20 Zürich Tages-Anzeiger – Dienstag, 12. April 2016 Zürich ist frei von Ambrosia «Wir wollen keine Schlaumeiereien unterstützen, aber die Welt ist nun einmal nicht gerecht»: PWG-Stiftungsratspräsident Ueli Keller in der Café-Bar Plüsch. Foto: Tom Kawara Fairer Wohnen mit Ueli Keller Die Stiftung PWG vermietet in Zürich 1600 Wohnungen zu anständigen Preisen. Ihr Präsident Ueli Keller ist der fleischgewordene Stiftungsgedanke. Thomas Widmer Zürich, Aemtlerstrasse, in der Café-Bar Plüsch herrscht an diesem Montagmorgen Betrieb. Hinter der Theke stehen zwei junge Leute und bereiten zu, was verlangt wird. Kennen sie den Mann, der in der Ecke sitzt: grauhaarig, runde Brille, schlank, Typus asketischer Velofahrer? «Nein, wer ist das?» «Euer Vermieter», möchte man antworten, lässt es bleiben und setzt sich zu Ueli Keller in die Ecke. Die Stiftung PWG ist zwar nicht die grösste, aber doch eine der grossen Anbieterinnen günstigen Wohnraums in Zürich; auch das Haus mit dem Plüsch im Erdgeschoss gehört ihr. Keller, 62-jährig, vormals sozialdemokratischer Gemeinderat und Kantonsrat, ist der PWG-Präsident. Das Kürzel PWG klingt unsinnlich; wer nicht nach einer Wohnung lechzt, kennt es nicht oder kann es nicht behalten. Der volle Name lautet: «Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohnund Gewerberäumen der Stadt Zürich». 134 Liegenschaften mit gut 1600 Wohnungen und 300 Gewerberäumen: so weit das PWG-Portefeuille gemäss Keller. 16 Vollzeitstellen braucht es, dieses zu verwalten; zu renovieren und neu zu bauen; den Markt zu beobachten und Neukäufe zu tätigen. Und jetzt muss der Journalist gleich die Frage platzieren, die ihm unter den Nägeln brennt, obwohl er glücklich wohnt und keinen Veränderungswunsch spürt: «Hätte ich eine Chance, in einer Ihrer Wohnungen unterzukommen, Herr Keller?» «Wie viel verdienen Sie», sagt Keller. Man verrät es ihm, und er reagiert: «Hm, Tagi-Journalisten verdienen nicht schlecht.» Was er nachschiebt, klingt widersprüchlich: «Abgesehen von den Wohnungen, die die Stadt mitfinanziert, gibt es bei uns keine Einkommensbeschränkung. Aber das Einkommen spielt trotzdem eine Rolle.» Er führt das gleich aus: Bei gleichwertigen Bewerbungen sei klar, dass der mit 75 000 Franken Einkommen die Wohnung bekomme und nicht der mit 200 000. Der Journalist erzählt daraufhin von zwei Leuten, beide Akademiker, die in der Verwaltung arbeiten, zu gewollt tiefen Teilzeitpensen. Um mehr vom Leben zu haben, wie sie sagen. Das Paar wohnt günstig in einer Genossenschaftssied- lung. Fördert seine Stiftung nicht die Profiteure bei allem Guten, das sie tut? «Wer nicht so viel arbeitet, hat dafür Zeit für andere Arten von zivilgesellschaftlichem Engagement», sagt Keller. Und er sagt: «Wir wollen keine Schlaumeiereien unterstützen. Aber die Welt ist nun einmal nicht gerecht.» Wie ist das, wenn jemand eine PWGWohnung bekam, als er schlecht verdiente; inzwischen aber garniert er einen grossen Lohn und könnte auch anderswo wohnen. Sind solche Leute nicht unbefriedigende Mieter? Keller bleibt gelassen, der Journalist empfindet sein Lächeln als buddhistisch: «Wir sehen nicht ins Steuerregister, können nicht kontrollieren, wie sich ein Einkommen über die Jahre verändert. Wir wollen keinen Zoo betreiben. Unsere Mieterschaft ist ein Abbild der realen Gesellschaft.» Wie viele Mieter hat die PWG, die auch ohne PWG zurechtkämen? «Wir führen keine Statistiken. Sie wären mietrechtlich ohnehin bedeutungslos. Und Sie müssen sehen: Es gibt keine absolute Gerechtigkeit.» 50 Start-Millionen von der Stadt Zeit, das Thema zu wechseln – und kurz die Vorgeschichte zu rekapitulieren. Am Anfang stand 1985 eine Volksinitiative, die eine solche Stiftung wollte. Das Stadtzürcher Stimmvolk sagte Ja, worauf die Stadt 50 Millionen bereitstellte. 1990 konnte die PWG loslegen. Sie wirtschaftet offenbar mit Erfolg, denn das Eigenkapital ist seither auf 140 Millionen gestiegen. Dazu kommen 400 Millionen Darlehen von den Banken. Letztes Jahr schrieb man 6 Millionen Gewinn, er fliesst in neue Liegenschaften. Prestige- und grösstes Einzelobjekt ist der Viadukt, eine Serie von Ladenlokalen und Ateliers im ehemaligen Eisenbahnviadukt im Kreis fünf. Die Stiftung hat die Gewerberäume für 30 Jahre von den SBB übernommen, hat entwickelt und gebaut; der Versicherungswert beträgt stattliche 39 Millionen Franken. Ueli Keller machte damals im Abstimmungskampf um die Gründung der Wohnstiftung aktiv mit; nicht zuletzt deshalb, weil seine Partei sich seiner Meinung nach zu wenig für das Anliegen einsetzte. Schon zuvor hatten es ihm Hausgenossenschaften angetan; er wohnte selber in solchen Genossen- schaften. Günstiges, spekulationsfreies Wohnen entwickelte sich im Laufe der Zeit zu so etwas wie seinem Lebensthema. Dazu passt sein Beruf, er ist Architekt, hat an der ETH studiert. Heute hat Keller mit einem Partner ein Büro. Aber nur selten zeichnet er noch für Kunden Pläne; in erster Linie ist er in Körperschaften aktiv, die sich auf die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus spezialisiert haben. Selber wohnt er nicht in einer PWGWohnung. Sondern in der Wohnung einer Anlagestiftung in Zürich-Unterstrass. Den Standard der PWG geniesse er da nicht, sagt er; Hypozinssenkungen würden nicht automatisch weitergegeben, und die Nebenkostenabrechnungen wirkten «ein bisschen willkürlich». Reklamiert er dann? Ja. «Aber Meriten holt man sich damit nicht.» Die PWG als faire Vermieterin, das ist Keller wichtig; Fairness ist überhaupt das Schlüsselwort, wenn man mit ihm redet. Er sieht seine Stiftung als Kraft des Guten, die in Zürich mithelfen kann, Häuserspekulation einzuschränken. In Massen, sehr in Massen, wie er betont. Weniger als zehn Prozent der PWGWohnungen wechseln pro Jahr die Hand, durch das Jahr kommt es so zu ungefähr 100 Neuvermietungen. Man muss an dieser Stelle gleich wieder auf das Gerechtigkeitsthema kommen. Was tut die PWG, wenn jemand zu viel Wohnraum belegt? «Wenn wir davon erfahren, versuchen wir, eine angemessene Lösung zu finden. Zwang ausüben können und wollen wir nicht», sagt Keller. Die PWG verfügt über ein Anlagevermögen von etwas mehr als 600 Millionen Franken. Ihrer Finanzkraft zum Trotz tut sie sich nicht leicht beim Kauf von Häusern. Die Stadt unterstützt sie zwar seit 2010 mit einem Betrag zum Erwerb geeigneter Liegenschaften. Letztes Jahr war aber das Problem, dass nicht genügend solche Liegenschaften zum Kauf standen. 3 Millionen Franken hätte die PWG von der Stadt haben können, nur gerade 1,85 Millionen bezog sie. Auf dem Häusermarkt in Zürich ist wenig los. Wer ein Haus besitzt, wird es zurzeit kaum verkaufen wollen. Würde er das tun, müsste er das frei werdende Geld anlegen. Das ist mühsam, weil er darauf kaum Zinsen bekommt, wenn nicht gar Negativzinsen fällig werden. Allergiker können aufatmen. Das Aufrechte Traubenkraut (Ambrosia artemisiifolia) ist gemäss Baudirektion im Kanton Zürich fast verschwunden. 2006 hatte die Regierung beschlossen, die Ausbreitung der Ambrosia zu stoppen. Massnahmen in der Landwirtschaft und in Siedlungen haben Erfolg gebracht. «Wir haben die Ambrosia im Griff, den Leuten in Orange gebührt ein grosses Lob», sagt Daniel Fischer, Sektionsleiter Biosicherheit in der Baudirektion. Die Schulung der Unterhaltsdienste von Kanton, Gemeinden und SBB hat die Verbreitung der Ambrosia verhindert, erklärt Fischer. Verseuchte Felder kultivieren die Landwirte laut Fischer so, dass keine neuen Samen mehr entstehen. Sie überleben bis 40 Jahre im Boden. Das gelte es zu beachten, um die Pflanze langfristig im Griff zu haben. Eine neue Herausforderung sei die Bekämpfung des Riesenbärenklaus (Heracleum mantegazzianum) und des Schmalblättrigen Greiskrautes (Senecio inaequidens), erklärt Fischer. Berührt der Riesenbärenklau die Haut, bilden sich bei Sonnenlicht Blasen. Das Schmalblättrige Greiskraut erinnert an eine gelbe Margrite, harmlos ist sie aber nicht. Der Genuss kann bei Mensch und Tier zu Leberschäden führen. Diese invasiven Neophyten gelte es früh zu bekämpfen. Fischer zufolge ist der Peak beim Riesenbärenklau erreicht, die Bestände nehmen ab. Schwieriger ist die Bekämpfung des Greiskrautes. Es verbreite sich an Autobahnen und Schienen. Bislang finde sich das Greiskraut erst auf 0,1 Prozent der möglichen Ausbreitungsfläche. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Strassen, den SBB und den Bauämtern sei gut, die Kosten aber immens, führt Fischer aus. ( jul) Die 165 Dadaisten (68) Marcel Duchamp Ueli Keller rechnet vor, wie es mit dem Kaufen konkret aussieht: Pro Jahr kommt es in Zürich zu 1000 bis 2000 Handänderungen. Die Hälfte davon vollzieht sich abseits des Marktes, zum Beispiel, wenn jemand stirbt und die Kinder das Haus erben. Bleiben 500 bis 1000 Häuser, die einen neuen Besitzer suchen. Kein Interessent überschaut das ganze Angebot, die PWG erfährt von etwa 100 dieser Häuser. Die PWG-Leute schauen rund 40 Häuser an. Sie machen ein Angebot, wenn eine preisgünstige Vermietung möglich ist. Stiftung wird häufig überboten Oft bieten andere mehr. Am meisten kann zahlen, wer ein Haus, wie Keller sagt, «in Stockwerkeigentum zerhackt»; das verspricht am meisten Gewinn. Handkehrum kann es doch vorkommen, dass die PWG den Zuschlag erhält, weil der bisherige Besitzer die Idee mag, dass seine Liegenschaft an jemanden geht, der nicht nur nach Profit giert. Letztes Jahr konnte Kellers Stiftung drei Häuser kaufen. Ein Jahr zuvor waren es fünf. Die Zahl schwankt von Jahr zu Jahr, ist aber nie sonderlich hoch. Wie geht es weiter? Keller verweist auf die städtische Gemeindeordnung, in der seit 2011 folgendes Ziel definiert ist: Heute gibt es in Zürich ein Viertel Wohnraum nach Kostenmiete, der Anteil soll auf ein Drittel steigen. Kostenmiete heisst vereinfacht, dass der Vermieter dem Mieter seine Kosten weitergibt, aber keinen Gewinn machen will. Aber ist das Gemeindeordnungsziel realistisch, wenn der Markt doch kaum geeignete Wohnungen hergibt? Pro Jahr müssten 400 Wohnungen nach dem Prinzip der Kostenmiete neu auf den Markt kommen, sagt Ueli Keller. Derzeit seien es 50. Sein Schlusssatz, mit Langmut gesprochen: «Wir arbeiten dran.» Zürcher Begegnungen (6) Ueli Keller Ueli Keller, Jahrgang 1954, wuchs in ZürichLeimbach auf, studierte an der ETH Architektur und ist SP-Mitglied. Seit 1994 sitzt er im Stiftungsrat der Stiftung PWG, deren Präsident er mittlerweile ist. Er ist Vater zweier erwachsener Töchter und, wie er sagt, «glücklich liiert». Es war 1913, als Marcel Duchamp ein Velorad samt Gabel auf ein Tabourettli stellte, seine Unterschrift dazusetzte und behauptete: «Das ist Kunst.» Sein erstes Readymade war entstanden. Und ein Grundgedanke des Dadaismus umgesetzt. Duchamp charakterisierte diese Kunstform mit den Worten: «Kein vom Künstler geschaffenes, sondern von ihm ohne jedes ästhetische Vorurteil ausgesuchtes (und darin vom Objet trouvé verschiedenes) Alltagsobjekt.» Ein Jahr später machte er aus einem simplen Flaschentrockner Kunst, danach aus einem Pissoirbecken. Natürlich führte das zu einem Kunstskandal. Wie eine Faust aufs Auge passt dazu das, was der vor allem in Paris und New York lebende Duchamp in seinem bürgerlichen Leben war: Bibliotheksassistent in Paris. Der 1887 geborene Duchamp gilt als Wegbereiter des Dadaismus und als Gründer der Konzeptkunst. Er starb 1968 nach einem fröhlichen Abend, an dem auch Man Ray anwesend war, in Neuilly-surSeine. Er hatte testamentarisch festgehalten, dass es keine Trauerfeier geben soll – und was auf seinem Grabstein zu stehen habe: «D’ailleurs c’est toujours les autres qui meurent.» (net) Zitieren wir den Direktor des Cabaret Voltaire: «Ich glaube, ihr seid analog und digital etwas verschoben.» Recht hat er. Statt gestern in der Zeitung gibt es den Dada-Kopf Nr. 67 exklusiv online unter dada100.tagesanzeiger.ch
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