In Europa ist Kampfzeit! - Jeder hat das Recht, seine Meinung in

Martin Schulz: „In Europa ist Kampfzeit!“
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Mar n Schulz: „In Europa ist Kampfzeit!“
„Scheitert Europa?“ Das war die große Frage beim Forum anlässlich des Karlspreises
im Aachener Rathaus. Die klare Antwort lautete „Nein“.
VON CHRISTINA MERKELBACH
Aachen. Ein paar Minuten mussten sich die vier Studenten an ihrem Stehtisch im Weißen Saal des
Aachener Rathauses gedulden. Vor der Veranstaltung sollten sie kurz mit Martin Schulz
zusammentreffen. „Einen Moment bitte, bin gleich da“, sagte der EU-Parlamentspräsident, als er kurz zur
Türe hereinschaute. Hinter ihm standen eine paar der Vizepräsidenten, die sich eine kleine Führung
durch das Rathaus wünschten. Wenig später schüttelte der amtierende Karlspreisträger Viktoria Süß,
Lucia Walter, Felix Kampel und Malte Wirthmüller dann die Hand.
Bevor die vier den SPD-Politiker am Donnerstagabend vor über 800 Gästen im Krönungssaal zu Europa
befragen konnten, beantwortete er die Frage „Scheitert Europa?“ schon einmal mit einem klaren „Nein“.
Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Europa glaube an das europäische Projekt, sagte Schulz.
„Diejenigen verstehen, dass man auf globale Herausforderungen nicht national reagieren kann.“ Als
Beispiel für eine solche Herausforderung nannte er Steuervermeidung und Geldwäsche – aktuell im
öffentlichen Bewusstsein durch die „Panama Papiere“. „Wir brauchen eine gemeinsame europäische
Steuerpolitik. Das Land, in dem der Gewinn erzielt wird, muss auch das Land sein, in dem die Steuern
bezahlt werden“, sagte Schulz. Mehrmals unterbrach ihn kräftiger Applaus.
Er sehe die Pro-Europäer in der Mehrheit. Leider seien sie im Gegensatz zu den EU-Gegnern aber bislang
sehr passiv. Das Ergebnis der Abstimmung in den Niederlanden sei ein Weckruf an alle, die Europa
retten wollen. „Gefahr ist im Anmarsch. In Europa ist Kampfzeit!“ Selten sei ihm ein solcher Zynismus
begegnet wie in der Flüchtlingskrise. „Es ist eine Krise, die wir selbst produzieren, weil nur ein Bruchteil
von 28 Mitgliedsstaaten Flüchtlinge aufnimmt.“ Die Regierungschefs der Länder, die sich verweigerten,
beklagten ein mangelndes Management. Dieses wiederum sei aber genau jener Verweigerungshaltung
geschuldet. „Nach den Kriterien für ein gemeinsames europäisches Flüchtlingsmanagement müsste
beispielsweise Ungarn nur 1290 Flüchtlinge aufnehmen, das muss doch zu verkraften sein.“
Zu Ungarn und seinem Ministerpräsidenten Viktor Orbán äußerte sich Schulz im Gespräch mit Bernd
Mathieu, Chefredakteur unserer Zeitung und Moderator der Veranstaltung. „Viktor Orbán ist ein
hochintelligenter und nachdenklicher Mann. Ich kenne ihn seit vielen Jahren und glaube, dass er vor
allem eine ideologische Neuausrichtung will. Deshalb ist er auch derjenige unter den Nationalisten, mit
dem wir uns am stärksten auseinandersetzen müssen“, sagte Schulz.
Neben den Nationalisten, die in vielen Mitgliedsstaaten erstarkten, gebe es aber auch Regierungschefs,
die Kampfesmut für die europäische Sache beweisen. So sei es die erste Amtshandlung des neuen
portugiesischen Premierministers António Costa gewesen, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen. „Diese
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Bereitschaft hat auch eine ganze Reihe von Ministerpräsidenten anderer kleiner EU-Länder gezeigt,
darunter Belgien und die Niederlande.“
„Wenn Sie heute Abend an die EU denken, wie geht es Ihnen dann?“, wollte FH-Studentin Viktoria Süß
schließlich auf dem Podium von Martin Schulz wissen. Die EU sei in keinem guten Zustand, deswegen
sei er durchaus besorgt, lasse sich aber nicht runterziehen, sagte Schulz.
TH-Student Malte Wirthmüller fragte, ob das Europäische Parlament angesichts der vielen derzeitigen
Probleme nicht eher ohnmächtig als mächtig sei. „Wir sind als Parlament der Ort, an dem am
sichtbarsten und kontroversesten diskutiert wird“, sagte Schulz. Allein in den vergangenen 15 Monaten
seien dort viele lebhafte Debatten geführt worden, etwa mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis
Tsipras, Viktor Orbán oder jüngst mit der polnischen Regierungschefin Beata Szydlo. Zudem handele es
sich beim Parlament um den Hauptgesetzgeber der EU. In der kommenden Woche werde das Parlament
etwa eine neue Datenschutzrichtlinie und eine neue Waffenrichtlinie verabschieden. Auch über eine
mögliche Visa-Freiheit für türkische Bürger im Rahmen des Flüchtlingspakts würde das EU-Parlament
entscheiden.
Allerdings gebe er zu, dass die Arbeit schwerer geworden sei angesichts dessen, dass von den 751
Abgeordneten inzwischen fast 100 rechtsextremen oder rechtspopulistischen Parteien angehörten. „Diese
Rechten testen jeden Tag, wie weit sie gehen können“, sagte Schulz. Als er im März Eleftherios
Synadinos, den Abgeordneten der rechtsextremen griechischen Partei „Goldene Morgenröte“, wegen
rassistischer Äußerungen über Türken aus dem Saal geworfen habe, habe er klare Grenzen gesetzt. Es
könne nicht angehen, dass Abgeordnete sich derart äußerten. Als erschreckendstes Beispiel nannte
Schulz die Äußerung eines polnischen Politikers, als das Bild des dreijährigen Flüchtlings Aylan um die
Welt ging, der im Mittelmeer ertrank und in Bodrum ans Ufer gespült wurde: „Wie lange wollen wir
noch zulassen, dass dieser Abschaum bei uns angespült wird?“ Schulz erinnerte auch an die Äußerungen
der Parlamentarierin und AfD-Vize Beatrix von Storch zum Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge.
„Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen!“
Auf Nachfrage der Studenten, wie man denn nun mit den Rechten umgehen solle, erklärte Schulz sein
Verständnis für alle, die derzeit von Europa enttäuscht seien. „Europa gibt Versprechen, die es nicht
hält.“ Damit die Menschen sich nicht den rechten Parteien anschließen, müsse die EU glaubhaft
vermitteln, dass sie ein Interesse am Schicksal der Bürger hat. Nur so könnten die Politiker auf
Verständnis für Maßnahmen hoffen, die zwar notwendig, aber auch schmerzhaft oder unbequem seien.
„Wenn ich in einem Land die Steuern erhöhe, dann muss den Menschen auch klar sein, wozu das gut ist.
Liegt aber die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent, obwohl die Steuern extrem hoch sind, lässt sich das
nicht nachvollziehen.“
Nachvollziehbare Zukun sängste
TH-Student Felix Kampel stellte die Frage, wie die EU junge Wähler für sich gewinnen wolle. Handele es
sich am Ende um ein Bildungsproblem, dass die EU-Gegner auch bei jungen Wählern viel Zulauf haben?
Schulz verneinte das. „Bei vielen gibt es Zukunftsängste, die auch nachvollziehbar sind. Sie bieten
Nährstoff für die Wahlurne.“ Zudem seien junge Menschen oft auf sich allein gestellt, nur noch selten
gebe es die sicheren Strukturen einer Großfamilie, wie sie Schulz selbst noch in seiner Heimatstadt
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Würselen kennengelernt hat. „Dieses Problem ist nicht eindimensional zu lösen. Aber ich behaupte, dass
man die Billion, die dem Fiskus durch Steuerhinterziehung entgeht, gut in Jugendarbeit, Betreuung und
Integration stecken könnte.“
Lucia Walter hakte nach, ob man überhaupt etwas gegen Politikverdrossenheit tun könne „Ich glaube
nicht, dass es das ist, was wir gerade erleben. Es ist eher Unzufriedenheit mit den politischen Strukturen,
nicht mangelndes Interesse“, antwortete Schulz. 150 Millionen Mal sei das Video im Internet geklickt
worden, dass den Rauswurf von Synadinos zeigt. Hauptsächlich gesehen hätten es Unter-30-Jährige, es
in den Sozialen Netzwerken geteilt und positiv kommentiert.
Das Stichwort für Viktoria Süß, die wissen wollte, wie es mit einer gemeinsamen medialen
Öffentlichkeitsstrategie der EU aussehe. Müsse man dabei nicht offensiver vorgehen? Schulz stimmte zu,
verwies aber auch darauf, dass es sehr schwierig sei, die Strukturen der EU zu erklären. „Dieses
Patchworksystem durchblickt doch keiner.“ Wie vieles, was Martin Schulz an diesem Abend sagte,
quittierten die Besucher auch das mit zustimmendem Lachen. Ob das ähnlich ist, wenn der Präsident des
EU-Parlaments in Brüssel spricht, können die vier Studenten aus Aachen demnächst selbst erfahren.
Martin Schulz hat sie zu sich eingeladen.
Manfred Lütz: Die EU braucht eine Paartherapie
Was hat Papst Franziskus für Europa getan, dass man ihm dem Karlspreis verleiht? Für Manfred Lütz,
Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses Köln-Porz, Theologe und Bestseller-Autor, ist es vor allem die
Außenperspektive des Papstes, von der Europa profitiert. „In seiner Rede vor dem Parlament hat er
angesprochen, wie müde die EU geworden ist“, erklärte Lütz am Donnerstagabend beim KarlspreisForum. Zudem sei es dem Papst in kürzester Zeit gelungen, zahlreiche Menschen wieder für die Kirche
zu interessieren. „Daran kann die EU sich ein Beispiel nehmen.“
Dass es sich beim Papst um einen würdigen Karlspreisträger handelt, stellten weder Manfred Lütz noch
Martin Schulz infrage. Zum geplanten „Streitgespräch“ wurde ihr Treffen auf dem Podium, als der
Psychiater der EU empfahl, Grundsätze aus der Paartherapie zu beherzigen. Mit Blick auf die von Schulz
in seinem Vortrag ausgerufene „Kampfzeit in Europa“ sagte Lütz: „Vielleicht ist eher die Zeit,
miteinander zu reden.“ In der Auseinandersetzung mit den osteuropäischen Staaten wünschte er sich
mehr Verständnis für deren aufblühenden Nationalismus. „In Osteuropa hat der Kommunismus den
Nationalismus unterdrückt, das wird nun nachgeholt.“
Auch habe beispielsweise Ungarn über Jahrhunderte gegen Muslime gekämpft. Dies heiße nicht, dass
Kritik unangemessen sei. Aber die Art, wie sie kommuniziert werde, gehöre auf den Prüfstand.
„Man kann auf globale Herausforderungen nicht national reagieren.“
Martin Schulz,
Präsident des EU-Parlaments
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09.04.2016 / Aachener Nachrichten - Stadtausgabe / Seite 3 / Die Seite Drei [//epaper.zeitungsverlagaachen.de/2.0/#/read/an-a1/20160409?page=2&article=390490329]
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