Märzgewitter sind selten

THOMAS ANDREY HIRTH
Märzgewitter
sind selten
Roman
Zu diesem Buch
Ich erinnere mich an eine Welt, in der alles im Aufbau
war. Ein Neubau war noch nicht fertig, nicht einmal
Straßen und Wege, da wurde bereits das nächste Zeichen von Urbanität geschaffen. Überall Umzugswagen,
frohmutige Neumieter und Kinder, die über die noch
nicht fertigen Gehwege springen. Ein Abendteuerland,
jung. Selbst die Alten wirken jung. Wir sind die Zukunft. Doch die Zukunft gerät ins Stocken, der Motor
hat Aussetzer und am Ende steht der unausweichliche
Motorschaden, die Minuszukunft einer Stadt, deren
Schicksal der Hauptprotagonist Fred Hiller hautnah
miterlebt. Eisenhüttenstadt, seine Heimatstadt, steht für
viele ehemalige Trabantenstädte der untergegangenen
Republik, die heute um ihre Identität kämpfen.
Diese Erzählung ist den Menschen gewidmet, die an
der Zukunft von Gestern mitbauten und heute vergessen sind.
THOMAS ANDREY HIRTH
Märzgewitter
sind selten
Roman
epubli Druck
Copyright: © 2011 Thomas Andrey Hirth
2. Auflage 2016
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Thomas Andrey Hirth
Fotos: Ben Kaden
Lektorat: Ute Junge
ISBN 978-3-7418-0325-3
Es kommt eine Zeit, da fällt alles ab von einem, die Wut der jungen Jahre
und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt, auch die Zuversicht, sie
würde besser werden oder sogar gut, wenn man sich nur genug darum
bemüht und mit ganzem Herzen. Es kommt eine Zeit, da ist dieses Herz
plötzlich leer geworden und der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen,
ganz allein mit sich...
Iris Hanika
Prolog
Im Klassenzimmer herrscht tumultartiges Treiben. Wie in
einer Arena hat sich um uns ein Kreis gebildet und alle feuern
Norbert an, der wie wild auf mich losgeht. Ich versuche
seinem Angriff zu entkommen, doch sie stellen sich mir in den
Weg. Die Mädels kreischen und freuen sich hysterisch, als er
mich am Hals packt und zudrückt. Ich kann mich befreien und
verpasse ihm eins in die Magengrube. Er verliert sein Gleichgewicht und fällt gegen eine der Schulbänke. Ich setze nach,
gewinne Oberwasser und will ihm ins Gesicht schlagen, als er
geschickt ausweicht und den Augenblick des erfolglosen
Angriffs nutzt, um mich diesmal fester in den Schwitzkasten
zu nehmen. „Los Nobbi“, schreien sie, „jetzt hast du ihn.“
Einige stehen auf den Tischen, um das Geschehen besser
verfolgen zu können und klatschen in die Hände. Panisch
versuche ich mich dem Würgegriff zu entziehen, doch er
drückt immer fester zu. Wie bei einem in die Falle gegangenes
Tier, das seinem Fluchtinstinkt folgt, schnürt sich die Schlinge
immer enger um meinen Hals. „Hör auf“, schreit Claudia und
versucht verzweifelt Norbert von mir wegzuziehen, doch die
anderen schieben sie einfach beiseite und treiben ihn weiter
an. Ich bekomme keine Luft mehr und mir wird schlecht. Wie
eine willenlose Marionette drückt er mich zu Boden und ich
höre wie durch Watte ein Türgeräusch und Stanislavs Stimme,
„Noorbert“. Der Griff löst sich und alle stürzen an ihre Plätze.
Halb bewusstlos sacke ich zusammen und brauche einige
Sekunden, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann.
Er kommt auf mich zu und schaut mich fragend an. Ich bin
noch immer benommen und nehme ihn nur schemenhaft war.
Dann stehe ich auf und gehe, als sei nichts geschehen, an
meinen Platz. Es ist still, keiner sagt etwas. Claudia dreht sich
um und schaut mich mitleidig an, hinter mir das höhnische
Grinsen von Norbert. Arschloch, denke ich voller Wut. Herr
Stanislav bleibt neben meiner Schulbank stehen und überlegt,
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dann sagt er, „nach der Stunde kommst du zu mir“. Ich nicke
kommentarlos. Er misst mindestens zwei Meter und hat die
Figur eines Hochleistungssportlers. Immer, wenn er den Raum
betritt, geht die Geräuschkulisse gegen Null. Wie ein Befehlshaber, der mit strengem Blick seine Rekruten mustert,
schreitet er dann durch die Klasse. Auf dem Weg zum
Lehrerpult bleibt er stehen und nestelt nervös an seiner Nase
herum, dann müssen alle Unterlagen vom Tisch. Mit einer
Schmiedehammer gleichen Stimme sagt er, „wollen mal sehen,
ob wir eure überflüssige Energie nicht anders nutzen können.“
Während der Arbeit spüre ich die Blicke wie Nadelstiche,
unfähig, auch nur eine Zeile aufs Papier zu bringen. Das
Pausenklingeln erlöst mich und ich gebe ein leeres Blatt Papier
ab. Stanislavs verständnisloser Blick prophezeit mir eine
ordentliche Standpauke, doch ich zucke mit den Schultern und
gehe wortlos nach draußen. Im Flur hetzen Schüler der
unteren Klassen wie eine Meute losgelassener Hunde an mir
vorbei und rennen mich fast um. Ich überlege, wie ich mich
am besten aus der Sache herauswinde. Auf keinen Fall sollen
meine Alten etwas von dem Zwischenfall erfahren. Claudia
kommt mir hinterhergelaufen und fragt, „soll ich mitkommen?“
„Es ist alles in Ordnung“, sage ich genervt, worauf sie beleidigt abzieht. Ich schäme mich. Warum war ich nicht stark
genug, um Hinze ordentlich zu verprügeln? Ich gehe, während ich noch die Bilder des Kampfes im Kopf habe, zum
Lehrerzimmer. Die Tür steht einen Spalt offen. Merkwürdig.
Ich klopfe und stoße sie zaghaft auf. Es ist niemand da, nur
das monotone Klack, Klack der Wanduhr unterbricht die
eigenartige Stille des Raums. In der Mitte sind mehrere Tische
zusammengestellt und an der Wand steht ein Bücherregal, das
bis zur Decke reicht. Ich überlege, welcher Stuhl zu Stanislav
gehören könnte und lasse meinen Blick über den Tisch des
Lehrerkollegiums wandern, auf dem Stapel von Heften liegen.
Seine Tasche kann ich nicht entdecken. Ich beuge mich über
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die Unterlagen, um etwas zu erkennen, als er plötzlich hinter
mir steht. Er entschuldigt sich kurz für das Zuspätkommen,
setzt sich an die Stirnseite des Tisches und fordert mich auf
ebenfalls Platz zu nehmen. Mit zufriedener Miene legt er die
Tasche, wie nach einem erfolgreichen Beutezug, auf den Tisch.
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Es ist nicht die Situation
mit Herrn Stanislav, sondern das, was mich draußen erwartete. Draußen, das ist meine Welt, nicht seine.
„Du weißt, warum ich dich hierher gebeten habe?“, beginnt er
sein Verhör.
Es geht nicht um Hinze, das ist mir klar, sondern um meine
Leistungen. Ich befinde mich auf Talfahrt, um nicht zu sagen,
auf Schussfahrt. Seit Monaten verweigere ich jede Mitarbeit,
verschließe mich wie eine Miesmuschel, die man nur mit
brachialer Gewalt öffnen kann. Ich überlege, wie ich am besten
aus der Sache rauskomme, doch mir fällt nichts ein. „Ich krieg’
das mit Hinze schon hin“, starte ich einen Versuch.
Stanislav schiebt die Tasche, die er gerade noch wie einen
Schatz festgehalten hatte, beiseite, zieht aus seinem Schubfach
eine Mappe und breitet sie vor sich aus. „Ich dachte immer, du
willst auf die EOS.“
Ich schweige. Er steht auf und geht zum Fenster, durch das
der Lärm des Schulhofs bis nach oben dringt. Er unternimmt
einen zweiten Versuch. „Was ist losgewesen heute, soll ich
mal mit Norbert sprechen?“
„Mit Norbert sprechen“, sage ich leise vor mich hin, dann laut,
„es geht nicht um Norbert.“ Der ist nur ein Arschloch mit dem
Intellekt eines Primaten, behalte ich das Ende des Satzes für
mich. Er kündigt einen Hausbesuch an und ich sehe sie bereits
vor mir, ihr gebetsmühlenartiges Appellieren an meine Vernunft, ein Begriff aus der Erwachsenenwelt, ihrer Welt. Dabei
war ich nicht einmal in der Lage, Respekt von meinen Mitschülern zu bekommen. Ein gewisser Waffenstillstand, Überlebensstrategien entwickeln in einem feindlichen Umfeld, das
war vernünftig. Auf dem Nachhauseweg mache ich, wie
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immer, einen Abstecher in die HO-Kaufhalle. Es macht mir
Spaß, einfach nur zu schauen und Leute zu beobachten.
Zwischen den Kühlregalen ist es angenehm kühl und der
Zwischenfall mit Norbert ist längst vergessen. Ich beuge mich
über das Kühlfach und balanciere mich zu einer der Pappkisten, in der die fingernagelgroßen Plastiklöffel liegen. Ich
suche vergeblich den richtigen Namen. Die Farbe ist egal,
Claudia muss draufstehen. Seit einem Jahr ist sie in unserer
Klasse und ich habe noch immer nicht gewagt sie zu fragen,
ob sie mit mir gehen will. Diesmal ist ihr Name nicht dabei,
also nehme ich wahllos einen anderen. Ich laufe durch unser
Wohnviertel und teile mir den Eisbecher so ein, dass er bis
nach Hause reicht. Das ist nicht schwer, denn die Wege in
unserem WK, der die Nummer Fünf hat und ausschließlich
aus Plattenbauten besteht, sind kurz. WK steht für Wohnkomplex. Nicht gerade einfallsreich, denke ich und frage mich,
warum man es nicht Gagarinviertel, Thälmannstadt oder
Rosa-Luxemburg-Komplex nennt. Aber in New York haben ja
nicht einmal die Straßen Namen. „Hey, du Träumer“, ruft eine
Stimme aus dem Hintergrund und reißt mich aus meiner
Gedankenwelt. Es ist Frank. Seine semmelblonden Haare
hängen ihm halb ins Gesicht und verdecken seine hellblauen
Augen. Er sieht aus wie der Bauernsohn aus der Serie Die
Heiden von Kummerow. Wir schlendern durch das Neubauviertel und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Sobald
wir an einer Gruppe von Mädels vorbeikommen, zieht er ihre
Blicke magisch auf sich. Frank ist Christ, der einzige in unserer
Klasse. Jeden Sonntag geht er mit seinen Eltern in diesen
merkwürdigen Neubau, der eine Kirche sein soll. Doch er
erzählt nie etwas darüber. Ich habe nie nachgehakt und so ist
das Thema Kirche zwischen uns tabu. Auf der Tischtennisplatte aus Beton, an der wir uns oft nach Schulschluss
treffen und an der ich noch nie jemanden Tischtennis spielen
sehen habe, turnen Kinder. Sie steht direkt hinter unserem
Haus. Oft hängen wir hier rum und beobachten die Szenerie.
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Jetzt, wo die Tage wieder länger werden, kehrt die Lebendigkeit auf die Straße zurück: schwatzende Frauen am Bürgersteig, Männer, die ihre Autos vom Winterschmutz befreien
oder ihre Vorgärten auf Vordermann bringen, Kinder, die zum
Leidwesen der Mitbewohner Straßenauswahlmannschaften
bilden, um zwischen den Wohnhäusern Bolzturniere auszutragen, oder Neugierige an den Fenstern, die das Geschehen
aus der Vogelperspektive beobachten. Alles ist in Farbe
getaucht, das frische Grün der Bäume, die Obstblüten, der
sonnengelbe Löwenzahn. Es liegt ein Duft von Frühsommer in
der Luft und die Lungen nehmen, wie ein muffiges Zimmer,
dessen Fenster man nach einem langen Winter zum Lüften
weit aufgerissen hat, jeden Kubikzentimeter der frühlingsgetränkten Luft in sich auf. Mir ist warm und die für die
Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen treiben mir den
Schweiß auf die Stirn. Es ist der 30. April 1982 und in den
Straßen sind die Fenster mit unzähligen Fahnen geschmückt,
die dem Frühling zusätzlich Farbe geben. Es sind immer die
Selben, bei denen man keine sieht. Die Webers zum Beispiel.
Die hatten noch nie eine. Dafür bekommen sie regelmäßig
Besuch aus dem Westen und dann steht dieser kleine Wicht
auf der Straße und schachert angeberisch mit Kaugummibildern rum. Aber das kümmert mich nicht. Soll doch dieser
Idiot machen was er will. Wir bauen dafür die schönsten
Karren des Viertels, mit richtiger Lenkung und Überdachung.
Da kann diese Flasche nicht mithalten. Frank klopft mir auf
die Schulter. „Morgen, nach der Demo?“
„Klar doch“, sage ich und sehe, wie er in die Thälmannstraße
abbiegt. Seine Mutter hängt gerade Wäsche auf und begrüßt
ihn liebevoll. Sie streicht ihm durchs Haar und küsst ihn auf
den Mund. Widerlich, denke ich. Ich kenne niemanden in der
Klasse, der auf diese Art begrüßt wird. Für die meisten sind
die Alten einfach nur nervig und man lässt sich keinesfalls von
ihnen küssen. Vielleicht ist das ja bei Christen anders. Franks
Mutter arbeitet in der Stadtpoliklinik. Als ich einmal in eine
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Scherbe trat und glaubte, ich müsse verbluten, verarztete sie
mich. Seit dem weiß ich, dass sie dort arbeitet. Manchmal
nimmt mich Frank mit hoch. Dann holt sie extra Kuchen bei
Albes. Doch heute lässt er die Einladung aus und ich gehe die
letzten Meter allein nach Hause. Als ich die Wohnungstür
aufschließe, höre ich Fernsehgeräusche und die aufgeregte
Stimme meiner Mutter dringt dumpf durch das Glas. Ich bin
verwundert. Um diese Zeit läuft bei uns nie der Fernseher.
Frühestens um Halbacht, zur Aktuellen Kamera, sitzt der Alte
vor der Kiste und will nicht gestört werden. Durch die
gesprenkelte Scheibe der Wohnzimmertür sehe ich verzerrte
Schatten. Ich öffne die Tür und werde sogleich mit Freudensätzen überschüttet. „Fred, nun schau doch mal, ist der nicht
toll?“, begrüßt sie mich überschwänglich. Völlig aufgelöst
macht sie einen regelrechten Tanz um das neue elektronische
Monstrum, das nun die Mitte unseres Wohnzimmers ziert. Die
Augen meines Vaters leuchten wie Kinderaugen, als die ersten
farbigen Bilder auf der Mattscheibe flimmern. Wir sollten uns
vielleicht öfter einen Fernseher anschaffen schießt es mir
durch den Kopf. Mein Vater dreht und stellt unablässig an den
Knöpfen der neuen Errungenschaft. „Wo is’n hier der blöde
Kontrast, Mensch.“ Nervös blättert er in der Bedienungsanleitung und rennt mich fast um. „Mensch Fred, nun steh
doch hier nicht so rum.“ Mutter zieht mich beiseite. „Komm,
lass deinen Vater machen.“
„Ich wusste gar nicht, dass ihr euch so ein teures Gerät anschaffen wolltet.“
„Die Eltern von Frank hatten uns gesagt, dass se Ware
bekommen haben, da ist Vater gleich in die Stadt. Man weiß
doch nicht, wann man wieder solch eine Gelegenheit bekommt.“
Ich habe bisher immer bei Frank ferngeschaut, wenn’s in Farbe
sein sollte. Aber das war selten. Viele haben noch Schwarzweißgeräte. Die gibt es auch immer, in jeder Größe, die will
nur keiner mehr haben. Seit Monaten nervt Vater mit der
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Fußballweltmeisterschaft, die dieses Jahr in Spanien stattfindet. Die erste WM in Farbe.
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-1Ein unangenehmer Wind pfiff durch die von Unordnung geprägten Marschblöcke. Die vorsommerlichen Temperaturen
des Vortages schien er gleich mit fortgeweht zu haben. Es war
bitterkalt und ein Regenschauer folgte dem anderen. Wir
standen fröstelnd in losen Gruppen und harrten der letzten
Ankömmlinge, während sich Herr Stanislav mit den anderen
Lehrern wegen der Aufstellordnung absprach. Das Eintreffen
der letzten Ankömmlinge quittierte er mit einem Nicken und
dem entsprechenden Häkchen auf der Anwesenheitsliste,
dann sagte er in dem ihm eigenen Befehlston, „gut, ich möchte, dass ihr euch in Fünferreihen aufstellt, die mit den Transparenten und den Fahnen kommen nach vorn, die anderen
gehen in die hinteren Reihen.“
Die Träger mussten immer in endlosen Debatten festgelegt
werden, da sich keiner freiwillig meldete. Ich hatte Glück und
konnte mich in die hintere Reihe verziehen. Der Tross setzte
sich nur langsam in Bewegung und einige nutzten die ungewollten Stopps, um herumzualbern und sich über die Mädels
lustig zu machen, die die Sache offensichtlich ernster nahmen.
Ich empfand eine schwer beschreibbare Hassliebe für diese
Aufmärsche. Auf der einen Seite war es für mich eine lästige
Pflicht, ein beinahe albernes Ritual, andererseits wollte ich auf
keinen Fall die Fernsehübertragungen in Berlin verpassen. Die
Riesenaufmärsche, vor allem die der NVA, das hatte etwas,
und tief im Herzen war ich stolz auf unser kleines Land. Nach
fünf Minuten erreichten wir die Leninallee, die Hauptverkehrsader von Eisenhüttenstadt. Vor uns standen Kolonnen
von Betriebsvertretungen und Sportvereinen, angeführt von
Marschordnungen der Kampfgruppen und der GST. Die Tribüne, von der aus die Kreisleitung und Abgeordnete der Bezirksleitung, die extra aus Frankfurt angereist waren, die Huldigungen entgegennahmen, signalisierte das baldige Ende der
Pflichtveranstaltung. Im entscheidenden Moment gab Herr
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Stanislav das Zeichen zum Schwenken der Fahnen und
Fähnchen. Die Zeremonie dauerte nur wenige Minuten und
am Ende der Straße wurden die Symbole der Arbeiterklasse,
die jeder so schnell wie möglich loswerden wollte, eingesammelt. Auf der anderen Straßenseite sah ich Frank, der schon
ungeduldig auf mich wartete. Ich steckte mir die Jacke in die
Hose und zwängte mich durch die Zuschauer am Straßenrand. Wie so oft besserte sich am Nachmittag das Wetter und
die frühsommerliche Sonne brannte gnadenlos vom wolkenlosen Himmel. Zwei Männer torkelten betrunken an einem der
vielen Kettenkarusselle vorbei, das ihnen um ein Haar die
Köpfe absebelte. Die Symptome des Maikampfes waren unverkennbar. An der Scooterbahn angekommen, stürzte sich
Frank sofort ins Getümmel, wo ein regelrechter Kampf um die
metallicfarbenen Fahrzeuge entbrannte. Ich verlor ihn für
einen Moment aus den Augen, als er, nachdem das Signal zum
Verlassen der Bahn aufforderte, triumphierend auf einem der
Autos stand. Er winkte mir hektisch zu kommen, doch ich
kam nicht schnell genug durch und ein Fettwanst schob ihn
beiseite. Er war nicht nur doppelt so breit wie er, sondern
überragte ihn auch um einen ganzen Kopf. Mit Triumphgelächter fuhr er Frank, dessen Tritt ins Leere ging, beinahe
über die Füße.
„Eigentlich hasse ich diese Karren“, kommentierte er genervt
seine Niederlage und wollte weiter. Mich störte es nicht. Ist
doch sowieso bescheuert, wenn mehr als ein Dutzend Autos
im Kreis herumfahren, ging es mir durch den Kopf. An den
Losbuden lagen unzählige Nieten und bedeckten, wie zum
Beweis des erfolglosen Losziehens, den Boden. Viele versuchten ihr Glück. Vor allem die begehrten Matchboxautos glänzten verführerisch in der Sonne. Jeder war scharf auf diese
Dinger. Allerdings brauchte man fünfundzwanzig Punkte.
Jedes Mal, wenn ich eine Niete zog, freute sich Frank diebisch.
Er dachte nicht im Traum daran, sich auch nur ein Los zu
kaufen. Am Ende hielt ich einen Lutscher für drei Punkte in
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der Hand. Die Hälfte meines monatlichen Taschengeldes ging
dafür drauf. Für den gleichen Betrag hätte ich bei der HO für
die ganze Klasse diese Dinger kaufen können. Ich löste die
durchsichtige Folie und genoss den seltenen Geschmack. Im
Wohnviertel waren die Straßen jetzt wie leergefegt, selbst die
Fahnen ließen ihre Flügel hängen. Ich dachte, dass es keine
schlechte Idee wäre, Frank mit hochzunehmen, um die Aufzeichnungen zu den Maidemonstrationen in Berlin anzuschauen, jetzt wo wir doch auch in Farbe fernsehen konnten.
Als ich ihn fragte, winkte er mürrisch ab und sagte, „du
nervst, verstehe überhaupt nicht, was es da zu gucken gibt, ist
doch immer der selbe Mist.“
„Das verstehst du nicht“, entschuldigte ich mich hilflos.
Frank klopfte mir auf die Schulter. „Ich muss los, meine Alten
wollen grillen. Wir können uns ja morgen treffen.“
„Na dann.“
Im Treppenhaus folgte ich, den Kopf schräg haltend, der
Treppe und schaute zur Decke, durch die das Sonnenlicht
diffus durch das Wabenglas einfiel. Bis auf diesen einen
Lichteintritt gab es keine Fenster. Im ersten Stock befand sich
ein Fanggitter, das wegen der einen oder anderen Turneinlage schon ganz verbogen und verbeult aussah. Jeweils drei
Treppenaufstiege waren für jede Etage zu bewältigen. Da es
zur Parterrewohnung nur einen gab, benötigte ich insgesamt
vier, um zu unserer Wohnung zu gelangen. Der erste Gang
war zum Kühlschrank. Der Kampftag forderte seinen Tribut.
Doch die durstige Kehle suchte vergebens nach einer erfrischenden Cola.
„Man, wieso is´n hier nischt da“, schimpfte ich.
Mutter kam vom Balkon, wo mein Alter bereits mit Zeitung
und Kaffee seinen Arsch breit saß. Sie gestikulierte
Unverständnis. „Hör auf herumzunölen, du weißt doch, dass
wir jetzt sparen müssen.“
Ich war genervt. Der Fernseher hatte uns mächtig reingeritten.
Ich setze mich in Vaters Sessel und verfolgte vor dem Fern-
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seher die Maidemonstration in Berlin. In Farbe sieht irgendwie
alles lebendiger aus.
Völlig durchgeschwitzt kam ich am Helenesee an und roch
förmlich das kühle Nass. Er ist der schönste See der Mark und
ich versuchte mir vorstellen, wie hier einst riesige Bagger
Kohle förderten. Mit knapp siebzig Metern ist er tiefer als
jeder natürliche See in dieser Gegend und besitzt das kristallklarste Wasser, das man sich vorstellen kann. Sein kilometerbreiter Sandstrand kann es mit jeder Ostseeküste aufnehmen. Es war sehr heiß für die Jahreszeit und die Menschen
waren aus der Stadt geflüchtet. Nirgendwo war auch nur eine
freie Stelle zu finden. Ich stieg vom Fahrrad und suchte den
Badestrand ab. Überall Gekreische, Geschnatter und umherschwirrende Federbälle. Männer standen mit leeren Biergläsern in der Hand lachend auf der Terrasse der Strandgaststätte „Zum Seeblick“, um Nachschub zu holen. Sie gestikulierten lauthals und ständig rief einer nach der nächsten
Runde. Zwischen den Badedecken jagten sich die Kinder und
sorgten für Unmut bei den Frauen, die ohnehin wegen der
biersaufenden Männer, die bei dem Gewimmel oft nicht zu
den Decken ihrer Frauen zurückfanden, genervt waren. Die
Szenerie erinnerte an eine Pinguinkolonie, nur dass hier die
Männer keinen Frack trugen und in der Antarktis andere
Temperaturen herrschen. Ich schob mein Fahrrad zwischen
den Decken entlang und hielt angestrengt nach Frank Ausschau. Wir hatten uns für Zwei an der Eisdiele verabredet,
aber er war nicht zu sehen. „Kannste nicht offpassen man,
Idiot“, brüllte mich ein genervter Typ an. Mein Fahrradreifen
hatte bereits einen deutlichen Abdruck auf dem schneeweißen
T-Shirt des Besitzers hinterlassen. Ich machte eine Geste der
Entschuldigung, bloß keinen Stress, und irrte weiter durch die
Massen. An einer kleinen Bucht stand ein knorriger Baum halb
im Wasser, so, als gehörte er dort nicht hin. Jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit spottend, ragte er im spitzen Winkel
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über die Wasseroberfläche. Da wird ihm wohl auch mein
Drahtesel nichts anhaben können, dachte ich, lehnte mein
Fahrrad an sein Wurzelwerk und setzte mich auf einen der
Äste. Ich ließ meine Beine ins kühle Nass hängen und genoss
den Blick über den See. Es war drückend heiß und nur eine
leichte Brise sorgte für Abkühlung. Selbst die Segelboote
schienen über der Wasseroberfläche zu schweben.
„Fred?“, hörte ich plötzlich eine Männerstimme rufen.
Ich drehte mich um. Es war Herr Stanislav. Er kam lässig auf
mich zu und sah gar nicht wie ein Lehrer aus. Er trug Jeans,
ein helles Hemd und Sportschuhe, und er sah verdammt jung
aus.
„Darf dein Klassenlehrer dir etwas Gesellschaft leisten?“
Er schaute über das Wasser, so, als wollte er es sich vielleicht
noch einmal anders überlegen, um sich dann doch neben mich
zu setzen. Keiner sagte etwas und so folgten wir schweigend
dem Treiben auf dem Wasser. Hier, außerhalb des Schulgeländes, fühlte ich mich sicher.
„Ein schöner Tag heute, nicht?“, versuchte er das Gespräch in
Gang zu bringen.
„Hm“, presste ich hervor.
„Bist du allein hier?“
„Ich habe mich mit Frank verabredet, aber vielleicht hat er
etwas besseres vor.“
„Ich habe einen Kahn da unten, vielleicht hast Du Lust.“
Er deutete mit seiner Hand nach links. Am Ende des Strands
befanden sich mehrere Holzkähne, die aufgrund der Wellenbewegungen des Sees wie eine Ballettformation synchron auf
und ab wippten. Der Gedanke, mit seinem Klassenlehrer in
einem altersschwachen Kahn den See entlang zu schippern,
behagte mir nicht. Doch er blieb hartnäckig. „Ich mache dir
einen Vorschlag, du übernimmst das Ruder und ich stelle dir
keine Fragen.“
Ich schaute noch einmal in Richtung Strandgaststätte, aber
Frank war nicht zu sehen. Dann richtete sich mein Blick
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wieder auf Herrn Stanislav. „Ich bin aber lange nicht mehr
gefahren.“
„Na komm schon“, machte er mir Mut.
Der Kahn war wirklich alt, seine Farbe aufgerissen, wie ein
durch Hitze ausgetrocknetes Flussbett. Selbst die Ruderbeschläge waren braun vom Rost. Er löste das Seil und ich stieg
unbeholfen in das Boot, das unbarmherzig nachgab und mich
fast ins Wasser beförderte. Ich konnte mich im letzten Moment
festhalten und setzte mich erleichtert an das Ruder. Stanislav
gab uns einen kräftigen Stoß und sprang behände über die
Bootswand, während ich noch unbeholfen mit dem störrischen
Ruderwerk hantierte. Nach einigen Ruderschlägen wurde es
besser und der Badestrand entfernte sich langsam, bis nur
noch Stimmfetzen durch die eine oder andere Windböe
herübergeweht wurden. Dann wurde es windstill, als hätte
jemand einen Schalter umgelegt. Ich beobachtete die von den
Ruderschlägen erzeugten Miniwellen, die sich so lange fortpflanzten, bis die Wasseroberfläche ihre spiegelglatte Ursprungsform wiedererlangt hatte. Die Hitze und die ungewohnte Schiffstätigkeit trieben mir den Schweiß auf die
Stirn.
„Darf ich sie etwas fragen?“, löste ich meine Anspannung.
Er schaute mich freundlich an. „Ja.“
„Warum kann ich nicht einen Beruf lernen wie die anderen?“
Stanislav kramte in seiner alten Ledertasche herum, die er
sonst demonstrativ auf seinem Lehrertisch positionierte, wenn
es hieß, na ihr wisst schon. Hier hatte sie aber kein Drohpotential. Er zauberte in Butterbrotpapier verpackten Pflaumenkuchen hervor, der unwiderstehlich seinen Duft verströmte. Er hielt mir eines der zwei Stückchen hin.
„Danke, aber . . . “
„Na nimm schon, den hab’ ich heute erst aus den Ofen
geholt.“
Ich war verwundert, ein Lehrer der Pflaumenkuchen bäckt.
Aber warum eigentlich nicht. Auf jeden Fall schmeckte er
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vorzüglich und so saßen wir im für einen Moment führerlosen
Boot, das still über den See glitt.
„Was willst Du denn machen?“, unterbrach er das kurze
Schweigen mit einer Gegenfrage. Dabei hatte er doch versprochen keine Fragen zu stellen. Aber so sind sie, die Lehrer.
„Baufacharbeiter.“
Er holte eine Schachtel F6 aus seiner Brusttasche und zündete
sich eine Zigarette an. „Stört’s dich, wenn ich rauche?“
„Ne Ne, das ist schon in Ordnung“
Er richtete seinen forschenden Blick auf mich und zog
gleichmäßig an seiner Zigarette. „Warum willst du nicht
mehr?“
Mehr, irgendwie verstand ich sie nicht. Sie redeten immerzu
vom Stolz des Arbeiters, seiner Macht in unserem Land. Und
wollte man so ein Arbeiter werden, dann war es auch nicht
recht. Sie sind schon merkwürdig, die Erwachsenen.
„Aber warum ist es so schlecht einen Bauberuf zu lernen? Man
baut Häuser, Straßen und Brücken. Unser Land braucht doch
so’ Leute.“
Stanislav knüllte in aller Seelenruhe das Brotpapier zusammen, steckte es in die Tasche und schaute blinzelnd in die
Sonne. Dann richtete er erneut den Blick auf seinen Rudermann. „Unsere Gesellschaft braucht Leute mit Grips. Was
meinst du, was dich da draußen erwartet? Da hast du’s dann
zu tun mit so unterbelichteten Typen wie Norbert.“
An einer Bucht auf der Südseite des Sees legte er die Ruder an
die Seite und tauchte seine Hand in das Wasser. Als wollte er
mich beschwichtigen, bot er mir einen Sprung ins kalte Nass
an und fragte, wie’s mit einer kleinen Abkühlung wäre. Im Nu
war er bis zur Hüfte im Wasser verschwunden und zog das
Boot an das Ufer, um es fest zu machen. Die Strandgaststätte
war jetzt ganz winzig, die Menschen nur noch lauter kleine
Punkte. Im frühsommerlich kalten Wasser stockte mir fast der
Atem, aber ich hielt tapfer durch. Stanislav erreichte weit vor
mir das Ufer und trocknete sich ab. Seine Figur glich der eines
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Modelathleten und die dunklen Haare glänzten wie Seide in
der Sonne. Er sah aus wie ein Schauspieler, der jeden Augenblick eine herzergreifende Kussszene spielen muss. Als er
meinen bewundernden Blick bemerkte, warf er mir sein
Handtuch zu und rief, „hier, damit du nicht erfrierst.“
„Danke“, sagte ich verlegen.
Ich trocknete mich ab und setzte mich zu ihm. Der aufkommende Wind streichelte die Haut und reinigte die Lunge
vom Stadtschmutz. Ich schob den Sand unter meinen Füßen
zusammen, bis sich eine kleine Bergformation gebildet hatte,
um sie dann wieder einzureißen. Es fühlte sich wie Zuckermehl an. Die Sonne lugte frech zwischen den Baumwipfeln
hervor und spendete hin und wieder einen Sonnenstrahl. Ich
liebte den Frühsommer, den Geruch nach frischer Kiefer, und
dachte, so muss es wohl sein, das perfekte Bild eines Vaters,
der mit seinem Sohn die Freizeit verbringt, sich Sorgen um ihn
macht und stolz auf ihn sein will. Mein Alter kam von der
Arbeit, las Zeitung oder pennte auf’m Sofa, abends dann die
Glotze, oder er ging zur Parteiversammlung. Mein Vater hatte
mich noch nie nach meinen Wünschen gefragt, ob es Stress in
der Schule gibt oder so. „Sind sie verheiratet?“
Er kniff seine Augen zu und sagte, „wir hatten dieses Jahr
unseren zehnten Hochzeitstag. Wir haben uns beim Studium
kennen gelernt.“
„Haben sie Kinder?“
Er schaute nachdenklich zur Seite, schien auf einmal traurig.
Vielleicht blendete ihn aber auch nur die Sonne. „Meine Frau
arbeitet als Ärztin auf Kuba, Aufbauhilfe, weißt du.“
„Haben die keine eigenen Ärzte da? Ich meine, fehlt sie Ihnen
denn nicht?“
Er zündete sich eine zweite Zigarette an und zog den Rauch
tief ein. „Hast Du schon mal gesehen, wie die Menschen in der
Dritten Welt leben müssen. Hunger, Obdachlosigkeit, keine
Gesundheitsversorgung, nicht einmal Milch für die Kinder. In
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Kuba gibt es heute das beste Gesundheitssystem in Lateinamerika. Ich bin wirklich stolz auf sie.“
Klar, dachte ich. Wie konnte ich nur so naiv sein? Die Welt da
draußen braucht doch so Menschen. Damit es gerechter zugeht. „Vielleicht sollte ich als Bauarbeiter beim Aufbau helfen,
Wohnungen werden doch immer gebraucht.“
Er schmunzelte. Wir zogen gemeinsam das Boot wieder ins
Wasser und er packte mit der Kraft eines Leichtathleten die
Ruder. So kehrten wir mit doppelter Geschwindigkeit in Richtung Seeblick zurück. Der Strand war jetzt wie leer gefegt, nur
einige Jugendliche saßen noch am Wasser. Ich verabschiedete
mich von ihm, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr der
Abendsonne in Richtung Eisenhüttenstadt entgegen. Auf den
Häusern der Stadt spiegelte sich die Sonne in Purpurrot und
die Rauchschwaden der Öfen bildeten ein Gemälde aus
Pastelltönen und Sonnenstrahlen. Warum nicht Bauarbeiter?
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Stolz hielt ich meinen Lehrvertrag als Baufacharbeiter mit
Abitur in der Hand. Doch erst warteten zwei Monate Sommerferien auf uns, und auf mich eine handfeste Auseinandersetzung mit meinem Vater. Wir saßen auf dem Balkon, als ich
ihm unseren Plan für diesen Sommer, eine Radtour durch den
Süden der Republik, offerierte. Er schaute über den Zeitungsrand und sagte lakonisch, „mit diesem Kirchenfreund fährst
du mir nicht, verdiene dir lieber ein paar Mark.“ Er machte
sich nicht die Mühe, die Zeitung beiseite zu legen und las
ungerührt weiter. Solange ich denken kann, hörte er nie zu,
und wenn, dann gab es Streit. Mein Vater war in der
Parteikreisleitung, schwang große Reden, sprach ständig von
irgendwelchen verfehlten Planvorgaben und trieb sich ständig
in den Betrieben herum, um den Leuten auf die Finger zu
schauen. Ich stellte mir vor, wie er sich dort aufplusterte. „Was
weißt du denn von Frank? Du hast kein Recht ihn mies zu
machen. Du tust so, als wärst du für die einfachen Leute, doch
du verachtest sie, nur im Gegensatz zu dir machen sie etwas
Produktives in unserem Land.“
Dann brach es aus ihm heraus, „und wer leistet die ideologische Arbeit, hä? wer führt das Land?, das sind wiiir!“, schrie
er mich an. Er tobte durch die Wohnung, setzte sich, sprang
auf, setzte sich wieder und sagte, nachdem er sich etwas
beruhigt hatte, „außerdem muss ich mir von so nem Grünschnabel wie dir nicht frech kommen lassen, mit dem fährste
jedenfalls nicht.“
Meine Mutter stellte sich neben mich und versuchte die
Situation zu beschwichtigen. „Mensch Werner, nun lass ihn
doch.“
Sie strich mir durchs Haar und ich sah, wie er noch immer
kochte. Was Frank betrifft, so hatte er sich immer beherrschen
können, doch jetzt brach seine ganze Abneigung gegen alles,
was mit Kirche zu tun hatte, aus ihm heraus. Saboteure wären
23
sie, die unser Land schwächten und alles mies machten. Ins
Lager würde er sie stecken, wenn er dürfte, das hatte er gesagt, die Augen entstellt, voller Hass. Nie zuvor hatte ich ihn
so erlebt, so neben sich. Doch im selben Moment erschrak er
über sich selbst, wie ein Kleinkind, das an der Reaktion seines
Umfeldes merkt, dass es einen Fehler gemacht hat, und lenkte
ein, „ach, wegen mir macht doch was ihr wollt“, dann schlug
er die Balkontür zu und verschwand in den Keller. Immer,
wenn es Streit gab, ging er in dieses kalte, dreckige Loch.
Mutter setzte sich auf seinen Platz und sah mich an, so wie
Mütter ihre Söhne ansehen, die kurz davor sind, flügge zu
werden. „Wo wollt ihr denn hin?“
„Das ist doch egal, wir machen ne Radtour.“
„Freeed.“
„Ok, wenn’s dich beruhigt, wir fahren nach Wernigerode, sein
Opa wohnt dort.“
„Mit dem Fahrrad?“
Ich verdrehte die Augen, erst die Parteischeiße vom Alten,
dann die alles dem Herrn recht machen wollende Mutter, die
nervtötende Fragen stellte. Wie sollte man das nur aushalten?
„Du musst deinen Vater verstehen, die Verantwortung,
ständig diese Rechenschaftsberichte nach oben und dann noch
der Ärger mit den Betrieben.“
„Was geht’s mich an. Ich hab’ jetzt mein Leben. Außerdem hat
er sich doch noch nie für mich interessiert. Kann mich
jedenfalls nicht erinnern, dass wir zusammen mal was unternommen hätten.“
Sie nahm meine Hand und ich verspürte den unwiderstehlichen Drang sie zurückzuziehen. Dann klingelte es
zweimal kurz. Das war Frank.
„Ich muss, wir müssen noch ein paar Sachen abquatschen.“
Ich konnte endlich meine Hand zurückziehen, packte die
Karte ein und ging nach unten. Durch das Haustürfenster sah
ich, wie Frank mit seinem Tennisball, den er ständig bei sich
trug, gegen die Bordsteinkante spielte. Oft, wenn wir zusam-
24
men durch das Viertel zogen, spielte er ihn unentwegt auf den
Boden, um ihn wieder aufzufangen. Als er mich sah, steckte er
den Ball in die Tasche, die entsprechend ausbeulte.
„Hallo“, begrüßte ich ihn.
Frank stand noch etwas unentschlossen da.
„Lass uns ein bisschen rumlaufen und nachdenken.“
„Du hast das doch klargekriegt mit dem Zelt?“
„Conny hatte es mir versprochen und jetzt weiß er auf einmal
von nichts mehr. Ich habe alle möglichen Leute gefragt, aber
Fehlanzeige.“
Na prima, dachte ich, erst die große Ankündigung der Abendteuerreise, der Stress zu Hause, und jetzt das. Wir setzten uns
auf einen Bordstein. Er war noch ganz warm von der Nachmittagssonne, die bereits hinter dem Wohnblock verschwunden war. Keiner sagte etwas. Ich holte die Karte hervor und
folgte dem roten Strich, der sich durch den Süden der Republik zog. Ungefähr in der Mitte befand sich ein Kreuz mit
Fragezeichen. Ich plädierte für eine Fahrt durch die Messestadt, als Kontrast zum Abendteuer in der Wildnis. Frank
fuhr mit dem Finger von Eisenhüttenstadt bis nach Wernigerode. Er machte keinen Bogen um Leipzig, also hatte ich
mich durchgesetzt, doch nun spielte das keine Rolle mehr.
„Ich hab’s, die Gartenanlagen, außerhalb der Stadt gibt es
doch Gartenanlagen.“
Ich schaute Frank ungläubig an. „Ich weiß, dass es dort Gärten
gibt, aber was hat das mit unserem Problem zu tun?“
„Vielleicht finden wir dort unser Zelt.“
„Klar, und Schlauchboote, nee, wenn dort was steht, dann
sind es Lauben und Obstbäume, oder jemand, der sich gerade
erleichtert, weil se ne Party abhalten.“
„Aber das ist es, wenn die Besuch haben und saufen bis zum
umfallen, dann brauchen se doch was zum Pennen, Mensch
kapierste nicht, die schlagen einfach ein Zelt auf und schon
können alle ihren Rausch ausschlafen.“
„Aber dann ist auch jemand da, oder?“
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„Na denkste die bauen das Zelt für jede Feier neu auf?“
Im Prinzip war es egal, ich hatte eh nicht viel Hoffnung in
irgendeinem Garten ein Zelt zu finden. Also machten wir uns
auf den Weg zur Umgehungsstraße. Es war spät geworden
und die Gärten lagen in einem schwer definierbaren Dämmerlicht, eine Mischung aus Restsonnenlicht und langen
Schatten. Am Horizont stand bereits der Mond, der wohl das
Ende des Tages nicht erwarten konnte. Systematisch klapperten wir alle Gartenwege ab. Es war Totenstille, nichts zu
hören von einer ausgelassenen Party oder zu sehen von einem
Zelt. Mit jedem Gartenweg, den wir absuchten, schwand die
Hoffnung. Der Mond hatte nun obsiegt und gab sich alle
Mühe, sein düsteres Licht zu spenden. Kommentarlos machten wir uns auf den Heimweg. Es war wohl doch ne zu blöde
Idee, dachte ich. Die Straße wieder in Sichtweite, bereitete ich
mich gedanklich schon mal auf den Triumphzug meines
Vaters vor. Wie sollte man das auch erklären, erst der große
Disput und dann das. Ich schaute noch ein letztes Mal zur
Anlage, als ich glaubte helle Umrisse zu sehen. Ich stieß Frank
in die Seite. „Guck doch mal, dahinten.“
Frank stierte angestrengt in die Dunkelheit und sagte, „das ist
nur ein angeleuchtetes Laubendach.“
Ich ließ nicht locker, bis er nach minutenlanger Diskussion
nachgab und wir zurückgingen. Mir brannten vor Anstrengung die Augen, doch ich konnte nichts erkennen.
„Los komm, da ist nichts“, nervte Frank. Er hatte jede Hoffnung verloren und auch ich verspürte keine Lust mehr etwas
zu sehen, was es nicht gab. Dennoch gingen wir die letzten
Meter, wenn auch lustlos, zu dem fraglichen Garten, der am
Ende des Weges lag. Das Dach der Laube reflektierte das
Mondlicht und im letzten Moment, gerade als Frank sich
bestätigt fühlte und zu fluchen begann, sah ich etwas. Ein
Geräteschuppen konnte es nicht sein, mitten auf der Wiese
zwischen Obstbäumen. Ich trat an den Zaun heran, doch ich
konnte nichts erkennen. Frank stand neben mir und schwieg.
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Eine Taubheit gleiche Stille hüllte die Umgebung ein und
meine Halsschlagader hämmerte so stark, dass ich glaubte, sie
risse sich jeden Moment los, um wie ein außer Kontrolle geratener Gartenschlauch um sich zu schlagen und den Lebenssaft in pulsierenden Stößen herauszuschleudern. Wir schauten
uns an. Das Gefühl der vielleicht einmaligen Chance war jetzt
stärker als die Mischung aus Aufgeregtheit und Angst. In
Sekundenschnelle überwand ich den Gartenzaun, ein wabbliger Maschendraht, der mich um ein Haar kopfüber in den
Garten stürzen ließ. Ich schaute mich um. Frank stand noch
immer unschlüssig vor dem Zaun und rührte sich nicht von
der Stelle. So schlich ich mich langsam, fast auf Zehenspitzen,
obwohl das in einem Garten unsinnig erschien, an das Objekt
heran. Es war ein Steilzelt. Ich schaute zum Himmel und
fragte mich, ob es höhere Mächte gibt oder nur Zufall war,
dass wir aufgrund eines Irrtums ein Zelt in völliger Finsternis
gefunden hatten. Der Zelteingang stand einen Spalt offen und
ich schaute vorsichtig in das Innere, doch dunkle Umrisse
ließen mich zurückschrecken. Nun kletterte auch Frank über
den Zaun und stellte sich hinter mich. Leise flüsterte er mir ins
Ohr, „vielleicht ist da jemand drin.“
„Da kann niemand sein, es sei denn ein Toter“, versuchte ich
mich zu beruhigen. Dicht neben mir spürte ich Franks Atem.
Es war unheimlich. Dann überwand ich mich und griff beherzt
in das Zelt. Es war eine Luftmatratze, auf der ein Schlafsack
lag. Jetzt ging alles ganz schnell. Fast in Panik lösten wir die
Heringe, rollten das Zelt zusammen und warfen es über den
Gartenzaun. Im Nu waren wir über den Zaun gesprungen und
schlichen uns aus der Gartenanlage zurück in Richtung
Umgehungsstraße. Die Aufregung steckte uns noch mächtig in
den Gliedern und erst die vertrauten Geräusche der näher
kommenden Stadt beruhigten uns. Wir verabredeten uns
schon für Sechs, denn wir wollten so schnell wie möglich aus
der Stadt sein. Wer würde uns schon abnehmen, dass wir uns
das Zelt nur ausgeliehen hatten?
27
-3–
Die Abendsonne stand flach über dem Horizont der Annaburger Heide, als mich ein unnatürlich dumpfes Knackgeräusch aus dem monotonen Takt des Tretens herausriss. Der
plötzliche Wegfall des Tretwiderstandes und das immense
Gewicht des Gepäcks führten zu starken Trudelbewegungen
und ich stürzte ungebremst auf den Asphalt. Gott sei dank
war es schon spät und nur wenig Verkehr auf der Landstraße.
So blieb mir größeres Unheil erspart, wenn man von den
aufgeschlagenen Händen absieht, die zu bluten begannen.
Frank, der vorneweg gefahren war, stieg vom Rad und kam zu
Hilfe. „Man, jetzt wo wir fast da sind, wie hast’n das wieder
hingekriegt.“
„Die Scheiß Kette“, fluchte ich.
„Na prima, wo kriegen wir jetzt ne Kette her?“
Ich lud das Gepäck vom Fahrrad und verarztete mich notdürftig. Es waren nur Schürfwunden, also nichts Dramatisches. Frank setzte sich auf die Böschung am Straßenrand
und überlegte. Wir hatten fast zweihundert Kilometern in den
Beinen und Torgau, eine Kleinstadt mit etwa zwanzigtausend
Einwohnern, lag praktisch zu unseren Füßen. Die Spitze des
Kirchturms verriet sie. Doch zehn Kilometer waren zuviel um
die Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Außerdem waren wir zu erschöpft. „Ich denke, wir sollten
hier unser Nachtquartier aufschlagen“, schlug ich vor.
Frank schaute sich genervt um. „Hier ist weit und breit nichts,
willste auf’m Acker zelten.“
Ich deutete mit der Hand in Richtung Westen. „Hinter dem
Kornfeld ist ein guter Sichtschutz. Für die eine Nacht wird das
schon gehen. Und morgen fährt einer mit dem Fahrrad in die
Stadt rein und besorgt ne neue Kette.“
Frank quittierte den Vorschlag mit einem Schulterzucken und
so liefen wir die letzten Meter die Straße entlang, die, soweit
das Auge reichte, von Kirschbäumen gesäumt war. Noch nie
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zuvor hatte ich solche Süßkirschen gesehen. Wenn ich da an
die Mickerlinge in der HO dachte. Obwohl wir schon erschöpft waren, meine Hände schmerzten und die einsetzende
Dämmerung anzeigte, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten,
kletterten wir auf einen der Bäume und stopften uns erst den
Magen und dann die Taschen voll. Frank konnte einfach nicht
genug kriegen.
„Los jetzt“, fuhr ich ihn an, „sonst stehen wir morgen noch
hier.“
Müde schlichen wir in Richtung des geplanten Nachtlagers
und bauten unser Zelt direkt neben dem Wald am Feldrand
auf.
„Was hältst Du davon, wenn wir sie kochen“, sagte Frank.
Ich wusste nicht was er meinte und schaute ihn fragend an.
„Zum wegschmeißen sind sie zu schade“, quittierte er meine
Begriffsstutzigkeit.
„Und Zucker, Du brauchst Zucker dazu“, glänzte ich mit
einem Einwand.
„Hab’ ich hier.“ Mit einem breiten Grinsen zog er eine Tüte
mit Zucker aus seinem Rucksack. „Ein guter Camper denkt an
alles.“
„Aber das ist verboten.“
„Ach was, wir bauen einfach einen kleinen Schutzwall um das
Feuer herum.“
Die Kochstelle war schnell hergerichtet und so gab es nach
den erntefrischen Kirschen Kirschkompott, wofür ein nicht
unerheblicher Teil unserer Wasserreserven herhalten musste.
Am Ende konnten wir nichts mehr sehen, was auch nur einer
Kirsche geähnelt hätte. Wir verkrochen uns in unser Zelt,
zogen die Decken über das Nachtlager und versuchten zu
schlafen, doch der Gesang der Grillen ließ uns kein Auge zu
machen. Ihr lautes Konzert übertrug sich bis in den letzten
Winkel der Sommernacht. Mir schossen Bilder unserer gemeinsamen Schulzeit durch den Kopf. Ich erinnerte mich noch
genau, wie ihn uns Frau Mendelssohn, unsere damalige Klas-
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senlehrerin, vorstellte. Sein Vater hatte Arbeit im Stahlwerk
gefunden und so waren sie von Möbiskruge in die Stadt gezogen. Wie verängstigt er damals war, als er vor unserer
Klasse stand, erinnerte ich mich. Das war jetzt fünf Jahre her.
Nun schienen sich unsere Wege zu trennen. Ich drehte mich
zur Seite. Frank rührte sich nicht. Er hatte sich wie eine Mumie
eingemummelt und lag regungslos auf seiner Luftmatratze.
Vielleicht schlief er schon. „Wie ist eigentlich deine Abschlussprüfung gelaufen?“, fragte ich ihn.
„Ganz gut“, antwortete er leise.
Wir hatten uns nie über die Schule unterhalten und er schien
überrascht über meine Frage. „Du meinst ziemlich gut.“
„Ich werde auf die Penne gehen. Ich will mal im Bereich Sportjournalismus arbeiten.“
„Du hast nie etwas darüber erzählt.“
Frank schwieg. Die meisten Jungs in der Klasse sollten einmal
erfolgreiche Instandhaltungsmechaniker oder Elektriker werden, der Rest ging auf den Bau oder in die Landwirtschaft. Die
Mädels wurden Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, gingen in den Handel oder lernten in der Textilindustrie. Immer
wenn ich erzählte, dass ich Bauarbeiter bei der Reichsbahn
werden wollte, erntete ich Spötteleien. Dann gab’s den allseits
bekannten Spruch: Hast du einem dummen Sohn, schicke ihn
zur Bauunion, ist dein Sohn noch dümmer, die Reichsbahn
nimmt ihn immer. Plötzlich fühlte ich mich erbärmlich. Ich
hasste meine Mittelmäßigkeit, mit nichts konnte ich auftrumpfen. Frank sah gut aus, hatte ständig die hübschesten Mädels
um sich rum, würde studieren und vielleicht mal als zweiter
Heinz Florian Oertel von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften berichten, mal ein berühmter Sportjournalist
sein, der mit Anekdoten aus seinem Reporterleben zur Erheiterung seines Publikums beiträgt und sich später wohl kaum
noch an einen Bauarbeiter im grauen Niemandsland erinnern
würde.
30
„Denkst du, dass sie dich nehmen, ich meine . . .“, ich stockte.
Ein leichter Wind bewegte das Zeltdach und machte unheimliche Geräusche.
„Fred, es ist nur Sport, und es ist auch unser Land.“
„So hab´ ich das doch nicht gemeint.“
„Immer, wenn unsere Fahne gehisst und dabei die Hymne
gespielt wird, weil wir mal wieder eine Goldmedaille nach der
anderen abgeräumt haben, dann bekomme ich eine Gänsehaut. In solchen Momenten vor Ort zu sein und zu berichten,
das ist es.“
Seine Antworten waren wie Nadelstiche. Ich war neidisch,
neidisch darauf, dass nicht ich eines Tages von solch einem
Meeting von Weltrang berichten würde. Ich versuchte, die in
mir hochkommenden negativen Gefühle zu unterdrücken.
„Ich übrigens auch.“
„Was?“
„Ich bekomme auch eine Gänsehaut.“
Frank lächelte. Ich konnte es nicht sehen, aber ich spürte es
und irgendwie war ich froh, die Kurve gekriegt zu haben.
Außerdem, warum nicht auf dem Bau, vielleicht ging ich nach
Kuba, um dort beim Aufbau zu helfen, dann würde ich bunte
Ansichtskarten von der Südsee schicken. Fred mit den Schönheiten der Karibik am schneeweißen Strand, im Hintergrund
die prachtvollen, kolonialen Bauten und Art-Deco-Fassaden
von Havanna. Mit diesen Gedanken war ich schon fast am
Einschlafen, als ich ein kaum wahrnehmbares Geräusch vernahm. Ich richtete mich auf und steckte meinen Kopf aus dem
Zelt.
„Was ist?“, fragte mich Frank.
Ein monotones Geräusch schwappte aus der Nacht zu uns herüber. „Hörst du das nicht?“
„Ich hör’ nischt.“
„Komm doch mal.“
„Oh man, du nervst, lass uns jetzt pennen.“
„Das sind Mähdrescher.“
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Am Horizont erkannte ich Lichtkegel, die jeden Zweifel
wegfegten. Hier konnten wir auf keinen Fall bleiben. Ich stieß
Frank an, doch er machte keine Anstalten aufzustehen. Ich
reagierte wohl über, beruhigte ich mich und ließ mich wieder
aufs Bettlager fallen. Diese Nacht würden sie sicher nicht mehr
bis zu uns vorrücken. Außerdem wollten wir zeitig los, um die
Kette zu besorgen. So beschloss ich, keine große Diskussion
anzufangen und gab dem unwiderstehlichen Drang nach
Schlaf nach, als uns plötzlich eine raue Männerstimme jäh aus
den Träumen riss. „Polizei, öffnen sie das Zelt.“
Ich bekam meine Augen kaum auf, als die Stimme wiederholt
und noch energischer zum Verlassen des Zeltes aufforderte.
Jetzt durchfuhr es mich bis in die letzten Nervenbahnen und
mein Herz raste. Mit zittrigen Händen öffnete ich den Reisverschluss und schob die Zeltplanen beiseite. Ein Schwall der
kühlen und feuchten Morgenluft schlug mir ins Gesicht und
der Lichtkegel einer Taschenlampe blendete mich.
„Bist Du allein im Zelt?“, fuhr mich der Polizist an.
„Nein.“
Frank richtete sich auf und saß wie hypnotisiert auf seiner
Luftmatratze, als der Herr von der VOPO mit der Taschenlampe in das Zelt leuchtete. Er war nicht allein. Hinter ihm
holte ein Kollege eine Mappe aus dem Polizeiwagen, trat ebenfalls vor das Zelt und sagte, „na meine Herren, wird’s bald.“
Er war jünger, vielleicht um die zwanzig und machte ein auf
oberwichtig. Mit angespannter Miene zupfte er an seiner
Mappe, als wir unsere müden Knochen aus dem Zelt bewegten. Er schlug sie auf und zückte bedeutungsvoll seinen
Stift. „Habt ihr ´nen Ausweis dabei?“, fragte er barsch.
„Ja“, sagte ich müde. Ich kann mich noch genau erinnern, wie
stolz ich war, als ich mit vierzehn den frisch gedruckten Ausweis auf dem Meldeamt abholen durfte. Nun kam er erstmalig
zum Einsatz. Allerdings hatte ich mir die Premiere anders
vorgestellt. Er leuchtete das Areal am Zelt ab und ich war
nicht sicher, ob er die Feuerstelle bereits entdeckt hatte. Viel-
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leicht war es auch nur eine Routinekontrolle. Ich nahm unsere
Ausweise und gab sie dem Genossen. Er richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Papiere und sagte, „Sie kommen aus Eisenhüttenstadt, hm, was wollt ihr den in dieser
gottverlassenen Gegend, so weit entfernt von Mutters Fressnapf?“
Ich schaute zu Frank, der lapidar erwiderte, „Verwandtschaft
besuchen.“
„Geht es auch etwas genauer?“
„Wernigerode.“
Der Polizist wurde ungehalten. „Klar, und im Himmel ist Jahrmarkt.“ Nun leuchtete er den Feldrand ab und fand die
Feuerstelle. „Also doch.“
Wir schauten uns an. Frank machte ein genervtes Gesicht und
ärgerte sich, dass wir nicht gleich abgehauen waren. Zumindest säßen wir dann nicht in diesem Schlamassel. Plötzlich
hörten wir ein lautes, unverkennbares Motorengeräusch, als
Sekunden später ein riesiger Mähdrescher neben dem Funkwagen hielt. Ein Mann im Blaumann sprang von seinem
Gefährt und ging forsch auf die Polizisten zu. Er schaute kurz
zu uns herüber und quittierte unsere Anwesenheit mit einem
Kopfschütteln, dann wandte er sich den Genossen zu. Sein
Gesicht, gegerbt von der täglichen Landarbeit, sah durch das
schräg einfallende Licht der Morgensonne aus wie ein frisch
gepflügter Acker. Falten so tief wie Schützengräben. Er war
von kräftiger sportlicher Statur, ein Riese mit rotblonden
Stoppeln im Gesicht und kurzem kupferfarbenen Haaren auf
dem Kopf. Trotz seines zerfurchten Gesichts wirkte er jungenhaft. Wir Stadtkinder bekamen ja nicht oft Bauern vom Land
zu Gesicht. Der Vopo wandte sich an den Riesen. „Sind das
die Jungs?“
„Das kann ich nicht sagen.“
„Wie, das können sie nicht sagen, sie haben uns doch angerufen?“
„Ja schon, aber?“
33
„Na also, Sie brauchen uns doch nur bestätigen, dass das hier
die Brandstifter sind.“
Der Bauer, dem der übereifrige Polizist gerade über den Mund
gefahren war, machte einen Schritt nach vorn. „Hören Sie, ich
habe die ganze Nacht durchgearbeitet, unter anderem auch
deshalb, damit ihr feinen Genossen immer frisches Brot auf
dem Tisch habt. Also, noch mal zum mitmeißeln, ich habe
ihnen gemeldet, dass da jemand am Feldrand Feuer gelegt hat.
Wenn bei der Trockenheit so ein Kornfeld in Flammen steht,
dann, na dass muss ich ihnen ja nicht erklären. Jedenfalls kann
ich nicht in der Morgendämmerung Gesichter auf fünfhundert
Meter Entfernung erkennen, da würde ich mich hier nicht
abrackern müssen, und von meinem Mähdrescher konnte ich
nicht weg, verstehen Sie, Geeenossse“.
„Gut, unterschreiben Sie hier und dann können sie Feierabend
machen.“
„Klar doch, Herr Wachtmeister.“
Er machte er seinen Wilhelm unter das Protokoll und verschwand kopfschüttelnd in sein Monstrum.
„Na los, packt euer Zeug zusammen,“ sagte Kommissar
Oberwichtig, „wir nehmen euch erst mal mit auf die Wache,
dann sehen wir weiter.“
Wir setzten uns müde ins Polizeiauto und sahen den tief
orangefarbenen Himmel am Horizont, der einen Bilderbuchsommertag ankündigte. Die Polizisten fuhren der Kreisstadt
Torgau entgegen und nahmen ungerührt jedes Schlagloch mit.
In der Stadt sah ich unzählige Menschen, die müde an den
Bussteigen warteten. Wie früh sie mit ihrer Arbeit beginnen
mussten, dachte ich. Als die Busse einfuhren, sah man noch
den einen oder anderen Nachzügler zu den Haltepunkten
hetzen. Die allmorgendliche Szenerie hatte etwas Bedrückendes. Mir fiel es deshalb so auf, weil ich normalerweise die
Menschen nur von der Arbeit kommen sah, nachmittags,
wenn sie aus den Bussen stiegen und sich auf den freien
Nachmittag freuten. Vielleicht an einem so schönen Som-
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mertag, wie es heute einer zu werden versprach. Welch eine
Verwandlung.
„Wir sind da meine Herrschaften“, sagte der junge Polizist,
der schon die ganze Zeit genervt hatte, und schob die Tür auf.
Die Polizeiwache befand sich am Marktplatz, zu der eine
Treppe hinauf führte. Hinter einer Plexiglasscheibe saß
jemand vor mehreren Telefonapparaten, Sprechfunk und
musterte uns lustlos. Als die zwei Kollegen uns hereinführten,
gab er einen mürrischen Kommentar ab. „Wo habt ihr denn
die aufgegabelt.“
„Draußen vor der Stadt, Camping im Kornfeld.“
„Hm, und was haben die zwei angestellt, ich meine, außer
dass sie gecampt haben?“
„Vermutlich Brandstiftung, aber dass müssen wir noch
feststellen lassen. Kannste einen von der Kriminalabteilung
rüberschicken?“
„Um die Zeit? Ausgeschlossen. Du weißt doch, die sind nicht
von der frühen Truppe, also vor Acht kriege ich keinen von
den Herren hierher.“
„Ok, wir nehmen schon mal das Protokoll auf, ach, und kannst
du für die Jungs einen Tee und für uns eine Tasse Kaffee
kochen.“
Kommentarlos reichte er die Formulare rüber und sagte, „ihr
wisst ja wo die Kaffeemaschine steht“, dann setzte er sich
wieder völlig unaufgeregt an seinen Arbeitsplatz.
„Aber wir . . .“
„Seit wann kommt denn der Berg zum Propheten. Außerdem
kann ich hier nicht weg“
Missmutig gaben sie auf und führten uns in einen separaten
Raum. Das Zimmer war nüchtern eingerichtet. In der Mitte
des von Neonleuchten erhellten Raumes stand ein Schreibtisch, weiß, wie die Tünche der Wände, daneben ein Tisch mit
Stühlen.
„Gut, ihr könnt euch erst mal hier hersetzen und warten, ich
komme gleich wieder.“
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„Werden sie uns hier behalten?“
„Erst mal werdet ihr verhört, dann sehen wir weiter.“
Wir saßen uns schweigend gegenüber. Nur das leise Brummen
der Vorschaltgeräte von den Neonleuchten unterbrach die
Stille. Wir saßen in der Falle und wenn das mit dem Zelt auch
noch rauskäme, dann wäre es Brandstiftung und Diebstahl in
Tatmehrheit. Wir hörten, wie unten gestritten wurde. Offensichtlich waren sie sich nicht einig, was mit uns geschehen
sollte. Die Tür öffnete sich und der junge Polizist, der am
Morgen noch so unsympathisch wirkte, brachte uns zwei
Tassen dampfenden Tee und stellte uns einen Mann in Zivil
vor, „also, das ist der Genosse Pankrat von der Kriminalabteilung, der wird euch ein paar Fragen stellen“, dann verschwand er auch schon wieder. Der Kommissar sah aus wie
jemand, der vergessen hatte erwachsen zu werden, obwohl er
mindesten vierzig Jahre alt sein musste. Seine blonden Haare
waren glatt zur Seite gekämmt und die schwarze Hornbrille
wirkte viel zu groß für ihn. Er nahm sich einen der Stühle und
setzte sich zu uns. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass er
uns nicht einzeln vernahm, dachte ich.
„Vielleicht sagt ihr mir erst mal, was euch in unsere Gegend
verschlagen hat.“
„Ne Radtour“, begann Frank, „wir wollen durch den Süden
der Republik. Es sind unsere letzten großen Ferien, wissen Sie,
da wollten wir noch mal was ganz Besonderes machen, bevor
es ernst wird.“
„Das ist euch ja gut gelungen, hättet um ein Haar das ganze
Kornfeld in Brand gesteckt und den Wald gleich dazu.“
Frank versuchte sich zu rechtfertigen. „Wir hatten doch einen
Schutzwall um die Feuerstelle gebaut, da hätte doch gar nichts
passieren können.“
„Habt ihr schon mal was von Funkenflug gehört? Das Korn ist
zur Ernte extrem trocken, da reicht der kleinste Funken, dann
noch ein bisschen Wind und die Katastrophe ist da.“
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Mir wurde bewusst, dass das ziemlich bescheuert war mit
dem Schutzwall. Und eigentlich hatten wir für so viel Blödheit
ne Strafe verdient.
„Wir wollten wirklich keinen Schaden anrichten, das müssen
sie uns glauben“, erklärte ich dem Kommissar.
Er machte einige Aufzeichnungen und überlegte.
„Müssen wir jetzt ins Gefängnis, ich meine, können wir unsere
Ausbildung vergessen?“, stammelte Frank.
„Nein, Nein, so schnell kommt man nicht ins Gefängnis. Es
gibt keinen Sachschaden und von Brandstiftung kann keine
Rede sein. Also, ich mache euch einen Vorschlag, ihr unterschreibt mir hier das Protokoll für unerlaubtes Campen und
verpflichtet euch dafür in den Ferien für eine Woche in der
Landwirtschaft zu arbeiten.“
Wir schauten uns überrascht an. Keiner von uns hatte damit
gerechnet, so glimpflich aus der Sache herauszukommen.
Nachdem wir unterschrieben hatten, entspannten sich alle und
er schmunzelte uns anerkennend zu. „Ich hab’ gehört, ihr
wollt nach Wernigerode, das ist ziemlich weit.“
„Ach was, das schaffen wir schon.“
Er stand auf und gab uns einen kräftigen Händedruck. „Na
dann wünsche ich euch Hals und Beinbruch“
„Werden sie unseren Eltern etwas sagen?“
„Ich denke, das ist nicht nötig.“
Der ältere Polizist in der Zentrale führte uns zu unseren
Sachen und sah mich etwas mitleidig an, als er mein Fahrrad
sah. „Na, da wird’s ein bisschen schwer mit dem Radeln, was
Jungs.“ Er führte seine rechte Hand zum Gesicht, beugte sich
leicht nach vorn und überlegte. „Hm, am besten ihr wartet mal
hier.“ Er ging zum Schreibtisch der Wache und holte eine alte
Zigarrenschachtel hervor, in der er allerlei Krimskrams aufbewahrte. Er wühlte darin herum und fischte prompt ein Kettenschloss heraus und fragte, „hilft euch das?“, dann reichte er
mir das winzige Gliederschloss, das ich schnell in meiner
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Hosentasche verschwinden ließ. Da soll noch mal einer sagen,
die Volkspolizei ist nicht dein Freund und Helfer.
„Vielen Dank.“
„Ich hoffe, wir sehen uns nicht wieder.“
Wir verabschiedeten uns von ihm, packten unsere sieben
Sachen zusammen und schoben müde unsere Drahtesel aus
der Polizeiwache. Draußen empfing uns ein frischer Sommermorgen und die Stadt zeigte sich freundlich. Nichts war mehr
zu sehen von der frühmorgendlichen Hektik. Die Geschäfte
hatten bereits geöffnet und die Einwohner der Stadt, vielleicht
Schichtarbeiter oder Mütter, die nicht arbeiteten, weil sie gerade im Babyjahr waren, bummelten vor den Schaufenstern
entlang, und wir, da nun nur noch die Reparatur der Kette
anstand, konnten uns frohen Mutes aufmachen unser nächstes
Nahziel, Leipzig, zu erreichen.
38
-4Die Werkzeugtasche für die Reparatur der Kette befand sich
am untersten Ende meines Rucksacks. Ich zog ungeduldig, als
sich das Werkzeug mit lautem Geschepper gleichmäßig auf
der Erde verteilte. Ein erneuter Knall ließ mich hochfahren
und riss mich aus meinen Träumen. Eine uniformierte Person
stand in der Schiebetür des Wagenabteils und entschuldigte
sich, „dat tut mir leid, ich wollte se wirklich nich erschrecken,
aber hier is Endstation. Sehn se ma, da draußen, dat is Kölle.“
Mit einem breiten aber freundlichen Grienen war er auch
schon wieder verschwunden. Ich brauchte einige Sekunden,
um wieder in das Jahr 1995 zurückzukehren. Ungläubig
schaute ich durch das Abteilfenster. Der Geruch des Bahnhofs
war bis ins Abteil vorgedrungen, vielleicht war es aber auch
nur noch die Erinnerung daran. Ich zwängte mich mit meinem
Gepäck aus der schmalen Zugtür und fluchte, weil ich mit
einer meiner Taschen hängen blieb. Ein Gemisch aus Ungeduld, Aufgeregtheit und Bedrückung ergriff mich, als mich
der Zugwagen endlich ins Freie entließ und ich den fremden
Boden des Kölner Hauptbahnhofes unter den Füßen spürte,
meine Geschichte unauffällig durchgewunken in die neue
Zeit. Sie war nur noch ein diffuses Bild, eine Fata Morgana im
Rückwärtsblick, hinweggespült von den Ereignissen des
Spätherbstes Neunundachtzig, als hätte es das Land nie
gegeben, Christine, meine große Liebe, und Anne, unsere
Tochter, die ich besonders vermisste. Damals, in Eisenhüttenstadt, das früher einmal Stalinstadt hieß, hatten wir gleich
nach der Hochzeit eine Neubauwohnung bekommen, dazu
den zinslosen Kredit von siebentausend Mark, der sich wegen
Anne noch um tausend Mark verringerte. Heute lebt Christine
in München und ich bekomme zu Ostern und Weihnachten
regelmäßig eine Grußkarte aus der Hauptstadt Bayerns, immer mit einem aktuellen Bild von Anne. Im Abschiedsbrief,
nach ihrem Auszug, hatte sie bedauert, dass ich nicht ausge-
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treten war, damals, aus der Partei. Sie hätte aber die neue
Freiheit gebraucht wie die Luft zum Atmen. Mir dagegen
stockte der Atem. Da stand ich, fühlte mich verkleidet, unecht.
Keine Spur von Euphorie, eher Beklemmung. Unter den vielen
Menschen auf dem Bahnhof fühlte ich mich mutterseelenallein. Ich war jetzt neunundzwanzig Jahre alt. Das bedeutete
vierundzwanzig Jahre Altlast. Im ehemaligen Feindesland, das
nun meine neue Heimat werden sollte, musste ich mich von
sozialistischen Irrungen befreien, wie die Schlange die alte
Haut abstreifen für ein Leben in Freiheit. Auf dem Bahnhof
herrschte hektisches Treiben. Menschen, aber auch Gestalten,
die ich aus meiner Vergangenheit nicht kannte, kreuzten
meinen Blick. Ich stand verloren auf dem Bahnsteig und
umklammerte meine Reisetasche, als wollte ich sie nicht
loslassen, die Vergangenheit, mit den wenigen persönlichen
Erinnerungen aus einer anderen Zeitrechung: ein Buch von
Anna Seghers - Die Kraft der Schwachen, unser Hochzeitsfoto,
auch wenn wir nicht mehr verheiratet waren, mein Parteibuch,
auch wenn ich die Mitgliedschaft lange gekündigt hatte. Eine
junge Frau bemerkte meine hilflosen Blicke und fragte, ob sie
helfen könne. Sie gefiel mir, doch die Stimme versagte ihren
Dienst und mein verlegenes Lächeln geriet zu einem Grienen.
Ihre hellblonden Haare, die sie ständig nach hinten schob,
fielen ihr immer wieder Gesicht. Sie hatte lauter Sommersprossen und ihre grünen Augen leuchteten wie zwei
Smaragde. Erst langsam löste sich meine innerliche Starre und
ich fragte sie etwas roboterhaft, wie ich am besten nach KölnBuchheim käme. Sie begleitete mich nach draußen und zeigte
mir die S-Bahn, die mich in den Osten der Stadt bringen
würde. Das Zentrum der Stadt enttäuschte mich. Es ist
geprägt von einer schlichten Nachkriegsarchitektur, in dessen
Mitte der gewaltige Dom die Stellung gegen jede neuzeitliche
Veränderung behaupten muss, so scheint es. Unzählige
Generationen sollen über Jahrhunderte am Bau der Kirche
mitgewirkt haben, erinnerte ich mich an eine Vorlesung über
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spätgotische Bauten. Ich sah, wie sich einkaufshungrige
Massen, beladen mit riesigen Plastiktaschen, durch die engen
Ladenstraßen wälzten. Nirgendwo sah ich breite, lichtdurchflutete Boulevards mit monumentalen Gebäuden, die hin und
wieder von grünen, schattigen Oasen mit Wasserspielen und
Springbrunnen durchbrochen wurden. Meine irrationale
Vorstellung von Köln, der ehemaligen Provinzhauptstadt an
der Ostgrenze des Römischen Reiches von Kaiser Augustus,
wurde von der Realität unsentimental zurechtgerückt. Sie
genoss meine Verblüffung und war wohl überzeugt, dass ich
so eine tolle Stadt noch nie zuvor gesehen hatte. Ich Landei
würde mich hier sicher verlaufen, flachste sie. Mein
ungläubiger Gesichtsausdruck veranlasste sie zu scherzen.
Eisenhüttenstadt sei ein merkwürdiger Name und noch nie
hätte sie etwas von der Stadt an der Oder gehört. Sie sagte,
dass sie als Marketingchefin bei einem bekannten Kölner
Möbelhersteller arbeite und viel auf Geschäftsreise sei. In die
entferntesten Winkel Deutschlands würde es sie verschlagen,
erklärte sie mir stolz, aber Eisenhüttenstadt. Wie zum Beweis
zog sie aus einem Stapel von Adressen unzähliger Geschäftskunden eine Visitenkarte, auf der Leutner Oberflächenbeschichtungen GmbH stand. Die Firma sei ein Großlieferant
und suche immer mal wieder Leute, sagte sie. Sie schrieb mir
ihre Nummer auf und eh ich mich versah, war sie auch schon
wieder verschwunden. Sie hieß Lisa Schilling. Ich las ihren
Namen immer und immer wieder, fast zwanghaft. Ob wir uns
wiedersahen? Vielleicht. Die S-Bahn holperte auf der Hohenzollernbrücke über den größten Fluss Deutschlands. Die
riesige Stahlkonstruktion, ein gigantisches Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst, ist beeindruckend. Alles scheint hier
größer als bei uns zu Hause. Köln-Buchheim dagegen ist unspektakulär. Es reiht sich ein Haus an das andere mit den für
diese Region typisch grauen Dächern. Ziemlich monoton,
dachte ich. Die Vermieterin hieß Obereigner, eine ältere gepflegte Person, die übermäßig nach süßem Parfüm roch und
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mich misstrauisch an der Haustür empfing. Sie musterte mich
von oben bis unten und war sich wohl nicht sicher, ob der
Gast genug Geld bei sich hatte. Sie trug eine Goldbrille um
ihren Hals, die an einer mit Steinen besetzten Kette befestigt
war und, so schien es mir, den Dekolletéschmuck ersetzte. „Na
kommen Sie“, bat sie mich mürrisch herein und führte mich in
ein schlichtes Zimmer, um mich im nächsten Moment im
Türrahmen stehen zu lassen. Falls mir die Decke auf den Kopf
fiele, schickte sie mir noch hinterher, könnte ich ja gegenüber
in die Kneipe gehen. Dann ging sie nach unten. Die Geschmacklosigkeit der Zimmereinrichtung war frappierend. Ein
beiger, auf Hochglanz polierter Schrank reichte bis an die
Decke und bot kaum Kontrast zu den bereits vergilbten Gardinen. In seinen Fächern befanden sich diverse Mitbringsel:
ein kitschig eingerahmtes Bild von Tirol, eine Glaskugel, die,
wenn man sie drehte, eine Weihnachtslandschaft erzeugte und
Tulpengläser unterschiedlichster Brauereien und Fußballvereine. An einem schmalen Tisch, auf dem eine wuchtige Schale
aus Kristallglas stand, befanden sich zwei klapprige Holzstühle und der alte Teppich wartete wohl auch schon ungeduldig auf seine nächste Reinigung. Das Zimmer war
wirklich schrecklich und verströmte den Geruch einer
Altkleiderkammer. Ich stellte meine Taschen neben dem
Schrank und ließ mich auf das Bett sinken. Zumindest das
schien bequem. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier länger zu
wohnen. Ich stand auf und trat an das Fenster. Durch die
Gardine konnte ich die kleine Schankwirtschaft erkennen, von
der sie gesprochen hatte. Auf einem kleinen Aufsteller stand
in Kreideschrift: Eine Halve Hahn mit einer Stange Kölsch für
nur 3,50 DM. Ich beschloss nach unten zu gehen, da ich das
Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Am Tresen saßen drei
Männer, die mich sofort ins Visier nahmen. Ein alter Mann,
der etwas abseits der Gruppe saß, zog apathisch an seiner
Zigarette und schien sein Umfeld zu ignorieren.
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„Was darf´s denn sein“, begrüßte mich der Wirt sogleich. Er
trug ein weißes Hemd, schwarze Weste und hatte einen Stift
hinter das Ohr geklemmt. Sein Zwiebelbart und die uralte
Brille aus Messing gaugelten eine längst untergegangene Welt
vor. Doch er schien sich in der Rolle zu gefallen. Ich setzte
mich an die Bar und bestellte ein Bier.
„Das geht auf mich“, sagte einer der drei und lächelte mir
freundlich zu. Ihre Zielrohre ungezügelter Neugier waren auf
mich gerichtet, dabei wollte ich doch nur meinen Gedanken
nachhängen und die neuen Eindrücke verarbeiten. Doch
einfach nur Gucken, Horchen und Informationen sammeln,
das funktionierte hier nicht und schon folgte eine handfeste
Diskussion über den anderen Teil deutscher Identität.
„Mensch, da haben se euch aber janz schön ausjesperrt, wat“,
drückte der edle Spender des Gerstensafts sogleich sein Mitgefühl über mein bisheriges Leben in Unfreiheit aus.
„Na ja.“ Mir fehlten die Worte.
„Hey“, dann klopfte er mir auf die Schulter, „du musst doch
nicht gleich verlechen sein, keener kann wat dafür, wo er
aufwächst, ne.“
Er schaute in die Runde und erntete entsprechende Bestätigung.
„Was wisst ihr denn schon“, erwiderte ich gereizt.
„Mensch Junge, dir haben se in der Ostzone aber janz schön
das Jehirn vernebelt, wat, sei doch froh, dass die Scheiße
vorbei ist und de jetzt in Freiheit leben kannst.“
Ich schwieg. Einer der Drei versuchte zu schlichten. „Mensch
Leute, nun lasst ihn doch in Frieden, ein Tier, das jahrelang
einjesperrt war, muss sich auch erst an die Freiheit gewöhnen,
das jeht nicht von heute auf morgen.“
Sie verstanden nichts, dachte ich und erinnerte mich an die
machtvolle Kundgebung auf dem Alexanderplatz, an Friedrich Schorlemmer, Stefan Heym und Christa Wolf, daran, wie
sie auf der provisorisch aufgebauten Bühne standen, mutig
und kraftvoll zu einem Millionenpublikum sprachen, das
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schier elektrisiert war an diesem Tag, als sich alles so neu
anfühlte. Wie die Bilder in mir noch lebten, die in der Realität
schon vergessen waren, aufgesaugt vom Vakuum der Geschichte. Ein erneuertes Land, das war es, was wir wollten,
nicht eine frei gewählte Volkskammer, die sich als Politassistenz der mächtigen Parteienpolitiker aus dem Westen selbst
abwickelt. Aber das behielt ich für mich. Der alte Mann, der
die Diskussion schweigend mitverfolgt hatte, gab mir Rückendeckung. „Junge, lass dich nicht unterkriegen, die Grünschnäbel wissen doch gar nicht, wovon sie reden.“
Dann erzählte er, dass er in Danzig aufgewachsen und nach
der Vertreibung 1945 im Ruhrgebiet gelandet sei. Er wisse was
Verlust der Heimat bedeute. Ich war erleichtert. Die anderen
hatten auch die Lust an dem Thema verloren und so redeten
wir über Fußball, den aktuellen Fußballweltmeister, Deutschland. Dann wurde ich müde und verabschiedete mich. Man
bestand darauf, dass ich mich mal wieder sehen lasse und
klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Nachtragend
waren sie nicht. Auf dem Zimmer zeigte der Alkohol seine
Wirkung. Mir rasten Gedanken wie wild durch den Kopf,
Vater, Mutter, Christine, Tante, die alten Arbeitskollegen, öde
Parteiversammlungen. Ich war angekommen.
„Fred Hiller, mein Name ist Fred Hiller“, sagte ich und
streckte ihm meine Hand entgegen. Sein Blick, eine Mischung
aus Erstaunen und Ratlosigkeit, scannte mich von oben nach
unten ab.
„Wat kann ich für Se tun?“
„Sie haben mich eingeladen, Geschäftsassistenz.“
„Ach ja, Sie sind der aus’m Osten, wo war dat doch gleich?“
„Eisenhüttenstadt.“
„Hm.“ Er drückte mir meine mittlerweile erlahmte Hand.
„Setzen Se sich doch.“
Er wühlte in einem Chaos aus Papier, zog aus einem Stapel
von Biographien meine Bewerbungsmappe und blätterte mit
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skeptischer Miene in meiner beruflichen Vergangenheit, unsicher, ob er mich tatsächlich eingeladen hatte.
„Hm, also ich suche jemanden, der mir ein bisschen zur Hand
jeht. Ham Se denn schon mal als Geschäftsassistent jearbeitet?“
„Buchhaltung, also, wenn Sie so wollen, ist das auch eine
gewisse Geschäftsassistenz.“
„Finden Se?“
„Ja .“
„Sie sind doch Architekt? Wenn ich dat richtich lese, ham Se
Drüben mal im städtischen Baukombinat jearbeitet.“
„Wohnungsbaukombinat, im VEB Wohnungskombinat Eisenhüttenstadt. Unsere Abteilung wurde abgewickelt, die Kollegen aus’m . . . also aus den Alten Bundesländern übernahmen das Ruder und bauten Architekturbüros auf. Der Abschluss aus der DDR, na Sie wissen schon, da habe ich mich
noch mal auf die Schulbank gesetzt, Buchhaltung, Steuerrecht,
Wirtschaftsrecht, alles nach westdeutschem Standard.“
„Na dat hört sich doch jut an. Ich suche jemanden, der mir den
janzen Kleenkram vom Halse hält und sich um die Zahlen in
der Firma kümmert, Geschäftsberichte uns so, trauen Se sich
dat zu?“
„J. . .a, ich denke schon.“
„Hm, können Se denn sofort, ich meine gleich morgen?“
„Klar, kein Problem.“
„Gut.“ Er schloss die Mappe, legte sie auf den Berg aus
Lebensläufen und bugsierte den Stapel an den äußersten Rand
seines Schreibtisches, so als wolle er in den nächsten Wochen
nichts mehr damit zu tun haben und sagte, „dann bringe ich
Se mal zu Frau Kasischke, die macht Ihnen den Vertrach.“
Er stand auf und wies mich an zu folgen. Er war zirka Fünfzig,
gedrungen, und sein fettiges Resthaar glänzte fischig im
Neonlicht der Gangbeleuchtung. Nach einer kurzen Vorstellung entließ er mich mit einer Handbewegung in das Büro
seiner kaufmännischen Angestellten, eine ältere hagere Frau
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mit kurzen blonden Haaren. Sie gab mir ihre dürre Hand, die
jeden Moment von ihrem noch dünneren Ärmchen abzubrechen drohte und sagte unwirsch, „wir haben schon mal
etwas Platz für Sie gemacht.“ Sie zeigte auf einen unscheinbaren Arbeitsplatz an der fensterlosen Seite des Büros, praktisch im rechten Winkel zur Tür, die mich vom Arbeitszimmer
meines neuen Chefs trennte. Rechts von meinem neuen
Arbeitsmittelpunkt saß eine junge Kollegin und presste ein
verlegenes Hallo hervor. Sie hieß Vicky und war Praktikantin.
Ihr flüchtiges Lächeln erlosch wie das Sonnenlicht hinter einer
tiefdunklen Unwetterwolke, als sich der eisige Blick ihrer
Kollegin auf sie richtete. Die Dritte im Büro stellte sich als
Miller vor und war mittleren Alters. Aufgrund ihres Namens
und des dunklen Teints schloss ich darauf, dass sie angelsächsischer Herkunft sein musste.
„Acht Uhr fangen wir hier an“, fuhr sie schroff fort und schob
mir den Arbeitsvertrag mit einem Dir-wird-ich’s-schon-nochzeigen-Lächeln zur Unterschrift rüber. Vielleicht hatte sie
Ambitionen auf die Stelle gehabt, die sich nun aufgrund meiner Einstellung und ihres fortgeschrittenen Alters möglicherweise zerschlagen hatten. Ich unterschrieb den Vertrag und
verabschiedete mich von ihr. Vor meinem geistigen Auge
zeichnete sich schon der auf mich wartende Arbeitsalltag ab
und es beschlich mich ein schwer beschreibbares Gefühl aus
Freude über die schnelle Festanstellung und einem mulmigen
Gefühl, wenn ich an meine neuen Arbeitskolleginnen dachte.
Ich wischte den letzten Gedanken fort und ging frohmutig
nach Hause. Sie waren vorbei, die Wochen der Untermiete in
einem muffigen, umfunktionierten Souterrainzimmer, ein
Schicksal, das vor allem die armen Teufel von Zeitarbeitsfirmen trugen, die, um ihrer Heimat treu zu bleiben, Woche
für Woche in Zehnquadratmeterbuchten hausten, um an den
Wochenenden unendliche Distanzen zwischen Ost und West
hin und her zu pendeln. Moderne Sklaven im zusammengewachsenen Deutschland. Jetzt, mit der Aussicht auf eine
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eigene Wohnung, vielleicht mit Galerie, wenigstens aber mit
Balkon oder Terrasse, schienen die Vorzeichen für mich gut zu
stehen. Ich öffnete leise die Tür und sah Frau Obereigner in
der Küche sitzen. Sie hatte keine Kinder und ihr Mann, ein
Süddeutscher, worauf der nicht so recht in diese Gegend
passende Name schließen ließ, war bereits verstorben. Die
Miete für das Zimmer verlangte sie stets wöchentlich, wobei
ich das Geld unaufgefordert in eine dafür vorgesehene Dose
zu stecken hatte. Schriftliche Vereinbarungen, Quittungen
oder derartiges hasste sie. Kam ich mal meiner Zahlungsfrist
nicht rechtzeitig nach und ging der Griff in die Dose ins Leere,
gab es umgehend einen Verweis darauf, dass hier die Uhren
anders tickten. Sie war die Korrektheit in Person. Eine ihrer
besonderen Tugenden war jedoch Sparsamkeit. So legte sie
mir oft altbackene Brötchen mit dem Kommentar auf den
Küchentisch, dass sie zum Wegwerfen zu schade wären. Da
ich ihr Angebot jedes Mal großzügig ignorierte, erntete ich
postum böse Worte. Undankbare Gesellen wären wir und
hätten vergessen wo wir herkämen. Krankhafte Züge zeigte
ihr Sparzwang aber vor allem bei der Küchenarbeit. Wasser,
einmal eingelassen, wurde für mehrere Abwaschgänge
benutzt und entwickelte über den Tag, mit allen möglichen
Essensresten vermengt, eine übel riechende Brühe. An diesem
Nachmittag saß sie mal wieder über Kassenbons und
Geldscheinen ihrer Blechdose und übertrug die Daten in ihr
säuberlich geführtes Haushaltsbuch. Penible trug sie die
Zahlen in die Einnahmenspalte und schaute mich über ihre
goldumrandete Brille an, ohne die ich sie noch nie gesehen
hatte.
„Sie sind heute aber früh“, begrüßte sie mich mit Unterton,
„ist alles in Ordnung?“
„Ich hatte einen Termin.“
„Einen Termin, a ja.“
„Ich hab’ ne Arbeit gefunden.“
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„Na dat freut mich für Se, ich hoffe, Sie bleiben mir trotzdem
erhalten.“ Sie beugte sich über die Unterlagen und würdigte
mich nicht eines Blickes.
Ich offerierte ihr lakonisch das baldige Ende unseres
Mietverhältnisses und ergänzte, „und ich suche mir ne
Wohnung.“
Sie nahm ihre Brille ab und schaute mich an, als hätte ich den
Verstand verloren. „Na so was, ich glaub´s ja nicht, jetzt wird
er auch noch flügge.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf das
Haushaltsbuch und ging wohl gedanklich schon mal die
Mietausfälle durch. Dann stand sie plötzlich auf, packte ihre
private Buchführung zusammen und tat sie in den Küchenschub. „Also, falls Sie sich noch nicht endgültig entschieden
haben, ich kenn da jemanden, der Penthousewohnungen am
Rhein vermittelt.“
Die Aussicht auf ein eigenes Domizil ließ mein Herz höher
schlagen. Ihr Zynismus berührte mich nicht. Sie war ein einsamer Mensch und ähnlich wie bei Pflegeeltern, gab es für sie
das Phänomen des Ständig-Verlassen-Werdens. Ohne auf ihre
Provokation zu reagieren ging ich nach oben.
Meine neue Wohnung lag in der Frankfurter Straße, wo mich
Frau Wegner schon von weitem aus ihrer Parterrewohnung
begrüßte. Fast täglich sah ich sie, die Arme auf ein Kissen gestützt, aus dem Fenster schauen. Selbst im Winter. Das graue
schüttere Haar hing ihr in Strähnen übers Gesicht, als sie sich
aus dem Fenster beugte und fragte, wie denn der Tag gewesen
sei und ob ich nicht Sehnsucht nach dem Osten hätte. Ich blieb
stehen und sie erzählte, wie das früher so war. Na ja, mit
früher meinte sie die Zeiten vor dem Krieg, als Köln noch Köln
war, frei von Türken und anderen Ausländern. Sie sprach
immer von Besatzung, erst durch die Römer, dann durch die
Franzosen, bis vor kurzem durch die Amis. Jetzt waren es
eben die Türken, obwohl die keine Besatzer waren, sondern
nur Gastarbeiter. Ich mochte ihre schrullige Art, wie sie die
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Dinge zuspitzte, provozierte. So vergingen gut zehn Minuten,
bis ich mich von ihr losreisen konnte. Im ersten Stock wohnte
solch eine türkische Familie. Es türmten sich große und kleine
Schuhe und der typische Geräuschpegel einer Großfamilie
drang durch die Ritzen der Wohnungstür. Die Frau war selten
zu sehen, höchstens, wenn sie mal die Kinder nach oben rief.
Den Mann traf ich öfters. Er war aufgeschlossen und hatte
immer ein Lächeln übrig. Vielleicht spürte er, dass auch ich ein
wenig Migrant war. Mit zwei großen Schritten überwand ich
den Schuhberg und setze den Weg zu meiner Wohnung fort.
Meine Wohnung, das waren zwei Zimmer mit Erkerfenster,
Duschbad, wie man hier zu sagen pflegte, eine Kochnische
und Abstellkammer. Ich saß sozusagen auf den Köpfen der
Leute und genoss einen phantastischen Ausblick in Richtung
Westen. Der Fernsehturm, der aussieht wie ein riesiger
Besenstiel, der ein Ufo aufgespießt hat, ragt wie ein Lulatsch
zwischen den Häusern hervor. Unweit des Turms befand sich
die Tonne, die Stammkneipe von Lisa. Sie traf sich dort oft mit
Rocco und Olaf, die sie angeblich noch aus ihrer Schulzeit
kannte. Die Tonne wäre sozusagen ihr zweites Zuhause. Ich
ging zum Kühlschrank, stopfte mir eine Wiener in den Mund
und zog eine Bierflasche aus dem Kühlfach. Dann setzte ich
mich auf das Fenstersims und schaute in die Abenddämmerung. Ich bin ein Glückspilz, dachte ich, die Arbeit, die
Wohnung, wenn das jetzt noch mit Lisa klappen würde. Ich
war verrückt nach ihr. Ich unterbrach den letzten Gedanken
und schaute auf die Uhr. Heute hatten wir uns für Sechs
verabredet. Sie hasste Unpünktlichkeit und es war bereits
Sechs. Ich beschloss mein Auto stehen zu lassen und mit der
S-Bahn in die Stadt zu fahren, die praktisch vor meinem
Hauseingang abfuhr. Während der Fahrt fing es an zu regnen
und die Wassertropfen peitschten wie wild an das
Bahnfenster. Ich folgte den Tropfen, die an der Scheibe
herunterliefen und unwirklich das Licht der Stadt in tausend
kleine Bilder brachen. Als ich in der Kneipe ankam, lief mir
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das Wasser von den klitschnassen Haaren in die Augen, die
anfingen zu brennen. Ich hatte den Schirm vergessen. Ich
wischte mir das Regenwasser aus dem Gesicht und schaute in
die Runde, doch weder Lisa, Rocco noch Olaf waren zu sehen.
Ich setzte mich an den Tresen, wo mich Jimmy augenzwinkernd begrüßte und ohne zu fragen ein Bier zapfte. Er
kniff immer ein Auge zu, wenn er mir das nächste Glas
ausschenkte und schaute mich aufmunternd an. Aber wo
waren sie? Die letzten Wochen liefen einfach zu glatt, ging es
mir durch den Kopf. Nur das letzte Wochenende bei Lisas
Eltern ließ Zweifel aufkommen, ob ich hier hingehörte. Wir
waren auf der Burg Drachenfels gewesen, obwohl Burg zuviel
gesagt ist, denn es stehen ja nur noch Mauerreste auf dem
Berg, Fragmente der mittelalterlichen Burg, die seit dem
Dreißigjährigen Krieg geschliffen wurde und einst der
Absicherung des Kölner Südens diente. Danach fuhren wir zu
ihnen nach Bonn. Die ehemalige Hauptstadt der alten
Republik gefiel mir, vor allem ihre romanischen Bauten, die
mich sehr an südeuropäische Städte erinnerten. Ihre Eltern
wohnten etwas außerhalb in einer großzügigen und penibel
gepflegten Einfamilienhaussiedlung aus Backstein. Ihre
Mutter begrüßte uns überfreundlich an der Verandatür und
bat uns sogleich herein. Stolz führte mich Lisa durch ihr
nobles Zuhause. Alles versprühte gediegenen Luxus. Doch die
peinliche Ordnung und Sauberkeit vermittelte die Sterilität
eines Hochsicherheitslabors. Jeder Gegenstand hatte einen fest
zugeordneten Platz, schien mir. Sie hatten nichts dem Zufall
überlassen. Im Esszimmer, das größer war als jedes Wohnzimmer, das ich aus der Vergangenheit kannte, war im
modernen Stil eingerichtet, Möbel mit weiß lackierten Flächen,
ein ebenso weißer Kamin und ein mindestens drei Meter
langer Tisch, auf dem ein prunkvoller Kerzenleuchter stand.
Es war für vier Personen gedeckt, feinstes Porzellan und
Silberbesteck, das nicht den kleinsten Kratzer zeigte. Fünf
Kerzen verliehen dem Raum zusätzlich Glanz und Helligkeit.
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Sie mussten eine Vorliebe für Weiß und Silber haben. Es war
sehr feierlich, doch ich fühlte mich fremd. Ihr Vater saß wie
ein Patriarch an der Stirnseite des Tischs und gab seiner Frau
ein Zeichen. Lisas Mutter setzte sich zu seiner Rechten und
forderte uns auf, auf der anderen Seite des Tisches Platz zu
nehmen. Sie trug ein atemberaubend schönes Kleid, schwarz,
mit gewagtem Ausschnitt, der jeden Männerblick wie ein
Permanentmagnet auf sich ziehen musste. Ihr silbernes
Perlendekollete und die mit Steinen besetzten Ohrringe
reflektierten das Kerzenlicht in tausend kleine Lichter. Sie sah
umwerfend aus. Ich stand noch immer etwas unbeholfen da,
als Lisa mich in die Seite stieß. Während des ersten Ganges
wurde nicht gesprochen und jeder löffelte stumm die
Rindsbouillon. Ihr Vater durchbrach das Schweigen und fragte
mich, wie es mir im Rheinland gefiele und ob ich beabsichtigte
hier sesshaft zu werden. Vielleicht war es Usus, dass der Vater
das Tischgespräch begann, auf jeden Fall brachte er mich in
Verlegenheit, da die Doppeldeutigkeit seiner Frage offensichtlich war. Als ich erklärte keine Rückkehrabsicht zu haben,
arbeiteten er einen ganzen Fragenkatalog ab. Dass ich einst in
der Partei war, behielt ich für mich, nicht einmal Lisa hatte ich
davon erzählt. Ich hatte keine Lust unnötigen Erklärungsbedarf zu schaffen. Sie waren distanziert freundlich und
blieben so kühl wie ihre Wohnungseinrichtung. Ich konnte
nichts zur Lockerung der steifen Atmosphäre beitragen, da ich
nur in Bruchstücken zu antworten vermochte. Ich fühlte mich
wie ein Verhandler zwischen Vertretern zweier verfeindeter
Staaten. Lisa drückte meine Hand und schaute mich genervt
von der Seite an. Ihre lustige und warmherzige Art war
nüchterner Disziplin gewichen, wie ich sie von ihr kannte,
wenn sie von Arbeit sprach. Sie war zur Marketingchefin
aufgestiegen und machte sich große Hoffnungen, eines Tages
im Vorstand der Firma zu sitzen, ja sie war geradezu besessen
darauf. Der Vater konnte zufrieden mit seiner Tochter sein
und als Anwalt für Wirtschaftsrecht hatte er sich sicher
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jemand Potenteren und rhetorisch Begabteren als Schwiegersohn vorgestellt, immerhin aber verlief der Abend ohne Streit.
Diplomatie pur. Ich verabschiedete mich höflich von ihnen
und Lisa brachte mich zum Taxi, das sie extra für mich
bestellt hatten. Sie küsste mich und ihr typischer Geruch nach
Herrenparfüm stieg mir in die Nase. Ich liebe dich, hatte sie
gesagt und mich dabei fragend angeschaut. Ich konnte nicht
gleich antworten, zu sehr war ich noch gefangen in der Welt
ihrer Eltern. Der Gedanke an sie lähmte mich. Ich würgte ein
ich dich auch heraus. Jimmy stieß mich an, „du wartest auf Lisa,
hm?“, ohne meine Antwort abzuwarten fuhr er fort, „sie war
gestern mit Rocco hier.“
„Und Olaf?“
„Den hab ich die ganze Woche nicht gesehen.“
Ich versuchte Lisa anzurufen, doch ihr Handy war abgeschaltet. Jimmy nickte mir aufmunternd zu und sagte, „du
solltest dir jetzt nicht den Kopf zermartern, am besten, du
versuchst es morgen noch mal.“
Er ist wirklich ein netter Kerl, dachte ich bei mir und
verabschiedete mich von ihm. „Ich glaub´ du hast Recht.“ Auf
dem Nachhauseweg entschied ich mich, noch einmal nach
Buchheim zu fahren. Seitdem ich das Zimmer gekündigt hatte,
war ich nicht mehr dort gewesen. Vor der Kneipe stand
wieder der Aufsteller. Diesmal gab es rheinischen Sauerbraten
mit Klößen, dazu wieder eine Stange Kölsch. Die verwaschene
Schrift war kaum noch zu erkennen, nur noch die Kreidereste
verrieten vage das Angebot. Die Kneipe war leer. Nur an der
Stirnseite des Tresens saß wieder der alte Mann aus Danzig
und zog geruhsam an seiner Zigarette. Er bestellte zwei
Kölsch, winkte mich zu sich ran und sagte, „geht auf mich.“
„Danke“, antwortete ich, hob das Glas und stieß mit ihm an,
dann bestellte ich Sauerbraten. Er war wortkarg und schien
die Ruhe des Raumes noch zu verstärken. Im Hintergrund lief
leise Musik.
„Sie sehen traurig aus“, unterbrach er das Schweigen.
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Ich ging nicht darauf ein und stellte mich ihm vor. „Ich heiße
übrigens Fred“.
„Max“, erwiderte er und zerdrückte beinahe meine Hand.
Ich nickte anerkennend. „Ich glaub´, ich bin verliebt.“
„Als ich so alt war wie du, da hab´ ich mich auch ständig
verliebt, aber das geht vorbei.“
„Haben Sie keine Frau?“
„Doch, wir sehen uns aber nur an den Wochenenden. Das ist
praktischer. Sie kommt extra aus Münster.“
Praktischer, dachte ich. Als hätte er meine Gedanken lesen
können, schob er eine Rechtfertigung hinterher, „in meinem
Alter darf man nicht mehr wählerisch sein. Da reicht es schon,
dass jemand da ist. Aber ich verstehe dich, du bist jung, da
träumt man noch von der großen Liebe.“ Dann erzählte er von
Magda, seinem Mädchen, wie er sagte, von Pommern, der
Ostsee, die im Osten so schön sei. Sie wollten zusammen alt
werden, eines Tages am Meer sitzen und den Schiffen am
Horizont folgen. Doch dann kam die Flucht. Aber er wolle sich
nicht beklagen, sagte er und ergänzte, „die Leute sind in
Ordnung hier, und an die rheinische Frohnatur gewöhnt man
sich auch irgendwann.“
„Darauf stoßen wir an“, prostete ich ihm zu. Dann kam der
Sauerbraten mit den dampfenden Klößen. Er schmeckte
phantastisch und ich nahm mir vor, in Zukunft öfters wieder
hierher zu gehen. Ich klingelte noch einmal Lisa an, doch sie
war immer noch nicht zu erreichen. Vielleicht hatte er Recht.
Man durfte nicht zu viel erwarten. Draußen hatte es aufgehört
zu regnen und ich genoss die vom Regen gereinigte Luft.
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Ende der Leseprobe von:
Märzgewitter sind selten
Thomas Andrey Hirth
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