THOMAS ANDREY HIRTH Märzgewitter sind selten Roman Zu diesem Buch Ich erinnere mich an eine Welt, in der alles im Aufbau war. Ein Neubau war noch nicht fertig, nicht einmal Straßen und Wege, da wurde bereits das nächste Zeichen von Urbanität geschaffen. Überall Umzugswagen, frohmutige Neumieter und Kinder, die über die noch nicht fertigen Gehwege springen. Ein Abendteuerland, jung. Selbst die Alten wirken jung. Wir sind die Zukunft. Doch die Zukunft gerät ins Stocken, der Motor hat Aussetzer und am Ende steht der unausweichliche Motorschaden, die Minuszukunft einer Stadt, deren Schicksal der Hauptprotagonist Fred Hiller hautnah miterlebt. Eisenhüttenstadt, seine Heimatstadt, steht für viele ehemalige Trabantenstädte der untergegangenen Republik, die heute um ihre Identität kämpfen. Diese Erzählung ist den Menschen gewidmet, die an der Zukunft von Gestern mitbauten und heute vergessen sind. THOMAS ANDREY HIRTH Märzgewitter sind selten Roman epubli Druck Copyright: © 2011 Thomas Andrey Hirth 2. Auflage 2016 Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Thomas Andrey Hirth Fotos: Ben Kaden Lektorat: Ute Junge ISBN 978-3-7418-0325-3 Es kommt eine Zeit, da fällt alles ab von einem, die Wut der jungen Jahre und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt, auch die Zuversicht, sie würde besser werden oder sogar gut, wenn man sich nur genug darum bemüht und mit ganzem Herzen. Es kommt eine Zeit, da ist dieses Herz plötzlich leer geworden und der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen, ganz allein mit sich... Iris Hanika Prolog Im Klassenzimmer herrscht tumultartiges Treiben. Wie in einer Arena hat sich um uns ein Kreis gebildet und alle feuern Norbert an, der wie wild auf mich losgeht. Ich versuche seinem Angriff zu entkommen, doch sie stellen sich mir in den Weg. Die Mädels kreischen und freuen sich hysterisch, als er mich am Hals packt und zudrückt. Ich kann mich befreien und verpasse ihm eins in die Magengrube. Er verliert sein Gleichgewicht und fällt gegen eine der Schulbänke. Ich setze nach, gewinne Oberwasser und will ihm ins Gesicht schlagen, als er geschickt ausweicht und den Augenblick des erfolglosen Angriffs nutzt, um mich diesmal fester in den Schwitzkasten zu nehmen. „Los Nobbi“, schreien sie, „jetzt hast du ihn.“ Einige stehen auf den Tischen, um das Geschehen besser verfolgen zu können und klatschen in die Hände. Panisch versuche ich mich dem Würgegriff zu entziehen, doch er drückt immer fester zu. Wie bei einem in die Falle gegangenes Tier, das seinem Fluchtinstinkt folgt, schnürt sich die Schlinge immer enger um meinen Hals. „Hör auf“, schreit Claudia und versucht verzweifelt Norbert von mir wegzuziehen, doch die anderen schieben sie einfach beiseite und treiben ihn weiter an. Ich bekomme keine Luft mehr und mir wird schlecht. Wie eine willenlose Marionette drückt er mich zu Boden und ich höre wie durch Watte ein Türgeräusch und Stanislavs Stimme, „Noorbert“. Der Griff löst sich und alle stürzen an ihre Plätze. Halb bewusstlos sacke ich zusammen und brauche einige Sekunden, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Er kommt auf mich zu und schaut mich fragend an. Ich bin noch immer benommen und nehme ihn nur schemenhaft war. Dann stehe ich auf und gehe, als sei nichts geschehen, an meinen Platz. Es ist still, keiner sagt etwas. Claudia dreht sich um und schaut mich mitleidig an, hinter mir das höhnische Grinsen von Norbert. Arschloch, denke ich voller Wut. Herr Stanislav bleibt neben meiner Schulbank stehen und überlegt, 7 dann sagt er, „nach der Stunde kommst du zu mir“. Ich nicke kommentarlos. Er misst mindestens zwei Meter und hat die Figur eines Hochleistungssportlers. Immer, wenn er den Raum betritt, geht die Geräuschkulisse gegen Null. Wie ein Befehlshaber, der mit strengem Blick seine Rekruten mustert, schreitet er dann durch die Klasse. Auf dem Weg zum Lehrerpult bleibt er stehen und nestelt nervös an seiner Nase herum, dann müssen alle Unterlagen vom Tisch. Mit einer Schmiedehammer gleichen Stimme sagt er, „wollen mal sehen, ob wir eure überflüssige Energie nicht anders nutzen können.“ Während der Arbeit spüre ich die Blicke wie Nadelstiche, unfähig, auch nur eine Zeile aufs Papier zu bringen. Das Pausenklingeln erlöst mich und ich gebe ein leeres Blatt Papier ab. Stanislavs verständnisloser Blick prophezeit mir eine ordentliche Standpauke, doch ich zucke mit den Schultern und gehe wortlos nach draußen. Im Flur hetzen Schüler der unteren Klassen wie eine Meute losgelassener Hunde an mir vorbei und rennen mich fast um. Ich überlege, wie ich mich am besten aus der Sache herauswinde. Auf keinen Fall sollen meine Alten etwas von dem Zwischenfall erfahren. Claudia kommt mir hinterhergelaufen und fragt, „soll ich mitkommen?“ „Es ist alles in Ordnung“, sage ich genervt, worauf sie beleidigt abzieht. Ich schäme mich. Warum war ich nicht stark genug, um Hinze ordentlich zu verprügeln? Ich gehe, während ich noch die Bilder des Kampfes im Kopf habe, zum Lehrerzimmer. Die Tür steht einen Spalt offen. Merkwürdig. Ich klopfe und stoße sie zaghaft auf. Es ist niemand da, nur das monotone Klack, Klack der Wanduhr unterbricht die eigenartige Stille des Raums. In der Mitte sind mehrere Tische zusammengestellt und an der Wand steht ein Bücherregal, das bis zur Decke reicht. Ich überlege, welcher Stuhl zu Stanislav gehören könnte und lasse meinen Blick über den Tisch des Lehrerkollegiums wandern, auf dem Stapel von Heften liegen. Seine Tasche kann ich nicht entdecken. Ich beuge mich über 8 die Unterlagen, um etwas zu erkennen, als er plötzlich hinter mir steht. Er entschuldigt sich kurz für das Zuspätkommen, setzt sich an die Stirnseite des Tisches und fordert mich auf ebenfalls Platz zu nehmen. Mit zufriedener Miene legt er die Tasche, wie nach einem erfolgreichen Beutezug, auf den Tisch. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Es ist nicht die Situation mit Herrn Stanislav, sondern das, was mich draußen erwartete. Draußen, das ist meine Welt, nicht seine. „Du weißt, warum ich dich hierher gebeten habe?“, beginnt er sein Verhör. Es geht nicht um Hinze, das ist mir klar, sondern um meine Leistungen. Ich befinde mich auf Talfahrt, um nicht zu sagen, auf Schussfahrt. Seit Monaten verweigere ich jede Mitarbeit, verschließe mich wie eine Miesmuschel, die man nur mit brachialer Gewalt öffnen kann. Ich überlege, wie ich am besten aus der Sache rauskomme, doch mir fällt nichts ein. „Ich krieg’ das mit Hinze schon hin“, starte ich einen Versuch. Stanislav schiebt die Tasche, die er gerade noch wie einen Schatz festgehalten hatte, beiseite, zieht aus seinem Schubfach eine Mappe und breitet sie vor sich aus. „Ich dachte immer, du willst auf die EOS.“ Ich schweige. Er steht auf und geht zum Fenster, durch das der Lärm des Schulhofs bis nach oben dringt. Er unternimmt einen zweiten Versuch. „Was ist losgewesen heute, soll ich mal mit Norbert sprechen?“ „Mit Norbert sprechen“, sage ich leise vor mich hin, dann laut, „es geht nicht um Norbert.“ Der ist nur ein Arschloch mit dem Intellekt eines Primaten, behalte ich das Ende des Satzes für mich. Er kündigt einen Hausbesuch an und ich sehe sie bereits vor mir, ihr gebetsmühlenartiges Appellieren an meine Vernunft, ein Begriff aus der Erwachsenenwelt, ihrer Welt. Dabei war ich nicht einmal in der Lage, Respekt von meinen Mitschülern zu bekommen. Ein gewisser Waffenstillstand, Überlebensstrategien entwickeln in einem feindlichen Umfeld, das war vernünftig. Auf dem Nachhauseweg mache ich, wie 9 immer, einen Abstecher in die HO-Kaufhalle. Es macht mir Spaß, einfach nur zu schauen und Leute zu beobachten. Zwischen den Kühlregalen ist es angenehm kühl und der Zwischenfall mit Norbert ist längst vergessen. Ich beuge mich über das Kühlfach und balanciere mich zu einer der Pappkisten, in der die fingernagelgroßen Plastiklöffel liegen. Ich suche vergeblich den richtigen Namen. Die Farbe ist egal, Claudia muss draufstehen. Seit einem Jahr ist sie in unserer Klasse und ich habe noch immer nicht gewagt sie zu fragen, ob sie mit mir gehen will. Diesmal ist ihr Name nicht dabei, also nehme ich wahllos einen anderen. Ich laufe durch unser Wohnviertel und teile mir den Eisbecher so ein, dass er bis nach Hause reicht. Das ist nicht schwer, denn die Wege in unserem WK, der die Nummer Fünf hat und ausschließlich aus Plattenbauten besteht, sind kurz. WK steht für Wohnkomplex. Nicht gerade einfallsreich, denke ich und frage mich, warum man es nicht Gagarinviertel, Thälmannstadt oder Rosa-Luxemburg-Komplex nennt. Aber in New York haben ja nicht einmal die Straßen Namen. „Hey, du Träumer“, ruft eine Stimme aus dem Hintergrund und reißt mich aus meiner Gedankenwelt. Es ist Frank. Seine semmelblonden Haare hängen ihm halb ins Gesicht und verdecken seine hellblauen Augen. Er sieht aus wie der Bauernsohn aus der Serie Die Heiden von Kummerow. Wir schlendern durch das Neubauviertel und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Sobald wir an einer Gruppe von Mädels vorbeikommen, zieht er ihre Blicke magisch auf sich. Frank ist Christ, der einzige in unserer Klasse. Jeden Sonntag geht er mit seinen Eltern in diesen merkwürdigen Neubau, der eine Kirche sein soll. Doch er erzählt nie etwas darüber. Ich habe nie nachgehakt und so ist das Thema Kirche zwischen uns tabu. Auf der Tischtennisplatte aus Beton, an der wir uns oft nach Schulschluss treffen und an der ich noch nie jemanden Tischtennis spielen sehen habe, turnen Kinder. Sie steht direkt hinter unserem Haus. Oft hängen wir hier rum und beobachten die Szenerie. 10 Jetzt, wo die Tage wieder länger werden, kehrt die Lebendigkeit auf die Straße zurück: schwatzende Frauen am Bürgersteig, Männer, die ihre Autos vom Winterschmutz befreien oder ihre Vorgärten auf Vordermann bringen, Kinder, die zum Leidwesen der Mitbewohner Straßenauswahlmannschaften bilden, um zwischen den Wohnhäusern Bolzturniere auszutragen, oder Neugierige an den Fenstern, die das Geschehen aus der Vogelperspektive beobachten. Alles ist in Farbe getaucht, das frische Grün der Bäume, die Obstblüten, der sonnengelbe Löwenzahn. Es liegt ein Duft von Frühsommer in der Luft und die Lungen nehmen, wie ein muffiges Zimmer, dessen Fenster man nach einem langen Winter zum Lüften weit aufgerissen hat, jeden Kubikzentimeter der frühlingsgetränkten Luft in sich auf. Mir ist warm und die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen treiben mir den Schweiß auf die Stirn. Es ist der 30. April 1982 und in den Straßen sind die Fenster mit unzähligen Fahnen geschmückt, die dem Frühling zusätzlich Farbe geben. Es sind immer die Selben, bei denen man keine sieht. Die Webers zum Beispiel. Die hatten noch nie eine. Dafür bekommen sie regelmäßig Besuch aus dem Westen und dann steht dieser kleine Wicht auf der Straße und schachert angeberisch mit Kaugummibildern rum. Aber das kümmert mich nicht. Soll doch dieser Idiot machen was er will. Wir bauen dafür die schönsten Karren des Viertels, mit richtiger Lenkung und Überdachung. Da kann diese Flasche nicht mithalten. Frank klopft mir auf die Schulter. „Morgen, nach der Demo?“ „Klar doch“, sage ich und sehe, wie er in die Thälmannstraße abbiegt. Seine Mutter hängt gerade Wäsche auf und begrüßt ihn liebevoll. Sie streicht ihm durchs Haar und küsst ihn auf den Mund. Widerlich, denke ich. Ich kenne niemanden in der Klasse, der auf diese Art begrüßt wird. Für die meisten sind die Alten einfach nur nervig und man lässt sich keinesfalls von ihnen küssen. Vielleicht ist das ja bei Christen anders. Franks Mutter arbeitet in der Stadtpoliklinik. Als ich einmal in eine 11 Scherbe trat und glaubte, ich müsse verbluten, verarztete sie mich. Seit dem weiß ich, dass sie dort arbeitet. Manchmal nimmt mich Frank mit hoch. Dann holt sie extra Kuchen bei Albes. Doch heute lässt er die Einladung aus und ich gehe die letzten Meter allein nach Hause. Als ich die Wohnungstür aufschließe, höre ich Fernsehgeräusche und die aufgeregte Stimme meiner Mutter dringt dumpf durch das Glas. Ich bin verwundert. Um diese Zeit läuft bei uns nie der Fernseher. Frühestens um Halbacht, zur Aktuellen Kamera, sitzt der Alte vor der Kiste und will nicht gestört werden. Durch die gesprenkelte Scheibe der Wohnzimmertür sehe ich verzerrte Schatten. Ich öffne die Tür und werde sogleich mit Freudensätzen überschüttet. „Fred, nun schau doch mal, ist der nicht toll?“, begrüßt sie mich überschwänglich. Völlig aufgelöst macht sie einen regelrechten Tanz um das neue elektronische Monstrum, das nun die Mitte unseres Wohnzimmers ziert. Die Augen meines Vaters leuchten wie Kinderaugen, als die ersten farbigen Bilder auf der Mattscheibe flimmern. Wir sollten uns vielleicht öfter einen Fernseher anschaffen schießt es mir durch den Kopf. Mein Vater dreht und stellt unablässig an den Knöpfen der neuen Errungenschaft. „Wo is’n hier der blöde Kontrast, Mensch.“ Nervös blättert er in der Bedienungsanleitung und rennt mich fast um. „Mensch Fred, nun steh doch hier nicht so rum.“ Mutter zieht mich beiseite. „Komm, lass deinen Vater machen.“ „Ich wusste gar nicht, dass ihr euch so ein teures Gerät anschaffen wolltet.“ „Die Eltern von Frank hatten uns gesagt, dass se Ware bekommen haben, da ist Vater gleich in die Stadt. Man weiß doch nicht, wann man wieder solch eine Gelegenheit bekommt.“ Ich habe bisher immer bei Frank ferngeschaut, wenn’s in Farbe sein sollte. Aber das war selten. Viele haben noch Schwarzweißgeräte. Die gibt es auch immer, in jeder Größe, die will nur keiner mehr haben. Seit Monaten nervt Vater mit der 12 Fußballweltmeisterschaft, die dieses Jahr in Spanien stattfindet. Die erste WM in Farbe. 13 -1Ein unangenehmer Wind pfiff durch die von Unordnung geprägten Marschblöcke. Die vorsommerlichen Temperaturen des Vortages schien er gleich mit fortgeweht zu haben. Es war bitterkalt und ein Regenschauer folgte dem anderen. Wir standen fröstelnd in losen Gruppen und harrten der letzten Ankömmlinge, während sich Herr Stanislav mit den anderen Lehrern wegen der Aufstellordnung absprach. Das Eintreffen der letzten Ankömmlinge quittierte er mit einem Nicken und dem entsprechenden Häkchen auf der Anwesenheitsliste, dann sagte er in dem ihm eigenen Befehlston, „gut, ich möchte, dass ihr euch in Fünferreihen aufstellt, die mit den Transparenten und den Fahnen kommen nach vorn, die anderen gehen in die hinteren Reihen.“ Die Träger mussten immer in endlosen Debatten festgelegt werden, da sich keiner freiwillig meldete. Ich hatte Glück und konnte mich in die hintere Reihe verziehen. Der Tross setzte sich nur langsam in Bewegung und einige nutzten die ungewollten Stopps, um herumzualbern und sich über die Mädels lustig zu machen, die die Sache offensichtlich ernster nahmen. Ich empfand eine schwer beschreibbare Hassliebe für diese Aufmärsche. Auf der einen Seite war es für mich eine lästige Pflicht, ein beinahe albernes Ritual, andererseits wollte ich auf keinen Fall die Fernsehübertragungen in Berlin verpassen. Die Riesenaufmärsche, vor allem die der NVA, das hatte etwas, und tief im Herzen war ich stolz auf unser kleines Land. Nach fünf Minuten erreichten wir die Leninallee, die Hauptverkehrsader von Eisenhüttenstadt. Vor uns standen Kolonnen von Betriebsvertretungen und Sportvereinen, angeführt von Marschordnungen der Kampfgruppen und der GST. Die Tribüne, von der aus die Kreisleitung und Abgeordnete der Bezirksleitung, die extra aus Frankfurt angereist waren, die Huldigungen entgegennahmen, signalisierte das baldige Ende der Pflichtveranstaltung. Im entscheidenden Moment gab Herr 14 Stanislav das Zeichen zum Schwenken der Fahnen und Fähnchen. Die Zeremonie dauerte nur wenige Minuten und am Ende der Straße wurden die Symbole der Arbeiterklasse, die jeder so schnell wie möglich loswerden wollte, eingesammelt. Auf der anderen Straßenseite sah ich Frank, der schon ungeduldig auf mich wartete. Ich steckte mir die Jacke in die Hose und zwängte mich durch die Zuschauer am Straßenrand. Wie so oft besserte sich am Nachmittag das Wetter und die frühsommerliche Sonne brannte gnadenlos vom wolkenlosen Himmel. Zwei Männer torkelten betrunken an einem der vielen Kettenkarusselle vorbei, das ihnen um ein Haar die Köpfe absebelte. Die Symptome des Maikampfes waren unverkennbar. An der Scooterbahn angekommen, stürzte sich Frank sofort ins Getümmel, wo ein regelrechter Kampf um die metallicfarbenen Fahrzeuge entbrannte. Ich verlor ihn für einen Moment aus den Augen, als er, nachdem das Signal zum Verlassen der Bahn aufforderte, triumphierend auf einem der Autos stand. Er winkte mir hektisch zu kommen, doch ich kam nicht schnell genug durch und ein Fettwanst schob ihn beiseite. Er war nicht nur doppelt so breit wie er, sondern überragte ihn auch um einen ganzen Kopf. Mit Triumphgelächter fuhr er Frank, dessen Tritt ins Leere ging, beinahe über die Füße. „Eigentlich hasse ich diese Karren“, kommentierte er genervt seine Niederlage und wollte weiter. Mich störte es nicht. Ist doch sowieso bescheuert, wenn mehr als ein Dutzend Autos im Kreis herumfahren, ging es mir durch den Kopf. An den Losbuden lagen unzählige Nieten und bedeckten, wie zum Beweis des erfolglosen Losziehens, den Boden. Viele versuchten ihr Glück. Vor allem die begehrten Matchboxautos glänzten verführerisch in der Sonne. Jeder war scharf auf diese Dinger. Allerdings brauchte man fünfundzwanzig Punkte. Jedes Mal, wenn ich eine Niete zog, freute sich Frank diebisch. Er dachte nicht im Traum daran, sich auch nur ein Los zu kaufen. Am Ende hielt ich einen Lutscher für drei Punkte in 15 der Hand. Die Hälfte meines monatlichen Taschengeldes ging dafür drauf. Für den gleichen Betrag hätte ich bei der HO für die ganze Klasse diese Dinger kaufen können. Ich löste die durchsichtige Folie und genoss den seltenen Geschmack. Im Wohnviertel waren die Straßen jetzt wie leergefegt, selbst die Fahnen ließen ihre Flügel hängen. Ich dachte, dass es keine schlechte Idee wäre, Frank mit hochzunehmen, um die Aufzeichnungen zu den Maidemonstrationen in Berlin anzuschauen, jetzt wo wir doch auch in Farbe fernsehen konnten. Als ich ihn fragte, winkte er mürrisch ab und sagte, „du nervst, verstehe überhaupt nicht, was es da zu gucken gibt, ist doch immer der selbe Mist.“ „Das verstehst du nicht“, entschuldigte ich mich hilflos. Frank klopfte mir auf die Schulter. „Ich muss los, meine Alten wollen grillen. Wir können uns ja morgen treffen.“ „Na dann.“ Im Treppenhaus folgte ich, den Kopf schräg haltend, der Treppe und schaute zur Decke, durch die das Sonnenlicht diffus durch das Wabenglas einfiel. Bis auf diesen einen Lichteintritt gab es keine Fenster. Im ersten Stock befand sich ein Fanggitter, das wegen der einen oder anderen Turneinlage schon ganz verbogen und verbeult aussah. Jeweils drei Treppenaufstiege waren für jede Etage zu bewältigen. Da es zur Parterrewohnung nur einen gab, benötigte ich insgesamt vier, um zu unserer Wohnung zu gelangen. Der erste Gang war zum Kühlschrank. Der Kampftag forderte seinen Tribut. Doch die durstige Kehle suchte vergebens nach einer erfrischenden Cola. „Man, wieso is´n hier nischt da“, schimpfte ich. Mutter kam vom Balkon, wo mein Alter bereits mit Zeitung und Kaffee seinen Arsch breit saß. Sie gestikulierte Unverständnis. „Hör auf herumzunölen, du weißt doch, dass wir jetzt sparen müssen.“ Ich war genervt. Der Fernseher hatte uns mächtig reingeritten. Ich setze mich in Vaters Sessel und verfolgte vor dem Fern- 16 seher die Maidemonstration in Berlin. In Farbe sieht irgendwie alles lebendiger aus. Völlig durchgeschwitzt kam ich am Helenesee an und roch förmlich das kühle Nass. Er ist der schönste See der Mark und ich versuchte mir vorstellen, wie hier einst riesige Bagger Kohle förderten. Mit knapp siebzig Metern ist er tiefer als jeder natürliche See in dieser Gegend und besitzt das kristallklarste Wasser, das man sich vorstellen kann. Sein kilometerbreiter Sandstrand kann es mit jeder Ostseeküste aufnehmen. Es war sehr heiß für die Jahreszeit und die Menschen waren aus der Stadt geflüchtet. Nirgendwo war auch nur eine freie Stelle zu finden. Ich stieg vom Fahrrad und suchte den Badestrand ab. Überall Gekreische, Geschnatter und umherschwirrende Federbälle. Männer standen mit leeren Biergläsern in der Hand lachend auf der Terrasse der Strandgaststätte „Zum Seeblick“, um Nachschub zu holen. Sie gestikulierten lauthals und ständig rief einer nach der nächsten Runde. Zwischen den Badedecken jagten sich die Kinder und sorgten für Unmut bei den Frauen, die ohnehin wegen der biersaufenden Männer, die bei dem Gewimmel oft nicht zu den Decken ihrer Frauen zurückfanden, genervt waren. Die Szenerie erinnerte an eine Pinguinkolonie, nur dass hier die Männer keinen Frack trugen und in der Antarktis andere Temperaturen herrschen. Ich schob mein Fahrrad zwischen den Decken entlang und hielt angestrengt nach Frank Ausschau. Wir hatten uns für Zwei an der Eisdiele verabredet, aber er war nicht zu sehen. „Kannste nicht offpassen man, Idiot“, brüllte mich ein genervter Typ an. Mein Fahrradreifen hatte bereits einen deutlichen Abdruck auf dem schneeweißen T-Shirt des Besitzers hinterlassen. Ich machte eine Geste der Entschuldigung, bloß keinen Stress, und irrte weiter durch die Massen. An einer kleinen Bucht stand ein knorriger Baum halb im Wasser, so, als gehörte er dort nicht hin. Jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit spottend, ragte er im spitzen Winkel 17 über die Wasseroberfläche. Da wird ihm wohl auch mein Drahtesel nichts anhaben können, dachte ich, lehnte mein Fahrrad an sein Wurzelwerk und setzte mich auf einen der Äste. Ich ließ meine Beine ins kühle Nass hängen und genoss den Blick über den See. Es war drückend heiß und nur eine leichte Brise sorgte für Abkühlung. Selbst die Segelboote schienen über der Wasseroberfläche zu schweben. „Fred?“, hörte ich plötzlich eine Männerstimme rufen. Ich drehte mich um. Es war Herr Stanislav. Er kam lässig auf mich zu und sah gar nicht wie ein Lehrer aus. Er trug Jeans, ein helles Hemd und Sportschuhe, und er sah verdammt jung aus. „Darf dein Klassenlehrer dir etwas Gesellschaft leisten?“ Er schaute über das Wasser, so, als wollte er es sich vielleicht noch einmal anders überlegen, um sich dann doch neben mich zu setzen. Keiner sagte etwas und so folgten wir schweigend dem Treiben auf dem Wasser. Hier, außerhalb des Schulgeländes, fühlte ich mich sicher. „Ein schöner Tag heute, nicht?“, versuchte er das Gespräch in Gang zu bringen. „Hm“, presste ich hervor. „Bist du allein hier?“ „Ich habe mich mit Frank verabredet, aber vielleicht hat er etwas besseres vor.“ „Ich habe einen Kahn da unten, vielleicht hast Du Lust.“ Er deutete mit seiner Hand nach links. Am Ende des Strands befanden sich mehrere Holzkähne, die aufgrund der Wellenbewegungen des Sees wie eine Ballettformation synchron auf und ab wippten. Der Gedanke, mit seinem Klassenlehrer in einem altersschwachen Kahn den See entlang zu schippern, behagte mir nicht. Doch er blieb hartnäckig. „Ich mache dir einen Vorschlag, du übernimmst das Ruder und ich stelle dir keine Fragen.“ Ich schaute noch einmal in Richtung Strandgaststätte, aber Frank war nicht zu sehen. Dann richtete sich mein Blick 18 wieder auf Herrn Stanislav. „Ich bin aber lange nicht mehr gefahren.“ „Na komm schon“, machte er mir Mut. Der Kahn war wirklich alt, seine Farbe aufgerissen, wie ein durch Hitze ausgetrocknetes Flussbett. Selbst die Ruderbeschläge waren braun vom Rost. Er löste das Seil und ich stieg unbeholfen in das Boot, das unbarmherzig nachgab und mich fast ins Wasser beförderte. Ich konnte mich im letzten Moment festhalten und setzte mich erleichtert an das Ruder. Stanislav gab uns einen kräftigen Stoß und sprang behände über die Bootswand, während ich noch unbeholfen mit dem störrischen Ruderwerk hantierte. Nach einigen Ruderschlägen wurde es besser und der Badestrand entfernte sich langsam, bis nur noch Stimmfetzen durch die eine oder andere Windböe herübergeweht wurden. Dann wurde es windstill, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich beobachtete die von den Ruderschlägen erzeugten Miniwellen, die sich so lange fortpflanzten, bis die Wasseroberfläche ihre spiegelglatte Ursprungsform wiedererlangt hatte. Die Hitze und die ungewohnte Schiffstätigkeit trieben mir den Schweiß auf die Stirn. „Darf ich sie etwas fragen?“, löste ich meine Anspannung. Er schaute mich freundlich an. „Ja.“ „Warum kann ich nicht einen Beruf lernen wie die anderen?“ Stanislav kramte in seiner alten Ledertasche herum, die er sonst demonstrativ auf seinem Lehrertisch positionierte, wenn es hieß, na ihr wisst schon. Hier hatte sie aber kein Drohpotential. Er zauberte in Butterbrotpapier verpackten Pflaumenkuchen hervor, der unwiderstehlich seinen Duft verströmte. Er hielt mir eines der zwei Stückchen hin. „Danke, aber . . . “ „Na nimm schon, den hab’ ich heute erst aus den Ofen geholt.“ Ich war verwundert, ein Lehrer der Pflaumenkuchen bäckt. Aber warum eigentlich nicht. Auf jeden Fall schmeckte er 19 vorzüglich und so saßen wir im für einen Moment führerlosen Boot, das still über den See glitt. „Was willst Du denn machen?“, unterbrach er das kurze Schweigen mit einer Gegenfrage. Dabei hatte er doch versprochen keine Fragen zu stellen. Aber so sind sie, die Lehrer. „Baufacharbeiter.“ Er holte eine Schachtel F6 aus seiner Brusttasche und zündete sich eine Zigarette an. „Stört’s dich, wenn ich rauche?“ „Ne Ne, das ist schon in Ordnung“ Er richtete seinen forschenden Blick auf mich und zog gleichmäßig an seiner Zigarette. „Warum willst du nicht mehr?“ Mehr, irgendwie verstand ich sie nicht. Sie redeten immerzu vom Stolz des Arbeiters, seiner Macht in unserem Land. Und wollte man so ein Arbeiter werden, dann war es auch nicht recht. Sie sind schon merkwürdig, die Erwachsenen. „Aber warum ist es so schlecht einen Bauberuf zu lernen? Man baut Häuser, Straßen und Brücken. Unser Land braucht doch so’ Leute.“ Stanislav knüllte in aller Seelenruhe das Brotpapier zusammen, steckte es in die Tasche und schaute blinzelnd in die Sonne. Dann richtete er erneut den Blick auf seinen Rudermann. „Unsere Gesellschaft braucht Leute mit Grips. Was meinst du, was dich da draußen erwartet? Da hast du’s dann zu tun mit so unterbelichteten Typen wie Norbert.“ An einer Bucht auf der Südseite des Sees legte er die Ruder an die Seite und tauchte seine Hand in das Wasser. Als wollte er mich beschwichtigen, bot er mir einen Sprung ins kalte Nass an und fragte, wie’s mit einer kleinen Abkühlung wäre. Im Nu war er bis zur Hüfte im Wasser verschwunden und zog das Boot an das Ufer, um es fest zu machen. Die Strandgaststätte war jetzt ganz winzig, die Menschen nur noch lauter kleine Punkte. Im frühsommerlich kalten Wasser stockte mir fast der Atem, aber ich hielt tapfer durch. Stanislav erreichte weit vor mir das Ufer und trocknete sich ab. Seine Figur glich der eines 20 Modelathleten und die dunklen Haare glänzten wie Seide in der Sonne. Er sah aus wie ein Schauspieler, der jeden Augenblick eine herzergreifende Kussszene spielen muss. Als er meinen bewundernden Blick bemerkte, warf er mir sein Handtuch zu und rief, „hier, damit du nicht erfrierst.“ „Danke“, sagte ich verlegen. Ich trocknete mich ab und setzte mich zu ihm. Der aufkommende Wind streichelte die Haut und reinigte die Lunge vom Stadtschmutz. Ich schob den Sand unter meinen Füßen zusammen, bis sich eine kleine Bergformation gebildet hatte, um sie dann wieder einzureißen. Es fühlte sich wie Zuckermehl an. Die Sonne lugte frech zwischen den Baumwipfeln hervor und spendete hin und wieder einen Sonnenstrahl. Ich liebte den Frühsommer, den Geruch nach frischer Kiefer, und dachte, so muss es wohl sein, das perfekte Bild eines Vaters, der mit seinem Sohn die Freizeit verbringt, sich Sorgen um ihn macht und stolz auf ihn sein will. Mein Alter kam von der Arbeit, las Zeitung oder pennte auf’m Sofa, abends dann die Glotze, oder er ging zur Parteiversammlung. Mein Vater hatte mich noch nie nach meinen Wünschen gefragt, ob es Stress in der Schule gibt oder so. „Sind sie verheiratet?“ Er kniff seine Augen zu und sagte, „wir hatten dieses Jahr unseren zehnten Hochzeitstag. Wir haben uns beim Studium kennen gelernt.“ „Haben sie Kinder?“ Er schaute nachdenklich zur Seite, schien auf einmal traurig. Vielleicht blendete ihn aber auch nur die Sonne. „Meine Frau arbeitet als Ärztin auf Kuba, Aufbauhilfe, weißt du.“ „Haben die keine eigenen Ärzte da? Ich meine, fehlt sie Ihnen denn nicht?“ Er zündete sich eine zweite Zigarette an und zog den Rauch tief ein. „Hast Du schon mal gesehen, wie die Menschen in der Dritten Welt leben müssen. Hunger, Obdachlosigkeit, keine Gesundheitsversorgung, nicht einmal Milch für die Kinder. In 21 Kuba gibt es heute das beste Gesundheitssystem in Lateinamerika. Ich bin wirklich stolz auf sie.“ Klar, dachte ich. Wie konnte ich nur so naiv sein? Die Welt da draußen braucht doch so Menschen. Damit es gerechter zugeht. „Vielleicht sollte ich als Bauarbeiter beim Aufbau helfen, Wohnungen werden doch immer gebraucht.“ Er schmunzelte. Wir zogen gemeinsam das Boot wieder ins Wasser und er packte mit der Kraft eines Leichtathleten die Ruder. So kehrten wir mit doppelter Geschwindigkeit in Richtung Seeblick zurück. Der Strand war jetzt wie leer gefegt, nur einige Jugendliche saßen noch am Wasser. Ich verabschiedete mich von ihm, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr der Abendsonne in Richtung Eisenhüttenstadt entgegen. Auf den Häusern der Stadt spiegelte sich die Sonne in Purpurrot und die Rauchschwaden der Öfen bildeten ein Gemälde aus Pastelltönen und Sonnenstrahlen. Warum nicht Bauarbeiter? 22 -2– Stolz hielt ich meinen Lehrvertrag als Baufacharbeiter mit Abitur in der Hand. Doch erst warteten zwei Monate Sommerferien auf uns, und auf mich eine handfeste Auseinandersetzung mit meinem Vater. Wir saßen auf dem Balkon, als ich ihm unseren Plan für diesen Sommer, eine Radtour durch den Süden der Republik, offerierte. Er schaute über den Zeitungsrand und sagte lakonisch, „mit diesem Kirchenfreund fährst du mir nicht, verdiene dir lieber ein paar Mark.“ Er machte sich nicht die Mühe, die Zeitung beiseite zu legen und las ungerührt weiter. Solange ich denken kann, hörte er nie zu, und wenn, dann gab es Streit. Mein Vater war in der Parteikreisleitung, schwang große Reden, sprach ständig von irgendwelchen verfehlten Planvorgaben und trieb sich ständig in den Betrieben herum, um den Leuten auf die Finger zu schauen. Ich stellte mir vor, wie er sich dort aufplusterte. „Was weißt du denn von Frank? Du hast kein Recht ihn mies zu machen. Du tust so, als wärst du für die einfachen Leute, doch du verachtest sie, nur im Gegensatz zu dir machen sie etwas Produktives in unserem Land.“ Dann brach es aus ihm heraus, „und wer leistet die ideologische Arbeit, hä? wer führt das Land?, das sind wiiir!“, schrie er mich an. Er tobte durch die Wohnung, setzte sich, sprang auf, setzte sich wieder und sagte, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, „außerdem muss ich mir von so nem Grünschnabel wie dir nicht frech kommen lassen, mit dem fährste jedenfalls nicht.“ Meine Mutter stellte sich neben mich und versuchte die Situation zu beschwichtigen. „Mensch Werner, nun lass ihn doch.“ Sie strich mir durchs Haar und ich sah, wie er noch immer kochte. Was Frank betrifft, so hatte er sich immer beherrschen können, doch jetzt brach seine ganze Abneigung gegen alles, was mit Kirche zu tun hatte, aus ihm heraus. Saboteure wären 23 sie, die unser Land schwächten und alles mies machten. Ins Lager würde er sie stecken, wenn er dürfte, das hatte er gesagt, die Augen entstellt, voller Hass. Nie zuvor hatte ich ihn so erlebt, so neben sich. Doch im selben Moment erschrak er über sich selbst, wie ein Kleinkind, das an der Reaktion seines Umfeldes merkt, dass es einen Fehler gemacht hat, und lenkte ein, „ach, wegen mir macht doch was ihr wollt“, dann schlug er die Balkontür zu und verschwand in den Keller. Immer, wenn es Streit gab, ging er in dieses kalte, dreckige Loch. Mutter setzte sich auf seinen Platz und sah mich an, so wie Mütter ihre Söhne ansehen, die kurz davor sind, flügge zu werden. „Wo wollt ihr denn hin?“ „Das ist doch egal, wir machen ne Radtour.“ „Freeed.“ „Ok, wenn’s dich beruhigt, wir fahren nach Wernigerode, sein Opa wohnt dort.“ „Mit dem Fahrrad?“ Ich verdrehte die Augen, erst die Parteischeiße vom Alten, dann die alles dem Herrn recht machen wollende Mutter, die nervtötende Fragen stellte. Wie sollte man das nur aushalten? „Du musst deinen Vater verstehen, die Verantwortung, ständig diese Rechenschaftsberichte nach oben und dann noch der Ärger mit den Betrieben.“ „Was geht’s mich an. Ich hab’ jetzt mein Leben. Außerdem hat er sich doch noch nie für mich interessiert. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass wir zusammen mal was unternommen hätten.“ Sie nahm meine Hand und ich verspürte den unwiderstehlichen Drang sie zurückzuziehen. Dann klingelte es zweimal kurz. Das war Frank. „Ich muss, wir müssen noch ein paar Sachen abquatschen.“ Ich konnte endlich meine Hand zurückziehen, packte die Karte ein und ging nach unten. Durch das Haustürfenster sah ich, wie Frank mit seinem Tennisball, den er ständig bei sich trug, gegen die Bordsteinkante spielte. Oft, wenn wir zusam- 24 men durch das Viertel zogen, spielte er ihn unentwegt auf den Boden, um ihn wieder aufzufangen. Als er mich sah, steckte er den Ball in die Tasche, die entsprechend ausbeulte. „Hallo“, begrüßte ich ihn. Frank stand noch etwas unentschlossen da. „Lass uns ein bisschen rumlaufen und nachdenken.“ „Du hast das doch klargekriegt mit dem Zelt?“ „Conny hatte es mir versprochen und jetzt weiß er auf einmal von nichts mehr. Ich habe alle möglichen Leute gefragt, aber Fehlanzeige.“ Na prima, dachte ich, erst die große Ankündigung der Abendteuerreise, der Stress zu Hause, und jetzt das. Wir setzten uns auf einen Bordstein. Er war noch ganz warm von der Nachmittagssonne, die bereits hinter dem Wohnblock verschwunden war. Keiner sagte etwas. Ich holte die Karte hervor und folgte dem roten Strich, der sich durch den Süden der Republik zog. Ungefähr in der Mitte befand sich ein Kreuz mit Fragezeichen. Ich plädierte für eine Fahrt durch die Messestadt, als Kontrast zum Abendteuer in der Wildnis. Frank fuhr mit dem Finger von Eisenhüttenstadt bis nach Wernigerode. Er machte keinen Bogen um Leipzig, also hatte ich mich durchgesetzt, doch nun spielte das keine Rolle mehr. „Ich hab’s, die Gartenanlagen, außerhalb der Stadt gibt es doch Gartenanlagen.“ Ich schaute Frank ungläubig an. „Ich weiß, dass es dort Gärten gibt, aber was hat das mit unserem Problem zu tun?“ „Vielleicht finden wir dort unser Zelt.“ „Klar, und Schlauchboote, nee, wenn dort was steht, dann sind es Lauben und Obstbäume, oder jemand, der sich gerade erleichtert, weil se ne Party abhalten.“ „Aber das ist es, wenn die Besuch haben und saufen bis zum umfallen, dann brauchen se doch was zum Pennen, Mensch kapierste nicht, die schlagen einfach ein Zelt auf und schon können alle ihren Rausch ausschlafen.“ „Aber dann ist auch jemand da, oder?“ 25 „Na denkste die bauen das Zelt für jede Feier neu auf?“ Im Prinzip war es egal, ich hatte eh nicht viel Hoffnung in irgendeinem Garten ein Zelt zu finden. Also machten wir uns auf den Weg zur Umgehungsstraße. Es war spät geworden und die Gärten lagen in einem schwer definierbaren Dämmerlicht, eine Mischung aus Restsonnenlicht und langen Schatten. Am Horizont stand bereits der Mond, der wohl das Ende des Tages nicht erwarten konnte. Systematisch klapperten wir alle Gartenwege ab. Es war Totenstille, nichts zu hören von einer ausgelassenen Party oder zu sehen von einem Zelt. Mit jedem Gartenweg, den wir absuchten, schwand die Hoffnung. Der Mond hatte nun obsiegt und gab sich alle Mühe, sein düsteres Licht zu spenden. Kommentarlos machten wir uns auf den Heimweg. Es war wohl doch ne zu blöde Idee, dachte ich. Die Straße wieder in Sichtweite, bereitete ich mich gedanklich schon mal auf den Triumphzug meines Vaters vor. Wie sollte man das auch erklären, erst der große Disput und dann das. Ich schaute noch ein letztes Mal zur Anlage, als ich glaubte helle Umrisse zu sehen. Ich stieß Frank in die Seite. „Guck doch mal, dahinten.“ Frank stierte angestrengt in die Dunkelheit und sagte, „das ist nur ein angeleuchtetes Laubendach.“ Ich ließ nicht locker, bis er nach minutenlanger Diskussion nachgab und wir zurückgingen. Mir brannten vor Anstrengung die Augen, doch ich konnte nichts erkennen. „Los komm, da ist nichts“, nervte Frank. Er hatte jede Hoffnung verloren und auch ich verspürte keine Lust mehr etwas zu sehen, was es nicht gab. Dennoch gingen wir die letzten Meter, wenn auch lustlos, zu dem fraglichen Garten, der am Ende des Weges lag. Das Dach der Laube reflektierte das Mondlicht und im letzten Moment, gerade als Frank sich bestätigt fühlte und zu fluchen begann, sah ich etwas. Ein Geräteschuppen konnte es nicht sein, mitten auf der Wiese zwischen Obstbäumen. Ich trat an den Zaun heran, doch ich konnte nichts erkennen. Frank stand neben mir und schwieg. 26 Eine Taubheit gleiche Stille hüllte die Umgebung ein und meine Halsschlagader hämmerte so stark, dass ich glaubte, sie risse sich jeden Moment los, um wie ein außer Kontrolle geratener Gartenschlauch um sich zu schlagen und den Lebenssaft in pulsierenden Stößen herauszuschleudern. Wir schauten uns an. Das Gefühl der vielleicht einmaligen Chance war jetzt stärker als die Mischung aus Aufgeregtheit und Angst. In Sekundenschnelle überwand ich den Gartenzaun, ein wabbliger Maschendraht, der mich um ein Haar kopfüber in den Garten stürzen ließ. Ich schaute mich um. Frank stand noch immer unschlüssig vor dem Zaun und rührte sich nicht von der Stelle. So schlich ich mich langsam, fast auf Zehenspitzen, obwohl das in einem Garten unsinnig erschien, an das Objekt heran. Es war ein Steilzelt. Ich schaute zum Himmel und fragte mich, ob es höhere Mächte gibt oder nur Zufall war, dass wir aufgrund eines Irrtums ein Zelt in völliger Finsternis gefunden hatten. Der Zelteingang stand einen Spalt offen und ich schaute vorsichtig in das Innere, doch dunkle Umrisse ließen mich zurückschrecken. Nun kletterte auch Frank über den Zaun und stellte sich hinter mich. Leise flüsterte er mir ins Ohr, „vielleicht ist da jemand drin.“ „Da kann niemand sein, es sei denn ein Toter“, versuchte ich mich zu beruhigen. Dicht neben mir spürte ich Franks Atem. Es war unheimlich. Dann überwand ich mich und griff beherzt in das Zelt. Es war eine Luftmatratze, auf der ein Schlafsack lag. Jetzt ging alles ganz schnell. Fast in Panik lösten wir die Heringe, rollten das Zelt zusammen und warfen es über den Gartenzaun. Im Nu waren wir über den Zaun gesprungen und schlichen uns aus der Gartenanlage zurück in Richtung Umgehungsstraße. Die Aufregung steckte uns noch mächtig in den Gliedern und erst die vertrauten Geräusche der näher kommenden Stadt beruhigten uns. Wir verabredeten uns schon für Sechs, denn wir wollten so schnell wie möglich aus der Stadt sein. Wer würde uns schon abnehmen, dass wir uns das Zelt nur ausgeliehen hatten? 27 -3– Die Abendsonne stand flach über dem Horizont der Annaburger Heide, als mich ein unnatürlich dumpfes Knackgeräusch aus dem monotonen Takt des Tretens herausriss. Der plötzliche Wegfall des Tretwiderstandes und das immense Gewicht des Gepäcks führten zu starken Trudelbewegungen und ich stürzte ungebremst auf den Asphalt. Gott sei dank war es schon spät und nur wenig Verkehr auf der Landstraße. So blieb mir größeres Unheil erspart, wenn man von den aufgeschlagenen Händen absieht, die zu bluten begannen. Frank, der vorneweg gefahren war, stieg vom Rad und kam zu Hilfe. „Man, jetzt wo wir fast da sind, wie hast’n das wieder hingekriegt.“ „Die Scheiß Kette“, fluchte ich. „Na prima, wo kriegen wir jetzt ne Kette her?“ Ich lud das Gepäck vom Fahrrad und verarztete mich notdürftig. Es waren nur Schürfwunden, also nichts Dramatisches. Frank setzte sich auf die Böschung am Straßenrand und überlegte. Wir hatten fast zweihundert Kilometern in den Beinen und Torgau, eine Kleinstadt mit etwa zwanzigtausend Einwohnern, lag praktisch zu unseren Füßen. Die Spitze des Kirchturms verriet sie. Doch zehn Kilometer waren zuviel um die Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Außerdem waren wir zu erschöpft. „Ich denke, wir sollten hier unser Nachtquartier aufschlagen“, schlug ich vor. Frank schaute sich genervt um. „Hier ist weit und breit nichts, willste auf’m Acker zelten.“ Ich deutete mit der Hand in Richtung Westen. „Hinter dem Kornfeld ist ein guter Sichtschutz. Für die eine Nacht wird das schon gehen. Und morgen fährt einer mit dem Fahrrad in die Stadt rein und besorgt ne neue Kette.“ Frank quittierte den Vorschlag mit einem Schulterzucken und so liefen wir die letzten Meter die Straße entlang, die, soweit das Auge reichte, von Kirschbäumen gesäumt war. Noch nie 28 zuvor hatte ich solche Süßkirschen gesehen. Wenn ich da an die Mickerlinge in der HO dachte. Obwohl wir schon erschöpft waren, meine Hände schmerzten und die einsetzende Dämmerung anzeigte, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten, kletterten wir auf einen der Bäume und stopften uns erst den Magen und dann die Taschen voll. Frank konnte einfach nicht genug kriegen. „Los jetzt“, fuhr ich ihn an, „sonst stehen wir morgen noch hier.“ Müde schlichen wir in Richtung des geplanten Nachtlagers und bauten unser Zelt direkt neben dem Wald am Feldrand auf. „Was hältst Du davon, wenn wir sie kochen“, sagte Frank. Ich wusste nicht was er meinte und schaute ihn fragend an. „Zum wegschmeißen sind sie zu schade“, quittierte er meine Begriffsstutzigkeit. „Und Zucker, Du brauchst Zucker dazu“, glänzte ich mit einem Einwand. „Hab’ ich hier.“ Mit einem breiten Grinsen zog er eine Tüte mit Zucker aus seinem Rucksack. „Ein guter Camper denkt an alles.“ „Aber das ist verboten.“ „Ach was, wir bauen einfach einen kleinen Schutzwall um das Feuer herum.“ Die Kochstelle war schnell hergerichtet und so gab es nach den erntefrischen Kirschen Kirschkompott, wofür ein nicht unerheblicher Teil unserer Wasserreserven herhalten musste. Am Ende konnten wir nichts mehr sehen, was auch nur einer Kirsche geähnelt hätte. Wir verkrochen uns in unser Zelt, zogen die Decken über das Nachtlager und versuchten zu schlafen, doch der Gesang der Grillen ließ uns kein Auge zu machen. Ihr lautes Konzert übertrug sich bis in den letzten Winkel der Sommernacht. Mir schossen Bilder unserer gemeinsamen Schulzeit durch den Kopf. Ich erinnerte mich noch genau, wie ihn uns Frau Mendelssohn, unsere damalige Klas- 29 senlehrerin, vorstellte. Sein Vater hatte Arbeit im Stahlwerk gefunden und so waren sie von Möbiskruge in die Stadt gezogen. Wie verängstigt er damals war, als er vor unserer Klasse stand, erinnerte ich mich. Das war jetzt fünf Jahre her. Nun schienen sich unsere Wege zu trennen. Ich drehte mich zur Seite. Frank rührte sich nicht. Er hatte sich wie eine Mumie eingemummelt und lag regungslos auf seiner Luftmatratze. Vielleicht schlief er schon. „Wie ist eigentlich deine Abschlussprüfung gelaufen?“, fragte ich ihn. „Ganz gut“, antwortete er leise. Wir hatten uns nie über die Schule unterhalten und er schien überrascht über meine Frage. „Du meinst ziemlich gut.“ „Ich werde auf die Penne gehen. Ich will mal im Bereich Sportjournalismus arbeiten.“ „Du hast nie etwas darüber erzählt.“ Frank schwieg. Die meisten Jungs in der Klasse sollten einmal erfolgreiche Instandhaltungsmechaniker oder Elektriker werden, der Rest ging auf den Bau oder in die Landwirtschaft. Die Mädels wurden Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, gingen in den Handel oder lernten in der Textilindustrie. Immer wenn ich erzählte, dass ich Bauarbeiter bei der Reichsbahn werden wollte, erntete ich Spötteleien. Dann gab’s den allseits bekannten Spruch: Hast du einem dummen Sohn, schicke ihn zur Bauunion, ist dein Sohn noch dümmer, die Reichsbahn nimmt ihn immer. Plötzlich fühlte ich mich erbärmlich. Ich hasste meine Mittelmäßigkeit, mit nichts konnte ich auftrumpfen. Frank sah gut aus, hatte ständig die hübschesten Mädels um sich rum, würde studieren und vielleicht mal als zweiter Heinz Florian Oertel von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften berichten, mal ein berühmter Sportjournalist sein, der mit Anekdoten aus seinem Reporterleben zur Erheiterung seines Publikums beiträgt und sich später wohl kaum noch an einen Bauarbeiter im grauen Niemandsland erinnern würde. 30 „Denkst du, dass sie dich nehmen, ich meine . . .“, ich stockte. Ein leichter Wind bewegte das Zeltdach und machte unheimliche Geräusche. „Fred, es ist nur Sport, und es ist auch unser Land.“ „So hab´ ich das doch nicht gemeint.“ „Immer, wenn unsere Fahne gehisst und dabei die Hymne gespielt wird, weil wir mal wieder eine Goldmedaille nach der anderen abgeräumt haben, dann bekomme ich eine Gänsehaut. In solchen Momenten vor Ort zu sein und zu berichten, das ist es.“ Seine Antworten waren wie Nadelstiche. Ich war neidisch, neidisch darauf, dass nicht ich eines Tages von solch einem Meeting von Weltrang berichten würde. Ich versuchte, die in mir hochkommenden negativen Gefühle zu unterdrücken. „Ich übrigens auch.“ „Was?“ „Ich bekomme auch eine Gänsehaut.“ Frank lächelte. Ich konnte es nicht sehen, aber ich spürte es und irgendwie war ich froh, die Kurve gekriegt zu haben. Außerdem, warum nicht auf dem Bau, vielleicht ging ich nach Kuba, um dort beim Aufbau zu helfen, dann würde ich bunte Ansichtskarten von der Südsee schicken. Fred mit den Schönheiten der Karibik am schneeweißen Strand, im Hintergrund die prachtvollen, kolonialen Bauten und Art-Deco-Fassaden von Havanna. Mit diesen Gedanken war ich schon fast am Einschlafen, als ich ein kaum wahrnehmbares Geräusch vernahm. Ich richtete mich auf und steckte meinen Kopf aus dem Zelt. „Was ist?“, fragte mich Frank. Ein monotones Geräusch schwappte aus der Nacht zu uns herüber. „Hörst du das nicht?“ „Ich hör’ nischt.“ „Komm doch mal.“ „Oh man, du nervst, lass uns jetzt pennen.“ „Das sind Mähdrescher.“ 31 Am Horizont erkannte ich Lichtkegel, die jeden Zweifel wegfegten. Hier konnten wir auf keinen Fall bleiben. Ich stieß Frank an, doch er machte keine Anstalten aufzustehen. Ich reagierte wohl über, beruhigte ich mich und ließ mich wieder aufs Bettlager fallen. Diese Nacht würden sie sicher nicht mehr bis zu uns vorrücken. Außerdem wollten wir zeitig los, um die Kette zu besorgen. So beschloss ich, keine große Diskussion anzufangen und gab dem unwiderstehlichen Drang nach Schlaf nach, als uns plötzlich eine raue Männerstimme jäh aus den Träumen riss. „Polizei, öffnen sie das Zelt.“ Ich bekam meine Augen kaum auf, als die Stimme wiederholt und noch energischer zum Verlassen des Zeltes aufforderte. Jetzt durchfuhr es mich bis in die letzten Nervenbahnen und mein Herz raste. Mit zittrigen Händen öffnete ich den Reisverschluss und schob die Zeltplanen beiseite. Ein Schwall der kühlen und feuchten Morgenluft schlug mir ins Gesicht und der Lichtkegel einer Taschenlampe blendete mich. „Bist Du allein im Zelt?“, fuhr mich der Polizist an. „Nein.“ Frank richtete sich auf und saß wie hypnotisiert auf seiner Luftmatratze, als der Herr von der VOPO mit der Taschenlampe in das Zelt leuchtete. Er war nicht allein. Hinter ihm holte ein Kollege eine Mappe aus dem Polizeiwagen, trat ebenfalls vor das Zelt und sagte, „na meine Herren, wird’s bald.“ Er war jünger, vielleicht um die zwanzig und machte ein auf oberwichtig. Mit angespannter Miene zupfte er an seiner Mappe, als wir unsere müden Knochen aus dem Zelt bewegten. Er schlug sie auf und zückte bedeutungsvoll seinen Stift. „Habt ihr ´nen Ausweis dabei?“, fragte er barsch. „Ja“, sagte ich müde. Ich kann mich noch genau erinnern, wie stolz ich war, als ich mit vierzehn den frisch gedruckten Ausweis auf dem Meldeamt abholen durfte. Nun kam er erstmalig zum Einsatz. Allerdings hatte ich mir die Premiere anders vorgestellt. Er leuchtete das Areal am Zelt ab und ich war nicht sicher, ob er die Feuerstelle bereits entdeckt hatte. Viel- 32 leicht war es auch nur eine Routinekontrolle. Ich nahm unsere Ausweise und gab sie dem Genossen. Er richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Papiere und sagte, „Sie kommen aus Eisenhüttenstadt, hm, was wollt ihr den in dieser gottverlassenen Gegend, so weit entfernt von Mutters Fressnapf?“ Ich schaute zu Frank, der lapidar erwiderte, „Verwandtschaft besuchen.“ „Geht es auch etwas genauer?“ „Wernigerode.“ Der Polizist wurde ungehalten. „Klar, und im Himmel ist Jahrmarkt.“ Nun leuchtete er den Feldrand ab und fand die Feuerstelle. „Also doch.“ Wir schauten uns an. Frank machte ein genervtes Gesicht und ärgerte sich, dass wir nicht gleich abgehauen waren. Zumindest säßen wir dann nicht in diesem Schlamassel. Plötzlich hörten wir ein lautes, unverkennbares Motorengeräusch, als Sekunden später ein riesiger Mähdrescher neben dem Funkwagen hielt. Ein Mann im Blaumann sprang von seinem Gefährt und ging forsch auf die Polizisten zu. Er schaute kurz zu uns herüber und quittierte unsere Anwesenheit mit einem Kopfschütteln, dann wandte er sich den Genossen zu. Sein Gesicht, gegerbt von der täglichen Landarbeit, sah durch das schräg einfallende Licht der Morgensonne aus wie ein frisch gepflügter Acker. Falten so tief wie Schützengräben. Er war von kräftiger sportlicher Statur, ein Riese mit rotblonden Stoppeln im Gesicht und kurzem kupferfarbenen Haaren auf dem Kopf. Trotz seines zerfurchten Gesichts wirkte er jungenhaft. Wir Stadtkinder bekamen ja nicht oft Bauern vom Land zu Gesicht. Der Vopo wandte sich an den Riesen. „Sind das die Jungs?“ „Das kann ich nicht sagen.“ „Wie, das können sie nicht sagen, sie haben uns doch angerufen?“ „Ja schon, aber?“ 33 „Na also, Sie brauchen uns doch nur bestätigen, dass das hier die Brandstifter sind.“ Der Bauer, dem der übereifrige Polizist gerade über den Mund gefahren war, machte einen Schritt nach vorn. „Hören Sie, ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet, unter anderem auch deshalb, damit ihr feinen Genossen immer frisches Brot auf dem Tisch habt. Also, noch mal zum mitmeißeln, ich habe ihnen gemeldet, dass da jemand am Feldrand Feuer gelegt hat. Wenn bei der Trockenheit so ein Kornfeld in Flammen steht, dann, na dass muss ich ihnen ja nicht erklären. Jedenfalls kann ich nicht in der Morgendämmerung Gesichter auf fünfhundert Meter Entfernung erkennen, da würde ich mich hier nicht abrackern müssen, und von meinem Mähdrescher konnte ich nicht weg, verstehen Sie, Geeenossse“. „Gut, unterschreiben Sie hier und dann können sie Feierabend machen.“ „Klar doch, Herr Wachtmeister.“ Er machte er seinen Wilhelm unter das Protokoll und verschwand kopfschüttelnd in sein Monstrum. „Na los, packt euer Zeug zusammen,“ sagte Kommissar Oberwichtig, „wir nehmen euch erst mal mit auf die Wache, dann sehen wir weiter.“ Wir setzten uns müde ins Polizeiauto und sahen den tief orangefarbenen Himmel am Horizont, der einen Bilderbuchsommertag ankündigte. Die Polizisten fuhren der Kreisstadt Torgau entgegen und nahmen ungerührt jedes Schlagloch mit. In der Stadt sah ich unzählige Menschen, die müde an den Bussteigen warteten. Wie früh sie mit ihrer Arbeit beginnen mussten, dachte ich. Als die Busse einfuhren, sah man noch den einen oder anderen Nachzügler zu den Haltepunkten hetzen. Die allmorgendliche Szenerie hatte etwas Bedrückendes. Mir fiel es deshalb so auf, weil ich normalerweise die Menschen nur von der Arbeit kommen sah, nachmittags, wenn sie aus den Bussen stiegen und sich auf den freien Nachmittag freuten. Vielleicht an einem so schönen Som- 34 mertag, wie es heute einer zu werden versprach. Welch eine Verwandlung. „Wir sind da meine Herrschaften“, sagte der junge Polizist, der schon die ganze Zeit genervt hatte, und schob die Tür auf. Die Polizeiwache befand sich am Marktplatz, zu der eine Treppe hinauf führte. Hinter einer Plexiglasscheibe saß jemand vor mehreren Telefonapparaten, Sprechfunk und musterte uns lustlos. Als die zwei Kollegen uns hereinführten, gab er einen mürrischen Kommentar ab. „Wo habt ihr denn die aufgegabelt.“ „Draußen vor der Stadt, Camping im Kornfeld.“ „Hm, und was haben die zwei angestellt, ich meine, außer dass sie gecampt haben?“ „Vermutlich Brandstiftung, aber dass müssen wir noch feststellen lassen. Kannste einen von der Kriminalabteilung rüberschicken?“ „Um die Zeit? Ausgeschlossen. Du weißt doch, die sind nicht von der frühen Truppe, also vor Acht kriege ich keinen von den Herren hierher.“ „Ok, wir nehmen schon mal das Protokoll auf, ach, und kannst du für die Jungs einen Tee und für uns eine Tasse Kaffee kochen.“ Kommentarlos reichte er die Formulare rüber und sagte, „ihr wisst ja wo die Kaffeemaschine steht“, dann setzte er sich wieder völlig unaufgeregt an seinen Arbeitsplatz. „Aber wir . . .“ „Seit wann kommt denn der Berg zum Propheten. Außerdem kann ich hier nicht weg“ Missmutig gaben sie auf und führten uns in einen separaten Raum. Das Zimmer war nüchtern eingerichtet. In der Mitte des von Neonleuchten erhellten Raumes stand ein Schreibtisch, weiß, wie die Tünche der Wände, daneben ein Tisch mit Stühlen. „Gut, ihr könnt euch erst mal hier hersetzen und warten, ich komme gleich wieder.“ 35 „Werden sie uns hier behalten?“ „Erst mal werdet ihr verhört, dann sehen wir weiter.“ Wir saßen uns schweigend gegenüber. Nur das leise Brummen der Vorschaltgeräte von den Neonleuchten unterbrach die Stille. Wir saßen in der Falle und wenn das mit dem Zelt auch noch rauskäme, dann wäre es Brandstiftung und Diebstahl in Tatmehrheit. Wir hörten, wie unten gestritten wurde. Offensichtlich waren sie sich nicht einig, was mit uns geschehen sollte. Die Tür öffnete sich und der junge Polizist, der am Morgen noch so unsympathisch wirkte, brachte uns zwei Tassen dampfenden Tee und stellte uns einen Mann in Zivil vor, „also, das ist der Genosse Pankrat von der Kriminalabteilung, der wird euch ein paar Fragen stellen“, dann verschwand er auch schon wieder. Der Kommissar sah aus wie jemand, der vergessen hatte erwachsen zu werden, obwohl er mindesten vierzig Jahre alt sein musste. Seine blonden Haare waren glatt zur Seite gekämmt und die schwarze Hornbrille wirkte viel zu groß für ihn. Er nahm sich einen der Stühle und setzte sich zu uns. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass er uns nicht einzeln vernahm, dachte ich. „Vielleicht sagt ihr mir erst mal, was euch in unsere Gegend verschlagen hat.“ „Ne Radtour“, begann Frank, „wir wollen durch den Süden der Republik. Es sind unsere letzten großen Ferien, wissen Sie, da wollten wir noch mal was ganz Besonderes machen, bevor es ernst wird.“ „Das ist euch ja gut gelungen, hättet um ein Haar das ganze Kornfeld in Brand gesteckt und den Wald gleich dazu.“ Frank versuchte sich zu rechtfertigen. „Wir hatten doch einen Schutzwall um die Feuerstelle gebaut, da hätte doch gar nichts passieren können.“ „Habt ihr schon mal was von Funkenflug gehört? Das Korn ist zur Ernte extrem trocken, da reicht der kleinste Funken, dann noch ein bisschen Wind und die Katastrophe ist da.“ 36 Mir wurde bewusst, dass das ziemlich bescheuert war mit dem Schutzwall. Und eigentlich hatten wir für so viel Blödheit ne Strafe verdient. „Wir wollten wirklich keinen Schaden anrichten, das müssen sie uns glauben“, erklärte ich dem Kommissar. Er machte einige Aufzeichnungen und überlegte. „Müssen wir jetzt ins Gefängnis, ich meine, können wir unsere Ausbildung vergessen?“, stammelte Frank. „Nein, Nein, so schnell kommt man nicht ins Gefängnis. Es gibt keinen Sachschaden und von Brandstiftung kann keine Rede sein. Also, ich mache euch einen Vorschlag, ihr unterschreibt mir hier das Protokoll für unerlaubtes Campen und verpflichtet euch dafür in den Ferien für eine Woche in der Landwirtschaft zu arbeiten.“ Wir schauten uns überrascht an. Keiner von uns hatte damit gerechnet, so glimpflich aus der Sache herauszukommen. Nachdem wir unterschrieben hatten, entspannten sich alle und er schmunzelte uns anerkennend zu. „Ich hab’ gehört, ihr wollt nach Wernigerode, das ist ziemlich weit.“ „Ach was, das schaffen wir schon.“ Er stand auf und gab uns einen kräftigen Händedruck. „Na dann wünsche ich euch Hals und Beinbruch“ „Werden sie unseren Eltern etwas sagen?“ „Ich denke, das ist nicht nötig.“ Der ältere Polizist in der Zentrale führte uns zu unseren Sachen und sah mich etwas mitleidig an, als er mein Fahrrad sah. „Na, da wird’s ein bisschen schwer mit dem Radeln, was Jungs.“ Er führte seine rechte Hand zum Gesicht, beugte sich leicht nach vorn und überlegte. „Hm, am besten ihr wartet mal hier.“ Er ging zum Schreibtisch der Wache und holte eine alte Zigarrenschachtel hervor, in der er allerlei Krimskrams aufbewahrte. Er wühlte darin herum und fischte prompt ein Kettenschloss heraus und fragte, „hilft euch das?“, dann reichte er mir das winzige Gliederschloss, das ich schnell in meiner 37 Hosentasche verschwinden ließ. Da soll noch mal einer sagen, die Volkspolizei ist nicht dein Freund und Helfer. „Vielen Dank.“ „Ich hoffe, wir sehen uns nicht wieder.“ Wir verabschiedeten uns von ihm, packten unsere sieben Sachen zusammen und schoben müde unsere Drahtesel aus der Polizeiwache. Draußen empfing uns ein frischer Sommermorgen und die Stadt zeigte sich freundlich. Nichts war mehr zu sehen von der frühmorgendlichen Hektik. Die Geschäfte hatten bereits geöffnet und die Einwohner der Stadt, vielleicht Schichtarbeiter oder Mütter, die nicht arbeiteten, weil sie gerade im Babyjahr waren, bummelten vor den Schaufenstern entlang, und wir, da nun nur noch die Reparatur der Kette anstand, konnten uns frohen Mutes aufmachen unser nächstes Nahziel, Leipzig, zu erreichen. 38 -4Die Werkzeugtasche für die Reparatur der Kette befand sich am untersten Ende meines Rucksacks. Ich zog ungeduldig, als sich das Werkzeug mit lautem Geschepper gleichmäßig auf der Erde verteilte. Ein erneuter Knall ließ mich hochfahren und riss mich aus meinen Träumen. Eine uniformierte Person stand in der Schiebetür des Wagenabteils und entschuldigte sich, „dat tut mir leid, ich wollte se wirklich nich erschrecken, aber hier is Endstation. Sehn se ma, da draußen, dat is Kölle.“ Mit einem breiten aber freundlichen Grienen war er auch schon wieder verschwunden. Ich brauchte einige Sekunden, um wieder in das Jahr 1995 zurückzukehren. Ungläubig schaute ich durch das Abteilfenster. Der Geruch des Bahnhofs war bis ins Abteil vorgedrungen, vielleicht war es aber auch nur noch die Erinnerung daran. Ich zwängte mich mit meinem Gepäck aus der schmalen Zugtür und fluchte, weil ich mit einer meiner Taschen hängen blieb. Ein Gemisch aus Ungeduld, Aufgeregtheit und Bedrückung ergriff mich, als mich der Zugwagen endlich ins Freie entließ und ich den fremden Boden des Kölner Hauptbahnhofes unter den Füßen spürte, meine Geschichte unauffällig durchgewunken in die neue Zeit. Sie war nur noch ein diffuses Bild, eine Fata Morgana im Rückwärtsblick, hinweggespült von den Ereignissen des Spätherbstes Neunundachtzig, als hätte es das Land nie gegeben, Christine, meine große Liebe, und Anne, unsere Tochter, die ich besonders vermisste. Damals, in Eisenhüttenstadt, das früher einmal Stalinstadt hieß, hatten wir gleich nach der Hochzeit eine Neubauwohnung bekommen, dazu den zinslosen Kredit von siebentausend Mark, der sich wegen Anne noch um tausend Mark verringerte. Heute lebt Christine in München und ich bekomme zu Ostern und Weihnachten regelmäßig eine Grußkarte aus der Hauptstadt Bayerns, immer mit einem aktuellen Bild von Anne. Im Abschiedsbrief, nach ihrem Auszug, hatte sie bedauert, dass ich nicht ausge- 39 treten war, damals, aus der Partei. Sie hätte aber die neue Freiheit gebraucht wie die Luft zum Atmen. Mir dagegen stockte der Atem. Da stand ich, fühlte mich verkleidet, unecht. Keine Spur von Euphorie, eher Beklemmung. Unter den vielen Menschen auf dem Bahnhof fühlte ich mich mutterseelenallein. Ich war jetzt neunundzwanzig Jahre alt. Das bedeutete vierundzwanzig Jahre Altlast. Im ehemaligen Feindesland, das nun meine neue Heimat werden sollte, musste ich mich von sozialistischen Irrungen befreien, wie die Schlange die alte Haut abstreifen für ein Leben in Freiheit. Auf dem Bahnhof herrschte hektisches Treiben. Menschen, aber auch Gestalten, die ich aus meiner Vergangenheit nicht kannte, kreuzten meinen Blick. Ich stand verloren auf dem Bahnsteig und umklammerte meine Reisetasche, als wollte ich sie nicht loslassen, die Vergangenheit, mit den wenigen persönlichen Erinnerungen aus einer anderen Zeitrechung: ein Buch von Anna Seghers - Die Kraft der Schwachen, unser Hochzeitsfoto, auch wenn wir nicht mehr verheiratet waren, mein Parteibuch, auch wenn ich die Mitgliedschaft lange gekündigt hatte. Eine junge Frau bemerkte meine hilflosen Blicke und fragte, ob sie helfen könne. Sie gefiel mir, doch die Stimme versagte ihren Dienst und mein verlegenes Lächeln geriet zu einem Grienen. Ihre hellblonden Haare, die sie ständig nach hinten schob, fielen ihr immer wieder Gesicht. Sie hatte lauter Sommersprossen und ihre grünen Augen leuchteten wie zwei Smaragde. Erst langsam löste sich meine innerliche Starre und ich fragte sie etwas roboterhaft, wie ich am besten nach KölnBuchheim käme. Sie begleitete mich nach draußen und zeigte mir die S-Bahn, die mich in den Osten der Stadt bringen würde. Das Zentrum der Stadt enttäuschte mich. Es ist geprägt von einer schlichten Nachkriegsarchitektur, in dessen Mitte der gewaltige Dom die Stellung gegen jede neuzeitliche Veränderung behaupten muss, so scheint es. Unzählige Generationen sollen über Jahrhunderte am Bau der Kirche mitgewirkt haben, erinnerte ich mich an eine Vorlesung über 40 spätgotische Bauten. Ich sah, wie sich einkaufshungrige Massen, beladen mit riesigen Plastiktaschen, durch die engen Ladenstraßen wälzten. Nirgendwo sah ich breite, lichtdurchflutete Boulevards mit monumentalen Gebäuden, die hin und wieder von grünen, schattigen Oasen mit Wasserspielen und Springbrunnen durchbrochen wurden. Meine irrationale Vorstellung von Köln, der ehemaligen Provinzhauptstadt an der Ostgrenze des Römischen Reiches von Kaiser Augustus, wurde von der Realität unsentimental zurechtgerückt. Sie genoss meine Verblüffung und war wohl überzeugt, dass ich so eine tolle Stadt noch nie zuvor gesehen hatte. Ich Landei würde mich hier sicher verlaufen, flachste sie. Mein ungläubiger Gesichtsausdruck veranlasste sie zu scherzen. Eisenhüttenstadt sei ein merkwürdiger Name und noch nie hätte sie etwas von der Stadt an der Oder gehört. Sie sagte, dass sie als Marketingchefin bei einem bekannten Kölner Möbelhersteller arbeite und viel auf Geschäftsreise sei. In die entferntesten Winkel Deutschlands würde es sie verschlagen, erklärte sie mir stolz, aber Eisenhüttenstadt. Wie zum Beweis zog sie aus einem Stapel von Adressen unzähliger Geschäftskunden eine Visitenkarte, auf der Leutner Oberflächenbeschichtungen GmbH stand. Die Firma sei ein Großlieferant und suche immer mal wieder Leute, sagte sie. Sie schrieb mir ihre Nummer auf und eh ich mich versah, war sie auch schon wieder verschwunden. Sie hieß Lisa Schilling. Ich las ihren Namen immer und immer wieder, fast zwanghaft. Ob wir uns wiedersahen? Vielleicht. Die S-Bahn holperte auf der Hohenzollernbrücke über den größten Fluss Deutschlands. Die riesige Stahlkonstruktion, ein gigantisches Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst, ist beeindruckend. Alles scheint hier größer als bei uns zu Hause. Köln-Buchheim dagegen ist unspektakulär. Es reiht sich ein Haus an das andere mit den für diese Region typisch grauen Dächern. Ziemlich monoton, dachte ich. Die Vermieterin hieß Obereigner, eine ältere gepflegte Person, die übermäßig nach süßem Parfüm roch und 41 mich misstrauisch an der Haustür empfing. Sie musterte mich von oben bis unten und war sich wohl nicht sicher, ob der Gast genug Geld bei sich hatte. Sie trug eine Goldbrille um ihren Hals, die an einer mit Steinen besetzten Kette befestigt war und, so schien es mir, den Dekolletéschmuck ersetzte. „Na kommen Sie“, bat sie mich mürrisch herein und führte mich in ein schlichtes Zimmer, um mich im nächsten Moment im Türrahmen stehen zu lassen. Falls mir die Decke auf den Kopf fiele, schickte sie mir noch hinterher, könnte ich ja gegenüber in die Kneipe gehen. Dann ging sie nach unten. Die Geschmacklosigkeit der Zimmereinrichtung war frappierend. Ein beiger, auf Hochglanz polierter Schrank reichte bis an die Decke und bot kaum Kontrast zu den bereits vergilbten Gardinen. In seinen Fächern befanden sich diverse Mitbringsel: ein kitschig eingerahmtes Bild von Tirol, eine Glaskugel, die, wenn man sie drehte, eine Weihnachtslandschaft erzeugte und Tulpengläser unterschiedlichster Brauereien und Fußballvereine. An einem schmalen Tisch, auf dem eine wuchtige Schale aus Kristallglas stand, befanden sich zwei klapprige Holzstühle und der alte Teppich wartete wohl auch schon ungeduldig auf seine nächste Reinigung. Das Zimmer war wirklich schrecklich und verströmte den Geruch einer Altkleiderkammer. Ich stellte meine Taschen neben dem Schrank und ließ mich auf das Bett sinken. Zumindest das schien bequem. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier länger zu wohnen. Ich stand auf und trat an das Fenster. Durch die Gardine konnte ich die kleine Schankwirtschaft erkennen, von der sie gesprochen hatte. Auf einem kleinen Aufsteller stand in Kreideschrift: Eine Halve Hahn mit einer Stange Kölsch für nur 3,50 DM. Ich beschloss nach unten zu gehen, da ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Am Tresen saßen drei Männer, die mich sofort ins Visier nahmen. Ein alter Mann, der etwas abseits der Gruppe saß, zog apathisch an seiner Zigarette und schien sein Umfeld zu ignorieren. 42 „Was darf´s denn sein“, begrüßte mich der Wirt sogleich. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Weste und hatte einen Stift hinter das Ohr geklemmt. Sein Zwiebelbart und die uralte Brille aus Messing gaugelten eine längst untergegangene Welt vor. Doch er schien sich in der Rolle zu gefallen. Ich setzte mich an die Bar und bestellte ein Bier. „Das geht auf mich“, sagte einer der drei und lächelte mir freundlich zu. Ihre Zielrohre ungezügelter Neugier waren auf mich gerichtet, dabei wollte ich doch nur meinen Gedanken nachhängen und die neuen Eindrücke verarbeiten. Doch einfach nur Gucken, Horchen und Informationen sammeln, das funktionierte hier nicht und schon folgte eine handfeste Diskussion über den anderen Teil deutscher Identität. „Mensch, da haben se euch aber janz schön ausjesperrt, wat“, drückte der edle Spender des Gerstensafts sogleich sein Mitgefühl über mein bisheriges Leben in Unfreiheit aus. „Na ja.“ Mir fehlten die Worte. „Hey“, dann klopfte er mir auf die Schulter, „du musst doch nicht gleich verlechen sein, keener kann wat dafür, wo er aufwächst, ne.“ Er schaute in die Runde und erntete entsprechende Bestätigung. „Was wisst ihr denn schon“, erwiderte ich gereizt. „Mensch Junge, dir haben se in der Ostzone aber janz schön das Jehirn vernebelt, wat, sei doch froh, dass die Scheiße vorbei ist und de jetzt in Freiheit leben kannst.“ Ich schwieg. Einer der Drei versuchte zu schlichten. „Mensch Leute, nun lasst ihn doch in Frieden, ein Tier, das jahrelang einjesperrt war, muss sich auch erst an die Freiheit gewöhnen, das jeht nicht von heute auf morgen.“ Sie verstanden nichts, dachte ich und erinnerte mich an die machtvolle Kundgebung auf dem Alexanderplatz, an Friedrich Schorlemmer, Stefan Heym und Christa Wolf, daran, wie sie auf der provisorisch aufgebauten Bühne standen, mutig und kraftvoll zu einem Millionenpublikum sprachen, das 43 schier elektrisiert war an diesem Tag, als sich alles so neu anfühlte. Wie die Bilder in mir noch lebten, die in der Realität schon vergessen waren, aufgesaugt vom Vakuum der Geschichte. Ein erneuertes Land, das war es, was wir wollten, nicht eine frei gewählte Volkskammer, die sich als Politassistenz der mächtigen Parteienpolitiker aus dem Westen selbst abwickelt. Aber das behielt ich für mich. Der alte Mann, der die Diskussion schweigend mitverfolgt hatte, gab mir Rückendeckung. „Junge, lass dich nicht unterkriegen, die Grünschnäbel wissen doch gar nicht, wovon sie reden.“ Dann erzählte er, dass er in Danzig aufgewachsen und nach der Vertreibung 1945 im Ruhrgebiet gelandet sei. Er wisse was Verlust der Heimat bedeute. Ich war erleichtert. Die anderen hatten auch die Lust an dem Thema verloren und so redeten wir über Fußball, den aktuellen Fußballweltmeister, Deutschland. Dann wurde ich müde und verabschiedete mich. Man bestand darauf, dass ich mich mal wieder sehen lasse und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Nachtragend waren sie nicht. Auf dem Zimmer zeigte der Alkohol seine Wirkung. Mir rasten Gedanken wie wild durch den Kopf, Vater, Mutter, Christine, Tante, die alten Arbeitskollegen, öde Parteiversammlungen. Ich war angekommen. „Fred Hiller, mein Name ist Fred Hiller“, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Sein Blick, eine Mischung aus Erstaunen und Ratlosigkeit, scannte mich von oben nach unten ab. „Wat kann ich für Se tun?“ „Sie haben mich eingeladen, Geschäftsassistenz.“ „Ach ja, Sie sind der aus’m Osten, wo war dat doch gleich?“ „Eisenhüttenstadt.“ „Hm.“ Er drückte mir meine mittlerweile erlahmte Hand. „Setzen Se sich doch.“ Er wühlte in einem Chaos aus Papier, zog aus einem Stapel von Biographien meine Bewerbungsmappe und blätterte mit 44 skeptischer Miene in meiner beruflichen Vergangenheit, unsicher, ob er mich tatsächlich eingeladen hatte. „Hm, also ich suche jemanden, der mir ein bisschen zur Hand jeht. Ham Se denn schon mal als Geschäftsassistent jearbeitet?“ „Buchhaltung, also, wenn Sie so wollen, ist das auch eine gewisse Geschäftsassistenz.“ „Finden Se?“ „Ja .“ „Sie sind doch Architekt? Wenn ich dat richtich lese, ham Se Drüben mal im städtischen Baukombinat jearbeitet.“ „Wohnungsbaukombinat, im VEB Wohnungskombinat Eisenhüttenstadt. Unsere Abteilung wurde abgewickelt, die Kollegen aus’m . . . also aus den Alten Bundesländern übernahmen das Ruder und bauten Architekturbüros auf. Der Abschluss aus der DDR, na Sie wissen schon, da habe ich mich noch mal auf die Schulbank gesetzt, Buchhaltung, Steuerrecht, Wirtschaftsrecht, alles nach westdeutschem Standard.“ „Na dat hört sich doch jut an. Ich suche jemanden, der mir den janzen Kleenkram vom Halse hält und sich um die Zahlen in der Firma kümmert, Geschäftsberichte uns so, trauen Se sich dat zu?“ „J. . .a, ich denke schon.“ „Hm, können Se denn sofort, ich meine gleich morgen?“ „Klar, kein Problem.“ „Gut.“ Er schloss die Mappe, legte sie auf den Berg aus Lebensläufen und bugsierte den Stapel an den äußersten Rand seines Schreibtisches, so als wolle er in den nächsten Wochen nichts mehr damit zu tun haben und sagte, „dann bringe ich Se mal zu Frau Kasischke, die macht Ihnen den Vertrach.“ Er stand auf und wies mich an zu folgen. Er war zirka Fünfzig, gedrungen, und sein fettiges Resthaar glänzte fischig im Neonlicht der Gangbeleuchtung. Nach einer kurzen Vorstellung entließ er mich mit einer Handbewegung in das Büro seiner kaufmännischen Angestellten, eine ältere hagere Frau 45 mit kurzen blonden Haaren. Sie gab mir ihre dürre Hand, die jeden Moment von ihrem noch dünneren Ärmchen abzubrechen drohte und sagte unwirsch, „wir haben schon mal etwas Platz für Sie gemacht.“ Sie zeigte auf einen unscheinbaren Arbeitsplatz an der fensterlosen Seite des Büros, praktisch im rechten Winkel zur Tür, die mich vom Arbeitszimmer meines neuen Chefs trennte. Rechts von meinem neuen Arbeitsmittelpunkt saß eine junge Kollegin und presste ein verlegenes Hallo hervor. Sie hieß Vicky und war Praktikantin. Ihr flüchtiges Lächeln erlosch wie das Sonnenlicht hinter einer tiefdunklen Unwetterwolke, als sich der eisige Blick ihrer Kollegin auf sie richtete. Die Dritte im Büro stellte sich als Miller vor und war mittleren Alters. Aufgrund ihres Namens und des dunklen Teints schloss ich darauf, dass sie angelsächsischer Herkunft sein musste. „Acht Uhr fangen wir hier an“, fuhr sie schroff fort und schob mir den Arbeitsvertrag mit einem Dir-wird-ich’s-schon-nochzeigen-Lächeln zur Unterschrift rüber. Vielleicht hatte sie Ambitionen auf die Stelle gehabt, die sich nun aufgrund meiner Einstellung und ihres fortgeschrittenen Alters möglicherweise zerschlagen hatten. Ich unterschrieb den Vertrag und verabschiedete mich von ihr. Vor meinem geistigen Auge zeichnete sich schon der auf mich wartende Arbeitsalltag ab und es beschlich mich ein schwer beschreibbares Gefühl aus Freude über die schnelle Festanstellung und einem mulmigen Gefühl, wenn ich an meine neuen Arbeitskolleginnen dachte. Ich wischte den letzten Gedanken fort und ging frohmutig nach Hause. Sie waren vorbei, die Wochen der Untermiete in einem muffigen, umfunktionierten Souterrainzimmer, ein Schicksal, das vor allem die armen Teufel von Zeitarbeitsfirmen trugen, die, um ihrer Heimat treu zu bleiben, Woche für Woche in Zehnquadratmeterbuchten hausten, um an den Wochenenden unendliche Distanzen zwischen Ost und West hin und her zu pendeln. Moderne Sklaven im zusammengewachsenen Deutschland. Jetzt, mit der Aussicht auf eine 46 eigene Wohnung, vielleicht mit Galerie, wenigstens aber mit Balkon oder Terrasse, schienen die Vorzeichen für mich gut zu stehen. Ich öffnete leise die Tür und sah Frau Obereigner in der Küche sitzen. Sie hatte keine Kinder und ihr Mann, ein Süddeutscher, worauf der nicht so recht in diese Gegend passende Name schließen ließ, war bereits verstorben. Die Miete für das Zimmer verlangte sie stets wöchentlich, wobei ich das Geld unaufgefordert in eine dafür vorgesehene Dose zu stecken hatte. Schriftliche Vereinbarungen, Quittungen oder derartiges hasste sie. Kam ich mal meiner Zahlungsfrist nicht rechtzeitig nach und ging der Griff in die Dose ins Leere, gab es umgehend einen Verweis darauf, dass hier die Uhren anders tickten. Sie war die Korrektheit in Person. Eine ihrer besonderen Tugenden war jedoch Sparsamkeit. So legte sie mir oft altbackene Brötchen mit dem Kommentar auf den Küchentisch, dass sie zum Wegwerfen zu schade wären. Da ich ihr Angebot jedes Mal großzügig ignorierte, erntete ich postum böse Worte. Undankbare Gesellen wären wir und hätten vergessen wo wir herkämen. Krankhafte Züge zeigte ihr Sparzwang aber vor allem bei der Küchenarbeit. Wasser, einmal eingelassen, wurde für mehrere Abwaschgänge benutzt und entwickelte über den Tag, mit allen möglichen Essensresten vermengt, eine übel riechende Brühe. An diesem Nachmittag saß sie mal wieder über Kassenbons und Geldscheinen ihrer Blechdose und übertrug die Daten in ihr säuberlich geführtes Haushaltsbuch. Penible trug sie die Zahlen in die Einnahmenspalte und schaute mich über ihre goldumrandete Brille an, ohne die ich sie noch nie gesehen hatte. „Sie sind heute aber früh“, begrüßte sie mich mit Unterton, „ist alles in Ordnung?“ „Ich hatte einen Termin.“ „Einen Termin, a ja.“ „Ich hab’ ne Arbeit gefunden.“ 47 „Na dat freut mich für Se, ich hoffe, Sie bleiben mir trotzdem erhalten.“ Sie beugte sich über die Unterlagen und würdigte mich nicht eines Blickes. Ich offerierte ihr lakonisch das baldige Ende unseres Mietverhältnisses und ergänzte, „und ich suche mir ne Wohnung.“ Sie nahm ihre Brille ab und schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Na so was, ich glaub´s ja nicht, jetzt wird er auch noch flügge.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf das Haushaltsbuch und ging wohl gedanklich schon mal die Mietausfälle durch. Dann stand sie plötzlich auf, packte ihre private Buchführung zusammen und tat sie in den Küchenschub. „Also, falls Sie sich noch nicht endgültig entschieden haben, ich kenn da jemanden, der Penthousewohnungen am Rhein vermittelt.“ Die Aussicht auf ein eigenes Domizil ließ mein Herz höher schlagen. Ihr Zynismus berührte mich nicht. Sie war ein einsamer Mensch und ähnlich wie bei Pflegeeltern, gab es für sie das Phänomen des Ständig-Verlassen-Werdens. Ohne auf ihre Provokation zu reagieren ging ich nach oben. Meine neue Wohnung lag in der Frankfurter Straße, wo mich Frau Wegner schon von weitem aus ihrer Parterrewohnung begrüßte. Fast täglich sah ich sie, die Arme auf ein Kissen gestützt, aus dem Fenster schauen. Selbst im Winter. Das graue schüttere Haar hing ihr in Strähnen übers Gesicht, als sie sich aus dem Fenster beugte und fragte, wie denn der Tag gewesen sei und ob ich nicht Sehnsucht nach dem Osten hätte. Ich blieb stehen und sie erzählte, wie das früher so war. Na ja, mit früher meinte sie die Zeiten vor dem Krieg, als Köln noch Köln war, frei von Türken und anderen Ausländern. Sie sprach immer von Besatzung, erst durch die Römer, dann durch die Franzosen, bis vor kurzem durch die Amis. Jetzt waren es eben die Türken, obwohl die keine Besatzer waren, sondern nur Gastarbeiter. Ich mochte ihre schrullige Art, wie sie die 48 Dinge zuspitzte, provozierte. So vergingen gut zehn Minuten, bis ich mich von ihr losreisen konnte. Im ersten Stock wohnte solch eine türkische Familie. Es türmten sich große und kleine Schuhe und der typische Geräuschpegel einer Großfamilie drang durch die Ritzen der Wohnungstür. Die Frau war selten zu sehen, höchstens, wenn sie mal die Kinder nach oben rief. Den Mann traf ich öfters. Er war aufgeschlossen und hatte immer ein Lächeln übrig. Vielleicht spürte er, dass auch ich ein wenig Migrant war. Mit zwei großen Schritten überwand ich den Schuhberg und setze den Weg zu meiner Wohnung fort. Meine Wohnung, das waren zwei Zimmer mit Erkerfenster, Duschbad, wie man hier zu sagen pflegte, eine Kochnische und Abstellkammer. Ich saß sozusagen auf den Köpfen der Leute und genoss einen phantastischen Ausblick in Richtung Westen. Der Fernsehturm, der aussieht wie ein riesiger Besenstiel, der ein Ufo aufgespießt hat, ragt wie ein Lulatsch zwischen den Häusern hervor. Unweit des Turms befand sich die Tonne, die Stammkneipe von Lisa. Sie traf sich dort oft mit Rocco und Olaf, die sie angeblich noch aus ihrer Schulzeit kannte. Die Tonne wäre sozusagen ihr zweites Zuhause. Ich ging zum Kühlschrank, stopfte mir eine Wiener in den Mund und zog eine Bierflasche aus dem Kühlfach. Dann setzte ich mich auf das Fenstersims und schaute in die Abenddämmerung. Ich bin ein Glückspilz, dachte ich, die Arbeit, die Wohnung, wenn das jetzt noch mit Lisa klappen würde. Ich war verrückt nach ihr. Ich unterbrach den letzten Gedanken und schaute auf die Uhr. Heute hatten wir uns für Sechs verabredet. Sie hasste Unpünktlichkeit und es war bereits Sechs. Ich beschloss mein Auto stehen zu lassen und mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren, die praktisch vor meinem Hauseingang abfuhr. Während der Fahrt fing es an zu regnen und die Wassertropfen peitschten wie wild an das Bahnfenster. Ich folgte den Tropfen, die an der Scheibe herunterliefen und unwirklich das Licht der Stadt in tausend kleine Bilder brachen. Als ich in der Kneipe ankam, lief mir 49 das Wasser von den klitschnassen Haaren in die Augen, die anfingen zu brennen. Ich hatte den Schirm vergessen. Ich wischte mir das Regenwasser aus dem Gesicht und schaute in die Runde, doch weder Lisa, Rocco noch Olaf waren zu sehen. Ich setzte mich an den Tresen, wo mich Jimmy augenzwinkernd begrüßte und ohne zu fragen ein Bier zapfte. Er kniff immer ein Auge zu, wenn er mir das nächste Glas ausschenkte und schaute mich aufmunternd an. Aber wo waren sie? Die letzten Wochen liefen einfach zu glatt, ging es mir durch den Kopf. Nur das letzte Wochenende bei Lisas Eltern ließ Zweifel aufkommen, ob ich hier hingehörte. Wir waren auf der Burg Drachenfels gewesen, obwohl Burg zuviel gesagt ist, denn es stehen ja nur noch Mauerreste auf dem Berg, Fragmente der mittelalterlichen Burg, die seit dem Dreißigjährigen Krieg geschliffen wurde und einst der Absicherung des Kölner Südens diente. Danach fuhren wir zu ihnen nach Bonn. Die ehemalige Hauptstadt der alten Republik gefiel mir, vor allem ihre romanischen Bauten, die mich sehr an südeuropäische Städte erinnerten. Ihre Eltern wohnten etwas außerhalb in einer großzügigen und penibel gepflegten Einfamilienhaussiedlung aus Backstein. Ihre Mutter begrüßte uns überfreundlich an der Verandatür und bat uns sogleich herein. Stolz führte mich Lisa durch ihr nobles Zuhause. Alles versprühte gediegenen Luxus. Doch die peinliche Ordnung und Sauberkeit vermittelte die Sterilität eines Hochsicherheitslabors. Jeder Gegenstand hatte einen fest zugeordneten Platz, schien mir. Sie hatten nichts dem Zufall überlassen. Im Esszimmer, das größer war als jedes Wohnzimmer, das ich aus der Vergangenheit kannte, war im modernen Stil eingerichtet, Möbel mit weiß lackierten Flächen, ein ebenso weißer Kamin und ein mindestens drei Meter langer Tisch, auf dem ein prunkvoller Kerzenleuchter stand. Es war für vier Personen gedeckt, feinstes Porzellan und Silberbesteck, das nicht den kleinsten Kratzer zeigte. Fünf Kerzen verliehen dem Raum zusätzlich Glanz und Helligkeit. 50 Sie mussten eine Vorliebe für Weiß und Silber haben. Es war sehr feierlich, doch ich fühlte mich fremd. Ihr Vater saß wie ein Patriarch an der Stirnseite des Tischs und gab seiner Frau ein Zeichen. Lisas Mutter setzte sich zu seiner Rechten und forderte uns auf, auf der anderen Seite des Tisches Platz zu nehmen. Sie trug ein atemberaubend schönes Kleid, schwarz, mit gewagtem Ausschnitt, der jeden Männerblick wie ein Permanentmagnet auf sich ziehen musste. Ihr silbernes Perlendekollete und die mit Steinen besetzten Ohrringe reflektierten das Kerzenlicht in tausend kleine Lichter. Sie sah umwerfend aus. Ich stand noch immer etwas unbeholfen da, als Lisa mich in die Seite stieß. Während des ersten Ganges wurde nicht gesprochen und jeder löffelte stumm die Rindsbouillon. Ihr Vater durchbrach das Schweigen und fragte mich, wie es mir im Rheinland gefiele und ob ich beabsichtigte hier sesshaft zu werden. Vielleicht war es Usus, dass der Vater das Tischgespräch begann, auf jeden Fall brachte er mich in Verlegenheit, da die Doppeldeutigkeit seiner Frage offensichtlich war. Als ich erklärte keine Rückkehrabsicht zu haben, arbeiteten er einen ganzen Fragenkatalog ab. Dass ich einst in der Partei war, behielt ich für mich, nicht einmal Lisa hatte ich davon erzählt. Ich hatte keine Lust unnötigen Erklärungsbedarf zu schaffen. Sie waren distanziert freundlich und blieben so kühl wie ihre Wohnungseinrichtung. Ich konnte nichts zur Lockerung der steifen Atmosphäre beitragen, da ich nur in Bruchstücken zu antworten vermochte. Ich fühlte mich wie ein Verhandler zwischen Vertretern zweier verfeindeter Staaten. Lisa drückte meine Hand und schaute mich genervt von der Seite an. Ihre lustige und warmherzige Art war nüchterner Disziplin gewichen, wie ich sie von ihr kannte, wenn sie von Arbeit sprach. Sie war zur Marketingchefin aufgestiegen und machte sich große Hoffnungen, eines Tages im Vorstand der Firma zu sitzen, ja sie war geradezu besessen darauf. Der Vater konnte zufrieden mit seiner Tochter sein und als Anwalt für Wirtschaftsrecht hatte er sich sicher 51 jemand Potenteren und rhetorisch Begabteren als Schwiegersohn vorgestellt, immerhin aber verlief der Abend ohne Streit. Diplomatie pur. Ich verabschiedete mich höflich von ihnen und Lisa brachte mich zum Taxi, das sie extra für mich bestellt hatten. Sie küsste mich und ihr typischer Geruch nach Herrenparfüm stieg mir in die Nase. Ich liebe dich, hatte sie gesagt und mich dabei fragend angeschaut. Ich konnte nicht gleich antworten, zu sehr war ich noch gefangen in der Welt ihrer Eltern. Der Gedanke an sie lähmte mich. Ich würgte ein ich dich auch heraus. Jimmy stieß mich an, „du wartest auf Lisa, hm?“, ohne meine Antwort abzuwarten fuhr er fort, „sie war gestern mit Rocco hier.“ „Und Olaf?“ „Den hab ich die ganze Woche nicht gesehen.“ Ich versuchte Lisa anzurufen, doch ihr Handy war abgeschaltet. Jimmy nickte mir aufmunternd zu und sagte, „du solltest dir jetzt nicht den Kopf zermartern, am besten, du versuchst es morgen noch mal.“ Er ist wirklich ein netter Kerl, dachte ich bei mir und verabschiedete mich von ihm. „Ich glaub´ du hast Recht.“ Auf dem Nachhauseweg entschied ich mich, noch einmal nach Buchheim zu fahren. Seitdem ich das Zimmer gekündigt hatte, war ich nicht mehr dort gewesen. Vor der Kneipe stand wieder der Aufsteller. Diesmal gab es rheinischen Sauerbraten mit Klößen, dazu wieder eine Stange Kölsch. Die verwaschene Schrift war kaum noch zu erkennen, nur noch die Kreidereste verrieten vage das Angebot. Die Kneipe war leer. Nur an der Stirnseite des Tresens saß wieder der alte Mann aus Danzig und zog geruhsam an seiner Zigarette. Er bestellte zwei Kölsch, winkte mich zu sich ran und sagte, „geht auf mich.“ „Danke“, antwortete ich, hob das Glas und stieß mit ihm an, dann bestellte ich Sauerbraten. Er war wortkarg und schien die Ruhe des Raumes noch zu verstärken. Im Hintergrund lief leise Musik. „Sie sehen traurig aus“, unterbrach er das Schweigen. 52 Ich ging nicht darauf ein und stellte mich ihm vor. „Ich heiße übrigens Fred“. „Max“, erwiderte er und zerdrückte beinahe meine Hand. Ich nickte anerkennend. „Ich glaub´, ich bin verliebt.“ „Als ich so alt war wie du, da hab´ ich mich auch ständig verliebt, aber das geht vorbei.“ „Haben Sie keine Frau?“ „Doch, wir sehen uns aber nur an den Wochenenden. Das ist praktischer. Sie kommt extra aus Münster.“ Praktischer, dachte ich. Als hätte er meine Gedanken lesen können, schob er eine Rechtfertigung hinterher, „in meinem Alter darf man nicht mehr wählerisch sein. Da reicht es schon, dass jemand da ist. Aber ich verstehe dich, du bist jung, da träumt man noch von der großen Liebe.“ Dann erzählte er von Magda, seinem Mädchen, wie er sagte, von Pommern, der Ostsee, die im Osten so schön sei. Sie wollten zusammen alt werden, eines Tages am Meer sitzen und den Schiffen am Horizont folgen. Doch dann kam die Flucht. Aber er wolle sich nicht beklagen, sagte er und ergänzte, „die Leute sind in Ordnung hier, und an die rheinische Frohnatur gewöhnt man sich auch irgendwann.“ „Darauf stoßen wir an“, prostete ich ihm zu. Dann kam der Sauerbraten mit den dampfenden Klößen. Er schmeckte phantastisch und ich nahm mir vor, in Zukunft öfters wieder hierher zu gehen. Ich klingelte noch einmal Lisa an, doch sie war immer noch nicht zu erreichen. Vielleicht hatte er Recht. Man durfte nicht zu viel erwarten. Draußen hatte es aufgehört zu regnen und ich genoss die vom Regen gereinigte Luft. 53 Ende der Leseprobe von: Märzgewitter sind selten Thomas Andrey Hirth Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/23v9iqR
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