WER IST IRIS?

Die Sache mit dem Krake
„Eines Tages, ich allein, da sah ich im Tempel einen
Bonzen, der winkt mich zu sich heran:
Schau mal Kleine, ich zeig‘ dir ein Geheimnis! Nun
öffnet er den Rock, darunter ist … eine
Zeichnung von einem Ufer an einem toten Meer und
der Himmel ist glänzend rot.
… und plötzlich erscheint aus dem Meer ein Tier, ein
riesengroßer Krake. Er starrt das Mädchen mit
lauernden und ekelhaften Augen an. Durch diesen
Blick ist es ganz gebannt, kann nicht fortlaufen. Dann
tauchen die schleimigen Fangarme von diesem
Monstrum auf, sie umschlingen die Beine, ihre
Schultern, ihre Arme, die mädchenhafte Brust, ihre
Haare. In ihren Augen ist Entsetzen, doch lächelt sie
noch immer. Lacht und beginnt zu zucken. Dann …
wird sie still und stirbt. Und der Bonze flüstert mir zu:
Dieser Krake ist der Tod. Diesen Kraken nennt man
Lust.“
So erinnert sich Iris, als sie Osaka beginnt zu
streicheln. Iris ist ein ca. 15jähriges Mädchen… und
Osaka, ein reicher Kerl, der sie in ein Bordell
entführen ließ und nun gefügig machen will. Wir sind
in der Mitte der Oper, eingebettet in expressiven
Klangrausch…
Schockierend und faszinierend zugleich: In dieser
Oper geht es – in aller Offenheit der damaligen
Sprache – um Gier, die Gier nach Sex mit einem
unerfahrenen Mädchen, das aus ganz anderen
Motiven von zuhause weg- und mit Osaka
mitgegangen ist. Ist so die Liebe?
Mascagnis Oper wird 1898 uraufgeführt, sechs Jahre
vor der Madama Butterfly seines Freundes Puccini.
Doch wie viel radikaler ist diese Iris - ein Stück über
unsere Welt, über das kapitalistische System, wenn
man so sagen will, und den Kampf der Systeme:
Tradition und Elterngehorsam vs. das Aufbrechen in
neue Welten, die das Internet allen (nicht nur) jungen
Menschen auf dieser Welt so verlockend verkauft.
Wer ist dieser Mann, der zu einem
solchen Stoff solche Musik schreibt?
1889 ist Mascagni 35 Jahre alt, Iris ist seine siebte
Oper. Acht Jahre zuvor ist er mit Cavalleria rusticana
zum Shooting-Star geworden, es ist die Zeit des
Verismo, der möglichst realistischen Darstellung des
Lebens der einfachen Leute auf der Opernbühne.
Doch Luigi Illica, sein Librettist, fügt dieser
knallharten Geschichte noch etwas Weiteres, höchst
Ungewöhnliches hinzu: Poesie und die Vision einer
Ethik, die wie eine „Grüne Utopie“ klingt. Die Oper
endet wie sie begonnen hat, mit einer Ode an die
Sonne, von Mascagni mit aller Pracht und Größe
vertont: „Denn Liebe ist mein Wesen, und Poesie die
Sprache der Liebe! (Regieanweisung: Der Tag bricht
an - Hörner und Posaunen auf der Bühne) Ich bin
Wärme, das Licht, die Wärme, das Licht, die Liebe!“
Ein sensationelles Werk, vergleicht man es mit den
Opern seiner Zeit. So etwas würde man heute als
grünes Manifest lesen, das gegen die Gesetze eines
raffgierigen Kapitalismus eine Moral aus dem Geiste
einer ökologischen oder auch esoterischen Ethik
stellt.
Aber zurück zu Mascagni: Wie viele seiner
Komponisten-Freunde
und
-Kollegen
seiner
Generation ist auch Mascagni nur über ein Werk in
die Geschichte eingegangen: die Cavalleria
rusticana. Doch hat der Sohn eines Bäckers aus
Livorno eine heute vergessene, außergewöhnliche
Karriere hingelegt, als junger Kapellmeister, Direktor
einer Musikhochschule, als Dirigent auf Weltreisen,
als Operndirektor in Rom, als Mann, der sich mit den
mächtigen Verlagshäusern anlegte, als Komponist,
der die Nähe zur Macht, zu Mussolini sucht, der eine
„Staatsoper“ in Rom aufzubauen sucht, als
dirigierender Komponist, der mehrfach auch in Berlin
ist, u.a. Anfang der 30er, um seine berühmte „Hymne
an die Sonne“ – das Vorspiel zu Iris – aufzuführen.
Und eben als Komponist, der 16 Opern schreibt. Mit
unserer Adaption der Iris ist nun eine seiner
interessantesten Opern neu zu entdecken – wir sind
gespannt auf Ihr Urteil.
1
WER IST IRIS?
Unsere Fassung entstand aus der Faszination für die
reiche Kompositionskunst Mascagnis und den
außergewöhnlichen Text von Illica. Im Zentrum steht
die Titelfigur: Was hat dieses Mädchen erlebt,
wonach könnte es sich sehnen, was könnte sie in die
Arme dieser gewissenlosen Männer treiben? Ihre
Geschichte kann auch heute spielen, also haben wir
Illicas Text neu übersetzt und leicht ergänzt. Denn
stehen wir nicht alle zwischen den Welten, ob nun
westlich
oder
fernöstlich,
traditionell
oder
(post)modern-liberal? Wer ist nicht verführt im
Anblick der schier unendlichen Welten und
Möglichkeiten, die uns das Internet und die großen,
reichen Städte versprechen?
Die junge Komponistin Alexandra Barkovskaya hat
für unsere Fassung die komplexe Aufgabe
übernommen, Mascagnis Partitur für großes
Orchester und Chöre auf ein KammermusikEnsemble zu fokussieren und dabei in der
Tonsprache eine Brücke zwischen musikalischem
Prunk, historischer Spielweise und uns heute zu
schlagen. Wir spielen diese Oper voller Exotismus
und spätromantischem Klangrausch ja heute, mit
jungen Sängerinnen und Sängern aus Japan, Korea
und Deutschland. So haben wir uns auch inspirieren
lassen von den Klängen und Musiken, die unser
Ensemble zuhause in Asien gehört und gesungen
haben, als Mädchen im Alter der Iris.