aufnahmen zukünftig genutzt werden kann [11,12].
Im vorliegenden Fall konnte die 3-D-Planung, die in
enger interdisziplinärer Absprache mit der Zahnklinik 3 – Kieferorthopädie und der Klinik für Mund-,
Kiefer- und Gesichtschirurgie erfolgte, problemlos
intraoperativ umgesetzt werden. Nach Einschätzung
des Operateurs sind der Cutting-Guide zur Osteotomie des Oberkiefers einerseits und die CAD/CAMgefertigten Osteosyntheseplatten (Abb. 18) andererseits intraoperativ eine große Erleichterung, da derartige Hilfsmittel zu einer Verkürzung des operativen
Eingriffs führen und Biegemaßnahmen an den Osteosyntheseplatten unnötig werden lassen.
Die Zusatzkosten für die virtuell geplante orthognathe Chirurgie mit CAD/CAM-gefertigten Komponenten werden bislang nicht von den Krankenkassen übernommen. Bei komplexen Fällen mit
ausgeprägten Fehlbildungen und Asymmetrien
bietet diese Vorgehensweise dem Chirurgen eine
hohe Planungssicherheit und bedeutende Hilfestellung und dem Patienten eine kürzere operative
Intervention.
Korrespondenzadresse:
Dr. Dr. Tilo Schlittenbauer
Universitätsklinikum Erlangen
Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgische Klinik
Glückstraße 11, 91054 Erlangen
[email protected]
Literatur bei den Verfassern
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